Landgericht Detmold Urteil, 17. Juni 2016 - 4 Ks 45 Js 3/13-9/15
Gericht
Tenor
Der Angeklagte wird wegen Beihilfe zum Mord in 170.000 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von
fünf Jahren
verurteilt.
Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Nebenkläger.
1
Gliederung
2
I. Persönliche Verhältnisse des Angeklagten |
S.13 |
II. Feststellungen |
S.13 |
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S.13 |
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S.16 |
a) Entwicklung zum Konzentrationslager |
S.16 |
b) Zuteilung des Angeklagten zum SS-Totenkopfsturmbann |
S.18 |
aa) Aufbau und Funktion des SS-Totenkopfsturmbanns |
S.19 |
bb) Der Angeklagte als Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns |
S.19 |
|
S.26 |
a) Massenmord im KZ Auschwitz |
S.27 |
aa) Transport in das KZ Auschwitz |
S.27 |
bb) Selektionen |
S.28 |
cc) Tötungen in den Gaskammern |
S.30 |
dd) „Vernichtung durch Arbeit“ |
S.34 |
ee) Erschießungen an der „schwarzen Wand“ |
S.38 |
b) Kenntnis des Angeklagten vom Vernichtungsgeschehen |
S.39 |
c) bewusste Förderung der Massentötungen |
S.42 |
d) Versetzungsmöglichkeit |
S.45 |
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S.45 |
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S.46 |
III. Einlassung des Angeklagten |
S.47 |
IV. Beweiswürdigung |
S.60 |
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S.60 |
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S.60 |
a) historischer Hintergrund der Tat |
S.60 |
b) Werdegang des Angeklagten bis zur Versetzung nach Auschwitz |
S.61 |
c) Konzentrationslager Auschwitz – Lage, Aufbau, Struktur |
S.64 |
d) Tätigkeit des Angeklagten in Auschwitz |
S.65 |
e) Tötungsgeschehen im Vernichtungslager |
S.73 |
aa) Deportation |
S.74 |
bb) Selektion |
S.74 |
cc) Tötungen in den Gaskammern |
S.75 |
dd) „Vernichtung“ durch Lebensverhältnisse |
S.80 |
ee) Exekutionen an der „schwarzen Wand“ |
S.85 |
ff) KZ Auschwitz als Vernichtungslager |
S.87 |
f) Kenntnis des Angeklagten vom Tötungsgeschehen |
S.88 |
g) Unrechtsbewusstsein |
S.92 |
h) bewusste Förderung der Massenvernichtung |
S.92 |
i) „Wollen“ der Haupttat und Beihilfehandlung |
S.94 |
j) Werdegang des Angeklagten nach Auschwitz |
S.102 |
k) Werdegang der Nebenkläger |
S.102 |
V. Rechtliche Würdigung |
S.102 |
|
S.102 |
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S.105 |
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S.108 |
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S.109 |
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S.110 |
|
S.111 |
VI. Strafzumessung |
S.112 |
VII. Kostenentscheidung |
S.114 |
G r ü n d e : |
I.
5Der heute 94 Jahre alte Angeklagte wurde in O 1 im damaligen Kreis 0 2 geboren. Gemeinsam mit zwei jüngeren Schwestern wuchs er im Haushalt seiner Eltern in einfachen Verhältnissen – sein Vater war Arbeiter, seine Mutter Hausfrau – in 0 3 bei 0 6 auf. Vom 7. bis zum 14. Lebensjahr besuchte er die Volksschule in 0 3 und war im Anschluss als Arbeiter in einer Fahrradfabrik in 0 4 berufstätig. Nach der Entfesselung des 2. Weltkrieges durch die nationalsozialistischen Herrscher in Deutschland unter Führung von Adolf Hitler trat er im Jahr 1940 den Militärdienst an. Kurz vor Ende des Krieges wurde er als Angehöriger des „3. Germanischen Panzerkorps“ am 3. Mai 1945 bei 0 5 durch die britische Armee in Kriegsgefangenschaft genommen, welche in der Folge unter anderem in Gefangenenlagern in Belgien und England vollzogen wurde. Am 20. Mai 1948 wurde der Angeklagte aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er heiratete seine aus O 22 in Polen stammende Verlobte und ließ sich mit ihr und den beiden im Februar 1945 bzw. Mai 1951 geborenen Söhnen in O 6 nieder. Dort arbeitete der Angeklagte zunächst als Koch am Standort der Britischen Garnison. Anschließend war er als Angestellter in einem Molkereifachgeschäft in 0 6 tätig. Im Jahr 1969 übernahm er zusammen mit seiner Ehefrau den Geschäftsbetrieb und führte ihn bis zu seinem Eintritt in das Rentenalter im Jahr 1984 selbständig weiter. Im Jahr 2008 verstarb die Ehefrau des Angeklagten. Er lebt heute zusammen mit seinem jüngeren Sohn und dessen Ehefrau in 0 6.
6Strafrechtlich ist der Angeklagte bisher nicht in Erscheinung getreten.
7II.
81.
9Der Angeklagte wuchs zur Zeit des Nationalsozialismus heran. Er war 12 Jahre alt, als Adolf Hitler nach den Reichstagwahlen im November 1932 am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler des Deutschen Reiches ernannt wurde und unmittelbar danach mit der von ihm geführten Partei, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), begann, die bestehende parlamentarische Demokratie systematisch in eine nach dem Führerprinzip arbeitende und alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens beherrschende Diktatur umzuwandeln. Mithilfe einer geschickten und permanenten Propaganda verbreiteten Hitler und sein Reichsminister Göbbels in der deutschen Bevölkerung die Ideologie der NSDAP. Dass diese bestimmt war von einem rassischen und zutiefst antisemitischen Gedankengut und alle, die nicht dem durch die nationalsozialistische Weltanschauung propagierten Weltbild entsprachen, insbesondere die jüdische Bevölkerung, in der Folge systematisch entrechtet und aus dem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gedrängt wurden, erkannte der jugendliche Angeklagte nicht. Vielmehr nahm er wahr, wie die Deutschen mehrheitlich in großer Euphorie ihrem Führer folgten, der ihnen Wohlstand und Macht versprach und sie mit seinen nationalistischen Ideen in der sogenannten „Volksgemeinschaft“ einte. Auch der Angeklagte wollte bei dieser großen Bewegung dabei sein. 1935, im Alter von 13 Jahren, trat er deshalb – wie viele seiner Altersgenossen – der Jugendorganisation der NSDAP, der „Hitlerjugend“, bei. Bei den dort regelmäßigen stattfindenden Versammlungen und Gemeinschaftsaktivitäten wurde dem Angeklagten die nationalsozialistische Ideologie nahe gebracht und gleichzeitig nach dem nun überall geltenden Führerprinzip diszipliniertes, soldatisches Verhalten eingeübt. Für den Angeklagten waren die gemeinsamen Freizeitaktivitäten eine Abwechslung zum arbeitsreichen Alltag aus Fabrikarbeit und Mithilfe im elterlichen Haushalt. Es machte ihm Spaß, sich zusammen mit seinen Kameraden bei sportlichen Wettkämpfen mit anderen zu messen. Stolz trug er die Uniform der Hitlerjugend – jeder Junge erhielt ein hellbraunes Hemd – und zeigte damit auch nach außen hin gerne seine Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft.
10Nach der Entfesselung des 2. Weltkrieges durch das nationalsozialistische Regime Deutschlands erhielt auch der Angeklagte im Jahr 1940 den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht. Der Angeklagte wollte aber nicht einfach – wie alle wehrfähigen jungen Männer es mussten – seinen Militärdienst bei der Wehrmacht leisten. Er wollte mit der militärischen Eliteeinheit des nationalsozialistischen Staates, der Waffen-SS, am Eroberungskrieg Deutschlands teilnehmen. Die Waffen-SS war während des 2. Weltkrieges mit zahlreichen Divisionen unter dem Oberbefehl der Wehrmacht an der Kriegsfront und zur Sicherung der besetzten Gebiete eingesetzt. Als Unterorganisation der allgemeinen SS – der Schutzstaffel Adolf Hitlers, die als „Parteipolizei“ das wichtigste Unterdrückungsorgan des diktatorischen Systems war und der nur angehören konnte, wer die rassebiologischen und weltanschaulichen Anforderungen des Regimes erfüllte – galt die Waffen-SS als nationalsozialistische und militärische Elitetruppe, die im Eroberungskrieg bereits zahlreiche, gefeierte Siege errungen hatte. Dem jungen Angeklagten imponierte das. Er wollte zu dieser „ruhmreichen“ Einheit dazugehören und mit ihr an der Verwirklichung der nationalsozialistischen Kriegsziele mitwirken. Dadurch erhoffte er für sich selbst einen beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg, er wollte bei der Waffen-SS „etwas werden“. Im Juli 1943, im Alter von 19 Jahren, meldete er sich deshalb freiwillig bei der Waffen-SS in 0 8. Dort wurde er nach Prüfung seiner weltanschaulichen und rassebiologischen Eignung am 25. Juli 1940 mit einer Dienstverpflichtung für vier Jahre aufgenommen.
11Unmittelbar darauf erhielt der Angeklagte zunächst bei dem SS- Ersatzbataillon „Der Führer“ in Graz seine Wehrausbildung. Mit den weltanschaulichen Schulungen, die der Angeklagte während seiner Ausbildung neben den Schulungen im Umgang mit der Waffe durchlief, wurde ihm das elitäre Selbstbildnis der SS, die nach dem Willen ihres Führers Himmler als „Keimzelle der nordischen Rasse“ eine Auslese bilden und als überlegene „Herrenkaste“ für die Aufrechterhaltung und Verbreitung der nationalsozialistischen Ordnung sorgen sollte, vermittelt. Dem Angeklagten gefiel das. Als junger Mensch ließ er sich von der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda blenden und entwickelte in der Folgezeit in der Gemeinschaft mit den gleichaltrigen und gleichgesinnten Kameraden, unter denen er sich wohl und gut aufgehoben fühlte, ein den Schulungsinhalten entsprechendes Selbstbild. Als er Ende 1940 zum Feldeinsatz geschickt wurde, ging er selbstbewusst die ihm bevorstehenden Aufgaben an. Im Dezember 1940 wurde er zum SS-Feldregiment „Der Führer“, Division „Das Reich“ versetzt. Mit dieser Einheit war er zunächst in der Zeit vom 8. Dezember 1940 bis zum 15. Dezember 1940 bei der Sicherung der besetzten Niederlande, vom 18. Dezember 1940 bis zum 31. März 1941 als Schütze an der Besetzung Nordfrankreichs und vom 8. April 1941 bis zum 18. April 1941 am Feldzug gegen Serbien beteiligt. Ab dem 25. Juni 1941 war der Angeklagte mit seinem Regiment im Russlandfeldzug eingesetzt. Bei allen diesen Einsätzen erlebte der Angeklagte seine Einheit als starke Gemeinschaft. Die Verlässlichkeit seiner Kameraden, die stets füreinander eintraten, schätzte er sehr. Die militärisch erfolgreichen Einsätze, an denen er nun selbst beteiligt war, erfüllten ihn mit Stolz.
12Das Kriegsgeschehen erfuhr für den Angeklagten persönlich jedoch eine jähe Wendung, als er am 20. September 1941 in O 17 durch einen Granatsplitter in der Schläfe und einen Oberschenkeldurchschuss schwer verwundet wurde. Die Verwundung und seine anschließende schwierige Bergung aus dem Kampfgebiet waren für ihn einschneidende Erlebnisse. Der Angeklagte wurde in einem in der Nähe gelegenen Feldlazarett erstbehandelt und am 3. Oktober 1941 in das Kriegslazarett O 18 verlegt. Nach seiner Genesung, die durch eine zwischenzeitlich aufgetretene Malariaerkrankung verzögert wurde, erfolgte am 31. Oktober 1941 seine Verlegung nach O 19 zum dortigen Ersatzbataillon „Der Führer“. Im Gespräch mit dem dortigen Spieß seiner Einheit machte sich der Angeklagte Sorgen um seine weitere Verwendung, weil die Folgen seiner Verwundung seine Rückkehr zur Kriegsfront noch nicht erlaubten. Deswegen bewirkten die Vorgesetzten des Angeklagten seine Versetzung zum Konzentrationslager Auschwitz. Die Bedenken des Angeklagten als engagierten Soldaten hiergegen zerstreuten sich, nachdem ihm der dortige Dienst von seinen Vorgesetzten als – im Vergleich zum Militärdienst an der Front – ebenso kriegswichtiger „Innendienst“ präsentiert worden war und er zudem erfuhr, dass zusammen mit ihm weitere Kameraden mit gleichem Schicksal nach Auschwitz versetzt werden würden. Nachdem der Angeklagte zuvor noch zum SS-Sturmmann befördert und mit dem Verwundetenabzeichen in Schwarz ausgezeichnet worden war, traf er am 23. Januar 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ein.
132.
14a)
15Das in der Nähe der polnischen Stadt Oswiecim gelegene Konzentrationslager Auschwitz war auf Anordnung des „Reichsführers SS“ Himmler, der die von der SS geführten Konzentrationslager befehligte, seit Anfang 1941 als Arbeitslager für die erwarteten, mindestens 100.000 Kriegsgefangenen des geplanten Russlandfeldzuges zu dem gut 40 kqm großen „Interessengebiet Ausschwitz“ – bestehend aus dem auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne gelegenen Stammlager (später Auschwitz I) und dem etwa 3 km nord-westlich davon neu errichteten Lager Birkenau (später Auschwitz II) mit umliegenden Wirtschafts- und Sperrflächen – ausgebaut worden. Zudem war etwa 6 km östlich vom Stammlager Auschwitz das zugehörige Außenlager Buna (später Monowitz bzw. Auschwitz III) errichtet worden, wo die Kriegsgefangenen in den Bunawerken der IG Farben AG bei der Herstellung synthetischen Kautschuks und flüssiger Treibstoffe für die deutsche Rüstungsindustrie Zwangsarbeit leisten sollten. Dementsprechend ging auch der Angeklagte bei seiner Ankunft in Auschwitz zunächst davon aus, dass das Lager, in dem er nunmehr seinen Dienst verrichten sollte, ein Kriegsgefangenenlager sei.
16Tatsächlich war dieser Plan aber aufgrund der militärischen Misserfolge im Russlandfeldzug bereits Ende des Jahres 1941 wieder aufgegeben worden. Stattdessen wurde das Lager auf Befehl Himmlers ab 1942 zum Vernichtungslager für die aufgrund der nationalsozialistischen Weltanschauung verfolgten Menschen, insbesondere für die jüdische Bevölkerung.
17Das nationalsozialistische Regime unter Führung von Hitler hatte bereits mit Kriegsbeginn seine „Rassenpolitik“ radikalisiert und in den besetzten Gebieten damit begonnen, die jüdische Bevölkerung zwangsweise in abgeriegelte Stadtteile umzusiedeln, um sie von dort in Gebiete außerhalb Europas umzusiedeln und die Länder statt ihrer mit Deutschen zu bevölkern. Die jüdischen Menschen mussten ihre Häuser, Wohnungen und Betriebe und nahezu ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen und wurden lediglich mit dem, was sie mit ihrem Handgepäck bei sich führen konnten, in ärmlich ausgestatteten Ghettos zusammengetrieben. Das von ihnen zurückgelassene Eigentum wurde in das Staatsvermögen des deutschen Reiches überführt. Aufgrund der in den Ghettos bestehenden schlechten Versorgung und völlig unzureichenden hygienischen Verhältnisse starben bereits hier täglich Menschen an Unterernährung und Infektionskrankheiten.
18Im Laufe des Jahres 1941 folgte der Entschluss Hitlers und der Parteiführung der NSDAP zur sogenannten „Endlösung der Judenfrage“, womit die systematische Tötung der gesamten, im deutschen Einflussgebiet lebenden jüdischen Bevölkerung gemeint war. Mit der Verwirklichung des Entschlusses wurde nach der sogenannten „Wannseekonferenz“, die auf Veranlassung von Hitlers Stellvertreter Göring am 20. Januar 1942 auf Staatsekretärsebene stattfand und bei der die verwaltungsmäßige sowie technisch-organisatorische Umsetzung des Massenmordes festgelegt wurde, mit höchster Geheimhaltungsstufe auf polnischem Gebiet begonnen. Als Tötungsmethode wurde von den Machthabern die Vergasung in geschlossenen Räumen gewählt, weil die Menschen auf diese Weise lautlos und unauffällig sowie gleichzeitig in großer Zahl umgebracht werden konnten. Dies wurde in den hierfür eigens errichteten Vernichtungslagern Belzec, Treblinka und Sobibor ab 1942 im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhardt“ vollzogen.
19Mit den seit Anfang 1942 eintreffenden Deportationszügen aus allen im Einflussbereich des deutschen Reiches gelegenen Ländern wurde auch das Konzentrationslager Auschwitz Teil der Verwirklichung des „Endlösungsplans“. Wegen seiner Größe und der guten Anbindung an das Eisenbahnnetz – es liegt an den Bahnlinien Kattowitz/Warschau und Krakau/Wien – schien es den Machthabern für die Vernichtungsaktion besonders geeignet. So konnten die Verfolgten aus ganz Europa in großer Zahl mit Güterzügen zum Vernichtungsort verbracht werden. Im Hinblick auf den sich im Kriegsverlauf ergebenden Arbeitskräftemangel und der in Auschwitz bereits bestehenden Unterbringungskapazitäten und Einsatzmöglichkeiten bot sich hier zudem für die nationalsozialistische Führung an, die Arbeitskraft der zur Tötung bestimmten Menschen zuvor in größtmöglichem Umfang auszubeuten. So entschieden die Machthaber, in Auschwitz – anders als in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka – im jeweiligen Umfang des Bedarfs arbeitsfähige Deportierte zunächst in der Landwirtschaft, den SS-eigenen Wirtschaftsbetrieben wie den DAW oder der Rüstungsindustrie der Umgebung zwangsweise einzusetzen. Durch den Zwang zu körperlich schwersten Tätigkeiten bei gleichzeitig völlig unzureichender Versorgung sollten die Menschen durch Arbeit „vernichtet“ werden. Demgegenüber sollten die als nicht arbeitsfähig Selektierten unmittelbar in Gaskammern getötet und ihre Leichen anschließend verbrannt werden.
20b)
21Als Angehöriger der Waffen-SS wurde der Angeklagte dem Totenkopfsturmbann des Konzentrationslagers Auschwitz zugeteilt.
22aa)
23Die Totenkopfsturmbanne waren neben den Feldeinheiten der zweite große Teilbereich der Waffen-SS. Als paramilitärische Organisation bestanden sie – ebenso wie die Feldeinheiten – aus streng hierarchisch aufgebauten Kompanien, denen durchschnittlich 150 Männer angehörten, wobei die Anzahl zu Spitzenzeiten aber auch auf bis zu 300 Männer steigen konnte. Die Kompanien wurden von einem Kompanieführer im Rang eines SS-Obersturmführers oder SS-Hauptsturmführers geleitet. Jede Kompanie bestand aus drei bis vier Zügen mit jeweils ca. 35 Männern, die von einem Zugführer im Rang eines SS-Scharführers, in Ausnahmefällen auch eines Unterscharführers, geleitet wurden. Die kleinsten Einheiten der Kompanien bildeten Gruppen von ca. 15 Leuten, denen Gruppenführer im Rang von Unterscharführern vorstanden. Im Konzentrationslager oblag dem Totenkopfsturmbann – in Abgrenzung von der Kommandatur, welche für die Organisation und Aufrechterhaltung des Lagergeschehens im inneren Lagerbereich, dem Schutzhaftlager, zuständig war – die Sicherung der Lager nach außen hin. Mit seiner Wachtätigkeit war der SS-Totenkopfsturmbann die funktionierende Stütze des Vernichtungsgeschehens auch im Konzentrationslager Auschwitz. Er sicherte das Lagergeschehen in allen Bereichen, vom Umstellen der ankommenden Deportationszüge, über die Begleitung der Selektierten auf ihrem Weg in die Gaskammern und der Arbeitsfähigen zu den Lagern bis hin zur Bewachung der Gefangenen im Rahmen der Postenketten oder bei den Außenkommandos. Durch die von den Angehörigen des Totenkopfsturmbanns aufgebaute Drohkulisse – die Wachleute waren schwer bewaffnet und trugen die Uniformen der Waffen-SS – wurde bereits der Gedanke an Widerstand oder Flucht im Keim erstickt. Häftlinge, die gleichwohl versuchten zu fliehen, wurden durch die Wachposten erschossen. Als Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns in hervorgehobener Stellung und der damit verbundenen umfassenden Kenntnis vom Lagergeschehen und besonderer Befehlsgewalt förderte auch der Angeklagte an allen Stellen, an denen er im Tatzeitraum eingesetzt war, den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung.
24bb)
25Nach seiner Einkleidung wurde der Angeklagte zunächst der fünften der zu dieser Zeit insgesamt zwölf für das gesamte Lager bestehenden Kompanien des Totenkopfsturmbanns zugewiesen. Dort lebte sich der Angeklagte mühelos ein. Zwar vermisste er anfangs viele seiner Kameraden aus dem Fronteinsatz, mit denen er im engen Zusammenleben und unter den gefahrreichen Bedingungen des Feldeinsatzes sehr vertraut geworden war. Nach seiner schweren Verwundung genoss er aber die Sicherheit in Auschwitz und seine herausgehobene und bevorzugte Stellung im Konzentrationslager. Diese ergab sich für den Angeklagten schon aufgrund seiner Herkunft als reichsdeutscher Angehöriger der Waffen-SS, deren Anteil am Personalbestand des Wachsturmbann bis zum Jahr 1944 durch den stetigen Einbezug von sogenannten „Volksdeutschen“, also außerhalb des deutschen Reiches lebender Personen deutscher „Volkszugehörigkeit“, fremdvölkischen Hilfswilligen, vor allem ukrainische Männer aus dem Ausbildungslager Trawniki, sowie nicht mehr kriegsverwendungsfähigen Wehrmachtssoldaten stetig bis auf 10 % sank. Die vergleichsweise wenigen reichsdeutschen Angehörigen der Waffen-SS nahmen deshalb in der Hierarchie des Wachsturmbanns eine herausgehobene Stellung ein. Das galt erst recht für diejenigen Mitglieder der Waffen-SS, die – wie der Angeklagte – nach bereits erfolgter Verwendung bei den Feldeinheiten zu den Totenkopfsturmbannen stießen. Sie genossen ob ihres als ruhmreich bewerteten Fronteinsatzes ein besonderes Ansehen innerhalb der Wachmannschaften und standen in der Hierarchie sogar deutlich über ihren reichsdeutschen Kollegen mit gleichem Rang.
26Auf die gerade erst ausgeheilte Verwundung des Angeklagten wurde dadurch Rücksicht genommen, dass er zunächst den Wachdienst nicht in allen Bereichen ausführen musste, sondern ausschließlich den Pfortendienst in der am Eingang des Stammlager Auschwitz gelegenen Blockführerstube zu verrichten hatte. Darüber hinaus wurden ihm bereits Führungs- und Kontrollaufgaben betreffend die Wachmannschaft zur Unterstützung und in Vertretung des Spieß seiner Kompanie anvertraut. In dieser Funktion war es dem Angeklagten ohne weiteres möglich, sich frei innerhalb des Lagers zu bewegen. Davon machte er auch umfassend Gebrauch, um das Lagergeschehen zu erkunden. Denn von seinem Arbeitsplatz am Eingangstor konnte er das Lagergebiet einsehen. Er beobachtete, wie Leichen auf offenen Karren hin und her gefahren wurden und die Arbeitskommandos völlig ausgezehrte, erschöpfte und auch verstorbene Häftlinge bei der Rückkehr von ihrem Arbeitseinsatz zurück in das Lager trugen. Auch hörte er die Schüsse, mit denen Gefangene im Stammlager getötet wurden. Das alles weckte sein Interesse. Er wollte wissen, was hinter diesen Vorgängen steckte. Bei seinen Erkundungsgängen im Lager kam er mit Kollegen und Gefangenen ins Gespräch. Auf diese Weise erfuhr er schon kurze Zeit nach seiner Ankunft, dass Auschwitz kein Arbeitslager für Kriegsgefangene mehr war, sondern hier nunmehr die durch das Regime verfolgten Menschen, insbesondere Juden, massenweise getötet wurden. Das hatte der Angeklagte zwar nicht erwartet, war für ihn aber kein Anlass, nicht weiterhin pflichtgemäß seinen Dienst zu erfüllen. Er war dem rassischen und antisemitischen Gedankengut inzwischen derart verhaftet, dass er die Entscheidungen und Maßnahmen der nationalsozialistischen Führung nicht in Frage stellte. Zudem wollte er auch nicht seine hervorgehobene Stellung in der KZ-Hierarchie gefährden.
27Nach einigen Wochen sollte der Angeklagte, der inzwischen vollständig genesen war, zum regulären Wachdienst der 5. Kompanie wechseln. Auf diesen wurde er zunächst im Rahmen einer Wachausbildung, die aufgrund seiner Erfahrungen im Umgang mit Waffen verkürzt war, vorbereitet. Er erlernte das Wachreglement, indem ihm für die verschiedenen Bewachungssituationen, zum Beispiel bei der Begleitung von Arbeitskommandos, dem „Ausladen eines Häftlingstransportes“ und dem „Verladen eines Häftlingskommandos auf einen LKW“, Verhaltensregeln erteilt wurden. Mithilfe von musterhaft vorgegebenen Frage-Antwort-Dialogen und bildlichen Darstellungen wurden den Anwärtern darüber hinaus die Notwendigkeit und der Sinn des Wachdienstes sowie die richtige Ausführung des Dienstes vermittelt. Die Häftlinge wurden den Wachleuten wegen ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit als „Volksschädlinge“ präsentiert. Daraus wurde die unbedingte Aufgabe entwickelt, Häftlingsfluchten unter allen Umständen zu vermeiden. Dazu wurde den Wachleuten für den Fall eines Fluchtversuches unmissverständlich der Schießbefehl mit dem klaren Ziel der Tötung des flüchtenden Häftlings erteilt und für den Fall der tatsächlichen Verhinderung einer Flucht Sonderurlaub zugesagt. Hinsichtlich aller ihnen zur Kenntnis gelangenden Vorgänge im Lager waren die Wachleute angewiesen, nach außen hin Verschwiegenheit zu bewahren. Für Verstöße gegen die Wachanordnungen wurden den Wachleuten Strafen angedroht. Geblendet durch die nationalsozialistische Propaganda und verfangen in dem von ihm im Rahmen der ideologischen Schulungen entwickelten Selbstbild hatte der Angeklagte keine Bedenken, die ihm bei der Wachausbildung vermittelten Vorschriften bei der Häftlingsbewachung bedingungslos zu erfüllen. Insbesondere war er auch bereit, etwaigen Widerstand oder eventuelle Fluchtversuche mit Waffengewalt zu unterbinden, selbst wenn er dazu Gefangene töten musste. Der Angeklagte nahm die Wachtätigkeit des SS-Totenkopfsturmbanns sehr ernst und war entschlossen, die ihm übertragenen Aufgaben bestmöglich zu erfüllen, nicht nur, um seinem Volk zu dienen, sondern auch, um Karriere zu machen.
28Nachdem der Angeklagte das Wachreglement erlernt hatte, nahm er am regulären Wachdienst seiner Kompanie teil. Die 5. Kompanie hatte – wie alle übrigen Kompanien des Wachsturmbannes – turnusmäßig Dienste in den kleinen und großen Postenketten sowie bei der Begleitung von Häftlingsarbeitskommandos in den Außenbereichen des Lagers zu leisten.
29Beim Dienst in den Postenketten hatten die Wachleute auf Wachtürmen, die entlang festgelegter Bewachungslinien errichtet waren, Position zu nehmen und das Lager von dort aus zu bewachen. Für die Lager Auschwitz und Birkenau bestanden jeweils zwei solcher Postenketten. Die Besetzung der Türme wechselte ständig, so dass jeder Wachmann im Laufe der Zeit nahezu auf jedem Wachturm einmal Dienst tat. Die kleinen Postenketten umfassten jeweils das engere Lagergebiet, den Schutzhaftlagerbereich, und verliefen entlang der um diesen Bereich errichteten doppelten Umzäunung, von denen die äußere in der Nacht unter Starkstrom gesetzt wurde. Die Wachtürme der kleinen Postenketten waren jeweils unmittelbar hinter dem zweiten, unter elektrischer Spannung stehenden Zaun platziert. Die kleine Postenkette für das rechteckig angelegte Stammlager Auschwitz I mit einer Fläche von ca. 300 x 180 Meter hatte eine Gesamtlänge von ca. 1000 Metern. Sie umfasste neun, im Abstand von ca. 100 Metern errichtete Wachtürme. Diese befanden sich jeweils an den Endpunkten der durch den Lagerbereich führenden Zufahrtsstraßen, so dass sich von dort jeweils eine Sichtachse durch den Schutzhaftlagerbereich ergab, in dem sich neben den Baracken, in denen die Häftlinge untergebracht waren, insbesondere auch der Häftlingskrankenbau mit Leichenkeller im Block 28 und das Häftlingsgefängnis mit Bunker im Keller des Block 11 befanden. Außerhalb des umzäunten Schutzhaftlagerbereiches befanden sich an der östlichen Schmalseite des Komplexes die Hauptwache, die Kommandantur, die Lagerverwaltung und das SS-Lazarett. Dahinter schloss sich in östlicher Richtung in geringem Abstand die 1941 zur Gaskammer umgebaute ehemalige Leichenhalle nebst Krematorium an, welche von September 1941 bis Dezember 1942 zur Tötung von Häftlingen mit dem Zellgift Zyklon B betrieben wurde. Außerhalb der Lagerumzäunung an der nördlichen Längsseite befanden sich die Unterkünfte für die Angehörigen des Wachsturmbanns. Auch das seit Mitte 1941 aufgebaute Lager Birkenau, das 1943 auf einer Gesamtfläche von ca. 5 qkm ca. 300 Unterkunftsbarracken nebst Wirtschaft- und Verwaltungsgebäuden sowie die im Zeitraum von Frühjahr bis Sommer 1943 fertiggestellten vier Krematorien mit Gaskammern an der Westseite des Lagers umfasste, wurde von einer kleinen Postenkette gesichert. Die ca. 40 Wachtürme waren hier im Abstand von ca. 150 Metern entlang der Umzäunung errichtet. Im Bereich der Krematorien standen die Wachtürme in einer Entfernung von ca. 50 Metern von den jeweiligen Eingangsbereichen entfernt. Außerhalb des umzäunten Lagerbereiches an der Ostseite waren im Abstand von ca. 300 Metern zum Lager die Lagerkommandantur und die Kasernen für das SS-Personal angesiedelt. Mit den großen Postenketten wurden jeweils die weiteren Gebiete um den Bereich der Schutzhaftlager, in denen tagsüber die Außenkommandos der Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten, abgesichert. Die großen Postenketten, die ebenfalls aus einer Linie von im Abstand von ca. 200 Metern errichteten, ca. 65 Wachtürmen bestanden, wurden entsprechend tagsüber während des zehnstündigen Arbeitseinsatzes der Außenkommandos besetzt und wurden erst eingezogen, wenn die Anwesenheit aller Häftlinge im Lager bei dem täglichen Abendappell festgestellt worden war. Dann übernahm die kleine Postenkette die Überwachung der Häftlinge. Bei Flucht eines Häftlings blieb die große Postenkette dagegen – maximal drei Tage lang – bestehen, bis man des Entflohenen wieder habhaft geworden war. Die großen Postenketten der Lager verliefen in einem Teilbereich entlang der zwischen beiden Lagern verlaufenden Bahnlinie von Krakau nach Wien. Parallel zu dieser Eisenbahnlinie und zwischen den großen Postenketten des Stammlagers einerseits und des Lagers Birkenau andererseits verlief in einer Entfernung von ca. zwei Kilometern vom Stammlager und einem Kilometer zum Lager Birkenau ein mit einer Holzrampe befestigtes, im Juli 1942 in Betrieb genommenes Nebengleis. An dieser sogenannten „alten Rampe“ endeten bis Mitte Mai 1944 die Eisenbahntransporte mit Deportierten aus ganz Europa, die zur Vernichtung in das Lager Auschwitz verbracht wurden.
30Neben der Wachtätigkeit in den Postenketten wurden die Wachmannschaften auch zur Beaufsichtigung von Arbeitsgruppen außerhalb der Lager eingesetzt. Sie begleiteten die den Außenarbeitskommandos zugeteilten Gefangenen zu den Einsatzstellen und wieder zurück, wobei sie auch die Bewachung während der Arbeit zu gewährleisten hatten.
31Zu diesen regulären Wachdiensten kamen die Dienste im Rahmen der Bereitschaften hinzu, zu denen fortlaufend im wöchentlichen Wechsel alle Kompanien des Stammlagers und des Lagers Birkenau herangezogen wurden. Der Bereitschaftsdienst umfasste neben der Suche nach flüchtigen Gefangenen und der Verstärkung der Postenketten im Alarmfall vor allem auch die Sicherung der ankommenden Transporte und der Selektionen an der zwischen dem Stammlager und dem Lager Birkenau auf freiem Feld gelegenen alten Rampe. Dazu bildeten die diensthabenden Wachleute eine Postenkette um die gesamte Rampe herum. Die Waggons mit den Deportierten wurden nicht geöffnet, bis die Posten aufgezogen waren und die Rampe vollständig umstellt war. Nach der Selektion begleiteten die Wachleute die zur Tötung selektierten Menschen auf ihrem Weg zum Krematorium jedenfalls bis zum Lagereingang. Die nicht gehfähigen Selektierten wurden auf LKWs zu den Krematorien transportiert. Bei der Verladung der Selektierten auf die LKWs halfen die Angehörigen des Wachsturmbanns. Die als arbeitsfähig ausgewählten Deportierten bewachten sie auf ihrem Weg zu den Unterkünften in den Lagern.
32Die vorgenannten Aufgaben einschließlich der Bereitschaftsdienste wurden von den Wachleuten nach Dienstplan im wöchentlichen Wechsel der jeweiligen Kompanien erfüllt. Jede Kompanie hatte jeweils eine Woche in der kleinen Postenkette, eine Woche in der großen Postenkette, eine Woche im Arbeitsbegleitdienst und in der vierten Woche in der Regel Bereitschaftsdienst zu leisten, wobei den Kompanien entsprechend dem jeweiligen Bedarf aber auch zusätzliche Bereitschaftsdienste neben ihrem regulärem Dienst auferlegt wurden. Eine Spezialisierung einzelner Wachkompanien auf bestimmte Wachaufgaben fand nicht statt, alle Kompanien des Wachsturmbanns Auschwitz nahmen an den regulären Diensten ebenso wie an den Bereitschaftsdiensten teil.
33Auch der Angeklagte nahm nach seiner Zuweisung zum regulären Wachdienst der 5. Kompanie am turnusmäßigen Dienst seiner Kompanie teil. Als Wachmann mit dem Dienstgrad eines Sturmmannes war er regelmäßig Posten auf wechselnden Türmen und in den Postenketten und bewachte unter Aufsicht eines Gruppenführers die Arbeitskommandos in den Außengebieten. Im Rahmen der Bereitschaftsdienste um die alte Eisenbahnrampe herum bewachte der Angeklagte mindestens drei Mal die Entladung der ankommenden Deportationszüge und die anschließende Selektion und Verbringung der Gefangenen in die Lager. Dabei war sich der Angeklagte stets seiner Rolle und der Bedeutung seiner Wachtätigkeit für den reibungslosen Ablauf des Vernichtungsgeschehens im Lager bewusst. Seinen Dienst erfüllte er gewissenhaft. Außerhalb seines Wachdienstes hatte er – wie alle Angehörigen des Totenkopfsturmbanns – regelmäßig an Übungen und weltanschaulichen Schulungen teilzunehmen, mit denen das Wachreglement und die ideologischen Hintergründe des Geschehens in Auschwitz wiederholt und vertieft wurden. Das dienstliche und außerdienstliche Verhalten der Wachleute wurde zudem durch laufend erteilte Kommandantur-, Standort- und Sturmbannbefehle reglementiert, kommentiert und bewertet.
34Am 7. Juni 1942 wurde der Angeklagte zur 3. Kompanie des Totenkopfsturmbanns versetzt. Hier fühlte sich der Angeklagte gut aufgehoben. Denn unter Führung des Kompanieführers P 1, der ebenfalls als Angehöriger der Waffen-SS aus dem Feldeinsatz an der Ostfront zum Wachsturmbann gestoßen war und sich an der Front militärische Verdienste erworben hatte, wurden in der 3. Kompanie junge reichsdeutsche und fronterfahrene SS-Männer gezielt zusammen gezogen, dort bewusst gefördert und für spätere Führungsaufgaben in anderen Kompanien ausgebildet. Sie bildeten eine stark geschlossene Gruppe nach Art einer „Peer Group“ um den Kompanieführer P 1 und waren das jederzeit verlässliche Rückgrat der Kompanie. Ihre frühere Zugehörigkeit zu den Feldeinheiten der Waffen-SS und die dabei erworbenen Verdienste, die ihnen das Ansehen im Wachsturmbann sicherten, trugen sie – entgegen den Vorschriften der KZ-Kleiderordnung – durch entsprechendes Uniformzubehör wie Ärmelstreifen, Divisionsabzeichen und Orden ostentativ zur Schau. Auch der Angeklagte gehörte zu dieser privilegierten Gruppe junger reichsdeutscher Frontsoldaten. Hierauf war er stolz. Demonstrativ trug auch er auf seiner SS-Uniform den Ärmelstreifen seines Feldregimentes „Der Führer“ sowie das ihm verliehene Verwundetenabzeichen in Schwarz. Seine Stellung und der ihm zukommende Respekt innerhalb des Wachsturmbanns waren ihm wichtig. Die ihm dadurch eröffneten Chancen wollte er für seinen weiteren Werdegang nutzen. In der Wachkompanie setzte der Angeklagte seine Wachtätigkeit im Rahmen der Dienste der 3. Kompanie zunächst wie bisher fort.
35Aufgrund des immensen flächenmäßigen Ausbaus des Lagers und der ständig wachsenden Zahl der nach Auschwitz Deportierten und der Inhaftierten wurde das Lager im November 1943 auf Befehl Himmlers mit dem Standortbefehl Nr. 53/43 vom 22. November 1943 in die drei organisatorisch weitgehend selbständigen Lager Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz III (Außenlager / Monowitz) aufgeteilt. In der Folge kam es auch zu einer Dreiteilung des SS-Totenkopfsturmbann Auschwitz. Die Kompanien wurden den einzelnen Lagern zugeordnet. Die 1. bis 4. Kompanie sowie die 2. Stabskompanie wurden dem Wachsturmbann Auschwitz I, die Kompanien 6 bis 8 sowie die 1. Stabskompanie und die Hundeführerstaffel wurden Auschwitz II - Birkenau und die 5. Kompanie dem Lager Ausschwitz III - Monowitz zugeteilt. Die Kompanien wurden wirtschaftlich, disziplinär und personell dem jeweiligen Lagerkommandanten unterstellt. Bei besonderen Einsätzen lag die Gesamtführung aller Sturmbanne jedoch weiterhin einheitlich bei dem Kommandanten des Lagers Auschwitz I. Der Angeklagte, der weiterhin der dem Stammlager zugeteilten 3. Kompanie angehörte, leistete den regulären Wachdienst seiner Kompanie – Dienst in den Postenketten und Begleitung der Arbeitseinsätze – fortan ausschließlich für das Stammlager ab. Die Bereitschaftsdienste an der alten Eisenbahnrampe wurden dagegen weiterhin – bis zur Fertigstellung der neuen Eisenbahnrampe im Lager Birkenau Mitte Mai 1944 – von allen für das Stammlager und das Lager Birkenau tätigen Wachkompanien erbracht. Auch der Angeklagte tat bis zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Bereitschaftsdienste der 3. Kompanie Dienst bei der Absicherung der an der alten Rampe ankommenden Transporte.
363.
37Als Mitglied der Kerntruppe um den Kompaniechef P 1 und aufgrund seiner Tätigkeit als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz wusste der Angeklagte spätestens im Tatzeitraum, dass Auschwitz ein reines Vernichtungslager für die nach nationalsozialistischer Weltanschauung als „minderwertig“ erachteten Angehörigen anderer Volksgruppen, insbesondere der jüdischen Menschen, war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte er realisiert, dass das gesamte Geschehen im Lager einzig und allein dem Ziel diente, die Deportierten der Tötung zuzuführen, und dass seine Tätigkeiten im SS-Totenkopfsturmbann – und damit auch er selbst – Teil des darauf ausgerichteten, arbeitsteilig organisierten Prozesses waren.
38a)
39Die massenhafte Tötung der aus ideologischen Gründen Verfolgten war von den für die Umsetzung des Plans Verantwortlichen von Anfang bis Ende minutiös geplant. Beginnend mit der Deportation der bereits zwangsweise in Ghettos zusammengetriebenen Opfer bis hin zur Beseitigung ihrer Leichen und der Verwertung ihrer Habe handelte es sich um einen arbeitsteilig organisierten und fabrikmäßig betriebenen Prozess. Das Zusammenwirken aller Teileinheiten sowie die absolute Geheimhaltung nach außen und die Täuschung der Opfer über den wahren Zweck der Aktion sicherten die schnelle und nahezu widerstandslose Durchführung des Vernichtungsplans. Er wurde mit den folgenden, nahezu immer gleich bleibenden Schritten umgesetzt:
40aa)
41Die zur Vernichtung bestimmten Menschen wurden aus den Ghettos in den besetzten Ländern oder aus anderen Konzentrationslagern zwangsweise nach Auschwitz verbracht. Über das Ziel ihrer Fahrt wurden sie bewusst getäuscht, indem ihnen gesagt wurde, sie würden zu einem Arbeitseinsatz gebracht. Dadurch sollten die Opfer in Sicherheit gewogen und der reibungslose Ablauf der Mordaktion gewährleistet werden. Der Erfolg dieser Täuschung wurde dadurch gefördert, dass einige Deportierte nach ihrer Ankunft in Auschwitz gezwungen wurden, Postkarten an ihre Verwandten zu schreiben, in denen sie wahrheitswidrig mitteilen mussten, dass es ihnen gut gehe und sie zur Arbeit in der Landwirtschaft oder ähnlichem eingesetzt würden, was sich – wie von den nationalsozialistischen Machthabern geplant – unter den Zurückgebliebenen verbreitete. Auch der Umstand, dass sie Gepäck mitführen durften, stärkte ihre Erwartung, lediglich umgesiedelt zu werden. Entsprechend waren die Menschen hinsichtlich des wahren Zwecks ihres Transportes in aller Regel völlig ahnungslos. Viele glaubten, dass nach den unerträglichen Zuständen im Ghetto sich ihre Lebensumstände nur verbessern könnten. Eine massenhafte Tötung aus rassischen Gründen – wie tatsächlich beabsichtigt – trauten viele den Deutschen, die sie für kultiviert, gebildet und anständig hielten, nicht zu.
42Tatsächlich war schon die Fahrt nach Auschwitz menschenunwürdig und für die Deportierten extrem belastend. In verriegelten Güter- und Viehwaggons der Reichsbahn wurden sie zusammen mit ca. 80 bis 90 weiteren Personen eingepfercht, so dass sie in dem Waggon nur stehen und sich kaum bewegen konnten. Alle litten angesichts der Enge und der unzureichenden Zufuhr von Frischluft. Während der überwiegend mehrere Tage dauernden Fahrt stand allen Insassen in den dunklen Waggons zusammen nur ein Eimer mit Trinkwasser zur Verfügung, Essen gab es nicht. Da die Deportierten die Waggons nicht verlassen durften und dort Toiletten nicht vorhanden waren, mussten sie ihre Notdurft innerhalb des Wagens verrichten. Aufgrund der extrem belastenden Bedingungen verstarben die Schwächsten – Kinder, Alte und Kranke – schon während des Transportes. Im Angesicht ihrer Leichen mussten die Übrigen die Fahrt fortsetzen.
43bb)
44Bei der Ankunft der Züge an der alten Rampe zwischen Auschwitz und Birkenau war alles darauf ausgerichtet, den Vernichtungsprozess schnell und reibungslos voranzutreiben, um Panik oder Widerstand unter den Deportierten erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dazu wurde bewusst eine Drohkulisse aufgebaut, indem die Mitglieder des SS-Totenkopfsturmbanns bewaffnet und in Uniformen zum einen die Rampe komplett umstellten und abriegelten, zum anderen weiteres SS-Personal – unterstützt durch sich aggressiv gebärdende und laut bellende Hunde – auf der Rampe selbst patrouillierten. Nach dem Anhalten eines Zuges rissen dazu bestimmte Insassen des Konzentrationslagers – sogenannte „Funktionshäftlinge“ – die Türen der Waggons auf und forderten die durch den extrem kräftezehrenden Transport völlig geschwächten und demoralisierten Menschen mit lauten und barschen Anweisungen – „Los, sofort raus, schnell alle raus“ auf, den Zug zu verlassen. Durch die wahrheitswidrige Behauptung, das Gepäck werde ihnen nachgebracht, wurden sie veranlasst, ihr Hab und Gut in den Waggons oder auf dem Bahnsteig zurückzulassen. Zugleich nährte diese Zusage die Hoffnung der Deportierten, in Auschwitz eine Zukunft zu haben. Zwar waren sie durch das bedrohliche Szenarium eingeschüchtert. Sie nahmen auch die rauchenden Schornsteine und den Geruch nach verbranntem Fleisch wahr. Da sie sich hierauf aber keinen Reim machen konnten, rechneten fast alle der Deportierten weiterhin nicht mit ihrer Tötung.
45Nachdem alle Ankömmlinge die Züge verlassen hatten, erfolgte die Selektion. Um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, wurden die Deportierten in großer Eile und mit brüsken Rufen angewiesen, sich bei verschiedenen Gruppen einzuordnen. Kleine Kinder bis zum Alter von maximal 15 Jahren und ihre Mütter sowie Alte und behinderte Menschen wurden sofort ausgesondert, um der Tötung in den Gaskammern zugeführt zu werden. Sie waren für die SS ohne Wert, da sie nicht zur Arbeit herangezogen werden konnten. Die an sich arbeitsfähigen Mütter beließ man bewusst bei ihren Kindern, um nicht durch eine erzwungene Trennung Unruhe unter den Deportierten hervorzurufen und den vorgesehenen Ablauf zu gefährden. Die übrigen Deportierten mussten sich nach Geschlechtern getrennt in Fünferreihen aufstellen. Wer den Anweisungen nicht sofort Folge leistete, wurde mit Stockschlägen dazu veranlasst. Die angesichts der rigorosen Trennung von Familien – es verblieb keine Gelegenheit, sich voneinander zu verabschieden – verunsicherten und verängstigten Menschen, beruhigte das SS-Personal mit der Lüge, sie würden sich bereits am nächsten Tag wiedersehen. So sollte weiterhin Unruhe vermieden und der reibungslosen Fortgang der Selektion gewährleistet werden.
46Die Menschen wurden sodann reihenweise auf einen SS-Arzt, zumeist in Begleitung eines SS-Offiziers, zugetrieben, welche die Auswahl der Arbeitsfähigen unter den Deportierten durchführten. Die Entscheidung wurde allein aufgrund einer kurzen Inaugenscheinnahme des Vorgeführten, allenfalls zusätzlich aufgrund einer knappen Befragung zu Alter und Beruf, vorgenommen. Dabei spielte der jeweilige Bedarf an Arbeitskräften eine große Rolle. Junge, kräftige Menschen und solche mit einem Beruf, für den man Verwendung hatte, wurden im Umfang des Bedarfs als arbeitsfähig ausgewählt. Schwache und Kranke wurden dagegen als zur Tötung bestimmt ausgesondert. Die Entscheidung fiel mit einer flüchtigen Handbewegung des Arztes oder SS-Mannes innerhalb weniger Sekunden. Der Sinn der Selektion blieb den allermeisten Deportierten auch jetzt noch verborgen, so dass diese ruhig und widerstandslos den weiteren Anweisungen folgten.
47cc)
48Der ganz überwiegende Teil der Deportierten, mindestens 75 % eines Transportes, wurde zur sofortigen Tötung in den Gaskammern selektiert. Diejenigen von ihnen, die nicht in der Lage waren, den Weg zu den Krematorien zu Fuß zurückzulegen, wurden von der alten Rampe mit bereitstehenden Lastwagen zu den Gaskammern des Lagers Birkenau gefahren. Die übrigen wurden zu Fuß – von SS-Wachleuten bewacht – bis zum Eingangstor des Lagers Birkenau begleitet, dort an die für den Dienst im Lager zuständigen SS-Leute übergeben und von diesen schließlich bis zu den Gaskammern gebracht. Mit den Deportierten fuhr sogleich auch ein sogenannter „Sanka“ (Sanitätskrankenwagen) mit zu den Krematorien, in welchem das für die Tötungen in den Gaskammern benötigte Gift Zyklon B befördert wurde. Die Massentötungen in den Gaskammern wurden seit dem Frühjahr 1942 auch in Birkenau durchgeführt, weil die Kapazität des im Stammlager befindlichen Krematoriums die immer zahlreicher und umfangreicher eintreffenden Transporte nicht bewältigen konnte. Sie erfolgten bis zum Frühjahr 1943 in den beiden für diesen Zweck provisorisch umgestalteten ehemaligen Bauernhäusern, die westlich hinter dem Bereich der Lagers Birkenau in einem Wäldchen gelegen waren. Nach Fertigstellung der neu errichteten Gaskammern mit den Krematorien II bis IV ab dem Frühjahr 1943 wurden die Massentötungen in diesen durchgeführt. Die als Krematorien II und III bezeichneten, am Ende der Hauptlagerstraße gegenüber dem Eingangstor des Lagers gelegenen großen Verbrennungseinrichtungen hatten eine Kapazität von je 1.440 Leichenverbrennungen in 24 Stunden. Die zugehörigen, unterirdisch gelegenen Gaskammern hatten eine Größe von je ca. 200 qm. Neben den Gaskammern lag jeweils ein als Auskleideraum mit Holzbänken und darüber angebrachten Kleiderhaken gestalteter Bereich. Die kleineren Krematorien IV und V – ebenfalls an der Westseite des Lagers, aber weiter nördlich errichtet – verfügten über eine Verbrennungskapazität von je 768 Leichen innerhalb von 24 Stunden. Die zugehörigen, ebenerdig gelegenen Gaskammern hatten eine Grundfläche von insgesamt ca. 240 qm. Auch hier befand sich neben den Gaskammern ein Auskleideraum.
49An den Krematorien angekommen, wurden die zur Tötung bestimmten Menschen in die Auskleideräume geführt. Damit sie weiterhin keinen Verdacht schöpften und der Vernichtungsplan widerstandslos durchgeführt werden konnte, wurde den Menschen wahrheitswidrig erklärt, sie müssten vor Aufnahme in das Lager duschen und desinfiziert werden. Entsprechende Hinweisschilder waren an verschiedenen Stellen der Gebäude angebracht. Um sie zusätzlich in Sicherheit zu wiegen, wurde ihnen geraten, sich zu merken, wo sie ihre Kleidung hinterlegt hatten, damit sie nach dem Duschen schnell wiedergefunden werden könnte. Wie von Anfang an geplant erfassten dadurch auch jetzt die allermeisten der Totgeweihten nicht, dass ihre Tötung unmittelbar bevorstand. Sie konnten deshalb von SS-Leuten – nach Geschlechtern getrennt – widerstandslos in die als Duschräume getarnten Gaskammern geführt werden. Auf diese Weise wurden mehrere hundert, in die großen Gaskammern bis zu 1.600 Menschen, in eine Gaskammer gepfercht. Anschließend verließen die Wachleute die Kammern und verriegelten sie von außen. Sogenannte „Desinfektoren“, das heißt im Umgang mit dem Gift besonders geschulte SS-Leute, schütteten sodann aus einer Büchse das Zyklon B Granulat durch einen Schacht von außen in die Gaskammer hinein. Bei Zyklon B handelt es sich um ein Giftgas, dessen Wirkstoff Blausäure vom menschlichen Körper über die Haut, die Schleimhäute und die Atemwege aufgenommen wird und welches die Zellatmung blockiert. Dadurch führt es letztlich zum Versagen aller organischen Funktionen und zum Eintritt des Todes durch „inneres Ersticken“. Nach dem Einwerfen in die Gaskammern breitete sich das giftige Gas nach und nach in der gesamten Kammer aus. Es bewirkte bei den Eingeschlossenen zunächst eine Reizung des Mund- und Rachenraumes sowie der Augen, danach folgten Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, ein sich extrem steigernder Kopfdruck, der zum Teil zu Blutungen aus der Nase und den Ohren führte, ein Enge- und Druckgefühl im Bereich des Brustkorbs, Atemnot und Krampfanfälle begleitet von schweren Angstsymptomen und schließlich Bewusstlosigkeit. Die Menschen, die sich der Einwurfstelle am nächsten aufhielten, nahmen das Gift als erste auf und zeigten als erste Vergiftungserscheinungen. Die weiter entfernt stehenden Menschen bemerkten die Symptome und den Todeskampf der zuerst Betroffenen und mussten diesen mit ansehen, bevor sich die Symptome bei ihnen selbst entwickelten. Zusammen mit der Befürchtung, nun dasselbe erleiden zu müssen, der räumlichen Enge und der Gewissheit, nicht entfliehen zu können, breitete sich neben den körperlichen Symptomen auch eine dramatische Angst- und Panikreaktion unter den Eingeschlossenen aus. Ihre lauten, lange andauernden Schreie waren noch weit außerhalb der Gaskammern zu hören. Sie erlitten in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle einen langsamen und qualvollen Tod. Erst nach ca. 20 bis 30 Minuten war der Todeskampf der Menschen, in deren Verlauf sich diese zum Teil derart aneinander klammerten, dass ihre Leichen später nur unter Gewaltanwendung voneinander getrennt werden konnten, beendet und die Schreie der Opfer verstummten.
50Die Wirkungsweise des Giftes Zyklon B war den für das Geschehen verantwortlichen SS-Führern, welche die Tötungen anordneten, sowie auch allen SS-Leuten, die unmittelbar an den Tötungen in den Gaskammern mitwirkten, bekannt. Das Leiden der Menschen in den Gaskammern war ihnen jedoch gleichgültig. Das Leben der zur Tötung Bestimmten, insbesondere ein jüdisches Menschenleben, hatte für sie aufgrund ihrer rassistischen und antisemitischen Weltanschauung keinen Wert. Ihnen kam es nur auf die schnelle und kostengünstige Beseitigung der als nicht arbeitsfähig befundenen Menschen an.
51Wenn kein Lebenszeichen mehr zu vernehmen war, wurden die Kammern geöffnet und gelüftet. Dann musste ein Häftlings-Sonderkommando unter Aufsicht von SS-Personal die Leichen aus der Kammer tragen und alles Verwertbare – Schmuck, Goldzähne, Haare – von den Leichen abtrennen. Anschließend mussten sie die Leichen zur Verbrennung zu den Öfen der Krematorien schaffen. Der Geruch nach verbranntem Fleisch ebenso wie der Rauch und die teilweise aus den Schornsteinen schlagenden offenen Flammen waren bis weit über das Lager hinaus wahrzunehmen. Wenn die Kapazitäten der Verbrennungsöfen erschöpft waren, wurden die Leichen auch in offenen Gruben in der Nähe der Krematorien verbrannt. Die den Getöteten abgenommenen Wertgegenstände wurden ebenso wie das Gepäck der Deportierten, welches diese im Zug bzw. auf der Rampe zurücklassen mussten, sortiert, gesammelt und im Effektenlager – dem sogenannten Lager „Kanada“ – bis zum Weitertransport nach Deutschland gelagert.
52Bereits im Jahre 1942 waren über 100 Deportationszüge mit vorwiegend jüdischen Menschen an der alten Rampe zwischen Auschwitz und Birkenau angekommen, von denen die überwiegende Zahl auf die oben beschriebene Weise in den provisorischen Gaskammern von Birkenau umgebracht worden waren. Im Tatzeitraum folgten in der Zeit von Januar 1943 bis zum 16. Mai 1944 weitere 183 Transporte mit deportierten Juden aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland, Holland, Polen, Jugoslawien, Frankreich, Griechenland und Italien. Besonders viele Züge trafen in der Zeit von März bis Mai 1943 im Zusammenhang mit der Räumung des Ghettos in Saloniki aus Griechenland sowie in der Zeit vom 1. bis 12. August 1943 im Zusammenhang mit der Räumung der Ghettos in Bendsburg und Sosnowitz in Auschwitz ein. Insgesamt wurden in der Zeit von Januar 1943 bis April 1944 mindestens 270.000 europäische Juden nach Auschwitz deportiert. Davon wurden mindestens 190.000 Menschen unmittelbar nach ihrer Ankunft in den neu errichteten Gaskammern von Birkenau getötet.
53Hinzu kamen ab Mai 1944 erste Transporte im Rahmen der sogenannten „Ungarn-Aktion“. Nunmehr sollte nach der deutschen Invasion in Ungarn am 19. März 1944 auch die im Gebiet Ungarns lebende jüdische Bevölkerung systematisch der Tötung zugeführt werden. Vorbereitungen hierzu waren bereits im Frühjahr 1944 mit dem zwangsweisen Zusammentreiben der jüdischen Bevölkerung in Sammelstellen auf ungarischem Gebiet erfolgt. Parallel dazu waren auch im Konzentrationslager Ausschwitz personelle und logistische Vorbereitungen für die bisher größte Deportationswelle getroffen worden. Insbesondere war der bereits begonnene Bau des Gleisanschlusses innerhalb des Lagers Birkenau mit Hochdruck vorangetrieben worden, um die Menschen aus den erwarteten Transporten schneller und mit geringerem Personalaufwand der Tötung zuführen zu können. Es waren zusätzliche Verbrennungsgruben ausgehoben und die Häftlingssonderkommandos, die mit der Verbrennung der Leichen und dem Sortieren der Wertsachen der Häftlinge befasst waren, verstärkt worden. Die ersten Züge aus Ungarn trafen noch an der alten Rampe zwischen Auschwitz und Birkenau ein. Am 2. Mai 1944 kamen die ersten, am 28. und 29. April 1944 gestarteten zwei Züge mit insgesamt 3.800 Insassen der Lager Kistarcsa und Topoly an, von denen mindestens 2.600 Männer, Frauen und Kinder sofort in den Gaskammern getötet wurden. Es folgten bis zum 16. Mai 1944 sieben weitere Transporte aus Ungarn mit je mindestens 3.000 Deportierten, von denen mindestens 75 % sofort in den Gaskammern getötet wurden.
54Insgesamt kamen im Zeitraum von Januar 1943 bis zum 16. Mai 1944 an der alten Rampe ca. 295.000 Deportierte an. Mindestens 208.000 von ihnen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern von Birkenau umgebracht.
55Frühestens ab dem 17. Mai 1944 kamen alle Deportationszüge an der neuen Rampe im Lager Birkenau an. Von diesem Zeitpunkt an waren die für das Stammlager zuständigen Kompanien – und damit auch der Angeklagte, welcher der für das Stammlager zuständigen 3. Kompanie angehörte – mit der Sicherung der ankommenden Transporte nicht mehr befasst. Ein Umstellen der Rampe war hier nicht mehr erforderlich, weil die Züge innerhalb des Lagers entladen wurden und das Lager selbst durch die elektrische Umzäunung und die kleine Postenkette ausreichend gesichert war. Die Absicherung der Selektionen und der anschließenden Tötungen oblag jetzt allein den Wachkompanien von Birkenau.
56dd)
57Auch diejenigen Deportierten, die bei der Selektion an der Rampe als arbeitsfähig ausgewählt wurden, sollten nach dem Vernichtungsplan der nationalsozialistischen Führung den Tod finden. Zuvor sollte jedoch ihre Arbeitskraft ausgebeutet werden. Sie mussten im Anschluss an die Selektion eine entwürdigende Prozedur über sich ergehen lassen, die sowohl für die dem Stammlager Zugewiesenen als auch für die Birkenau zugeteilten Deportierten identisch war. Sie zielte darauf ab, den Menschen die Individualität zu nehmen, sie zu Objekten zu degradieren und sie dadurch für die beabsichtigte, anschließende Verwendung als Arbeitssklaven gefügig zu machen. Sie wurden zunächst in Gruppen in die im Lagerjargon „Sauna“ genannten Baracken überführt, wo die „Desinfektion“ erfolgte. Die Deportierten mussten sich vollständig entkleiden, ihre Kleidung wurde eingezogen. Dann wurde ihnen der Kopf rasiert und die Körperbehaarung der Achseln und des Schambereichs entfernt. Der nackte Körper wurde auf versteckte Wertgegenstände untersucht. Vielen Deportierten wurde eine Gefangenennummer auf den linken Unterarm tätowiert. Anschließend wurden die Menschen in eine große Duschhalle geführt, wo sie sich waschen mussten. Dazu gab es weder Seife noch Handtücher zum Abtrocknen, so dass sie im Anschluss nass die ihnen zugewiesene, gestreifte Häftlingskleidung – Hose und Jacke bzw. Kleid, Mütze, Holzschuhe, keine Unterwäsche, keine Strümpfe – anziehen mussten. Die Kleidung wurde von den Häftlingen in der Folge Tag und Nacht getragen. Wechselbekleidung gab es nicht.
58Untergebracht wurden die Deportierten in einfachen Holzbaracken, die teilweise noch nicht einmal einen Boden hatten. Sie boten keinen hinreichenden Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit. Einige waren mit einfachsten Holzpritschen ausgestattet, auf denen bis zu sechs Personen mit einer einzigen Decke schlafen mussten. Andere Baracken verfügten noch nicht einmal über solch einfache Pritschen, die Menschen mussten dann auf dem nackten Boden liegen. Zweimal täglich wurde die Anwesenheit der Häftlinge im Rahmen eines Appells, bei dem die Gefangenen oft stundenlang stillstehen mussten, überprüft. Die Tage im Lager waren für die Gefangenen von ständigen Schikanen und Gewalttaten der Aufseher geprägt. Das SS-Personal ließ die Inhaftierten bei jeder Gelegenheit spüren, dass sie entrechtet und unterworfen waren. Bei Begegnungen mit SS-Angehörigen mussten sie sofort die Mützen vom Kopf nehmen und durften ihnen nicht in die Augen sehen. Bei Verstößen, aber auch völlig willkürlich und ohne jeden Anlass, gab es Schläge sowie andere Misshandlungen und Quälereien. Angst war deshalb ein immer gegenwärtiges und das vorherrschende Gefühl bei den Inhaftierten.
59Die Existenzbedingungen der Häftlinge waren so unmenschlich, dass sie in der Regel innerhalb weniger Wochen zum Tod führten. Die Häftlinge wurden quantitativ und qualitativ völlig unzureichend ernährt. Sie erhielten am Morgen eine Tasse Ersatzkaffee oder Tee, mittags einen Schöpflöffel wässriger Suppe und am Abend eine Scheibe Brot mit einem kleinen Stück Margarine. Die bewusste Unterernährung hatte schnell Folgen. Neben einem quälenden, andauernden und den ganzen Menschen beherrschenden Hungergefühl bewirkte sie einen schnellen Abbau der körperlichen und geistigen Kräfte. Die Menschen nahmen extrem an Gewicht ab. Nach Verbrauch der körpereigenen Reserven an Kohlenhydraten, Fetten und Proteinen zeigte sich eine starke Auszehrung des Körpers, die bereits äußerlich anhand des knöchernen Schädels und der hervorspringenden Knochen an Schultern, Schlüsselbeinen, Hüften und Knien klar zu erkennen und die häufig von auffälligen, schmerzhaften Hungerödemen begleitet war. Im weiteren Verlauf trat eine allgemeine Atrophie mit zunehmender Rückbildung der inneren Organe auf, die organische Minder- und Fehlfunktionen mit entsprechenden schwersten körperlichen Beschwerden und Schmerzen nach sich zog bis hin zum vollständigen Organversagen und dem dadurch bewirkten Tod der Menschen. Bis zum Todeseintritt erlitten die Menschen schwere körperliche und – angesichts des bewusst erlebten körperlichen und geistigen Abbaus, der offensichtlich langsam zum Tode führte – auch seelische Qualen. Der quälende, ständig vorhandene und alles beherrschende Hunger bewirkte nicht zuletzt in vielen Fällen auch gravierende Verhaltensänderungen bei den Gefangenen. Von erbitterten Kämpfen um das wenige zur Verfügung stehende Essen über die fieberhafte Suche nach weiteren Nahrungsquellen bis hin zum Verzehr ungenießbarer Abfälle und von Leichenteilen beseitigte der Hunger die menschlichen Hemmschwellen.
60Der Verlauf der Hungerkrankheit wurde durch die übrigen Lebensumstände forciert. Nach Ablauf der Quarantänezeit wurden die Gefangenen verschiedenen Arbeitskommandos zugeteilt, bei denen sie täglich zehn Stunden Schwerstarbeit zu leisten hatten. Sie wurden unter anderem bei dem Bau und dem Betrieb der Siemens-Werke und der IG-Farben, im Straßenbau, in der Landwirtschaft, aber auch innerhalb des Lagers, zum Beispiel im Lager „Kanada“ beim Sortieren des Häftlingsgutes, im Häftlingskrankenbau und bei den an den Krematorien tätigen Sonderkommandos eingesetzt. Die tägliche harte Arbeit mit einem erhöhten Kalorienbedarf förderte die Auszehrung und den körperlichen Abbau der Gefangenen extrem. Täglich brachen Häftlinge bei der Arbeit wegen völliger Entkräftung zusammen, viele von ihnen verstarben während der Arbeit an den Folgen der Unterernährung. Sie mussten am Abend von den Mitgefangenen in das Lager zurückgetragen werden, damit beim Abendappell die Zahlen stimmten. Wer beim Appell durch Kraftlosigkeit und damit unzureichende Arbeitskraft auffiel – das waren im Lagerjargon die sogenannten „Muselmänner“ – wurde selektiert und im Bewusstsein des ihm nun unmittelbar bevorstehendes Todes der Tötung in den Gaskammern oder mittels Phenolinjektionen in das Herz zugeführt. Gleiches geschah bei den regelmäßig angesetzten Selektionen durch den Lagerarzt, die bei den Gefangenen sehr gefürchtet waren und bei denen sie ob der anstehenden, ihnen bewussten Entscheidung über Leben und Tod extremen psychischen Belastungen ausgesetzt waren.
61Die durch die Unterernährung bewirkte Beeinträchtigung sämtlicher Körperfunktionen und Herabsetzung der körpereigenen Immunabwehr begünstigte zudem das Erkranken der Häftlinge an Infektionskrankheiten wie Ruhr, Tuberkulose, Lungenentzündungen und Typhus, deren Auftreten ihrerseits durch die unzureichenden hygienischen Bedingungen und die gesamte Unterbringungssituation gefördert wurde. Das Zusammenpferchen vieler Menschen auf engstem Raum in den Baracken, die unzureichenden sanitären Anlagen, das vollständige Fehlen von Hygieneartikeln wie Seife, Zahnbürsten, Toilettenpapier sowie der fehlende Schutz der Menschen vor Kälte und Nässe begünstigten die Entstehung und die rasche Verbreitung von Krankheiten. Eine zureichende medizinische Versorgung war zudem nicht gegeben. Allenfalls wurden diejenigen, von denen nach ihrem Allgemeinzustand eine rasche Genesung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu erwarten war, medizinisch behandelt. Die Behandlung erfolgte jedoch auch in diesen Fällen nur mit äußerst beschränkten Mitteln. Operationen wurden ohne Narkose durchgeführt, Medikamente standen nicht zur Verfügung, Verbandsmaterial war Mangelware. Diejenigen, die nach spätestens drei Tagen nicht genesen und arbeitsfähig waren, wurden selektiert und – in sicherer Kenntnis ihres unmittelbar bevorstehenden Todes – entweder mit einer Phenolinjektion in das Herz getötet oder den Gaskammern zugeführt.
62Der Großteil der Gefangenen, die nicht schon zuvor selektiert wurden, starb innerhalb von drei bis vier Monaten nach langdauernden, starken Schmerzen an Organversagen, akutem Herz-Kreislaufversagen oder interkurrenten, quälenden Erkrankungen als Folgen der Unterernährung und der sonstigen Lebensbedingungen im Lager. Infolge der Lebensverhältnisse kamen allein im Stammlager Auschwitz I im Tatzeitraum mindestens 8.000 Menschen ums Leben.
63Den Befehlsgebern der SS war stets bewusst, dass die Lebensverhältnisse im Lager innerhalb eines überschaubaren Zeitraums unausweichlich zum Tod der Insassen führen würden. Das wollten sie auch. Denn das Leben der Inhaftierten war ihnen nichts wert, es kam ihnen nur darauf an, mit möglichst geringem finanziellem Einsatz die Arbeitskraft der Gefangenen zu nutzen und damit die Vernichtung des nach ihrer Lebensanschauung „minderwertigen“ Lebens maximal zu rationalisieren. Dass die Inhaftierten auf diese Weise vor ihrem Tod schreckliche Qualen erlitten, war ihnen vielfach gleichgültig und nahmen sie zumindest in Kauf.
64ee)
65Im Lager Auschwitz I nahm die politische Abteilung auch regelmäßig Exekutionen durch Erschießungen vor. Die Opfer waren politische Häftlinge, Widerständler und Gefangene, die gegen die Lagerordnung verstoßen hatten. Sie wurden überwiegend im Lagergefängnis im Keller des Blocks 11, dem sogenannten „Bunker“, gefangen gehalten.
66Die Erschießungen fanden ab dem Herbst 1941 auf dem zwischen den Blöcken 10 und 11 befindlichen Hof statt. Dieser war durch eine drei Meter hohe, von Block zu Block verlaufende Mauer gegen Einblicke von außen abgeschirmt. Die zum Hof gelegenen Fenster des Blocks 10 waren mit Holzbrettern vernagelt. Die Kellerfenster des Blocks 11, in dem sich das Lagergefängnis – der sogenannte „Bunker“ – befand, waren zugemauert. Für die Durchführung der Erschießungen war an der Außenmauer des Hofes eigens eine Hinrichtungswand aus schwarzen Isolierplatten errichtet worden. In aller Regel wurde eine Vielzahl von Gefangenen im Rahmen einer „Aktion“ erschossen, häufig handelte es sich um Massenerschießungen nach sogenannten „Bunkerleerungen“, wenn das Lagergefängnis überfüllt war und Platz für neue Häftlinge geschaffen werden sollte, aber auch dann, wenn tatsächliche oder vermeintliche Widerstandsgruppen ausfindig gemacht worden waren, so am 28. Oktober 1942, als 260 polnische Widerständler an der schwarzen Wand erschossen wurden. Im Tatzeitraum erfolgten solche Erschießungen am 6. Januar 1943 (eine unbekannte Zahl von Häftlingen, die bei der Effektenkammer eingesetzt waren), am 25. Juni 1943 (13 Angehörige einer Widerstandsgruppe im Lager sowie 120 Häftlinge), am 15. Juli 1943 (12 Häftlinge) und am 11. Oktober 1943 (160 polnische Zivilisten, Angehörige der polnischen Intelligenz). Die Exekutionen wurden sowohl von den Angehörigen der politischen Abteilung des Lagers als auch von Erschießungskommandos ausgeführt, die sich aus den Reihen der Wachmannschaften rekrutierten und welche für die Ausführung dieser als „Sonderaufgabe“ bezeichneten Tötungshandlungen Sonderverpflegung erhielten. Dabei wurden die Todeskandidaten entweder über die Kellertreppe aus dem Bunker heraus oder direkt vom Hof unbekleidet an die Erschießungswand geführt. Sie mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen und dort im Bewusstsein ihres unmittelbar bevorstehenden Todes auf ihre Hinrichtung warten, bis sie schließlich mit einem Genickschuss getötet wurden. Die Leichen wurden anschließend von Funktionshäftlingen in einer Hofecke gegenüber der schwarzen Wand abgelegt, bis die Erschießungsaktion beendet war und die Leichen auf offenen Karren durch das Lager zum Krematorium transportiert wurden. Die nachfolgenden Todeskandidaten mussten dieses Prozedere mit ansehen, bis sie selbst an der Reihe waren, getötet zu werden. Soweit sie selbst erst unmittelbar vor ihrer Erschießung in den Hof geführt wurden, sahen sie das Blut an der Wand und auf dem Boden und die in der Ecke des Hofes gestapelten Leichen ihrer Vorgänger. Selbst die ersten Todeskandidaten einer Aktion wussten beim Ansehen der schwarzen Wand und der Schützen, was ihnen bevorstand. Im Bewusstsein ihrer nahen Exekution erlitten sie vor ihrer Tötung Todesangst und größte seelische Qualen. Ihre Schreie sowie die Schüsse, mit denen die Todeskandidaten getötet wurden, waren im ganzen Lager zu hören.
67Auf die vorbeschriebene Weise wurden an der schwarzen Wand zwischen Block 10 und Block 11 des Stammlagers allein im Zeitraum von Januar 1943 bis November 1943 mindestens 650 Gefangene erschossen.
68Die offensichtlichen Qualen der zur Erschießung bestimmten Gefangenen nahmen die SS-Leute, welche die Tötungen anordneten und zum Teil selbst durchführten, aufgrund ihrer nationalsozialistischen, menschenverachtenden Gesinnung zumindest billigend in Kauf.
69b)
70Der Angeklagte hatte von allen diesen Vorgängen spätestens im Tatzeitraum umfassende und detaillierte Kenntnis.
71Bereits während seines Dienstes in der Kommandantur unmittelbar nach seiner Versetzung nach Auschwitz hatte der Angeklagte erkannt, dass Auschwitz kein Arbeitslager für Kriegsgefangene war, sondern dass hier Menschen allein aus ideologischen Gründen massenhaft getötet wurden. Als der Angeklagte nach einigen Wochen voll verwendungsfähig war und zum regulären Wachdienst eingeteilt wurde, vervollständigte sich sein Wissen über die Tötungen in Auschwitz durch den turnusmäßigen Dienst in der kleinen und großen Postenkette und bei der Begleitung der Arbeitskommandos sowie durch den regelmäßigen Bereitschaftsdienst an der alten Eisenbahnrampe. Von den Wachtürmen der kleinen Postenkette konnte er in das Stammlager blicken und dort die völlig ausgemergelten und kranken Gefangenen sehen. Von den Wachtürmen der großen Postenkette entlang der alten Rampe zwischen Auschwitz und Birkenau beobachtete er das Ankommen der Deportationszüge, die seit Mai 1942 dort regelmäßig eintrafen, sowie die anschließende Selektion und den Abtransport der Selektierten zu den Gaskammern. Im Rahmen der Bereitschaftsdienste nahm er das Geschehen an der Rampe beim Umstellen dieses Bereiches aus unmittelbarer Nähe wahr. Bei der Begleitung der Arbeitskommandos sah er die völlig ausgezehrten Körper der Häftlinge, die unzureichende Nahrung, die ihnen mittags zur Verfügung gestellt wurde, und die schwere, die Kräfte der Inhaftierten völlig übersteigende Arbeitsbelastung. Er sah selbst das Leiden der hungernden Gefangenen, und erlebte, dass sie während der Arbeit vor Erschöpfung zusammenbrachen oder gar starben.
72Über seine Wahrnehmungen tauschte sich der Angeklagte mit seinen Kameraden und mit anderen, schon länger in Auschwitz tätigen Mitgliedern des Wachbataillons aus. Alle waren über die Einzelheiten der Tötungen schon aufgrund ihrer eigenen Dienste an wechselnden Standorten gut informiert. Zudem herrschte zwischen Kommandantur und Innendienst auf der einen und den Wachmannschaften auf der anderen Seite ein reger Personalaustausch, im Zuge dessen je nach Bedarf Wachleute in den Innendienst abkommandiert oder versetzt und auch wieder zurück kommandiert wurden. Der Personaltransfer ermöglichte einen umfassenden Austausch von detailliertem Wissen auch bezüglich der lagerinternen Vorgänge. Angesichts der herausragenden Grausamkeit des Geschehens in Auschwitz, die bei allen Beteiligten Gesprächsbedarf hervorrief, war das Vernichtungsgeschehen auch in den Details Gegenstand der Gespräche unter den Wachleuten. In der 3. Kompanie, zu welcher der Angeklagte am 07. Juni 1942 versetzt wurde, fand zudem zwischen dem Kompaniechef P 1 und den Mitgliedern seiner „Peer-Group“ – zu der auch der Angeklagte gehörte – ein reger Informationsaustausch statt, der zu einer umfassenden Kenntnis der Geschehnisse im Lager führte.
73Da der Angeklagte sich für die Vorgänge im Lager interessierte, nutzte er den Umstand, dass er Zugang zum inneren Lagerbereich hatte, um sich bei mehreren Gelegenheiten alles genau anzusehen. Er schaute sich unter anderen die Krematorien an und beobachtete mindestens einmal, wie die Selektierten der Tötung in den Gaskammern zugeführt wurden. Dabei beobachtete er, wie die ahnungslosen Menschen sich ohne Widerstand in die Gaskammern treiben ließen und hörte wenig später ihre Schreie. Auch sah er sich den Hof zwischen Block 10 und 11 an, in dem Häftlinge erschossen wurden. Bei seinem Aufenthalt im Schutzhaftlager kam er auch mit den ausgehungerten Gefangenen in Kontakt.
74Spätestens bei der Ausübung seiner Dienstaufgaben in den Jahren 1943 und 1944 war dem Angeklagten mithin sowohl aus den Gesprächen mit anderen Angehörigen des Wachsturmbanns als auch aus eigener Wahrnehmung zu jeder Zeit bewusst, dass Ausschwitz ein Vernichtungslager war, das einzig und allein dem Zweck diente, die dorthin Deportierten aus ideologischen Gründen massenweise zu töten, und dass die das Vernichtungsgeschehen bestimmenden nationalsozialistischen Machthaber aufgrund ihrer rassistischen und menschenverachtenden Weltanschauung die bei den Tötungen von den Opfern erlittenen Qualen für eine möglichst effektive Tötung zumindest in Kauf nahmen. Er wusste, dass die Opfer sich aufgrund vielfacher, bewusster Täuschungen über die Tötungsabsicht völlig ahnungs- und wehrlos ohne Widerstand in die Gaskammern begaben und dass die Menschen dort langsam und qualvoll an der Vergiftung durch das Gas Zyklon B starben. Er kannte auch den qualvollen und langsamen Verlauf des Hungertods, den unzählige Gefangene aufgrund der unzulänglichen Lebensbedingungen erlitten. Ihm waren schließlich auch die seelischen Qualen bewusst, welche die Gefangenen im Bewusstsein der ihnen bevorstehenden Exekution an der schwarzen Wand im Hof zwischen Block 10 und 11 des Stammlagers erlitten.
75Bei alledem war ihm klar, dass den Gefangenen damit unsagbares Unrecht widerfuhr, für welches es keine Rechtfertigung gab. Ihm war bewusst, dass allein die Religions- und Volkszugehörigkeit der Opfer, die – wie er aufgrund seiner Ausbildung und der Schulungen wusste – einziger Grund ihrer Verfolgung war, niemals die Tötungen rechtfertigen konnte. Dass von den Deportierten, von denen zuerst Kinder, Alte und Kranke getötet wurden, keinerlei Gefahr ausging, war auch für den Angeklagten nicht zweifelhaft.
76Dem Angeklagten war auch bewusst, dass während seiner Tätigkeit in Auschwitz tausende von Menschen ums Leben kamen. Anhand der Anzahl der ankommenden Waggons und der Menge der aus ihnen heraus getriebenen Menschen sowie der Vielzahl der Leichen konnte er die außerordentliche Zahl der Opfer in etwa abschätzen.
77c)
78Der Angeklagte war sich als privilegiertes Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns ferner seiner Rolle im Rahmen des Massenmordes stets bewusst. Ihm war klar, dass die ihm obliegende Bewachung der Gefangenen bereits durch seine bloße Anwesenheit in Uniform und mit Schusswaffe und die dadurch bewusst erzeugte Drohkulisse wesentlich zur Umsetzung des Tötungsgeschehens beitrug. Er wusste, dass er mit jeder seiner Tätigkeiten in den verschiedenen Aufgabenbereichen der 3. Kompanie – sowohl als Wachposten als auch später als Gruppenführer – den Massenmord förderte.
79Das nahm der Angeklagte zumindest hin. Nachdem er anfangs seine Kameraden aus dem Fronteinsatz, mit denen er im engen Zusammenleben und unter den gefährlichen Bedingungen des Feldeinsatzes sehr vertraut geworden war, noch vermisste, wurden ihm nach und nach die Sicherheit, die ihm seine Tätigkeit im Konzentrationslager Auschwitz bot, und das Ansehen, das er dort genoss, wichtiger. Insbesondere in der 3. Kompanie als Mitglied der „Peer-Group“ um den Kompaniechef P 1 fühlte er sich gut aufgehoben. Durchgreifende Bedenken hinsichtlich des Vernichtungsgeschehens, zu dem er durch seine Tätigkeit beitrug, stellten sich ihm in der Gesellschaft der Gleichgesinnten und unter dem ständigen Einfluss ideologischer Schulungen nicht. Die nationalsozialistische Weltanschauung teilte er jedenfalls insoweit, als er die „arischen“ Deutschen für überlegen und die Menschen nicht „arischer“ Herkunft, insbesondere Juden, für grundsätzlich „minderwertig“ hielt. Zudem vertraute er – wie auch alle seine Kameraden – seinen Vorgesetzten und dem nationalsozialistischen System, das ihn seit seiner frühen Jugend geprägt hatte. Ob der Angeklagte darüber hinaus aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung auch selbst ein eigenes Interesse an der Verwirklichung der „Endlösung“ hatte, konnte im Rahmen der Hauptverhandlung nicht geklärt werden. Jedenfalls aber war ihm das Schicksal der Opfer in Auschwitz aufgrund seiner Weltanschauung grundsätzlich gleichgültig. Das massenhafte Töten der auch aus seiner Sicht „minderwertigen“ jüdischen Menschen in Auschwitz war für ihn mit der Zeit zur Normalität geworden. Der Angeklagte führte die ihm übertragenden Wachaufgaben in Kenntnis des durch sie geförderten Massenmordes gewissenhaft aus und erwies sich bei seinen Diensten in der kleinen und großen Postenkette, bei der Bewachung der Arbeitskommandos und bei den Bereitschaftsdiensten der 3. Kompanie an der alten Rampe als willfähriger und effizienter Gefolgsmann. Das führte am 01. Februar 1943 zu seiner Beförderung zum Rottenführer.
80In der Folgezeit wurden die Führungsqualitäten des Angeklagten erprobt. Zwar war er zu diesem Zeitpunkt nur Rottenführer. Als Mitglied der Kerntruppe um seinen Kompaniechef P 1 war der Angeklagte jedoch bereits mit einer besonderen Befehlsgewalt ausgestattet. Diese nutzte der Angeklagte, um sich weiter zu bewähren. Dazu bestand angesichts der mittlerweile nahezu täglich eintreffenden Deportationszüge mit tausenden zumeist jüdischen Deportierten reichlich Anlass und Gelegenheit. Die ständig wachsende Zahl der Deportierten, die innerhalb kürzester Zeit in den Gaskammern getötet oder der Zwangsarbeit zugeführt werden sollten, erforderte einen absolut reibungslosen und effizienten Ablauf aller dazu erforderlichen Schritte. Dies machte den Einsatz aller verfügbaren Wachkräfte und deren strenge und zielgerichtete Führung erforderlich. Der Angeklagte als verlässlicher und verdienter reichsdeutscher SS-Angehöriger wurde mit der Führung kleinerer Wachgruppen, zum Beispiel bei der Begleitung der Arbeitskommandos, und mit Kontrollaufgaben, etwa innerhalb der kleinen und großen Postenkette und beim Rampendienst betraut. Diese Führungstätigkeiten gefielen dem Angeklagten und er übte sie gewissenhaft in Kenntnis ihrer Bedeutung für die Abwicklung des Vernichtungsgeschehens aus. Um sich dauerhaft für solche Aufgaben zu qualifizieren, meldete er sich freiwillig zur Weiterbildung zum Unterscharführer. Seinen Vorgesetzten erschien der pflichtbewusste und ehrgeizige Angeklagte als besonders förderungswürdig. Deshalb absolvierte er den Unterführerlehrgang – anders als die meisten seiner Kameraden – nicht in der Nähe von Auschwitz, sondern wurde zur SS-Junkerschule in O 20 geschickt, deren Absolventen nach der nationalsozialistischen Rassenideologie den zukünftigen Führungskader der SS bilden sollten. Auch das erfüllte den Angeklagten mit Stolz. In O 20 wurde der Angeklagte zwei Monate lang für die kommenden Führungsaufgaben geschult. Nach erfolgreichem Abschluss des Lehrgangs kehrt er nach Auschwitz zurück.
81Dort lief das Vernichtungsgeschehen bereits seit dem Frühjahr 1943 auf Hochtouren. Insbesondere die Räumung der großen jüdischen Ghettos in Saloniki / Griechenland im März und April 1943 sowie der Ghettos Sosnowitz und Bendsburg in Oberschlesien Anfang August 1943, bei denen jeweils mindestens 15 Züge mit durchschnittlich je 2.500 Menschen ankamen, erforderte den vollen Einsatz aller verfügbaren Kräfte. Neben den turnusmäßigen Wachdiensten waren daran alle Kompanien – und damit auch die 3. Kompanie – mit Rampendiensten und Begleitdiensten regelmäßig beteiligt. Als Anerkennung für die von allen SS-Angehörigen geleistete Arbeit anlässlich dieser „Sonderaktionen“ befahl der Lagerkommandant bei mehreren Gelegenheiten, so etwa mit Standortbefehl vom 6. August 1943, für kurze Zeiträume – etwa ein Wochenende – das Ruhen jeglichen „Dienstbetriebs“ und gewährte dadurch dem gesamten KZ-Personal Sonderurlaub. Mitglieder des Totenkopfsturmbanns, die sich bei der Bewältigung der „Sonderaufgaben“ besonders hervor getan hatten, wurden ausgezeichnet. Zu ihnen gehörte der Führer der 3. Kompanie Auschwitz I, P 1, dem für die Erfüllung der ihm übertragenen „Sonderaufgaben“ das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern verliehen wurde. Ebenso wie sein Kompaniechef P 1 bewährte sich auch der zu dessen Kerntruppe gehörende Angeklagte bei der täglichen Abwicklung des Massenmordes. Da auch seine sonstige Führung gut war und ihm zu keiner Zeit Strafen erteilt werden mussten, wurde er – wie von ihm erstrebt – am 1. September 1943 zum Unterscharführer mit einem Gehalt von ca. 1.000 Reichsmark monatlich befördert.
82In der Folgezeit hatte der Angeklagte zumindest die Funktion eines Gruppenführers in der 3. Kompanie. In dieser Eigenschaft unterstand ihm eine Gruppe von bis zu 15 Wachleuten, die seine Anweisungen bei der Dienstausübung zu befolgen hatten. Bei der Leitung seiner Gruppe war es seine Aufgabe, die Dienstanweisungen seiner Vorgesetzten umzusetzen. Ihm kam damit eine Schlüsselfunktion bei der Organisation und Durchführung der seiner Gruppe obliegenden Aufgaben bei den Wachdiensten in den Postenketten, bei der Begleitung der Arbeitskommandos und insbesondere bei den Diensten an der alten Rampe zu. Dazu stand er in engem Kontakt mit seinen Dienstvorgesetzten, die ihn zur ordnungsgemäßen und effizienten Erfüllung seiner Aufgaben über die wesentlichen Vorgänge im Lager unterrichteten. Damit war er eine wichtige Schnittstelle zwischen Führungsebene und Mannschaftsdienstgraden mit engem Kontakt zu den Führern seiner Kompanie. In dieser Funktion war der Angeklagte bis zum 12. Juni 1944 in der 3. Kompanie des Wachsturmbannes Auschwitz tätig. Im gesamten Tatzeitraum von Januar 1943 bis zum 12. Juni 1944 war er insgesamt lediglich maximal drei Monate aufgrund von Ausbildung, Krankheit und Urlaub nicht als Wachmann in Auschwitz tätig.
83d)
84Ein Gesuch zur Versetzung zurück an die Kriegsfront, das jederzeit möglich und angesichts des großen Bedarfs an Soldaten in den Jahren 1943 und 1944 auch erfolgreich gewesen wäre, stellte der jedenfalls im Tatzeitraum kriegsverwendungsfähige Angeklagte nicht. Er wollte im sicheren „Innendienst“ des Konzentrationslagers verbleiben und dort das Beste für sich herausholen. Dafür nahm der Angeklagte zumindest in Kauf, dass unter seiner Mithilfe massenhaft unschuldige Menschen in Auschwitz auf qualvolle Weise umgebracht wurden.
854.
86Am 13. Juni 1944 wurde der Angeklagte zum Wachsturmbann Sachsenhausen versetzt. Er verrichtete dort zunächst bis zum 21. Juli 1944 Dienst in der 9. Kompanie. Am 22. Juli 1944 wurde er gemäß „fernmündlichem Bataillonsbefehl“ vom 20. Juli 1944 zur 8. Kompanie des Wachsturmbannes Sachsenhausen versetzt. Unmittelbar danach verlängerte der Angeklagte seine Dienstverpflichtung bei der Waffen-SS auf zwölf Jahre.
87Kurz vor dem Kriegsende, als sich die russische Armee Berlin näherte, wurden aus den Wachmannschaften der Konzentrationslager Kampfeinheiten gebildet. Am 5. April 1945 schloss sich der Angeklagte der Kampfgruppe „Wimmer“ des 3. Germanischen SS-Panzer-Korps an. Einen Monat später, am 5. Mai 1945, wurde der Angeklagte mit weiteren Angehörigen seiner Einheit in englische Kriegsgefangenschaft genommen. Diese wurde für den Angeklagten bis zum 20. Mai 1948 in verschiedenen Lagern in Deutschland, Belgien und England vollzogen.
88Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft heiratete der Angeklagte seine Verlobte, die er während seiner Tätigkeit in Auschwitz kennengelernt hatte, und baute sich mit seiner Familie eine Existenz in 0 6 auf. Über seine Tätigkeit in den Konzentrationslagern sprach er bis zu seiner Beschuldigtenvernehmung in der vorliegenden Sache im Februar 2014 mit niemandem.
895.
90Die Angehörigen der im Tatzeitraum im Konzentrationslager Auschwitz in den Gaskammern, durch Erschießen und durch die Lebensumstände getöteten Menschen leiden bis heute unter dem gewaltsamen Verlust ihrer Verwandten. Durch die Vernichtungsmaschinerie Auschwitz haben sie ganz überwiegend den Großteil ihrer Angehörigen verloren, manche sind sogar die einzigen Überlebenden ihrer gesamten Großfamilie. Von dem Tod ihrer Angehörigen erfuhren die zu diesem Zeitpunkt zumeist noch jugendlichen Nebenkläger auf ihre bange Frage nach deren Verbleib auf grausame Weise durch die lapidare Mitteilung, dass diese bereits „durch den Schornstein gegangen“ seien. Mit ihren Verwandten verloren die Nebenkläger auch ihre bisherige Heimat, da ihre Wohnungen und Häuser sowie der gesamte Familienbesitz nach den Deportationen von anderen Menschen in Besitz genommen worden waren. Viele der Überlebenden verließen daraufhin ihre Heimatländer und wanderten in die USA, nach Kanada, Israel und in andere Länder aus, wo sie sich ohne die Unterstützung ihrer Verwandten ein neues Leben aufbauen mussten. Die Vorstellung von dem schrecklichen Tod ihrer Angehörigen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Erinnerung an die grausame Lagerwirklichkeit für sie in der Folgezeit stets gegenwärtig war, prägt und belastet die Überlebenden noch immer. Alpträume und Schuldgefühle gegenüber den Verstorbenen gehören bis heute zu ihrem Leben. Die Weitergabe des Erlebten und des Leidens ihrer Angehörigen zur Mahnung künftiger Generationen ist ihnen Verpflichtung und wesentlicher Lebensinhalt.
91III.
92Der Angeklagte hat sich durch eine von seinem Verteidiger verlesene und von ihm bestätigte Erklärung wie folgt zu seiner Person und zur Sache eingelassen:
93„Ich wurde am 28.12.1921 in 0 1, heute 0 9, damals Kreis 02, als Sohn des Arbeiters P 2 und dessen Ehefrau P 3, geboren. Aufgewachsen bin ich in O 3, einem heutigen Stadtteil von O 6, Kreis O 10. Meine Familie bestand aus meinen Eltern, meiner zwei Jahre jüngeren Schwester und einer weiteren, allerdings 14 Jahre jüngeren Schwester. Ich besuchte zunächst von meinem 7. Lebensjahr an die Volksschule in O 3. Dort blieb ich bis zu meinem 14. Lebensjahr. Ich wuchs in einem Elternhaus auf, in welchem die politische Gesinnung nicht im Vordergrund stand. Mein Vater selbst hielt vom Nationalsozialismus nicht viel, war insbesondere nicht Mitglied der NSDAP.
94Als ich 13 Jahre alt war, schlossen sich die Schulkameraden aus meiner Klasse der Hitlerjugend an. Auch ich trat mit 13 Jahren, im Jahre 1935, genauer gesagt am 20. April 1935, in die Hitlerjugend ein. Die Mädchen und Schulkameradinnen meiner Klasse schlossen sich größtenteils dem Bund Deutscher Mädel an. Fortan fanden zunächst nur sporadisch, dann jedoch öfter Versammlungen bzw. Treffen der Mitglieder der Hitlerjugend statt. Die Treffen der Hitlerjugend wurden zunächst vom Bürgermeister des Dorfes O 3 abgehalten. Jedes Mitglied der Hitlerjugend bekam ein hellbraunes Hemd. Während dieser Treffen der Hitlerjugend haben wir viel Sport getrieben und gemeinsame Wanderungen unternommen. Nach meiner Erinnerung ging es während dieser Treffen weniger um die politische Bildung der Jungen, sondern vielmehr um ihre sportliche Betätigung, das Durchführen von Wettkämpfen usw. Da mein Heimatort, der Ort O 3, damals sehr klein war, befanden wir uns mit ca. zehn Hitlerjungen in der Hitlerjugend. Wenn Wettkämpfe stattfanden, liefen die Veranstaltungen mehr über die Kreisebene. In O 4, der nächstgrößeren Stadt, war die Hitlerjugend schon anders organisiert. Hier fanden auch öfter Wettkämpfe statt, an denen wir teilnahmen.
95Mit 14 Jahren beendete ich die Volksschule und nahm eine Arbeitsstelle in einer Fabrik in O 4 an. Ich musste also früh morgens mit dem Fahrrad jeden Tag zunächst einmal nach O 4 fahren, um zur Arbeitsstelle zu gelangen. Dort angekommen, habe ich den ganzen Tag schwer arbeiten müssen. Wenn ich dann abends mit dem Fahrrad von O 4 nach O 3 zurückfuhr, war es oft schon dunkel. Ich war auch müde und kaputt. Ich hatte oft gar keine Zeit und auch keine Lust mehr, nach meiner schweren Arbeit auch noch Sport zu treiben und zu den Treffen der Hitlerjugend zu erscheinen. Hinzu kam, dass mein Vater seinerzeit einen großen Nutzgarten betrieb. Auch hier war ich ständig eingebunden, da mein Vater auch selten zu Hause war und den ganzen Tag über in einer Fabrik zu arbeiten hatte.
96Als ich 17 Jahre alt wurde, starb meine Mutter. Meine zwei Jahre jüngere Schwester, die damals 15 Jahre alt war, musste fortan quasi die Leitung des Haushaltes übernehmen. Die jüngere Schwester, die damals 3 Jahre alt war, wurde zunächst zur Großmutter in Obhut gegeben. Kurz darauf lernte mein Vater eine andere Frau kennen. Diese war von Beruf Krankenschwester. Ich weiß, dass diese Frau Mitglied in der NSDAP war. Sie stammte aus O 8. Die neue Frau meines Vaters hieß mit Geburtsnamen P 4. Sie war von Beruf - wie bereits erwähnt - Krankenschwester und in der NS-Schwesternschaft des Gaues O 15 organisiert. Die neue Frau meines Vaters bestand darauf, dass wir Kinder, also ich und meine beiden Schwestern, nicht im Hause meines Vaters verblieben. Ich weiß noch, dass die neue Frau meines Vaters zu diesem sagte: „Ich komme nur zu dir nach Hause, wenn deine Kinder aus dem Hause sind. “Die neue Frau meines Vaters sorgte dann dafür, dass meine 14 Jahre jüngere Schwester, dauerhaft bei den Großeltern untergebracht wurde, um dort erzogen zu werden. Meine ältere Schwester, damals 15 Jahre alt, wurde von der neuen Frau meines Vaters an einer Schwesternschule in O 13 angemeldet. Dort sollte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvieren. Gleichzeitig bot dies die Möglichkeit, in ein dortiges, nämlich in O 13 gelegenes Schwesternwohnheim einzuziehen, so dass meine Schwester ebenfalls nicht mehr im Hause meines Vaters wohnte.
97Mittlerweile wurden immer mehr meiner Schulkameraden zur Wehrmacht einberufen. Da meine Einberufung ebenfalls bevorstand, kam mein Großvater auf die Idee, ich solle mich mit meinem Schulfreund aus O 3 besser freiwillig bei der Wehrmacht in
98O 11 melden, damit man zumindest bei der Grundausbildung zusammenblieb und heimatnah stationiert war. Ich bin dann mit meinem Schulfreund nach O 11 gefahren. Dort war damals bereits Militär stationiert. Ich habe noch eine Bescheinigung der Gemeinde O 3 in meinen Unterlagen gefunden, aus welcher hervorgeht, dass ich am 25. Juli 1940 zum Militär ein berufen wurde. Die Einberufung erfolgte zur Wehrmacht.
99Als meine Stiefmutter mitbekam, dass ich mich in O 11 zur Wehrmacht melden sollte, sagte sie: „Du gehst zur SS. Ich kann dir dabei helfen. Bei der SS kannst du etwas werden. Ich kenne Mittel und Wege, dich bei der SS anzumelden.“ Noch bevor ich zum Dienstantritt bei der Wehrmacht in O 11 erscheinen konnte, erhielt ich einen Musterungsbescheid von der SS in O 8. Ich bin dann nach O 8 gefahren, genauer nach O 12, dort war die Anmeldestelle, bei der man sich zur SS melden konnte. Ich bin alleine dort hingefahren. Noch am selben Tage wurde ich bei der SS gemustert. Das Ergebnis hieß: „Volltauglich“. In der Anmeldungsstelle der SS erklärte ich dem dortigen Mitarbeiter, dass ich bereits einen Einberufungsbescheid von der Wehrmacht erhalten hatte. Diesen hatte ich bei mir. Man nahm mir diesen Einberufungsbescheid der Wehrmacht sofort ab und sagte mir, dass dieser nun hinfällig sei. Man werde sich nun bei der SS um alles Weitere kümmern. Kurze Zeit später wurde mir ein Schreiben der SS zugestellt. In diesem Schreiben stand, dass ich mich in O 21 in Österreich zu melden habe und mich dort einer Ausbildung zu unterziehen hätte.
100Wenig später bin ich dann nach O 21 in Österreich gefahren. Ich kann nicht mehr eingrenzen, welcher Monat dies gewesen ist, ich meine mich aber erinnern zu können, dass es Anfang 1940 gewesen ist. Ich bin mir aber nicht sicher. Sicher bin ich mir, dass die neue Frau meines Vaters erst zu dem Zeitpunkt in mein Elternhaus eingezogen ist, als ich mich in O 21 zu melden hatte und von zu Hause weg war. In O 21 selbst wurden wir zunächst eingekleidet. Wir hatten unsere Unterkünfte zu beziehen. Wir mussten eine Wehrausbildung absolvieren. Diese dauerte zwischen einem viertel und einem halben Jahr, genau kann ich das nicht mehr sagen, es waren jedenfalls mehrere Monate. Politisch wurden wir nicht oder nur wenig geschult. Der Schwerpunkt der Ausbildung lag in der Ausbildung an der Waffe. Ich habe dort in O 21 mit anderen Kameraden zusammen in einer Kaserne gewohnt. Ich teilte mir ein Zimmer mit mehreren Kameraden meines Alters. Man kann sagen, wir wurden dort in der Kriegsführung ausgebildet. Es wurde uns der Umgang mit der Schusswaffe beigebracht.
101Im Anschluss an diese Wehrausbildung hatte ich mich in Holland beim SS-Regiment „Der Führer“ zu melden. Das SS-Regiment „Der Führer“ befand sich in den Niederlanden zur Sicherung der Niederlande. Da das SS-Regiment „Der Führer" schon damals Verluste zu verzeichnen hatte, sollten wir das Regiment wieder auffüllen. Ich habe mir seinerzeit, ich weiß nicht mehr wann dies war, mit der Schreibmaschine eine Übersicht über meine Frontdienste gefertigt. Danach befand ich mich in der Zeit vom 08.12.1940 bis einschließlich 15.12.1940 beim Regiment „Der Führer“ zur Sicherung der Niederlande. In der Zeit vom 18.12.1940 bis 31.03.1941 beteiligte sich unser Regiment an der Besatzung in Nordfrankreich. In derzeit vom 08.04.1941 bis 18.04.1941 nahm ich am Feldzug gegen Serbien und am Vorstoß gegen Belgrad teil. Vom 25.06.1941 bis 08.07.1941 war unser Regiment an einem Vorstoß gegen Berisina beteiligt. Vom 09.07.1941 bis 14.07.1941 war unser Regiment beim Durchbruch durch die Dnepr-Stellung beteiligt. In der Zeit vom 28.07.1941 bis 05.08.1941 fanden Abwehrkämpfe bei Gelnja statt. Vom 04.09.1941 bis 18.09.1941 waren wir in die Verfolgungsschlacht bei Kiew eingebunden.
102Am 20.09.1941 wurde ich bei einer Schlacht im Raum O 17 verwundet. Im Nahkampf bekam ich einen Granatsplitter in den Bereich der Schläfe. Ferner erlitt ich Oberschenkeidurchschüsse am rechten Bein. Ich habe damals viel Blut verloren. Ich weiß noch, dass mir Sanitäter helfen wollten. Sobald sie jedoch in meine Nähe kamen, wurden sie vom Feind, dem Russen, unter Beschuss genommen. Schließlich fuhren unsere Panzer auf und beschossen das Mündungsfeuer der russischen Soldaten. Ich konnte dann abtransportiert werden. Ich wurde in ein nahegelegenes Lazarett verbracht. Dieses Lazarett lag in der Nähe von Radom. Dort wurde ich erstbehandelt. Vom Feldlazarett in O 18 wurde ich dann in das Krankenhaus nach O 22 verbracht. Ich wurde später dort am Kopf operiert, der Granatsplitter konnte schließlich entfernt werden. Die Operation gestaltete sich jedoch insofern schwierig, als dass der Granatsplitter ziemlich tief in der Schläfe steckte. Wie man mir später berichtete, trauten sich die Ärzte zunächst nicht, die Operation durchzuführen. Als es dann endlich soweit war und ich operiert wurde, bekam ich hohes Fieber und Malaria. Das war mein erster Malariaanfall. Die Genesung verzögerte sich dadurch. Nachdem ich wieder transportfähig war und mich einigermaßen erholt hatte, wurde ich zur Solahütte verbracht. Dort befand sich ein Sanatorium. Als ich dort ankam, bekam ich wieder einen Malariaanfall und hohes Fieber. In dieser Zeit musste ich viel an meine Kameraden denken, mit denen ich an der Front gekämpft hatte. Ich wäre damals, als ich in der Solahütte war, viel lieber wieder zu ihnen an die Front gegangen. Mit den Kameraden an der Front habe ich mich immer gut verstanden. Einer stand dort für den anderen ein. Das hat mir als junger Mann sehr gefallen. Ich wollte eigentlich nicht im Sanatorium bleiben, allerdings warf mich das Malariafieber wieder zurück. Der Spieß der Ersatzeinheit sagte damals zu mir: „A, was wollen Sie an der Front? Sie können ja nicht mal einen Stahlhelm tragen und laufen können Sie auch nicht richtig. “ Als ich fragte, was denn mit mir werden solle sagte mir der Spieß, er wisse schon was er vorhätte. Er sagte mir, man würde mich zum Innendienst nach Auschwitz schicken.
103Ich habe mir damals keine Gedanken gemacht. Ich wusste nicht, was Auschwitz war. Ich wusste nur, dass ich dort so eine Art Innendienst absolvieren sollte. Ich habe dann zunächst gedacht, Auschwitz sei ein Kriegsgefangenenlager für gefangene Franzosen, Engländer oder andere Kriegsgefangene. Ich habe mir anfangs überhaupt keine Gedanken gemacht. Erwähnen möchte ich noch, dass ich für meinen Militäreinsatz an der Front ein Verwundetenabzeichen erhielt, ferner wurde mir ein Infanteriesturmabzeichen in Silber und das eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen. Diese Umstände ergeben sich aus einem Ausweis, der als Ersatz für das durch Feindeinwirkung verlorene Soldbuch erstellt wurde.
104In Auschwitz angekommen, hatte ich mich sofort in der Kommandatur zu melden. Die Kommandatur befand sich direkt links neben dem Haupteingang zum Stammlager. Ich wurde eingewiesen, man zeigte mir meine Unterkunft, die ich mir mit zwei anderen Kameraden des dritten Wachbataillons teilte. Einer dieser Kameraden, das weiß ich noch, stammte aus O 16. Da ich zu Beginn meiner Tätigkeit für den Innendienst vorgesehen war, bestand meine Aufgabe zunächst einmal darin, das zu tun, was der Spieß nicht selber machte. Wenn man den Eingang zum Stammlager Auschwitz I betrat, befand sich auf der linken Seite unmittelbar links gelegen die Kommandatur. In diesem Gebäude befand sich meine Dienststube. Dort befand sich der UVD-Raum. In diesem Raum hielt ich mich auf, wenn ich Dienst hatte, zumeist allein. Nach meiner Erinnerung versah ich den Dienst dort morgens, tagsüber und die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen. Der UvD-Dienst in der Kommandatur dauerte über 24 Stunden an. Nachts musste ich wach bleiben. Man konnte sich zwar mal eine Stunde auf der sich dort befindenden Pritsche hinlegen, im Prinzip musste man aber 24 Stunden wachbereit sein. Sämtliche Leute und Menschen, die durch das Haupttor des Stammlagers gingen, hatten sich beim UvD in der Kommandatur im Eingangsbereich zu melden, also wenn ich Dienst hatte, auch bei mir. Die ersten Wochen bestand mein Dienst außerdem darin, Stubenappelle durchzuführen. Ich beaufsichtigte das Waffenreinigen der anderen Kameraden. Die Aufsicht über das Waffenreinigen gehörte auch zum Dienst des UvD. Ferner musste ich als UvD als erster morgens aufstehen. Ich hatte damals eine Art Trillerpfeife, in die ich hinein blies und gleichzeitig hatte ich die Türen der Kasernenräume zu öffnen und „Aufstehen, raus!“ zu schreien. Im Anschluss daran war Antreten zum Frühstück, d. h., die Soldaten mussten sich im Flur der Kaserne aufstellen und marschierten dann praktisch zum Frühstücksraum. Nach dem Frühstück hatten die Soldaten zum Appell anzutreten. Dieser fand außerhalb des Kasernengebäudes statt. Es wurde festgestellt, ob jemand fehlte, ob jemand krank war oder anderweitig nicht einsatzbereit war. Ferner wurde bei dieser Gelegenheit kontrolliert, ob die Blutgruppe der Soldaten ordnungsgemäß unter dem linken Arm eintätowiert war. Ich selbst hatte die Blutgruppe 0. Später wurde dazu übergegangen, was jeweils anbefohlen wurde. Das war sehr unterschiedlich, je nach Dienst. Ich habe dann tagsüber die Häftlinge gesehen. Diese bewegten sich im Lager nach meiner Erinnerung jedoch nicht frei, d. h., sie konnten sich nicht ohne Begleitung bewegen. Wenn ich sage, sie konnten sich nicht frei bewegen, so meine ich damit, dass immer jemand vom Wachpersonal mit dabei war, wenn die Häftlinge im Lager unterwegs waren. Selbst wenn nur ein einzelner Häftling sich im Lager bewegte, war jemand vom Bewachungspersonal bei ihm und begleitete ihn.
105Als ich mehrere Wochen in Auschwitz war, war mir bekannt, was dort mit den Häftlingen geschah. Dies offenbarte sich mir nicht sofort, ich bekam dies mit der Zeit jedoch mit. In den ersten Tagen hat uns niemand darüber erzählt. Wenn man aber, wie ich, längere Zeit da war, dann bekam man auch mit, was dort ablief. Es wurden Menschen erschossen, vergast und verbrannt. Ich konnte sehen, wie Leichen hin- und hergefahren oder abtransportiert wurden, ja, das bekam man mit. Ich nahm Verbrennungsgeruch war. Ich wusste, dass man Leichen verbrannte. Es herrschte dort eine Atmosphäre, die ich heute nicht mehr beschreiben kann. Man sah was geschah, konnte sich jedoch gegenüber anderen Kameraden nicht so richtig äußern und verständigen. Die Situation war völlig anders als an der Front. Dort war es so, dass man mit den Kameraden über alles sprechen konnte. Dort konnte sich jeder auf den anderen verlassen. Man brauchte sich niemals darüber Gedanken zu machen, dass - wenn ein Kamerad dem anderen etwas erzählte - dies weitergetragen wurde. In Auschwitz war das anders. Hier habe ich so gut wie niemandem getraut. Es wurde auch wenig gesprochen. Man wusste ja nie, wenn man irgendetwas sagte, ob es nicht an andere weitergetragen wurde. Hinzu kam, dass unter den SS-Soldaten des Wachbataillons auch welche ihren Dienst versahen, die der deutschen Sprache nicht oder nur unzureichend mächtig waren. Zwar wurde im Lager, wenn man länger dort war, schon einmal das eine oder andere Wort zwischen den Kameraden und Mitgliedern des Wachbataillons gesprochen. Ich bin der Meinung, dass jeder, der Mitglied des Wachbataillons war, wusste, was dort geschah. Dieses Wissen bestand meines Erachtens unabhängig vom jeweils geleisteten Dienst. Natürlich waren andere Kameraden näher dran, andere weniger nah. Mit nah dran meine ich nah an den Tötungshandlungen.
106Nach einigen Wochen oder Monaten, ich weiß es nicht mehr genau, wurde ich zum regulären Wachdienst eingeteilt. Diese Wachdienste waren nach meiner Erinnerung in den sogenannten Tag- und Nachtdienst eingeteilt, der jeweils für zwölf Stunden andauerte. Der Wachdienst dauerte dann jeweils 5-6 Tage. Im Anschluss daran hatte man zwei Tage Freizeit. Nach meiner Erinnerung haben auch die Kompanien untereinander den Wachdienst getauscht, so dass diejenige Kompanie, der man dort angehörte, immer nur turnusmäßig diesen Wachdienst zu absolvieren hatte. Während des Wachdienstes war ich mit einem Karabiner, einer sogenannten „98er“ bewaffnet. Ferner trug ich im Innendienst eine Pistole. Ich habe auch öfter den Wachdienst in der inneren Postenkette absolviert. Ich kann mich erinnern, dass ich während des Wachdienstes in der inneren Postenkette auf einem Wachturm eingesetzt war. Es handelte sich um den Hauptturm. Dieser Wachturm lag direkt neben oder über dem Wachlokal, genau weiß ich das nicht mehr. In diesem Wachturm war auch ein Telefon vorhanden. Dies war außergewöhnlich, da es nicht in jedem Wachturm der inneren Postenkette ein Telefon gab. Auf diesem Hauptturm befanden sich große Scheinwerfer. Diese Scheinwerfer, sogenannte Strahler, waren nachts nicht durchgängig angeschaltet. Sobald man aber eine Bewegung wahrnahm oder irgendetwas unklar war, wurden diese großen Strahler angeschaltet. Die Scheinwerfer waren beweglich. Man konnte so die Strecke, über welche der Elektrozaun geführt war, ableuchten. Das Stammlager Auschwitz I war von einer doppelten Reihe Betonpfosten umgeben. Diese waren etwa drei Meter hoch und mit Stromleitungen ziemlich eng bespannt. Es handelte sich um Hochspannungsleitungen, also um Starkstromleitungen. Vor diesen beiden Zäunen mit Hochspannungsleitungen war noch ein normaler Drahtzaun angebracht. Wir hatten als Mitglieder des Wachbataillons zunächst darauf zu achten, dass niemand diesen Drahtzaun berühren konnte. Schon, wenn jemand diesen normalen Drahtzaun berührte, hatten wir, wenn wir innerhalb der inneren Postenkette auf den Wachtürmen Wachdienst hatten, Schießbefehl. Der Strom wurde des Nachts in den Zaun geladen. Die Wachtürme, die sich innerhalb der kleinen Postenkette befanden, standen nicht so weit auseinander. Nach meiner Erinnerung wurden die Wachtürme der inneren Postenkette nur nachts besetzt. Wenn die Wachtürme nachts besetzt wurden, wurde auch der Strom im Zaun eingeschaltet. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Türme, also die Wachtürme der inneren Postenkette, tagsüber nicht besetzt. Das ging dann im Wechsel über auf die äußere Postenkette, die weiter entfernt war. Dort habe ich jedoch keinen Wachdienst ausgeübt, ich war in der inneren Postenkette eingesetzt. Für die Häftlinge war es meines Erachtens unmöglich zu flüchten, schon gar nicht, wenn der Elektrozaun eingeschaltet wurde. Wenn man nachts auf dem Wachturm Dienst hatte, so konnte man mit den dort installierten Scheinwerfern und Strahlern auch in das Lagerinnere hineinleuchten. Allerdings waren die Scheinwerfer nicht durchgängig an. Sobald man jedoch eine Bewegung im Lager selbst oder irgendetwas Ungewöhnliches wahrnahm, wurden diese großen Strahler angeschaltet. Man durfte jedoch nicht ohne Grund mit den Scheinwerfern innerhalb des Lagers leuchten, aber stets dann, wenn dort irgendeine Bewegung wahrgenommen wurde, die nicht ohne weiteres zugeordnet werden konnte. Diese Wachtätigkeit, die ich in der inneren Postenkette ausübte, bezieht sich auf den Zeitraum, in welchem ich noch nicht zum Unterscharführer befördert wurde.
107Irgendwann meldete ich mich dann freiwillig zum Unteroffizierslehrgang an. Wann dies genau war, kann ich nicht mehr nachhalten. Dieser Unteroffizierslehrgang fand in O 20 statt. Nachdem ich den Lehrgang beendet hatte, stand die Beförderung zum Unterscharführer an. In dieser Funktion war ich öfter Kommandoführer und habe vier bis fünf Soldaten des Wachbataillons kommandiert, vornehmlich bei Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers. Wir wurden dann abgestellt, Häftlinge zu Arbeitseinsätzen zu begleiten, damit keiner flüchten konnte. Ich war dann oft Kommandoführer, jedenfalls war der Unterscharführer immer Kommandoführer, wenn diese Leute zu Arbeitseinsätzen außerhalb der inneren Postenkette geführt wurden. Je nach Größe der Arbeitsgruppe hatte ich dann drei oder vier Soldaten aus dem Wachbataillon dabei. Diese Soldaten, die ich befehligen konnte, haben sich dann im Kreis aufgestellt, so dass von den Häftlingen, sobald die Arbeitsstelle erreicht war, keiner flüchten konnte. Ich kann mich erinnern, dass während dieser Einsätze, an denen ich als Zugführer beteiligt war, sich zu keinem Zeitpunkt irgendein Häftling entfernt hat. Ich glaube auch, dass das Risiko viel zu hoch und dies den Häftlingen auch bewusst war. Wir hätten für diesen Fall sofort von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Um die Arbeiten selbst mussten wir uns nicht kümmern. Das war Sache der Kapos. Diese wussten Bescheid, was für ein Tagespensum zu leisten war oder was die Häftlinge zu arbeiten hatten. Meine Aufgabe war es mit meinem Kommando dafür zu sorgen, dass sich kein Häftling entfernen konnte. Wenn ich gefragt werde, ob ich auch an der alten Judenrampe als Wachführer eingesetzt war, so muss ich dies verneinen. An der alten Judenrampe war ich nicht als Wachführer eingeteilt. Ich weiß aber, dass die dritte Kompanie dort Leute abgestellt hatte. Ich selbst wurde nie an die alte Judenrampe abkommandiert. Ich habe mir aber mal nach Dienstschluss angesehen, wo die neue Bahnlinie nach Birkenau verlegt wurde. Ich habe damals die Maschinen und die Arbeiter gesehen, die die Gleise nach Birkenau verlegten. Während meines Dienstes in der inneren Postenkette habe ich nie erlebt, dass Häftlinge versucht haben, aus dem Lager zu fliehen. Das war meiner Meinung nach von vornherein auch gar nicht möglich, da ja die Elektrozäune verbaut waren. Den Häftlingen wurde auch gesagt, dass man den Zaun nicht berühren sollte. Ihnen wurde gesagt, dass man dann gleich in Flammen steht und sich Starkstrom im Zaun befindet.
108Während meiner weiteren Dienstzeit im Stammlager Auschwitz I bekam ich wieder Malariaanfälle. Man schickte mich dann vom Lager Auschwitz I wieder zur Solahütte. Dort angekommen, bekam ich wiederum hohes Fieber. Es wurde mir gesagt, dass man mich hier nicht gebrauchen könne. Ich solle wieder ins Lager. Im Stammlager Auschwitz I befand sich ja auch eine Krankenstation. Während ich dann im Stammlager in der Krankenstation war, bekam ich durch andere Kameraden mit, dass wieder ein Zug angekommen sei. Man erfuhr natürlich, dass Züge mit Güterwagons in Auschwitz ankamen, die vollgestopft mit Menschen waren. Woher die Züge im Einzelnen kamen, wurde uns nicht gesagt. Uns war aber schon bekannt, dass ein Großteil der Leute, die mit den Zügen ankamen, getötet wurde.
109Ich kann mich an einen Vorfall erinnern. Ich hatte meinen Wachdienst beendet. In meiner Freizeit begab ich mich in das Gebiet, welches sich zwischen dem Stammlager Auschwitz I und Auschwitz II, nämlich Birkenau befand. Auch dort gab es Zäune. An einem solchen Zaun, der sich zwischen dem Lager I und Birkenau befand, sprach mich plötzlich eine Frau an. Die Frau war ca. 40-50 Jahre alt. Sie flehte mich an: „Bitte helfen Sie mir, nehmen Sie mich in Ihre Familie auf. Ich mache alles für Sie. Ich koche, ich putze, ich mache alles. “ Ich sagte der Frau, dass ich ihr nicht helfen könne. Die Frau hatte keine Häftlingskleidung an, war noch normal gekleidet. Sie war völlig durcheinander und flehte mich an, ihr doch zu helfen. Ich sagte ihr noch einmal, dass ich ihr nicht helfen könne. Ich erklärte der Frau, sie solle ganz langsam in Richtung der Häuser in Richtung Polen gehen. Dort könne man ihr vielleicht helfen. Ich sagte ihr, sie solle äußerst langsam gehen, damit man nicht den Eindruck hätte, sie würde vor etwas flüchten. Die Frau ging dann auch ganz langsam und nach vorn gebeugt in Richtung der Häuser, die ich ihr angewiesen hatte und verschwand dort. Ich musste damals nicht an dem Zaun Wache schieben, ich habe mir das nur angeguckt und bin da herumspaziert.
110Ich kann mich noch erinnern, dass uns gesagt wurde, die Transporte kämen jetzt nicht mehr über Auschwitz I, sondern Birkenau bekäme einen eigenen Anschluss. Schon auf halber Strecke, wenn man sich vom Stammlager I in Richtung Birkenau begab, nahm man den Geruch der sich dort befindenden Krematorien wahr. Ich wollte absolut nicht nach Birkenau, ich wusste wohl, was dort los war. Ich habe immer zugesehen, dass ich dort nicht zum Einsatz kam.
111Ich muss noch erwähnen, dass man sich als Mitglied der Wachmannschaft frei innerhalb des Stammlagers bewegen konnte. Während des Wachdienstes kontrollierte ich einen Häftling, der in der Nähe der Kommandatur ein Fahrzeug reparierte. Er hatte Sträflingskleidung an. Ich fragte ihn, ob er auch das Fahrzeug ordnungsgemäß reparieren könne. Er antwortete, dass er dies gelernt habe. Ich fragte ihn, wo er herkomme. Er antwortete, dass er aus O 4 stamme. Ich teilte ihm mit, dass ich aus O 6 käme und fragte ihn, ob er O 6 kennen würde. Dies bejahte der Häftling. Am nächsten Tag kontrollierte ich den Häftling erneut. Der Häftling sprach mich an und fragte mich, ob ich ihm einen Gefallen tun könne. Ich fragte ihn, was er denn wolle. Er fragte mich dann, ob ich nicht einen Brief an seine Frau mitnehmen könne. Ich sagte ihm, ich wisse nicht, was auf mich zukomme, wenn dies jemand in Erfahrung brächte. Der Häftling bat mich noch einmal, ich möge ihm diesen Gefallen doch tun. Ich sagte ihm dann, dass der Transport des Briefes große Gefahren für mich bedeuten würde. Ich würde es mir noch einmal überlegen. Dieses Gespräch fand statt, kurz bevor ich meinen Heimaturlaub antreten konnte. Wenige Tage später traf ich diesen Häftling erneut im Bereich der Kraftfahrzeugwerkstatt im Stammlager. Der Häftling bat mich nochmals, ihm diesen großen Gefallen doch zu tun. Ich sagte ihm, wenn ich beim Transport dieses Briefes erwischt würde, wäre ich dran. Ob er denn wisse, was mich zu erwarten hätte. Der Häftling bat mich trotzdem noch einmal eindringlich und sagte, dass seine Frau in O 4 lebe. Sie wisse nicht einmal, wo er sei. Der Häftling holte dann den Brief aus der inneren Jackentasche. Ich habe ihn schnell an mich genommen und eingesteckt. Als ich meinen Heimaturlaub angetreten habe, bin ich mit dem Fahrrad nach O 4 gefahren. Ich habe meine Uniform jedoch nicht angezogen. Das war mir zu riskant. Die Frau des Häftlings lebte ein oder zwei Straßen unterhalb der X-Straße in O 4. Ich habe diese Frau schließlich gefunden und ihr den Brief übergeben. Ich habe nicht viel mit der Frau gesprochen. Die Frau wollte wissen, von wem dieser Brief denn sei. Ich habe ihr gesagt, ich wisse es nicht. Ich habe sie gefragt, ob sie den Brief annehmen würde oder nicht. Schließlich nahm sie ihn an. Ich habe mich dann schnell mit meinem Fahrrad entfernt. Ich hatte mich der Frau weder vorgestellt noch einen Namen genannt. Ich kann nicht sagen, was aus dem Häftling, der mir den Brief übergeben hat, geworden ist.
112Wenn ich vorher gesagt habe, dass wir uns im Stammlager frei bewegen konnten, so trifft dies nicht ganz zu. Die eigentlichen Blocks, in welchen die Häftlinge untergebracht waren, konnten wir ohne weiteres nicht betreten. In den Blocks selbst hatte nach meinem Wissenstand keiner der SS-Leute etwas zu suchen. Wir durften in diese Blocks nicht hinein. Das war nur den Blockführern, den sogenannten Kapos gestattet. Offiziell waren ja Misshandlungen von Häftlingen ausdrücklich verboten. Ich weiß jedoch, dass dies den Kapos Vorbehalten blieb. Ich gehe auch davon aus, dass die Kapos von ihren Befugnissen in diesem Bereich Gebrauch gemacht haben. Von den Häftlingen selbst hat sich nach meinem Wissen keiner über den jeweiligen Kapo oder die Kapos beschwert. Ich nehme auch an, dass die Häftlinge dies später hätten büßen müssen, da sich der Kapo das jedenfalls nicht hätte gefallen lassen. Wir selbst haben mit den Häftlingen grundsätzlich nicht gesprochen. Wenn etwas zu beanstanden war, dann wurde dies den Kapos mitgeteilt. Diese sorgten dann dafür, dass der Fehler korrigiert wurde.
113Ich hatte bereits erwähnt, dass ich mit den Kameraden, die in Auschwitz mit mir Dienst hatten, nie so richtig warm geworden bin wie mit denjenigen, mit denen ich an der Front gekämpft habe. Das waren zwei völlig verschiedene Situationen und auch völlig verschiedene Verhältnisse zu den einzelnen Kameraden. Ich hatte in der ersten Zeit, in der ich nach Auschwitz ab kommandiert worden war, zweimal Versetzungsanträge zur Front gestellt. Ich wollte zu meiner Einheit zurück. Beide Versetzungsanträge wurden schon bei der Abgabe abgelehnt. Bei meinem zweiten Antrag habe ich richtig Ärger bekommen. Man hat mir gesagt, dass ich nicht hier weg komme und dass es besser wäre, nicht noch einmal einen Antrag zu stellen. In Auschwitz war es jedenfalls so, dass einem dort recht deutlich gemacht wurde, dass man zu funktionieren hatte und das zu tun hatte, was von einem verlangt wurde. Wenn ich mich richtig erinnern kann, ließ man auch keinen Zweifel daran, dass - sollte man sich weigern - man Schlimmeres zu befürchten hatte. Diesbezüglich herrschte ein Spruch zwischen den Soldaten, der wie folgt lautete: „Das lass mal sein, da spürst du schon den Daumen im Rücken.“ Da wusste jeder Bescheid. Jeder misstraute dem anderen. Es gab im Grunde keine richtige Kameradschaft, so wie ich diese von der Front her kannte.
114Irgendwann wurde ich dann nach Oranienburg versetzt. Als ich dort stationiert war, näherte sich der Russe dem Lager. Aus den Wachmannschaften wurden dann Kampfeinheiten gebildet. Ich gehörte in dieser Zeit zur Kampfgruppe „Wimmer“. Die Kampfgruppe Wimmer wurde gegen die Engländer eingesetzt. In Oranienburg habe ich mich dann als sogenannter „Zwölfender“ verpflichtet, weil ich ja eine Frau und einen Sohn hatte. Wir mussten ja von irgendetwas leben. Ich kann mich erinnern, dass man damals ca. 1.000,00 Reichsmark im Monat bekam.
115Schon als ich noch in Auschwitz stationiert war, wurde mir klar, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Man hörte auch immer wieder, dass der Russe vor der Tür stehe. Als ich dann in Oranienburg hörte, dass der Russe immer näher kam, wusste ich, dass der Krieg verloren war. Wir haben dann mit den Engländern gesprochen. Diese sagten uns: „Wollt Ihr zu den Russen, oder wollt ihr zu uns?“ Wir sind dann geschlossen in Gefangenschaft zu den Engländern gegangen. Ich muss auch sagen, dass ich damals als junger Soldat davon geleitet war, wieder nach Hause zu kommen. Das war nachher mein einziges Ziel. Ich wollte nur noch überleben.
116Später, als ich aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, habe ich mit keinem anderen Menschen über meine Erlebnisse in Auschwitz gesprochen. Ich habe weder mit meiner Ehefrau oder meinen Kindern oder Enkeln jemals über Auschwitz gesprochen. Niemand in meiner Familie hat gewusst, dass ich in Auschwitz tätig war. Ich konnte einfach nicht darüber reden. Ich habe mich geschämt. Ich habe dann immer gesagt, dass ich am Russlandfeldzug teilgenommen und anschließend in Kriegsgefangenschaft geriet. Ich habe mein Leben lang versucht, diese Zeit zu verdrängen. Auschwitz war ein Alptraum. Ich wünschte, nie dort gewesen zu sein. “
117Zudem hat der Angeklagte persönlich Folgendes erklärt:
118Ich habe lange Zeit geschwiegen, ich habe mein ganzes Leben lang geschwiegen. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich zutiefst bereue, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben, die für den Tod vieler unschuldiger Menschen, für die Zerstörung unzähliger Familien, für Elend, Qualen und Leid auf Seiten der Opfer und deren Angehörigen verantwortlich ist. Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe. Ich entschuldige mich hiermit in aller Form für mein Verhalten. Es tut mir aufrichtig leid.
119IV.
1201.
121Die Feststelllungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen auf den Angaben seines Verteidigers in der Hauptverhandlung, deren Richtigkeit der Angeklagte ausdrücklich bestätigt hat, sowie auf den in der Hauptverhandlung verlesenen bzw. in Augenschein genommenen und von dem Zeugen KHK Z 1 erläuterten Urkunden – der Zentralkartei des Angeklagten, dem Personalblatt des Angeklagten für die britische Kriegsgefangenschaft, dem Antrag des Angeklagten vom 15. September 1954 auf Gewährung einer Entschädigung nach dem Kriegsgefangenengesetz und dem Bundeszentralregisterauszug für den Angeklagten vom 25. April 2016.
1222.
123Die Feststellungen zur Sache beruhen auf der insoweit ebenfalls über den Verteidiger abgegebenen und von dem Angeklagten bestätigten Einlassung, soweit ihr gefolgt werden konnte, den in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismitteln und den heute offenkundigen Ergebnissen der historischen Forschungen.
124a)
125Die Ausführungen zum historischen Hintergrund der Taten – die Machtübernahme Hitlers, die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur und die Gleichschaltung aller Lebensbereiche, die zugrunde liegende Ideologie und ihre Umsetzung bis hin zur „Endlösung der Judenfrage“, das Wesen der SS und der Waffen-SS sowie der Kriegsverlauf – sind geschichtlich erwiesene und somit offenkundige Tatsachen. Sie ergeben sich aus den nach der Machtübernahme erlassenen und veröffentlichten Gesetzen und Verordnungen (insbesondere die VO zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, die Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31. März und 7. April 1933, das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom 14. Juli 1933, das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Staat und Partei vom 1. Dezember 1933, das Gesetz über das Staatsoberhaupt des deutschen Reiches vom 1. August 1934, die Nürnberger Rassegesetze vom 16. September 1935, die Verordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941) und sind durch die veröffentlichten Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung belegt. Die nach der Machtübernahme Hitlers einsetzende Diskriminierung, Ausgrenzung und letztliche Vertreibung der jüdischen Bevölkerung haben zudem die in der Hauptverhandlung vernommenen Nebenkläger und Zeugen NK 2, NK 32, NK 5, NK 1, NK 3, NK 15, NK 49 und NK 52 aus eigener Wahrnehmung eingehend und eindrucksvoll geschildert. Der Nebenkläger NK 54 hat seine diesbezüglichen Erlebnisse verschriftet und durch seinen Rechtsanwalt in der Hauptverhandlung verlesen lassen.
126b)
127Seinen Werdegang unter der nationalsozialistischen Führung bis zu seiner Versetzung nach Auschwitz hat der Angeklagte im Wesentlichen so, wie festgestellt, geschildert. Die von ihm genannten Eckdaten seiner Laufbahn stimmen insoweit überein mit dem Inhalt der in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen und verlesenen bzw. von dem Zeugen KHK Z 1 erläuterten Urkunden – dem Antrag auf Genehmigung der Heirat mit seiner späteren Ehefrau an das Rasse- und Siedlungshauptamt nebst handschriftlichem Lebenslauf vom 14. November 1944, den Zentralkarteikarten des Angeklagten, der namentlichen Verlustmeldung der Waffen-SS für das SS-Regiment „Der Führer“ für den Zeitraum vom 15. August bis 10. Dezember 1941, der Truppenstammrolle vom 22. April 1944 und der SS-Stammkarte des Angeklagten. Aus den Urkunden ergibt sich, dass der Angeklagte am 20. April 1935 der Hitlerjugend beitrat, am 25. Juli 1940 in die Waffen-SS aufgenommen wurde, sich dort zunächst für vier Jahre dienstverpflichtete, dann dem SS-Ersatzbataillon „Der Führer“ in O 21 angehörte, im Dezember 1940 zur Feldeinheit des Bataillons verlegt, am 20. September 1941 verwundet und am 1. Januar 1942 zum Sturmmann befördert wurde.
128Soweit der Angeklagte sich darüber hinaus im Verfahren dahingehend eingelassen hat, er sei von seiner Stiefmutter bei der Waffen-SS angemeldet worden, hält die Kammer dies für unzutreffend. Im Hinblick darauf, dass ausweislich des von dem Angeklagten vorgelegten Hochzeitstelegramms die Heirat seines Vaters erst im Dezember 1944 erfolgte, und unter Berücksichtigung der entsprechenden Angabe des Angeklagten selbst in seinem handschriftlichen Lebenslauf aus dem Jahr 1944, hat die Kammer keinen Zweifel, dass der Angeklagte im Juli 1940 selbst und freiwillig der Waffen-SS beigetreten ist. Die Kammer ist davon überzeugt, dass diesem freiwilligen Beitritt des Angeklagten der Wunsch nach Zugehörigkeit zu dieser – in jener Zeit angesehenen – nationalsozialistischen Organisation sowie der Wunsch nach sozialem Aufstieg zugrunde lagen. Nach Überzeugung der Kammer befürwortete der junge Angeklagte die nationalsozialistischen Ziele und Ideale. Durch seine Zeit in der Hitlerjugend – sie war das Kernelement des nationalsozialistischen Programms zur organisatorischen Erfassung und Kontrolle der jungen Generation (vgl. Gesetz über die Hitlerjugend vom 1. Dezember 1936) – war er bereits ideologisch geprägt und auf den Eroberungskrieg eingestimmt. Die Mitgliedschaft in der Waffen-SS zog er dem üblichen Militärdienst bei der Wehrmacht vor. Dazu unterzog er sich der rassebiologischen und ideologischen Eignungsprüfung vor Aufnahme in der Waffen-SS und erfüllte – wie seine Aufnahme zeigt – die Ansprüche. Von den insoweit gestellten Anforderungen – die nach den historischen Forschungen offenkundig sind – hat die Kammer auch aufgrund der in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen und von dem Zeugen Z 1 erläuterten, vergleichbaren Unterlagen zum Heiratsgesuch des Angeklagten im Jahr 1944 (R.u.S.-Fragebogen, Ärztlicher Untersuchungsbogen) einen lebendigen Eindruck erhalten. Nach seiner Aufnahme in die Waffen-SS fühlte sich der Angeklagte – wie er selbst mit seiner Einlassung berichtet hat – in seiner Einheit und im engen Zusammenleben mit den gleichgesinnten Kameraden wohl. Seine militärischen Einsätze und Erfolge mit seiner Division erfüllten ihn – wie ihre ausführliche und detailreiche Schilderung einschließlich des Hinweises auf die erhaltenen Auszeichnungen durch den Angeklagten zeigt – mit Stolz. Das alles lässt in der Gesamtschau nach Auffassung der Kammer nur den Schluss zu, dass der Angeklagte mit den nationalsozialistischen Idealen übereinstimmte. Die Kammer hat darüber hinaus keinen Zweifel, dass der Angeklagte mit seinem Eintritt in die Waffen-SS auch einen sozialen Aufstieg erstrebte. Mit seiner Einlassung hat er selbst darauf hingewiesen, dass der Gedanke, bei der Waffen- SS „etwas werden“ zu können, für ihn – als einfachen Arbeiter – eine maßgebliche Rolle spielte. Das wird bestätigt durch seinen weiteren Werdegang bei der SS, bei der er im Alter von 22 Jahren die Beförderung zum Unterscharführer – das entspricht dem Rang eines Unteroffiziers – erreichte. Die Waffen-SS bot ihm als jungen und schon nationalsozialistisch geprägten „Reichsdeutschen“ für einen Aufstieg gute Möglichkeiten.
129Für unzutreffend hält die Kammer die Einlassung des Angeklagten, er sei nach seiner Verwundung im Krankenhaus in O 22 operiert und danach in das Sanatorium „Solahütte“ verlegt worden. Aus seiner Zentralkarteikarte, welche im Übrigen minutiös die Behandlungsstätten des Angeklagten aufführt, ergibt sich dies nicht. Danach ist der Angeklagte zunächst in den Feldlazaretten 615 und 623 behandelt worden, wurde danach per Eisenbahn in das Kriegslazarett O 18 und von dort am 31.Oktober 1941 zum Ersatzbataillon in O 19 verlegt.
130Dass der Angeklagte im Januar 1942 nach Auschwitz versetzt wurde, hat er eingeräumt. Dies ergibt sich auch aus dem von ihm unter dem 14. November 1944 verfassten und in der Hauptverhandlung verlesenen Lebenslauf sowie aus der in Augenschein genommenen und vom Zeugen KHK Z 1 erläuterten Ausrüstungsliste der Verwaltung des Konzentrationslagers Auschwitz vom 21. Januar 1942, der in der Hauptverhandlung verlesenen Truppenstammrolle und SS-Stammkarte. Wie es zu dieser Versetzung kam, hat die Kammer der Einlassung des Angeklagten entnommen. Sie wird untermauert durch die Angaben des historischen Sachverständigen SV 1, der berichtet hat, dass der Dienst in den Konzentrationslagern von den Führern der SS als „kriegswichtiger Innendienst“ präsentiert wurde, weil dieser an sich innerhalb der SS als im Vergleich zum Feldeinsatz als weniger ehrenhaft angesehen wurde. Dazu hat der Sachverständige auch auf die häufigen Auszeichnungen mit dem „Kriegsverdienstkreuz“ in verschiedenen Ausführungen verwiesen, die den im Sinne des Nationalsozialismus „verdienten“ KZ-Bediensteten verliehen wurden. Der Sachverständige hat darüber hinaus eingehend dargestellt, dass Versetzungen von kriegsversehrten SS-Angehörigen im Austausch mit kriegsverwendungsfähigen Angehörigen der SS-Totenkopfsturmbanne der Konzentrationslager regelmäßig erfolgt seien, um den Personalbedarf in den Feldeinheiten einerseits und den Konzentrationslagern andererseits zu decken. In diesem Zusammenhang hat der Sachverständige aufgezeigt, dass zeitgleich mit dem Angeklagten die SS-Angehörigen P 5, P 6 und P 7 nach Verwundung im Feldeinsatz vom Ersatzbataillon in O 19 zum Konzentrationslager Auschwitz versetzt wurden. Von der Sachkunde des als Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora mit dem Forschungsschwerpunkt der Totenkopfverbände und Wachmannschaften im nationalsozialistischen Konzentrationslagersystem tätigen Sachverständigen ist die Kammer in jeder Hinsicht überzeugt.
131c)
132Die Feststellungen zur Entwicklung des Konzentrationslagers Auschwitz beruhen auf den veröffentlichten Ergebnissen der geschichtlichen Forschung, wie sie beispielsweise in dem Werk „Auschwitz 1940-1945“, Band I, der Autoren Lasik, Piper, Setkiewicz und Strzelecka, erschienen im Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, 1999, dargestellt sind.
133Die Feststellungen zur Lage, zum Umfang und zu den verschiedenen Teilbereichen des Konzentrationslagers Auschwitz sowie zum Verlauf der verschiedenen Postenketten beruhen auf den Angaben des Zeugen KHK Z 1, der als Leiter der Ermittlungskommission das Lager während der Ermittlungen selbst aufgesucht und besichtigt hat. Seine dabei gewonnenen Erkenntnisse hat der Zeuge in der Hauptverhandlung anhand der Landkarte, den Luftaufnahmen des „Interessengebietes Auschwitz“ und der Lagerpläne dargestellt und erläutert. Auf sie wird – ebenso wie auf sämtliche weiteren, im Folgenden erwähnten Licht- und Schaubilder sowie Karten – wegen der Einzelheiten gem. § 267 Abs. 1. S. 3 StPO verwiesen. Die Positionierung der Wachtürme, soweit erwähnt, hat der Zeuge aufgrund seiner eigenen Wahrnehmungen während seiner Besichtigung der Lager anhand der Lagerpläne geschildert und für die Wachtürme im Bereich der Krematorien II und III durch von ihm gefertigte Lichtbilder, auf denen die Türme abgebildet sind, belegt. Die sich von den Türmen aus ergebenden Sichtfelder hat der Zeuge anhand von Standbildern einer 3-D-Animation veranschaulicht. Die Ausführungen des Zeugen Z 1 werden durch die Angaben des als Wachmann im Konzentrationslager Auschwitz tätigen Zeugen Z 2 bestätigt, der den Verlauf der kleinen und großen Postenkette für das Lager Birkenau in Übereinstimmung mit dem Zeugen Z 1 geschildert hat und darüber hinaus bekundet hat, dass für das Stammlager ebenfalls solche Postenketten bestanden hätten.
134Die Feststellungen zur internen Struktur des Konzentrationslagers Auschwitz einschließlich der Teilung des Lagers in drei organisatorisch selbständige Teillager im November 1943 beruhen auf den Ausführungen des historischen Sachverständigen SV 1. Der Sachverständige hat den Aufbau, die Abteilungen und deren Zuständigkeiten sowie die Personalstruktur im Konzentrationslager Auschwitz eingehend wie festgestellt aufgezeigt. Dass im November 1943 die Dreiteilung des Lagers erfolgte, hat der Sachverständige unter Darstellung der funktionalen und personellen Konsequenzen wie festgestellt dargelegt und seine Ausführungen unter Hinweis auf den in der Hauptverhandlung verlesenen Standortbefehl Nr. 53/43 sowie den Sturmbann-Sonderbefehl vom 24. November 1943 belegt.
135d)
136Die Feststellungen zum konkreten Einsatz des Angeklagten nach seiner Versetzung zum Konzentrationslager Auschwitz beruhen zum Teil auf dessen Einlassung. Dass der Angeklagte nach seiner Versetzung zum SS-Totenkopf-Sturmbann in Auschwitz zunächst der 5. Kompanie und ab dem 8. Juni 1942 der 3. Kompanie angehörte, ist zudem seiner SS-Stammkarte zu entnehmen. Dass der Angeklagte zunächst ausschließlich Dienst als UvD in der Hauptwache am Eingang des Stammlagers absolvierte und Überwachungsaufgaben zur Unterstützung des Spieß der Kompanie erbrachte, hat der Angeklagte so geschildert und ist aufgrund seiner gerade erst erfolgten Genesung nach seiner Verwundung und Malariaerkrankung auch nachvollziehbar. Aus der Art der ihm dabei schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Auschwitz übertragenen Aufgaben, bei denen es sich bereits um Führungsaufgaben handelte, schließt die Kammer, dass der junge Angeklagte von Beginn an eine besondere, hervorgehobene Stellung innerhalb des Wachsturmbanns hatte. Der Grund dafür lag nach Überzeugung der Kammer in der Fronterfahrung und der im Gefecht erlittenen Verwundung des Angeklagten, die – wie der Sachverständige SV 1 aufgezeigt hat – nach dem Ehrenkodex der SS von Stärke, Mut und Tapferkeit zeugten, als besonders ehrenhaft und verdienstvoll galten und deshalb regelmäßig mit einer privilegierten Verwendung im Wachsturmbann honoriert wurden.
137Die Kammer ist weiter davon überzeugt, dass der Angeklagte – wie festgestellt – vor Aufnahme des regulären Wachdienstes auf diese Tätigkeit im Rahmen einer Schulung vorbereitet worden ist. Der Zeuge Z 2 sowie die SS-Angehörigen Z 3, Z 4, Z 5, Z 6 und Z 7, deren verschriftete Aussagen im Urkundsbeweis eingeführt worden sind, haben bekundet, dass sie jeweils eine entsprechende Ausbildung vor Aufnahme der Tätigkeit durchlaufen haben. Von dem Inhalt der Ausbildung hat sich die Kammer aufgrund der verlesenen Wachanweisungen, des Frage-Antwort-Dialoges zu einzelnen Fragen im Zusammenhang mit der Bewachung und durch die im Zusammenhang mit den Ausführungen des Sachverständigen SV 1 beispielhaft in Augenschein genommene bildliche Darstellung einer Bewachungssituation überzeugt. Die Ausbildung umfasste danach neben dem Erlernen des Waffengebrauchs insbesondere auch Verhaltensregeln im Umgang mit den Gefangenen, die eine effektive Bewachung der Vielzahl von Häftlingen durch eine vergleichsweise geringe Anzahl von Wachmännern sicherstellten. Dass den Wachleuten dazu für den Fall von Häftlingsfluchten Schießbefehl erteilt wurde, ist den verlesenen Wachanweisungen eindeutig zu entnehmen und wird bestätigt sowohl durch Angaben des Zeugen Z 2 als auch durch die verschrifteten Aussagen der SS- Angehörigen Z 3, Z 8, Z 20, Z 5 und Z 6. Außerdem wurde den Wachleuten die Notwendigkeit ihres Dienstes durch ideologische Schulungen im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung vermittelt. Dass die Lerninhalte in laufenden Schulungen wiederholt und vertieft wurden, haben sowohl der Zeuge Z 2 als auch der Sachverständige SV 1 aufgrund der von ihm im Rahmen seiner Forschungen gewonnenen Erkenntnisse geschildert. Die Kammer hat im Hinblick darauf keinen Zweifel, dass auch der Angeklagte die generell für alle Angehörigen des Wachsturmbanns verpflichtenden Aus- und Fortbildungen absolviert hat.
138Von der engen Führung des SS-Personals in Auschwitz hat die Kammer aufgrund der verlesenen Kommandantur- und Standortbefehle des Lagerkommandanten einen lebendigen Eindruck erhalten. Durch diese wurde nicht nur das dienstliche Verhalten durch Anweisungen für die Ausübung des Wachdienstes, sondern auch das außerdienstliche Verhalten und Auftreten der Angehörigen des Wachsturmbannes in der Freizeit reglementiert. Ihnen ist – beispielsweise den Kommandanturbefehlen 8/42 und 2/43) – zudem zu entnehmen, dass die Wachmannschaften einer strengen Verschwiegenheitspflicht gegenüber Außenstehenden unterworfen wurden und für Pflichtverletzungen Strafen angedroht wurden.
139Den regulären Wachdienst mit regelmäßigen wechselnden Einsatzbereichen in der großen Postenkette, der kleinen Postenkette und im Rahmen der Begleitung der Arbeitskommandos hat der Zeuge Z 2 klar so wie festgestellt beschrieben. Seine Angaben werden durch die im Urkundsbeweis eingeführten verschrifteten Zeugenaussagen der Wachleute Z 10, Z 8, Z 5 und Z 6 bestätigt. Auch der Sachverständige SV 1 hat aufgrund seiner Forschungen überzeugend ausgeführt, dass das Wachpersonal im regelmäßigen Rhythmus in allen Bereichen eingesetzt gewesen sei. Dieses Rotationssystem sei bewusst praktiziert worden, um die Flexibilität der Mannschaften zu erhalten mit dem Ziel, jeden Wachmann an jeder Stelle einsetzen zu können. Eine Spezialisierung einzelner Kompanien oder Gruppen auf bestimmte Wachaufgaben sei deshalb nicht erfolgt. Angesichts dieser übereinstimmenden Angaben hat die Kammer keinen Zweifel, dass der Wachdienst in Auschwitz durch alle Wachleute im Wechsel in der kleinen und großen Postenkette sowie bei der Begleitung der Arbeitskommandos ausgeführt wurde. Dem steht nicht entgegen, dass vereinzelt Wachmänner – so die SS-Angehörigen Z 11 und Z 12 – angegeben haben, in bestimmten Bereichen nicht eingesetzt gewesen zu sein. Die Kammer hält es für möglich, dass bei Vorliegen besonderer Gründe vom Grundsatz des rotierenden Einsatzes bei einzelnen Wachleuten Ausnahmen gemacht wurden, so bei dem Zeugen Z 11 wegen eines Fußleidens und bei dem Zeugen Z 12 wegen seiner Tätigkeit als Ausbilder.
140Dass die Wachmannschaften neben ihren regulären Diensten regelmäßig auch Bereitschaftsdienste zu leisten hatten, hat der Sachverständige SV 1 unter Bezugnahme auf die Sturmbannbefehle des Kommandanten des Wachsturmbanns überzeugend dargelegt. Danach wurden alle für Auschwitz und Birkenau tätigen Kompanien im Wechsel zu den jeweils eine Woche dauernden Bereitschaften herangezogen. Dies galt nach den eingehenden Ausführungen des Sachverständigen auch für die Zeit nach der Dreiteilung des Konzentrationslagers Auschwitz und der damit einhergehenden Teilung des Wachsturmbanns. Obwohl für diese Zeit ab November 1943 die Sturmbannbefehle nicht erhalten geblieben sind, sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass das Rotationsprinzip bei der Wahrnehmung der Bereitschaften bis zur Fertigstellung der neuen Rampe im Lager Birkenau Mitte Mai 1944 fortgeführt worden sei. Dies folge daraus, dass der mit dem Entladen der Züge, der Selektion von mehreren Tausend Deportierten pro Tag und deren Überführung zu den Gaskammern und Lagern sich ergebende Bewachungsaufwand neben dem regulären Dienst – im Februar 1944 seien ca. 45.000 Menschen im Lager Birkenau gefangen gewesen – allein durch die Birkenauer Wachkompanien – die zudem in der Zeit von Dezember 1943 bis Juni 1944 durch die zunächst ersatzlose Auflösung der 6. Kompanie reduziert gewesen seien – keinesfalls hätte erbracht werden können. Der erforderliche Arbeitseinsatz habe sich erst mit der Inbetriebnahme der neuen Rampe im durch die Umzäunung und die kleine Postenkette bereits gesicherten Lager Birkenau reduziert. Erst mit der Ankunft der Deportationszüge im inneren Lagerbereich sei die Notwendigkeit einer Postenkette um die Rampe herum und die mannstarke Bewachung der Ankommenden auf ihrem Weg zu den Gaskammer und den Lagerbaracken entfallen. Der Zeitpunkt der Inbetriebnahme der neuen Rampe und des Entfallens der sogenannten „Rampendienste“ auch für die Kompanien des Stammlagers sei frühestens auf den 17. Mai 1944 zu datieren. Das sei aufgrund der von SS-Personal am 26. Mai 1944 gefertigten Lichtbilder von der neuen Rampe in Birkenau sicher zu bestimmen. Die auf diesen Lichtbildern sichtbaren Markierungen auf der Rampe seien zur Zeit der Aufnahme der Fotos schneeweiß getüncht. Das lasse angesichts der Vielzahl der ab Mitte Mai im Rahmen der Ungarn-Aktion eingetroffenen Züge mit täglich mehreren tausend Deportierten den sicheren Schluss zu, dass die Rampe zu diesem Zeitpunkt maximal 10 Tage in Betrieb gewesen sei. Bei einer längeren Betriebszeit unter dieser Belastung wäre die Markierung bereits verblasst und verschmutzt gewesen.
141Die Kammer hat diese Ausführungen im vollen Umfang nachvollzogen und für überzeugend befunden. Dass die Bereitschaftsdienste von allen in Auschwitz und Birkenau tätigen Kompanien erbracht wurden, hat auch der Zeuge Z 2 bestätigt. Dies ergibt sich zudem aus den im Urkundsbeweis eingeführten Aussagen der SS-Angehörigen Z 3, Z 8, Z 9, Z 6 und Z 12. Die Fortführung des Rotationsdienstes auch nach der Dreiteilung des Wachsturmbanns ist vor dem Hintergrund der großen Anzahl von täglich eintreffenden Deportationszügen im Jahr 1944 ohne weiteres nachvollziehbar. Auch die Ausführungen des Sachverständigen betreffend den Zeitpunkt der Inbetriebnahme der neuen Rampe im Lager Birkenau hält die Kammer unter Berücksichtigung des in Augenschein genommenen Lichtbildes der Rampe für plausibel.
142Art und Inhalt der Bereitschaftsdienste hat der Sachverständige aufgrund der Auswertung der ihm insoweit zur Verfügung stehenden Quellen wie festgestellt beschrieben. Dazu passt die Beschreibung des Rampendienstes durch den Zeugen Z 2 sowie die SS-Angehörigen Z 3, Z 8, Z 5, Z 6 und Z 12, deren verschriftete Aussagen Gegenstand des Urkundsbeweises waren.
143Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen ist die Kammer davon überzeugt, dass auch der Angeklagte nach der Einteilung zum „regulären“ Wachdienst neben dem von ihm eingeräumten Dienst in der kleinen Postenkette und bei der Begleitung von Außenkommandos auch Dienst in der großen Postenkette absolvierte. Dieser Aufgabenbereich gehörte zum regulären Dienst eines jeden Wachmanns in Auschwitz und wurde im wöchentlichen Wechsel von jeder Kompanie des Wachsturmbanns erbracht. Insoweit gab es – wie der Sachverständige SV 1 betont hat - weder eine Spezialisierung noch ein Wahlrecht der Kompanien oder einzelner Angehöriger des Wachsturmbannes. Besondere Gründe dafür, dass der Angeklagte nach vollständiger Genesung aus diesem einheitlichen Pflichtenkanon herausgenommen wurde, sind weder von ihm selbst dargelegt worden noch sonst ersichtlich. Insbesondere kann seine frühere Verwundung und Erkrankung dafür nicht ursächlich gewesen sein. Denn wenn der Angeklagte den Postendienst in der kleinen Kette und bei der Begleitung der Arbeitskommandos leisten konnte, erschließt sich nicht, warum dies im Rahmen der großen Postenkette nicht möglich gewesen sein sollte. Darauf hat sich der Angeklagte auch nicht berufen.
144Die Kammer hat schließlich keinen Zweifel, dass der Angeklagte im Rahmen der Bereitschaftsdienste seiner Kompanie auch an der alten Rampe mit der Umstellung und Absperrung der ankommenden Transporte befasst war. Der Sachverständige SV 1 hat dazu detailliert dargelegt, dass die Bereitschaftsdienste im Rotationswechsel aller für das Stammlager und das Lager Birkenau tätigen Kompanie geleistet wurden. Gerade im Tatzeitraum ab 1943 sei dabei durch die zunehmende Zahl der Transporte aufgrund des Personalschlüssels – 4.000 Wachleute für 45.000 Gefangene allein im Lager Birkenau – der Einsatz aller Wachkompanien für alle Aufgabengebiete und insbesondere zur Absicherung der Selektionen auf der Rampe notwendig gewesen. Allein durch die für die Zeit bis Ende 1943 erhalten gebliebenen Sturmbannbefehle sind Bereitschaftseinsätze der 3. Kompanie im Jahr 1943 zumindest in der Zeit vom 16. bis 23. Mai, 30. Mai bis 6. Juni, 13. bis 20. Juni, 4. bis 11. Juli, 8. bis 15. August sowie 10. bis 17. Oktober 1943 konkret belegt. Zudem ist nach den plausiblen Ausführungen des Sachverständigen den Berichten des „Führers vom Dienst“ zu entnehmen, dass die Kompanien über die in den Sturmbannbefehlen dokumentierten rotierenden Dienste hinaus bei Bedarf auch außerhalb ihrer Bereitschaften zum Dienst an der Rampe herangezogen worden seien. Solche besonderen „Bedarfssituationen“ hätten aufgrund der besonders hohen Transportdichten insbesondere im Zusammenhang mit der Auflösung der Ghettos in Saloniki im März/April 1943 sowie der Auflösung der oberschlesischen Ghettos in Bendzin und Sosnowitz Anfang August 1943 bestanden. Bei bis zu 10.000 ankommenden Deportierten pro Tag sei zu diesen Zeiten jeder SS-Mann in Auschwitz und Birkenau nahezu Tag und Nacht im Einsatz gewesen. Allein zur Sicherung der ankommenden Transporte und der anschließenden Selektionen an der Rampe seien hunderte SS-Männer der Wachkompanien notwendig gewesen. Hinzu gekommen seien die erforderlichen Dienste für die Überführung der Deportierten zu den Lagern und Krematorien. Vor diesem Hintergrund sei mit Sicherheit davon auszugehen, dass auch die 3. Kompanie mit allen Angehörigen an der Rampe eingesetzt worden sei. Ein weiterer Beleg dafür sei, dass die Lagerleitung des Konzentrationslagers Auschwitz aufgrund der hohen und pausenlosen Dienstbelastung im Zusammenhang mit den Transporten aus Sosnowitz und Bendzin allen SS-Angehörigen – ohne Ausnahme – etwa für das Wochenende vom 7./8. August 1943 dienstfrei erteilt habe. Den entsprechenden Standortbefehl 31/43 des Konzentrationslagers Auschwitz vom 6. August 1943 hat der Sachverständige in der Hauptverhandlung erläutert. Den außerordentlichen und bedeutenden Einsatz der 3. Kompanie, welcher ab Juni 1942 auch der Angeklagte angehörte, bei diesen Aktionen belege zudem der Vorschlag zur Auszeichnung des Kompaniechefs P 1 im Dezember 1943 mit folgender Begründung: „…P 1l… hat durch sein persönliches und soldatisches Auftreten eine ausgezeichnete Führung seiner Kompanie erreicht. P 1 hat aus eigenem Entschluss stets dort eingegriffen, wo es um die Sicherheit des Lagers ging. Seine ihm übertragenen Sonderaufgaben hat er in jeder Beziehung erfüllt. Aufgrund seines persönlichen Einsatzes und seiner steten Bereitschaft wird P 1 zur Verleihung des KVK II. Klasse m. Schw. vorgeschlagen.“ Den entsprechenden Vorschlag des Lagerkommandanten vom 13. Dezember 1943, der in der Folge zur Auszeichnung des Kompanieführers führte, hat der Sachverständige in der Hauptverhandlung verlesen. Er indiziert nach Überzeugung der Kammer sicher den hohen Einsatz der 3. Kompanie unter der Führung seines Kompaniechefs auch bei der Erfüllung von „Sonderaufgaben“, worunter nach den eingehenden und anhand zahlreicher Beispiele erläuterten Ausführungen des Sachverständigen nach dem verklausulierenden Jargon der nationalsozialistischen Führung die besonderen Deportationsaktionen zum Zwecke der Tötung der Deportierten gemeint sind. Weitere Großaktionen mit hoher Transportdichte seien bis Mai 1944 stetig erfolgt, so im November 1943 mit der Räumung der Lager in Riga und Szebnie, im Februar 1944 mit Transporten aus Drancy und Italien und im April 1944 nach der Auflösung des Konzentrationslagers Lublin, dessen Insassen zum Zwecke der Tötung nach Auschwitz verbracht worden seien.
145Im Hinblick auf die eingehenden, plausiblen und fundierten Ausführungen des Sachverständigen und in der Gesamtschau mit den Angaben der genannten Zeugen hat die Kammer keinerlei Zweifel, dass auch der Angeklagte als Angehöriger der 3. Kompanie im Rahmen von Bereitschaftsdiensten der Kompanie Dienst an der alten Rampe verrichtet hat. Die dem widersprechende Einlassung des Angeklagten zu Art und Umfang seiner Aufgaben, die im Übrigen schon insofern lückenhaft ist, als die eingeräumten Dienste seine Dienstzeit keinesfalls ausgefüllt haben können, ist vor diesem Hintergrund nicht glaubhaft. Die Kammer wertet sie als Schutzbehauptung mit welcher der Angeklagte, seine Beteiligung an den Tötungsvorgängen in Auschwitz als möglichst geringwertig erscheinen lassen möchte. Die Teilnahme – seiner – der 3. Kompanie – am Rampendienst hat der Angeklagte eingeräumt, seine eigene Beteiligung aber in Abrede gestellt. Dabei leugnet der Angeklagte mit der verneinten Teilnahme am Rampendienst – ebenso wie die Teilnahme am Dienst in der großen Postenkette – ohne plausiblen Grund gerade die Ausführung solcher Dienste, bei denen die unmittelbare Vorbereitung der Massentötungen für ihn offensichtlich sein musste. Denn sowohl im Rahmen der großen Postenkette als auch bei den Rampendiensten hatte er den direkten Blick auf die Selektion der Deportierten, welche der Tötung in den Gaskammern unmittelbar voraus ging, während der von ihm eingeräumte Dienst in der kleinen Postenkette und bei der Begleitung der Arbeitskommandos vordergründig „nur“ der Bewachung der Arbeitsfähigen und der Sicherstellung ihrer Arbeitsleistung diente. Zu einem solch eingeschränkten Dienst des Angeklagten passen schließlich auch nicht dessen Beförderungen zum Rottenführer am 1. Februar 1943 sowie zum Unterscharführer am 1. September 1943, die eine „vorbildliche Dienstauffassung und -ausführung“ in aller Bereichen erforderte, worauf nachfolgend noch weiter eingegangen werden wird.
146Die Kammer ist nach alledem davon überzeugt, dass der Angeklagte in mindestens drei Fällen an der alten Rampe bei der Entladung der ankommenden Deportationszüge und der Selektion Wachdienst leistete. Dabei ist berücksichtigt, dass der Angeklagte – wie sich aus einer Einlassung ergibt und was nicht widerlegbar ist – aufgrund von Erkrankung, Urlaub und Fortbildung insgesamt maximal drei Monate nicht in Auschwitz war.
147Dass der Angeklagte am 1. Februar 1943 zum Rottenführer und am 1. September 1943 zum Unterscharführer befördert wurde, ist sowohl seiner SS-Stammkarte als auch seiner Truppenstammrolle zu entnehmen. Die freiwillige Meldung zum Unterführerlehrgang und die Ausbildung zum Unterführer in O 20 hat der Angeklagte mit seiner Einlassung selbst so geschildert.
148Die Feststellungen zur Tätigkeit, Funktion und Bedeutung des Angeklagten nach seiner Beförderung zum Rottenführer bzw. zum Unterscharführer beruhen auf den Angaben des Sachverständigen SV 1 und des Zeugen Z 2. Sie haben die konkrete Funktion der Wachleute nach Diensträngen übereinstimmend geschildert. Danach ist die Bewachung der Deportierten und Gefangenen jeweils von den Mannschaftsdienstgraden vorgenommen worden, während die Zug- und Gruppenführer für die Einteilung des Personals vor Ort, die Kontrolle der Dienste und die Leitung der Einsätze zuständig waren. Dabei hatten die Unterführer jeweils für die Umsetzung der Befehle ihrer Vorgesetzten zu sorgen. Der Zeuge Z 2 hat insofern berichtet, dass der wesentliche Inhalt der Standort-, Kommandantur- und Sturmbannbefehle durch die Gruppen- und Zugführer an die Mannschaften weitergegeben und erläutert wurde. Der Sachverständige SV 1 hat dargelegt, dass die Unterführer darüber hinaus in ständigem, engem Kontakt mit den Führern der Kompanien standen, deren Anweisungen entgegen nahmen und für die Umsetzung durch die Wachmannschaften verantwortlich waren. Im Hinblick darauf sei den Unterführern eine Schlüsselfunktion für die effektive und erfolgreiche Ausübung des Wachdienstes, insbesondere an der Rampe, zugefallen. Darüber hinaus sorgten die Unterführer durch Weitergabe der in den Kommandantur- und Standortbefehlen veröffentlichten Dienst- und Verhaltenspflichten für die Aufrechterhaltung der Disziplin der Mannschaften, die für das Funktionieren der Wachmannschaften unerlässlich war. Der Sachverständige hat darüber hinaus auch ausgeführt, dass speziell in der 3. Kompanie die jungen verdienten und fronterfahrenen, reichsdeutschen Angehörigen des Wachsturmbanns, die dort in großer Zahl zum Zwecke besonderer Förderung zusammengezogen worden seien, schon frühzeitig – auch schon vor ihrer Beförderung zum Unterscharführer – mit den genannten Führungsaufgaben betraut und mit besonderer Befehlsgewalt ausgestattet gewesen seien, um dadurch ihre Führungskompetenzen zu testen. Im Hinblick darauf und unter Berücksichtigung seiner später tatsächlich erfolgten Beförderung zum Unterscharführer hat die Kammer keinen Zweifel, dass auch dem Angeklagten schon als Rottenführer solche Aufgaben zur Erprobung seiner Führungsfähigkeiten übertragen wurden. Ferner ist sich die Kammer aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen SV 1 sicher, dass der Angeklagte nach seiner Beförderung zum Unterscharführer jedenfalls Gruppenführer mit den vorstehend festgestellten Aufgaben war. Dass der Angeklagte auch als Zugführer eingesetzt wurde, hat die Beweisaufnahme dagegen nicht ergeben. Entsprechende sichere Feststellungen konnte der Sachverständige SV 1 nicht treffen.
149e)
150Dass die nationalsozialistische Führung des deutschen Reiches im Konzentrationslager Auschwitz massenhaft rassisch verfolgten Menschen, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, in den Gaskammern und an der schwarzen Wand hat töten sowie im Lager hat verhungern lassen, ist geschichtlich erwiesen (dokumentiert beispielsweise in „Auschwitz 1940-1945“, Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Band III, Vernichtung, Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau 1999) und somit eine offenkundige Tatsache. Die Feststellungen zu den Einzelheiten dieses Tötungsgeschehens hat die Kammer aufgrund der in der Hauptverhandlung hierzu gehörten Zeugen und Sachverständigen, der im Urkundsbeweis eingeführten verschrifteten Zeugenaussagen sowie der in Augenschein genommenen Lichtbilder getroffen.
151aa)
152Die menschenunwürdigen und extrem belastenden Zustände in den Deportationszügen, die nach der mehrere Tage dauernden Fahrt zu einer völligen körperlichen und geistigen Erschöpfung der Menschen führte, haben die Zeugen Z 17, NK 5, NK 3, NK 11, NK 15 und NK 49 aufgrund ihres eigenen Erlebens ebenso eindrucksvoll geschildert wie die Situation auf der Rampe unmittelbar nach der Ankunft der Deportationszüge. Dabei war allen Schilderungen gemeinsam der tiefe und einschüchternde Eindruck, den die uniformierten und mit Gewehren bewaffneten SS-Leute mit ihren lauten, zur Eile antreibenden Anweisungen und den mitgeführten, bellenden Hunden auf der Rampe auf die erschöpften Ankommenden gemacht haben. Darüber hinaus berichteten die Zeugen NK 32, NK 15 und NK 11, dass das Lagerpersonal die Ankommenden dazu veranlasste, ihr Gepäck in den Waggons und auf der Rampe zurück zu lassen, indem sie behaupteten, dieses werde ihnen nachgebracht.
153bb)
154Die Feststellungen zu dem Ablauf der Selektionen an der Rampe beruhen auf den Angaben der Zeugen NK 3, NK 32, NK 11, NK 15, NK 49 und NK 5 sowie den verschrifteten Aussagen der Wachleute Z 3, Z 10, Z 20, Z 5, Z 7. Alle Zeugen haben übereinstimmend beschrieben, dass die Deportierten nach Geschlechtern getrennt – teilweise mit Stockschlägen – auf den Lagerarzt oder einen SS-Offizier zugetrieben worden seien, welche aufgrund flüchtiger Inaugenscheinnahme des Deportierten über die Arbeitsfähigkeit und damit über Leben und Tod entschieden hätten. Alte und Schwache sowie Kinder und ihre Mütter seien sofort selektiert worden. Der SS-Mann Z 20 hat dazu angegeben, dass die an sich arbeitsfähigen Mütter, die sich von ihren Kindern nicht hätten trennen wollen, bewusst bei den Kindern belassen worden seien. Man habe dadurch die Entstehung von Unruhe auf der Rampe vermeiden wollen. Diesem Ziel dienten auch die wahrheitswidrigen Erklärungen des SS-Personals, die Deportierten würden ihre Verwandten, von denen sie gerade getrennt worden seien, am nächsten Tag wieder sehen. Die Zeugen NK 10 und NK 11 haben davon berichtet.
155Dass der jeweils aktuelle Bedarf an Arbeitskräften für die Anzahl der als arbeitsfähig Ausgewählten maßgeblich war, ist der verschrifteten Aussage des SS-Mannes Z 20 zu entnehmen. Das wird bestätigt durch die Aussage des Zeugen NK 3, der angegeben hat, er habe beim Warten in der Schlange bemerkt, dass die Deportierten bei der Selektion nach dem Beruf gefragt worden seien und er den Eindruck gehabt habe, dass handwerkliche oder technische Berufe gefragt seien. Anschaulich hat der Zeuge sodann berichtet, dass er sich als Monteur ausgegeben habe und sodann zum Arbeitseinsatz in Monowitz ausgewählt worden sei.
156Die Aussagen der Zeugen zu dem Geschehen an der Rampe werden ergänzt und bestätigt durch die in Augenschein genommen Lichtbilder aus dem Fotoband „Gesichter der Juden in Auschwitz - Lili Meiers Album“, herausgegeben vom Verlag Das Arsenal, Berlin 1995. Diese zeigen zwar das Geschehen an der neuen Rampe im Lager Birkenau. Die Kammer ist aber unter Berücksichtigung der vorgenannten Aussagen der Zeugen überzeugt, dass die Ankunftssituation und die Selektionen an der alten Rampe in gleicher Weise abgelaufen sind. Die Bilder zeigen, wie nach der Ankunft der Deportierten noch auf der Rampe Frauen und Kinder sowie alte Menschen aussortiert werden. Am Ende stehen – wie von den Zeugen beschrieben – die verbleibenden Männer und Frauen nach Geschlechtern getrennt in Fünfer-Reihen auf der Rampe, um sich der Selektion zu stellen. Dazwischen stehen Männer in SS-Uniformen mit Gewehren, Pistolen und Stöcken bewaffnet. Nachdem die Deportierten von der Rampe weggeführt worden sind, bleibt das zu Haufen zusammen getragene Gepäck zurück.
157cc)
158Wie die zur Tötung Selektierten im Anschluss an die Selektion zu den Gaskammern überführt wurden, hat die Kammer den verschriften Aussagen der Wachleute Z 3, Z 5 und Z 20 wie festgestellt entnommen. Die von diesen geschilderte Überführung der Selektierten in Lastwagen und zum Teil auch zu Fuß unter Bewachung durch Angehörige des Totenkopf-Sturmbannes hat auch der Sachverständige SV 1 aufgrund seiner Forschungen bestätigt. Der SS-Angehörige Z 8 hat zudem in seiner verschrifteten Aussage vom 10. Juli 1962 bekundet, dass zugleich mit den Deportierten auch das für deren Tötung in den Gaskammern verwendete Gift Zyklon B mit einem „Sanka“ vom Stammlager zu den Krematorien transportiert worden sei. Entsprechendes hat auch der Zeuge Z 2 ausgesagt.
159Dass die Vergasungen der Deportierten und Gefangenen zunächst wie festgestellt im Stammlager erprobt und durchgeführt wurden, anschließend in zwei provisorisch umgebauten Bauernhäuser in der Nähe des Lagers Birkenau stattfanden und schließlich in den neu errichteten Krematorien in Birkenau fortgesetzt wurden, ist geschichtlich erwiesen. Der Sachverständige SV 1 hat zudem in der Hauptverhandlung die Kapazität der neu errichteten Krematorien und Gaskammern in Birkenau wie festgestellt erläutert.
160Dass die zur Tötung bestimmten Menschen unter dem Vorwand, sie müssten duschen und desinfiziert werden, in die Gaskammern geführt wurden, haben die Zeugen NK 10 und Z 2 bekundet. Der Zeuge NK 10, der selbst zum Zwecke der Tötung in die Gaskammer getrieben wurde und erst kurz vor Beginn des Vergasungsvorgangs durch SS-Personal wieder herausgeholt wurde, hat zudem berichtet, dass die Selektierten beim Entkleiden in den Auskleideräumen durch das SS-Personal angewiesen worden sein, sich ihren Kleiderhaken zu merken, um nach dem Duschen die Kleidung schneller wieder zu finden. Der Zeuge Z 2, der sich als Wachmann das Krematorium und die Gaskammer einmal angesehen hat, hat geschildert, dass auch die Gaskammer selbst optisch als Duschraum gestaltet gewesen sei. An der Decke seien Duschköpfe angebracht gewesen. Dass das Gift Zyklon B sodann von einem dem Sonderkommando angehörenden SS-Mann aus einem Kanister von außen durch einen Schacht in die Gaskammern geschüttet worden ist, hat die Kammer den verschrifteten Aussagen der SS-Männer Z 3 und Z 20 sowie der Aussage des Zeugen Z 2 entnommen.
161Die Wirkungsweise des verwendeten, blausäurehaltigen Zyklon B hat der Sachverständige SV 2 zur Überzeugung der Kammer wie festgestellt dargelegt. Er hat ausgeführt, dass bei Vergiftung mit Zyklon B der Tod nur dann schneller und ohne bewusste Wahrnehmung der dargestellten Symptome eintrete, wenn bereits mit den ersten Atemzügen hohe Konzentrationen des Giftes aufgenommen würden. Das sei aber für die Tötungen in Auschwitz unter Berücksichtigung der Vielzahl der in den Gaskammern zusammengetriebenen Menschen und der sehr wahrscheinlich verwendeten Dosis nicht anzunehmen. Der konkrete Ablauf des Sterbeprozesses sei abhängig von der Position des Menschen zur Einwurfstelle des Gases. Eine Dauer von 20 bis 30 Minuten bis zum Eintritt des Todes sei unter den gegebenen Umständen aus toxikologischer Sicht realistisch. An der Sachkunde des als Toxikologe am Institut für Rechtsmedizin der Universität O 14 tätigen, erfahrenen Sachverständigen hat die Kammer keinen Zweifel. Er hat die Eigenschaften und die Wirkungsweise des Wirkstoffs Blausäure unter Berücksichtigung unterschiedlicher Verwendungsmöglichkeiten aus toxikologischer Sicht fachkundig und sicher beschrieben. Im Hinblick auf die plausiblen Ausführungen des Sachverständigen hat die Kammer keine Zweifel daran, dass der ganz überwiegende Teil der in den Gaskammern eingeschlossenen Menschen nach der Zuführung des Zyklon B einen langsamen, mit großen Schmerzen und seelischen Leiden verbundenen Tod erlitt. Allenfalls die wenigen, unmittelbar an der Einwurfstelle stehenden Menschen können danach zeitnah so hohe Dosen des Giftes aufgenommen haben, dass sie unmittelbar in Bewusstlosigkeit verfielen und schnell verstarben. Die übrigen erlebten demgegenüber bewusst den eigenen und den Sterbeprozess der anderen und erlitten dadurch neben den starken vergiftungsbedingten Schmerzen bis zu ihrem Tod auch extreme Todesangst. Das wird untermauert durch die von den Zeugen Z 2 und NK 49bekundeten Schreie der Eingeschlossenen. Die Kammer hat keinen Zweifel daran, dass es unter dieser Belastung dazu kam, dass sich die Menschen derart aneinander klammerten, dass sie nach ihrem Tode mit Gewalt voneinander getrennt werden mussten. Im Hinblick auf die von dem Sachverständigen geschilderten Vergiftungsfolgen – Krämpfe, extremer Kopfdruck – und die in der Gaskammer herrschende Enge hat die Kammer auch keinen Zweifel, dass die Leichen der Opfer nach dem Öffnen der Kammern zum Teil stehend und aus Nasen und Ohren blutend vorgefunden wurden.
162Dass den Leichen im Anschluss durch das Häftlings-Sonderkommando in der festgestellten Weise alles Verwertbare – insbesondere Schmuck und Goldzähne – abgenommen wurde und sie anschließend von Häftlingen zu den Verbrennungsöfen geschafft werden mussten, hat die Kammer der Aussage des Zeugen NK 49, der Aussage der Zeugin NK 32, deren Vater bei dem Sonderkommando eingesetzt war, sowie der verschrifteten Aussage des SS-Mannes Z 3 entnommen.
163Die Kammer ist schließlich davon überzeugt, dass die Deportierten hinsichtlich des wahren Zwecks ihres Transportes, der Selektion und ihres Gangs in die Gaskammern ganz überwiegend bis zum Beginn der Vergasungen völlig ahnungslos waren und deshalb gar nicht versuchten, sich gegen ihre bevorstehende Tötung zu wehren. Dass die Deportierten bei ihrem Transport nach Auschwitz nicht mit ihrer Tötung rechneten, haben alle in der Hauptverhandlung als Zeugen gehörten Nebenkläger bekundet. So berichtete der Zeuge NK 1, dass man den Deutschen nichts Schlimmes zugetraut habe. Auf seine bange Frage, was werden solle, habe sein Vater ihn beruhigt: „Die Deutschen sind anständige Leute, Dichter und Denker. Uns wird nichts passieren!“ Die Zeugen NK 5, NK 15 und NK 49 haben übereinstimmend berichtet, dass keiner gewusst habe, wohin es gehe. Die Deportierten seien aber davon ausgegangen, dass sie für einen Arbeitseinsatz umgesiedelt werden sollten. Entsprechendes sei ihnen zur Begründung des Transportes von den Wachen so mitgeteilt worden. Man habe den Deportierten versichert, dass ihre Unterkunft und Versorgung gesichert sei, man solle sich keine Sorgen machen. Diese Erwartung wurde von den Angehörigen der SS im Vorfeld der Deportationen bewusst gestärkt, indem fingierte oder erzwungenermaßen verfasste Postkarten an zurückgebliebene Angehörige der Deportierten versandt wurden, mit denen positiv von angeblichen Arbeitseinsätzen berichtet wurde. Der Zeuge NK 3 hat davon anschaulich berichtet. Er gab an, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft auf Anweisung eines SS-Mannes noch auf der Rampe eine Postkarte an eine Tante habe schreiben müssen, deren Wortlaut ihm der SS-Mann diktiert habe: „Bin gut im Arbeitslager Monowitz angekommen!“ Angesichts dessen ist es plausibel, dass die Deportierten davon ausgingen, „lediglich“ zum Zwecke von Arbeitseinsätzen umgesiedelt zu werden.
164Dass diese Auffassung bei den Deportierten auch nach ihrer Ankunft und Selektion trotz der bedrohlichen Kulisse ganz überwiegend bis zum Beginn der Tötungen fortbestand, zeigt die Schilderung des Zeugen NK 11: Bei dem Anblick der rauchenden Schornsteine von Birkenau habe er gedacht, dies sei die Fabrik, in der sie arbeiten würden. Dazu passen die Schilderung der Zeugin NK 32, die angab, dass sie von dem ihr zugewiesenen Arbeitsplatz im sogenannten „Lager Kanada“, wo sie das den Häftlingen abgenommene Eigentum sortieren musste, und der Baracke, in der sie in der Nähe untergebracht war, Tag und Nacht die Kolonnen von Frauen, Kindern und Alten gesehen habe, die ruhig und widerstandslos in den Krematorien verschwunden seien. Gleiches hat auch der Zeuge Z 2 als Wachmann von seiner Position auf dem Wachturm der kleinen Postenkette beobachtet. Auch die in Augenschein genommenen Lichtbilder des Album Lili Meiers, auf denen zur Tötung bestimmte Frauen und Kinder – Angehörige der Zeugin NK 32 – wartend in dem Wäldchen vor dem Krematorium zu sehen sind, bestätigen diesen Eindruck der Zeugen. Den dort abgebildeten Menschen sind Anzeichen von Angst nicht anzusehen, sie wirken zwar erschöpft, aber nicht verzweifelt. Dies ist angesichts der festgestellten, zuvor immer wieder durch das SS-Personal ausgesprochenen Beruhigungen und Täuschungen auch ohne weiteres nachvollziehbar. Im Hinblick auf die noch in den Auskleideräumen und in der Gaskammer selbst aufrecht erhaltenen Maßnahmen zur Täuschung der Totgeweihten hat die Kammer auch keinen Zweifel, dass die Arglosigkeit jedenfalls bei dem ganz überwiegenden Teil der Opfer bis zum Verschließen der Kammern und dem Beginn der Tötungen fortbestand.
165Die Kammer hat unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der gewählten Tötungsmethode und der ideologischen Beweggründe, schließlich keinen Zweifel daran, dass die SS-Führer, welche die Tötungen anordneten, den quälenden Verlauf des Sterbeprozesses der Opfer aufgrund der in Auschwitz erfolgten Versuche und Probevergasungen sowie der nach außen dringenden Schreie der Eingeschlossenen kannten und dass sie diesen grausamen Verlauf zumindest in Kauf nahmen, um ihren menschenverachtenden Plan zur massenhaften Tötung der von ihnen als minderwertig und lebensunwert erachteten Menschen schnell und unauffällig zu verwirklichen.
166Die Feststellungen zur Zahl der in den Gaskammern im Tatzeitraum getöteten Menschen beruhen auf den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen SV 1. Der Sachverständige hat zunächst die Zahl der im Tatzeitraum nach Auschwitz deportierten und in den Gaskammern getöteten Opfer wie festgestellt dargelegt und unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen erläutert. Danach wurden von Januar 1943 bis einschließlich April 1944 insgesamt 270.000 Menschen nach Auschwitz deportiert, die dort an der alten Judenrampe ankamen. Davon wurden 78.000 Menschen als arbeitsfähig zur Aufnahme in das Lager registriert, sodass sicher davon auszugehen ist, dass die übrigen, ca. 190.000 Menschen unmittelbar in den Gaskammern getötet wurden. Die von dem Sachverständigen genannten Zahlen korrespondieren mit der in der Hauptverhandlung verlesenen Aufstellung sämtlicher im Zeitraum von Januar 1943 bis April 1944 in Auschwitz eingetroffenen Züge mit Deportierten, welche auf den allgemeinkundigen Forschungsergebnissen von Danuta Czech (veröffentlicht im „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz- Birkenau 1939 - 1945“, Rowohlt-Verlag 1989) beruht. Hinzu kommen – wie von dem Sachverständigen dargelegt – die in der Zeit vom 1. Mai bis zum 16. Mai 1944 an der alten Rampe in Auschwitz angekommenen Opfer der Ungarnaktion. Nach der sogenannten „Kassa-Liste“, einer von Angehörigen der Reichsbahn inoffiziell geführten Aufstellung der Transporte und Deportierten nach Auschwitz, kamen in dieser Zeit sieben Züge aus Ungarn in Auschwitz an. Der Sachverständige hat insoweit dargelegt, dass mindestens 75 bis 80 % der jeweils mindestens 3.000 Deportierten je Zug unmittelbar in den Gaskammern getötet wurden. Hinzu kommen die beiden ersten, insoweit nicht erfassten Züge der Aktion, für die der Sachverständige SV 1 die Zahl der Deportierten mit 3.800 und die Zahl der unmittelbar in den Gaskammern Getöteten mit 2.600 ermittelt hat.
167dd)
168Die Feststellung zur Vernichtung der Deportierten durch die Lebensverhältnisse im Lager beruhen auf den Aussagen der in der Hauptverhandlung als Zeugen vernommenen Nebenkläger, den im Urkundenbeweis eingeführten verschrifteten Aussagen des SS-Personals sowie den Ausführungen der Sachverständigen SV 3 und SV 1.
169Die entwürdigende Prozedur, welche die als arbeitsfähig Selektierten vor der Aufnahme in das Lager über sich ergehen lassen mussten, haben insbesondere die Zeugen NK 2, NK 32, NK 5, NK 11 und NK 15 umfassend und eindrucksvoll beschrieben. Die Kammer hat danach keinen Zweifel, dass dieses Verfahren, in dessen Verlauf den Deportierten u.a. der letzte Besitz genommen, die Haare geschoren, Lagerkleidung zugewiesen und eine Kennziffer auf den Unterarm tätowiert wurde, darauf ausgerichtet war, den Menschen die Individualität zu nehmen, sie zu Objekten zu degradieren und sie so für die anstehende Zwangsarbeit unter härtesten, menschenunwürdigen Bedingungen gefügig zu machen. Dies setzte sich mit der ärmlichen Unterbringung der Deportierten und der willkürlichen, gewalttätigen Behandlung durch das SS-Personal fort, welche die vorgenannten Zeugen ebenfalls übereinstimmend geschildert und mit zahlreichen persönlichen Erlebnissen untermauert haben. Dass die Angst danach ständiger Begleiter der Gefangenen war, kam bei allen Zeugen massiv zum Ausdruck.
170Als gravierendsten Mangel der Lebenssituation im Lager haben die in der Hauptverhandlung vernommenen Nebenkläger jedoch die absolut unzureichende Ernährung geschildert, die nach ihren insoweit völlig übereinstimmenden Angaben lediglich aus Ersatzkaffe, Suppe und Brot mit einem kleinen Stück Margarine bestand. Der Zeuge Z 2 hat dies aufgrund seiner Wahrnehmungen bei der Begleitung der Außenkommandos bestätigt. Die gravierenden körperlichen und seelischen Folgen der Unterernährung haben insbesondere die Zeugen NK 11 und NK 10 plastisch beschrieben. Ihre Schilderungen passen zu den Ausführungen des forensisch erfahrenen Sachverständigen SV 3, der die festgestellte, den Gefangenen zur Verfügung gestellte Nahrung aus medizinischer Sicht als sowohl quantitativ als auch qualitativ absolut unzureichend befunden hat. Diese sei nicht ansatzweise ausreichend gewesen, um den für den Grundumsatz des menschlichen Körpers erforderlichen Kalorienbedarf zu decken. Sie habe deshalb innerhalb eines überschaubaren Zeitraums von wenigen Monaten zum Tod führen müssen, wobei die konkrete Überlebenszeit abhängig sei von der jeweiligen physiologischen Ausgangssituation sowie den weiteren Lebensbedingungen. Die physiologischen und psychischen Wirkungen der dauerhaften Unterernährung bis hin zu den durch sie hervorgerufenen Todesursachen, insbesondere die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der menschlichen Organe und das Immunsystem und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen und Schmerzen, hat der Sachverständige wie festgestellt eingehend dargelegt. Er hat darüber hinaus plausibel ausgeführt, dass der Verlauf der durch die Unterernährung bewirkten Hungerkrankheit durch die weiteren, festgestellten Lebensbedingungen, die Arbeitsbelastung und die Unterbringungssituation einschließlich der hygienischen Bedingungen, verschärft worden sei. Die hohe Arbeitsbelastung habe zu einem erhöhten Kalorienbedarf geführt, was das Fortschreiten der körperlichen Auszehrung beschleunigt habe. Die Unterbringungssituation habe die Entstehung und Verbreitung von Infektionskrankheiten gefördert, gegenüber denen wiederum der hungernde Körper infolge der durch die Unterernährung herabgesetzten Immunabwehr kaum widerstandsfähig gewesen sei. Die häufigste Todesursache bei Unterernährung seien deshalb interkurrente Erkrankungen wie Ruhr, Tuberkulose und Lungenentzündungen, die bei einem hungernden Körper oft atypische, schwere Verläufe nähmen. Insofern hätten die hygienischen Verhältnisse und die Unterbringungssituation in Auschwitz zu einer weiteren Verkürzung der Lebenserwartung der Gefangenen beigetragen. Diese Ausführungen des Sachverständigen werden bestätigt durch die Aussage des Zeugen NK 3: „Man war schon ein „alter“ Häftling, wenn man drei bis vier Monate dort war.“ Die Zeugin NK 2 hat berichtet, dass am Morgen zum Appell die Leichen der in der Nacht Verstorbenen aus den Baracken auf den Hof geworfen wurden. Dass im Lager Infektionskrankheiten verbreitet waren, zeigen die Aussagen der Zeugen NK 3 und NK 10, die von massenhaften Flecktyphuserkrankungen berichtet haben. Eindrucksvoll war in diesem Zusammenhang die Aussage der Zeugin NK 5, die bekundet hat, dass ihr – mit damals 15 Jahren – aufgrund ihrer schlechten Ernährungssituation bewusst gewesen sei, dass sie sich auf keinen Fall anstecken und krank werden dürfe. Sie habe sich deshalb an jedem Morgen schon vor den anderen in der Waschbaracke mit dem kalten Wasser von Kopf bis Fuß gewaschen und die Nächte auf drei kleinen Holzstücken unter Schulter, Hüfte und Fuß liegend verbracht, um nicht auf dem kalten und feuchten Boden schlafen zu müssen. Das ständige Sterben im Lager belegen auch die Aussagen der Zeugen NK 11 und Z 2 sowie die verschrifteten Aussagen der SS-Männer Z 10, Z 20, Z 6, Z 12 und Z 7. Sie haben übereinstimmend angegeben, dass während der Arbeit und im Lager laufend Menschen vor Entkräftung zusammenbrachen und starben. Nach den Angaben des SS-Mannes Z 20 waren Todesfälle unter den Gefangenen während der Arbeit „an der Tagesordnung“. Bei der abendlichen Rückkehr der Arbeitskommandos in das Lager seien die Schwächsten von den Mitgefangenen getragen worden. Auch die bei der Arbeit verstorbenen Häftlinge seien in das Lager zurücktransportiert worden, damit beim Abendappell die Vollständigkeit der Rückkehrer habe überprüft werden können.
171Dem Tod durch Verhungern und interkurrente Erkrankungen kamen in unzähligen Fällen die Selektion der Gefangenen und ihre anschließende Tötung zuvor. Die Zeugen NK 1, NK 2, NK 3, NK 32, NK 10, NK 11 und NK 5 haben übereinstimmend von den regelmäßig stattfindenden Selektionen der Schwachen und Kranken, der sogenannten „Muselmänner“, und von den damit für sie verbundenen Todesängsten berichtet. Die Häftlinge wussten dabei, dass es um ihr Leben ging und dass im Falle ihrer Selektion der Tod durch eine Phenolinjektion in das Herz oder in der Gaskammer unmittelbar bevorstand. Gleiches erwartete auch denjenigen, die nach Krankheit oder Verletzung nicht innerhalb von drei Tagen wieder arbeitsfähig waren. Auch sie wurden dem Tod zugeführt. Davon haben die Zeugen NK 3, NK 11 und Z 2 eindrucksvoll berichtet. Der Zeuge Z 2 hat als Wachmann ergänzt, dass sich die Gefangenen oftmals zur Arbeit schleppten, obwohl sie nicht arbeitsfähig waren, um diesem Schicksal zu entgehen. Er habe selbst gesehen, dass Häftlinge, die drei Tage hintereinander nicht zur Arbeit erschienen seien, von dem Blockführer zum Krematorium geführt worden seien.
172Die Kammer hat nach alledem keinen Zweifel, dass unzählige Gefangene im Konzentrationslager Auschwitz an den Folgen von Unterernährung, verschärft durch extreme Arbeitsbelastung und interkurrente Erkrankungen aufgrund der hygienischen Verhältnisse und der Unterbringungssituation, unter großen körperlichen und – angesichts des bewussten, langsamen Verlustes der körperlichen Kräfte und Funktionen – auch unter großen seelischen Qualen starben.
173Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen SV 1 geht die Kammer davon aus, dass im Tatzeitraum von Januar 1943 bis Juni 1944 durch die Lebensverhältnisse allein im Konzentrationslager Auschwitz I - Stammlager mindestens 8.000 Menschen getötet wurden. Der Sachverständige hat dazu dargelegt, dass bereits für den Zeitraum von Januar bis Mitte Oktober 1943 in der im Stammlager 6.676 tote Lagerinsassen registriert wurden. 797 entkräftete und kranke Lagerinsassen wurden außerdem nach Selektionen am 26. August und 2. September 1943 in der Gaskammer getötet und registriert. Darüber hinaus existiert eine weitere Dokumentation der im Stammlager verstorbenen Gefangenen nur noch für den Zeitraum vom 29. März bis zum 30. Juni 1944. Danach verstarben dort 231 Menschen. Die nach Selektionen im Lager in den Gaskammern Getöteten sind davon nach den Ausführungen des Sachverständigen nicht umfasst. Im Hinblick darauf, dass der gesamte Zeitraum von Mitte Oktober 1943 bis Ende März 1944 nicht erfasst ist, aber auch in diesem Zeitraum – wie in den vorangegangenen Monaten – laufend Menschen aufgrund der Lebensverhältnisse starben, kann die Zahl der im Tatzeitraum aufgrund der Lebensverhältnisse in Auschwitz verstorben Menschen sicher mit mindestens 8.000 angenommen werden.
174Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Tötung auch dieser Menschen von den nationalsozialistischen Machthabern von Anfang an aus den von ihnen verfolgten rassischen Gründen und zum Zwecke der von ihnen beschlossenen „Endlösung der Judenfrage“ beabsichtigt war. Auch die zunächst als arbeitsfähig ausgewählten Deportierten sollten nach diesem Plan vernichtet werden, wenn auch erst nach vollständiger Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Deshalb ist die Ernährung nach Überzeugung der Kammer bewusst so gering gehalten worden, dass dies innerhalb weniger Wochen zum Tod der Gefangenen führen musste. Das wird nicht zuletzt deutlich auch anhand der harten Strafen, die für das sogenannte „Organisieren“ zusätzlicher Nahrung durch die Inhaftierten verhängt und vollstreckt wurden. Davon haben die SS-Leute Z 11 und Z 20 in ihren verschrifteten Aussagen berichtet. Besonders eindrucksvoll war dazu auch die Aussage des Zeuge N 43, der schilderte, dass ein erst 16-jähriger griechischer Junge wegen eines Stücks Brot, welches er ohne Erlaubnis während eines Fliegeralarms in der Häftlingsküche an sich genommen hatte, beim Abendappell am Galgen erhängt worden sei. Schließlich belegt auch die Behandlung erkrankter Lagerinsassen, dass nicht das Erlangen der Arbeitsleistung der Gefangenen, sondern deren Tötung der primäre Zweck ihrer Inhaftierung war. Für die Erhaltung und erst recht für die Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft wurde kein Aufwand getätigt. Eine medizinische Behandlung fand kaum statt. Wer nicht innerhalb von drei Tagen wieder zur Arbeit parat stand, wurde dem eigentlichen Ziel seiner Deportation und Inhaftierung, nämlich der Tötung, zugeführt.
175Die Kammer hat keinen Zweifel, dass die nationalsozialistischen Führer, welche die Inhaftierung der Deportierten unter den festgestellten Lebensbedingungen anordneten, wussten, dass der durch die Unterernährung und die weiteren, absolut unzureichenden Lebensverhältnisse verursachte Sterbeprozess der Gefangenen langsam und qualvoll war. Das Leiden eines hungernden Menschen ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen SV 3 auf den ersten Blick aufgrund der nicht zu übersehenden Auszehrung des Körpers – der hervor springenden Knochen an Schädel, Schultern, Becken – , der Kraftlosigkeit bis hin zur Bewegungsunfähigkeit sowie der augenfälligen Lethargie erkennbar. Eindrucksvoll hat der SS-Wachmann Z 12 in seiner verschrifteten Aussage vom 14. März 1962 die so von ihm wahrgenommenen Gefangenen als „Jammergestalten“ beschrieben, deren Erscheinungsbild ihm nachhaltig in Erinnerung geblieben sei. Die qualvollen Umstände ihres Todes haben die nationalsozialistischen Führer, da ist sich die Kammer sicher, zur vollständigen Ausbeutung der Gefangenen vor ihrem beabsichtigten Tod aufgrund ihrer rassistischen, menschenverachtenden Gesinnung zumindest billigend in Kauf genommen.
176ee)
177Dass an der schwarzen Wand im Hof zwischen Block 10 und Block 11 seit Ende 1941 Erschießungen stattfanden, ist geschichtlich erwiesen. Das haben auch die SS-Angehörigen Z 5, Z 11, Z 3, Z 12, Z 10 und Z 13, der SS-Mann Z 20 sogar aus eigener Wahrnehmung, im Rahmen ihrer verschrifteten Aussagen bestätigt. Die Beschaffenheit, die Lage und die Einsehbarkeit des Hofes zwischen Block 10 und 11 sowie die darin befindliche „Schwarze Wand“ hat der Zeuge EHK Z 1 aufgrund der Besichtigung der erhaltenen Örtlichkeit und der dabei gewonnenen Erkenntnisse anhand von Lichtbildern und Schaubildern, auf welchen die Örtlichkeit wie festgestellt abgebildet war, eingehend erläutert. Die Feststellungen zu den Opfern der Erschießungen beruhen auf der verschrifteten Aussage des SS-Mannes Z 20 und dem Inhalt des sogenannten „Bunkerbuches“. Der SS-Angehörige Z 20 hat dazu angegeben, dass Gefangene unmittelbar aus dem Schutzhaftlager zu den Erschießungen verbracht worden seien. Die überwiegende Zahl der Opfer wurde jedoch unmittelbar aus dem Bunker zur Erschießung in den Hof verbracht. Das ergibt sich aus dem sogenannten „Bunkerbuch“, das von Funktionshäftlingen für die Zeit von Januar 1941 bis Februar 1944 geführt werden musste und in welchem die in den Bunker aufgenommenen Häftlinge, der Grund ihrer Überführung in den Bunker und ihr Verbleib registriert wurden. Aus diesen Aufzeichnungen ist auch ersichtlich, dass die in den Bunker überstellten Personen zum einen von der politischen Abteilung dorthin eingewiesen, zum anderen nach Verstößen gegen die Lagerordnung in den Bunker verbracht wurden. Den Aufbau und die Aufzeichnungen des Bunkerbuches hat der Zeuge KOK Z 14 in der Hauptverhandlung eingehend und unter Vorlage von Ablichtungen der Originaleintragungen erläutert. Die Eintragungen zeigen, ebenso wie die Aussage des SS-Mannes Z 20, dass die Erschießungen in der Regel gruppenweise erfolgten. Regelmäßig erfolgten danach auch massenweise Erschießungen von bis zu 50 Menschen, z.B. am 25. Januar 1943, am 29. Juli 1943, 20. August 1943 und am 10. September 1943. Der Zeuge KOK Z 14 hat dazu aufgrund seiner Recherchen erläutert, dass es sich dabei um sogenannte „Bunkerleerung“ bei Überfüllung des Bunkers gehandelt habe. Weitere Massenerschießungen erfolgten nach den offenkundigen, historischen Forschungen, die der Zeuge KHK Z 14 unter weiterer Bezugnahme auf verschriftete und vom ihm ausgewertete Zeugenaussagen erörtert hat, am 6. Januar 1943 (Häftlinge, die im Effektenlager beschäftigt waren), 25. Juni 1943 (120 Häftlinge sowie 13 Mitglieder einer Widerstandsgruppe im Lager), 15. Juli 1943 (12 weitere Angehörige der Widerstandsgruppe) und am 11. Oktober 1943 (160 Angehörige der polnischen Intelligenz). Die Erschießungen wurden sowohl von Angehörigen der politischen Abteilung als auch von aus den Wachkompanien zusammengestellten Erschießungskommandos vorgenommen. Die SS-Angehörigen Z 3 und Z 12 haben dazu ausgeführt, dass aus den Wachmannschaften jeweils 12 Freiwillige für das Kommando ausgewählt wurden, die für ihre Tätigkeit jeweils mit Sonderverpflegung entlohnt worden seien. Die Kammer schließt daraus und aus den Ausmaßen der schwarzen Wand, dass die Todeskandidaten jeweils in kleinen Gruppen zur Erschießung an die Wand geführt wurden und die Nachfolgenden die Tötungen ihrer Vorgänger entweder selbst miterlebt haben oder aber die darauf hinweisenden Blutspuren und Leichen der Getöteten vor ihrer eigenen Erschießung wahrgenommen haben. Dass die Leichen bis zu Beendigung einer Erschießungsaktion auf dem Hof gelagert wurden, schließt die Kammer aus der Aussage des SS-Angehörigen Z 20. Dieser hat bekundet, dass die Leichen der Getöteten nach Abzug des Erschießungskommandos auf Karren geladen und abtransportiert wurden. Auch der Angeklagte selbst hat dies, wie er mit seiner Einlassung eingeräumt hat, beobachtet. Die Kammer hat danach keine Zweifel, dass die Todeskandidaten im Bewusstsein der ihnen unausweichlich bevorstehenden Tötung, deren Ablauf ihnen durch das sichtbare Schicksal ihrer Vorgänger plastisch vor Augen geführt wurde, sowie die Umstände ihrer Tötung – sie mussten sich mit dem Gesicht vor die schwarze Wand stellen und dort auf ihre Hinrichtung warten – vor ihrer Erschießung große Todesangst und seelische Qualen erlitten.
178Das alles war nach Überzeugung der Kammer auch den die Tötung anordnenden und ausführenden SS-Führern bewusst und wurde von diesen zumindest billigend in Kauf genommen.
179Die Feststellungen zur Zahl der an der Schwarzen Wand erschossenen Opfer beruhen auf den Eintragungen des „Bunkerbuches“ und den Angaben des Zeugen KHK Z 14, der die Eintragungen im Rahmen der Ermittlungen aufgearbeitet hat. Insgesamt weist das Bunkerbuch für den Zeitraum von Januar 1941 bis Februar 1944 danach 781 Todesfälle aus. Im Hinblick darauf, dass einige Gefängnisinsassen aufgrund anderer Ursachen verstorben sein können, andererseits – wie der Zeuge KHK Z 14 erläutert hat – aus dem Stehbunker, dem Frauenlager und unmittelbar aus dem Schutzhaftlager zur Erschießung vorgeführte Opfer nicht erfasst sind, ist die Kammer davon überzeugt, dass im Tatzeitraum mindestens 650 Gefangene unter großen seelischen Qualen an der „Schwarzen Wand“ getötet wurden.
180ff)
181Die Kammer ist nach alledem davon überzeugt, dass der Gesamtkomplex des Konzentrationslagers Auschwitz im Tatzeitraum ab Januar 1943 ein Vernichtungslager war. Von diesem Zeitpunkt an diente es ausschließlich dem Ziel, die nach der nationalsozialistischen Ideologie als rassisch minderwertig geltenden Minderheiten, insbesondere jüdische Menschen, sowie diejenigen, die sich dieser Ideologie und der daraus hergeleiteten Politik des Nationalsozialismus entgegenstellten und damit ebenso als „Volksschädlinge“ galten, systematisch auszulöschen. Der gesamte Betrieb des Konzentrationslagers war auf diesen Zweck ausgerichtet. Soweit ein geringer Teil der Deportierten sowie auf andere Weise zugeführte politische Häftlinge zunächst zum Zwecke der Zwangsarbeit von der sofortigen Tötung verschont blieben, war auch dies nur ein Zwischenschritt zum Ziel der ausnahmslosen Tötung aller rassisch Verfolgten und aller Regimekritiker.
182f)
183Die Kammer hat keinen Zweifel, dass der Angeklagte hinsichtlich des Vernichtungsgeschehens in Ausschwitz jedenfalls im Tatzeitraum ab 1943 umfassende und detaillierte Kenntnis hatte.
184Die Kammer ist überzeugt, dass der Angeklagte – wie von ihm eingeräumt – schon bei der Ausübung der Tätigkeiten in der Blockführerstube von dem Tötungsgeschehen im Lager – von den Erschießungen, den Tötungen in der gerade erst fertiggestellten Gaskammer des Stammlagers und auch von den verhungernden Häftlingen – umfassend Kenntnis erhielt. Der Angeklagte hat selbst eingeräumt, ihm sei bereits „nach mehreren Wochen“ seiner Anwesenheit in Auschwitz bekannt gewesen, was in Auschwitz ablief, nämlich dass Menschen erschossen, vergast und verbrannt wurden. Für dieses Geschehen hatten sich ihm von Beginn seiner Tätigkeit an in der Blockführerstube am Eingangstor des Stammlagers mit dem ständigen Verbrennungsgeruch aus dem Krematorium, den hin- und her transportierten Leichen, den hörbaren Schüssen aus dem Stammlager und dem Anblick der hungernden Gefangenen, die an jedem Abend nach den Arbeitseinsätzen – die toten oder und nicht mehr lauffähigen Mitgefangenen tragend – ins Lager zurückkehrten, eindeutige Hinweise ergeben. Diese Hinweise verdichteten sich nach Überzeugung der Kammer nach einigen Wochen mit den Wahrnehmungen, die der Angeklagte während seines Posten- und Rampendienstes und bei der Beaufsichtigung der Außenkommandos machte, bei denen er aus nächster Nähe selbst sowohl die Selektionen auf der alten Rampe als auch das Leiden der hungernden Gefangenen während ihres harten Arbeitseinsatzes beobachtete.
185Zusätzliche Erkenntnisse – auch hinsichtlich der Einzelheiten der in Auschwitz und Birkenau angewandten Tötungsmethoden – gewann der Angeklagte durch die Gespräche mit seinen Kollegen im Wachsturmbann. Dass – wie der Angeklagte behauptet – über das ungeheuerliche, für jeden nach kürzestem Aufenthalt in Auschwitz offensichtliche Vernichtungsgeschehen in Auschwitz nicht im Kollegenkreis gesprochen wurde, hält die Kammer für völlig lebensfremd. Dass dies tatsächlich auch so geschehen ist, ist den verschrifteten Aussagen der SS-Angehörigen Z 10, Z 13, Z 8, Z 5 und Z 12 zu entnehmen. Wie der Wachmann Z 10 ausführte, waren dabei auch Einzelheiten der Tötungen wie die Entkleidung der Häftlinge und das Vortäuschen von Duschbädern Gegenstand der Gespräche. Der Austausch solchen Detailwissens war nicht zuletzt auch aufgrund des regen Personalaustausches zwischen Kommandantur / Schutzhaftlagerpersonal einerseits und Wachmannschaften andererseits auch tatsächlich möglich. Davon ist die Kammer aufgrund der eingehenden und plausiblen Ausführungen des Sachverständigen SV 1 überzeugt. Ausführlich und anhand von Beispielen hat der Sachverständige insbesondere die enge personelle Verflechtung von Kommandanturstab einerseits und Wachsturmbann andererseits trotz der grundsätzlich bestehenden organisatorischen Trennung beider Teile dargestellt. Diese Verbindungen hätten sich insbesondere durch die verbreiteten Kommandierungen, also Abordnungen von Personal zum Dienst in anderen Bereichen bei fortbestehender formalen Zugehörigkeit zur ursprünglichen Einheit, die zum Teil inoffiziell und informell abgewickelt worden seien, aber auch durch formelle Versetzungen von SS-Angehörigen von den Wachsturmbannen zur Kommandantur und umgekehrt ergeben. Die Strukturen seien insoweit nicht starr, sondern – ausgerichtet am jeweiligen Bedarf – durchlässig gewesen. Beispielhaft verwies der Sachverständige dazu auf die Werdegänge der SS-Angehörigen P 8 und P 9, die zunächst Angehörige des Wachsturmbannes gewesen seien und dann zur Kommandantur versetzt (P 8) bzw. abgeordnet (P 9) worden seien. Die Kammer hat keine Zweifel, dass diese Ausführungen des Sachverständigen zutreffend sind. Seine Ausführungen werden durch die Beispiele der SS-Angehörigen Z 3, Z 8, Z 20 und Z 11 bestätigt, deren verschrifteten Aussagen zu entnehmen ist, dass sie in der von dem Sachverständigen dargestellten Weise in andere Lagerbereiche und Funktionen abgeordnet bzw. versetzt worden sind.
186Durch die Gespräche der Wachleute untereinander ergänzte sich das jeweilige Wissen des Angeklagten zu einer umfassenden Kenntnis aller für die verschiedenen Tötungsmethoden wesentlichen Details, die durch die Gespräche mit seinen Kollegen auch zur Kenntnis des Angeklagten gelangten. Die den Wachleuten hinsichtlich der Vorgänge im Lager auferlegte Verschwiegenheitspflicht war insofern kein Hindernis. Sie bestand gegenüber Außenstehenden. Soweit der Angeklagte demgegenüber angegeben hat, dass „man … sich gegenüber den Kameraden nicht so richtig äußern und verständigen“ konnte, ist dies bereits durch die erwähnten, anderslautenden Angaben der SS-Angehörigen widerlegt. Die Einlassung ist insofern aber auch angesichts der Zugehörigkeit des Angeklagten zur Peer-Group der 3. Kompanie und der damit verbundenen engen Beziehung zum Kompaniechef und zu seinen Kameraden mit gleicher Vita, auf die im Folgenden noch weiter eingegangen wird, nicht glaubhaft. Dass „schon einmal das ein oder andere Wort zwischen den Kameraden und Mitgliedern des Wachbataillons gesprochen“ wurde, hat der Angeklagte auch eingeräumt.
187Die Kammer ist sich darüber hinaus sicher, dass der Angeklagte es nicht bei den durch die Gespräche erlangten Erkenntnissen beließ, sondern aus eigener Anschauung wissen wollte, wie die in Massen ankommenden Menschen getötet wurden. Denn der Angeklagte interessierte sich – wie er selbst schildert – für die Vorgänge im Lager, er „spazierte herum“, sah sich die Arbeiten zur Verlegung des neuen Gleisanschlusses im Lager Birkenau an, kam mit Gefangenen ins Gespräch. Die Kammer hat angesichts dessen keinen Zweifel, dass der Angeklagte darüber hinaus auch an den weiteren wichtigen Einrichtungen des Lagers – den Gaskammern und den Krematorien, dem Hof zwischen Block 10 und 11 mit der schwarzen Wand – interessiert war, sich diese ansah und – wie festgestellt – auch einmal beobachtete, wie die Selektierten der Gaskammer zugeführt wurden und anschließend ihre aus der Kammer herausdringenden Schreie hörte. Die Möglichkeit dazu bestand trotz des offiziell für die Wachmannschaften bestehenden Verbotes, die Schutzhaftlager zu betreten. Der Angeklagte selbst hat eingeräumt, dass „man sich als Mitglied der Wachmannschaften frei innerhalb des Stammlagers bewegen konnte“ und er dies auch tat. Gleiches war auch im Bereich des Lagers Birkenau möglich. Davon ist die Kammer aufgrund der Aussagen Z 3 und Z 20 überzeugt. Der SS-Mann Z 20 hat in seiner verschrifteten Aussage vom 21. Juli 1959 berichtet, dass er selbst „interessehalber“ einer Vergasung im Krematorium von Birkenau – ebenso wie zuvor einer Erschießungsaktion an der Schwarzen Wand – beigewohnt habe. Der Zeuge Z 3 hat als Angehöriger des SS- Sonderkommandos für die Krematorien in Birkenau angegeben, dass sich ständig auch nicht mit dem Tötungen in den Gaskammern befasste SS-Leute im Bereich der Krematorien aufgehalten hätten. Schließlich hat auch der Zeuge Z 2 bekundet, dass er sich einmal eine Gaskammer und ein Krematorium in Birkenau angesehen habe.
188Die Kammer ist nach alledem überzeugt, dass der Angeklagte aufgrund seiner eigenen Wahrnehmungen und der Gespräche mit den Kameraden jedenfalls ab 1943 die konkreten – oben festgestellten – Umstände, unter denen die Deportierten und Gefangenen in Auschwitz und Birkenau getötet wurden, kannte und aufgrund seiner umfassenden Kenntnis der Vorgänge im Lager wusste, dass das Konzentrationslager Auschwitz ein Vernichtungslager war. Er wusste, dass nicht nur die an der Rampe zur Tötung in den Gaskammern Selektierten, sondern auch die zunächst als arbeitsfähig ausgewählten Deportierten letztlich sterben sollten. Er kannte die Lebensumstände im Lager, die offensichtlich so schlecht waren, dass sie unweigerlich in absehbarer Zeit zum Tod der Häftlinge führen mussten. Er kannte aufgrund seiner Ausbildung und der fortlaufenden Schulungen aber auch die Motive und den Vernichtungsplan der SS-Führung. Im Hinblick darauf besteht auch kein Zweifel, dass der Angeklagte auch wusste, dass den Führern der SS die Qualen, unter denen die Menschen dem Tod zugeführt wurden, aus ihrer gefühllosen, menschenverachtenden Gesinnung heraus gleichgültig waren.
189Aufgrund seiner eigenen Beobachtungen – der Vielzahl der an der alten Rampe ankommenden Züge mit jeweils mehreren tausend Deportierten, der durchgängig rauchenden Schornsteine der Krematorien, und der offenen Leichenkarren, die ständig durch das Stammlager zu den Krematorien gefahren wurden – sowie der Gespräche mit den Kameraden und Vorgesetzten kannte der Angeklagte auch in etwa die Zahl der im Tatzeitraum getöteten Menschen. Ihm war aufgrund seiner umfassenden Kenntnis des Vernichtungsgeschehens bewusst, dass im Tatzeitraum tausende Deportierte umgebracht wurden.
190g)
191Die Kammer hat keinen Zweifel, dass der Angeklagte wusste, dass die im Konzentrationslager Auschwitz durchgeführten Tötungen Unrecht waren, für das es keinerlei Rechtfertigung gab.
192Der Angeklagte wusste aufgrund seiner Ausbildung und der regelmäßigen Schulungen, dass die Menschen allein aufgrund ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit verfolgt wurden, ohne dass ihnen der konkrete Vorwurf einer Straftat gemacht wurde. Dass allein die Zugehörigkeit zu einer Religion oder zu einer bestimmten Volksgruppe keine Straftat begründen konnte, erst recht nicht eine solche, die mit dem Tode zu bestrafen wäre, war so offensichtlich, dass dies auch dem im Nationalsozialismus aufgewachsenen und indoktrinierten Angeklagten klar war. Während seiner Dienste an der Rampe und in der großen Postenkette sah der Angeklagte zudem, dass über die Selektion zur Tötung in den Gaskammer allein aufgrund eines flüchtigen Eindrucks von dem äußeren Erscheinungsbild entschieden wurde. Er nahm auch wahr, dass dabei ganz überwiegend völlig wehrlose Kinder, alte Menschen und Kranke für die Tötungen ausgewählt wurden, die in keiner Weise gefährlich werden konnten. Schließlich war dem Angeklagten auch aufgrund der strengen Geheimhaltungsvorschriften, der Abschirmung des Lagers nach außen und aufgrund der verklausulierten Sprache, die im Zusammenhang mit dem Tötungsgeschehen offiziell verwendet wurde, bewusst, dass das Vernichtungsgeschehen Unrecht war. Denn ein rechtmäßiges Handeln hätte nicht mit solch großem Aufwand verdeckt werden müssen. Für dieses Bewusstsein des Angeklagten spricht schließlich auch, dass der Angeklagte vom Beginn seiner Kriegsgefangenschaft an nie wieder mit jemanden über das dortige Geschehen sprach und hierzu beispielsweise auch keine Angaben in seinem Entschädigungsantrag im Jahr 1954 machte. Bestätigt wird diese Einschätzung schließlich durch die Aussage des Zeugen Z 2, der unumwunden angegeben hat, es sei jedem in Auschwitz klar gewesen, dass die Tötung der Menschen dort „nicht rechtens“ war.
193h)
194Durch seine Tätigkeit im Wachsturmbann hat der Angeklagte das Vernichtungsgeschehen im Konzentrationslager Auschwitz gefördert. Dies war ihm bei der Ausführung seines Dienstes auch bewusst.
195Aus den festgestellten Tätigkeiten des SS-Totenkopfsturmbanns hat die Kammer in Übereinstimmung mit dem historischen Sachverständigen gefolgert, dass die Wachkompanien eine der wichtigsten Stützen des Vernichtungsgeschehens im Konzentrationslager Auschwitz waren. Das Auftreten der Wachmänner in Uniformen und mit Gewehren bewaffnet – zumal in großer Zahl – ließ bei den Deportierten sogleich das Gefühl des Ausgeliefertseins entstehen, das jeden Gedanken an Widerstand und Flucht im Keim erstickte. Die Zeugin NK 15 hat dies anschaulich beschrieben: „ An Flucht dachten wir nicht, es gab ja überall bewaffnete Wachen!“ Auch der Zeuge Z 2 hat dies als Wachmann so wahrgenommen und ausgesagt: „Fluchtversuche habe ich nicht erlebt. Die Gefangenen waren ja alle total verängstigt durch die vielen SS-Wachen.“ So stellte der Wachsturmbann schon durch seine bloße Anwesenheit an der Rampe, in den Postenketten und bei den Arbeitseinsätzen sicher, dass die Gefangenen nicht entkamen und der Tötung zugeführt werden konnten. Sofern doch Häftlinge die Flucht wagten, stellten die Wachen in Ausführung des ihnen für diesen Fall erteilten Schießbefehls sicher, dass das Ziel der Tötung der Deportierten gleichwohl erreicht wurde, indem sie den Flüchtenden erschossen. Dass dies so geschah, hat die Kammer den zahlreichen in den Kommandantur- und Standortbefehlen veröffentlichten Belobigungen, so den verlesenen Standortbefehlen Nr. 45/43, 55/43 und 3/44, entnommen. Die Bedeutung der Tätigkeit der Wachmannschaften zeigt sich schließlich auch durch die Akribie, mit der diese auf ihre Tätigkeit vorbereitet wurden, sowie die ständige und detailreiche Reglementierung in allen Bereichen während ihrer Tätigkeit in Auschwitz. Beides macht eindrucksvoll und zweifelsfrei deutlich, dass die Vernichtungsmaschine Auschwitz auf einen reibungslos funktionierenden Wachsturmbann angewiesen war.
196An dieser, für den reibungslosen Ablauf des Vernichtungsgeschehens wichtigen Wachtätigkeit des Totenkopfsturmbannes hat sich der Angeklagte mit den von ihm ausgeübten Diensten in den Postenketten, bei der Bewachung der Arbeitskommandos und beim Dienst an der Rampe beteiligt, vom Zeitpunkt seiner Beförderung zum Rottenführer an sogar in gehobener Stellung mit besonderer Befehlsgewalt und leitender Funktion. Er hat damit durch seine Tätigkeit im Wachsturmbann selbst das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz gefördert.
197Dass sich der Angeklagte bei der Ausübung seiner Tätigkeit bewusst war, den Massenmord in Auschwitz zu fördern, folgt zur Überzeugung der Kammer sicher aus seiner umfassenden Kenntnis des Vernichtungsgeschehens. Aufgrund seines Einsatzes in allen Bereichen der Lagersicherung und der Häftlingsbewachung, aber auch aus den ihm durch Schulungen, Kommandantur- und Standortbefehlen vermittelten Selbstverständnis der Wachmannschaften wusste er um die Bedeutung seines Dienstes für die beabsichtigte Vernichtung aller rassisch Verfolgten und Gegner des Regimes. Ihm war klar, dass sich die Deportierten ohne die lückenlose Bewachung durch den Totenkopfsturmbann, dem er angehörte, dem Tötungsgeschehen durch Flucht entzogen hätten.
198i)
199Der Angeklagte nahm die massenhaften Tötungen in Auschwitz und seine eigene Beteiligung daran zumindest billigend in Kauf. Das folgt zur Überzeugung der Kammer aus der Art und Weise, in der er seinen Dienst ausübte, sowie aus seiner Weltanschauung.
200Der Angeklagte übte seinen Dienst im Bewusstsein des dadurch geförderten Massenmordes gewissenhaft und engagiert aus. Er war ein willfähriger und effizienter Angehöriger des Wachsturmbannes in Auschwitz. Daran hat die Kammer im Hinblick auf seinen Werdegang in Auschwitz keinen Zweifel. Dass seine Führung „gut“ war und ihm „keine Strafen“ erteilt wurden, ist schon auf der Truppenstammkarte des Angeklagten vermerkt. Darüber hinaus ergibt sich aus den in Augenschein genommenen und verlesenen Urkunden, insbesondere der SS-Stammkarte und der Truppenstammrolle des Angeklagten, dass der Angeklagte am 1. Februar 1943 zum Rottenführer und bereits sieben Monate später, am 1. September 1943, zum Unterscharführer befördert wurde. Die Beförderung zum Unterscharführer setzte – wie der Sachverständige SV 1 erläutert hat – den erfolgreichen Abschluss des Unterführerlehrgangs voraus. Diesen absolvierte der Angeklagte nach eigener Angabe – anders als die meisten Unterführeranwärter, die, wie die SS-Angehörigen Z 5 und Z 13 bekundet haben, in der Nähe von Auschwitz ausgebildet wurden – in der SS-Junkerschule O 20, in welcher der nach nationalsozialistischer Anschauung besonders talentierte Nachwuchs ausgebildet wurde. Daneben setzte die Beförderung den entsprechenden Vorschlag einschließlich einer positiven Beurteilung durch den Vorgesetzten voraus. Der Sachverständige SV 1 hat dazu ausführlich erläutert, dass neben der allgemeinen Führung und der bisher erworbenen Verdienste insbesondere auch die Feststellung der Führungsqualitäten aufgrund der bisherigen Verwendung des Anwärters maßgeblich gewesen sei. Der Sachverständige hat dies anhand der schriftlichen Beförderungsvorschläge vom März 1943 für die Wachmänner P 7 und P 10, für die im Rahmen des Beförderungsvorschlages aufgrund ihrer ausgeübten Gruppenführerdienste auf die „gute Willens- und Entschlusskraft“ sowie die Eignung zum Unterführer und Rekrutenausbilder hervorgehoben wurde, eingehend dargestellt. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass aufgrund der tatsächlich erfolgten Beförderung des Angeklagten sicher davon auszugehen sei, dass ein entsprechender Vorschlag auch für diesen abgegeben worden sei. Die Kammer hat deshalb keinen Zweifel, dass sich der Angeklagte mit seiner Tätigkeit bewährt und im Dienst Führungsqualitäten gezeigt hat. Konkret spricht nach Auffassung der Kammer Vieles dafür, dass seine Beförderung zum Unterscharführer im direkten Zusammenhang steht mit seinem Einsatz bei den Anfang August 1943 abgewickelten Transporten aus den oberschlesischen Ghettos in Bendsburg und Sosnowitz. U.a. wegen der dabei erworbenen Verdienste wurden nach den Darlegungen des Sachverständigen SV 1 im Dezember 1943 mehrere SS-Führer, darunter der Führer der Kompanie des Angeklagten, P 1, mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet. Es liegt nahe, dass die Auszeichnungen für den entsprechenden Einsatz auf Mannschafts- und Unterführerebene im Rahmen von Beförderungen erfolgten. In jedem Fall ist aber nach Überzeugung der Kammer aufgrund seiner zweifachen Beförderung im Jahr 1943 und seiner Überweisung zur SS-Junkerschule O 20 davon auszugehen, dass sich der Angeklagte insgesamt durch seinen Dienst im Wachsturmbann als besonders geeignet und förderungswürdig erwiesen hat.
201Dabei verkennt die Kammer nicht, dass der Angeklagte – solange er in Auschwitz war – kaum Möglichkeiten hatte, den Dienst zu verweigern. Auf Befehlsverweigerungen standen harte Strafen, ebenso wurden Dienstpflichtverletzungen bestraft. Das ist sowohl den laufenden Kommandantur- und Standortbefehlen zu entnehmen, als auch den verschrifteten Aussagen der SS-Angehörigen Z 7 und Z 10. Der Angeklagte hat aber nicht einfach nur gezwungenermaßen seinen Dienst versehen, sondern sich bei der Dienstausführung als so willfährig erwiesen, dass er innerhalb eines Jahres zweimal befördert wurde und zu Junkerschule nach O 20 fahren durfte. Dazu war er nicht gezwungen. Der Zeuge Z 2 hat dies auf die Frage, warum er nicht befördert worden sei, anschaulich auf den Punkt gebracht: „Ich habe mich eben nicht hervorgetan!“. Demgegenüber hat der Angeklagte aktiv an seiner Karriere im Wachsturmbann gearbeitet. Zum Unterführerlehrgang hat er sich – wie er betont hat – freiwillig gemeldet. Seine Dienstverpflichtung hat er – in Kenntnis des Mordens in den Konzentrationslagern – noch im Juli 1944 auf zwölf Jahre verlängert. Das ergibt sich zweifelsfrei aus seiner in der Hauptverhandlung verlesenen und vom Zeugen EHK Z 1 ausführlich erläuterten Truppenstammrolle.
202Der Angeklagte hat darüber hinaus vor allem auch die Möglichkeit, sich dem Dienst in Auschwitz durch eine Versetzung an die Kriegsfront zu entziehen, nicht genutzt. Soweit der Angeklagte demgegenüber geltend gemacht hat, dass er „in der ersten Zeit… zweimal Versetzungsanträge zur Front“ erfolglos gestellt habe, hält die Kammer dies für eine Schutzbehauptung. Unterlagen dazu wurden – wie der Zeuge EHK Z 1 berichtet hat – im Rahmen der Ermittlungen nicht aufgefunden. Nach den eingehenden Ausführungen des Sachverständigen SV 1 waren zudem freiwillige Meldungen von Auschwitz zur Front jederzeit möglich. Der Sachverständige hat dazu im Einzelnen dargelegt, dass es den Angehörigen des Wachsturmbannes zu jeder Zeit möglich war und frei stand, Versetzungsgesuche einzureichen, und dass diese auch durchgängig positiv beschieden wurden. Der Sachverständige hat dies plausibel begründet mit dem Hinweis darauf, dass die Bewährung an der Front generell stärker mit dem Ehren- und Elitekodex und dem heroischen Soldatenbild der SS korreliert habe als der Dienst im Konzentrationslager. Vor diesem Hintergrund seien Ablehnungen von entsprechenden Gesuchen oder Versuche der Führung des Wachsturmbannes, diese im Vorfeld durch Androhung von Nachteilen zu unterbinden, gänzlich unrealistisch. Das gelte erst recht angesichts dessen, dass aufgrund der Kriegslage bereits ab 1941 sogar entsprechende Aufrufe der SS-Führung – zum Teil konkret gerichtet an ganze Geburtsjahrgänge – erfolgt seien, um die Verluste der kämpfenden Einheiten auszugleichen. Diesen sei durch zum Teil massenhafte Versetzungen zur Front Folge geleistet worden. So seien im September 1944 ca. 500 SS-Wachmänner aus Auschwitz zu Feldeinheiten der Waffen-SS versetzt worden. Der Feldeinsatz sei insofern gegenüber dem Wachdienst im Konzentrationslager eindeutig vorrangig gewesen. Deshalb seien sogar lediglich eingeschränkt kriegsverwendungsfähige Angehörige des Wachsturmbannes – z.B. 1943 der Adjutant im Konzentrationslager Buchenwald, – bei entsprechender freiwilliger Meldung zur Front versetzt worden. Diese Ausführungen des Sachverständigen werden bestätigt und ergänzt durch die im Urkundsbeweis eingeführten Aussagen des SS-Angehörigen Z 15, Z 8, Z 16 und Z 17. So hat Z 15 im Rahmen seiner Vernehmung vom 3. November 1960 angegeben, dass er im Dezember 1944 zusammen mit zwölf weiteren Kameraden von Auschwitz an die Front versetzt worden sei. Der Zeuge Z 8, dessen verschriftete Aussage vom 9. Mai 1970 Gegenstand des Urkundsbeweises war, berichtete, dass er Anfang 1944 von Auschwitz zum Einsatz nach Jugoslawien versetzt worden sei. Auch die SS-Angehörigen Z 16 und Z 17 haben bestätigt, dass ihre Versetzungsgesuche Erfolg hatten. Schließlich hat auch der Zeuge Z 2 bekundet, dass ständig Angehörige der Wachmannschaften aus Auschwitz „weggekommen“ seien, wenngleich er nicht zu sagen vermochte, wohin die Kameraden versetzt worden waren. Soweit demgegenüber die SS-Angehörigen Z 6, Z 20 und Z 18 im Rahmen ihrer im Urkundsbeweis eingeführten Aussagen angegeben haben, dass ihre mehrfachen Versetzungsgesuche zur Front in Auschwitz zurückgewiesen worden seien, hält die Kammer dies für Schutzbehauptungen, mit der die SS-Angehörigen ihre Mitwirkung an dem Vernichtungsgeschehen in Auschwitz in einem milderen Licht erscheinen lassen wollten. Für die Aussage des SS-Mannes Z 18 ist dies im Hinblick darauf, dass der Einwand in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Vorhalt der in Auschwitz erfolgten Vergasung von jüdischen Menschen erfolgte, greifbar. Die Angaben des SS-Mannes Z 6 sind insoweit schon im Hinblick auf seine 1943 tatsächlich erfolgte Versetzung zu einer Einheit der Waffen-SS in Linz nicht glaubhaft. Die Kammer ist insofern davon überzeugt, dass ein Versetzungsgesuch zur Front angesichts des dort bestehenden Bedarfs an Soldaten in jedem Fall Erfolg gehabt hätte, wenn schon einem Gesuch zur Versetzung zu einer im Reichsgebiet stationierten Einheit nachgekommen wurde. Die Ausführungen des SS-Oberscharführers Z 20, er sei wegen seines Versetzungsantrags in den Schutzhaftlagerbereich, wo er die Funktion des Rapportführers ausübte, strafversetzt worden, hält die Kammer angesichts dessen, dass der Zeuge in diesem Fall mit einer Beförderung „sanktioniert“ worden wäre, für abwegig. Soweit auch der SS-Angehörige Z 19 im Rahmen seiner auszugsweise verlesenen Aussage angegeben hat, dass seinem Versetzungsgesuch nicht stattgegeben worden sei, spricht viel dafür, dass in diesem Fall die Gehbehinderung des Zeugen ursächlich war. In der Gesamtschau hat die Kammer daher im Hinblick auf die eingehend und plausibel begründete Darlegung des Sachverständigen SV 1 und die sie bestätigenden Aussagen der SS-Angehörigen Z 8, Z 15, Z 16 und Z 17 keinen Zweifel daran, dass Versetzungen von Auschwitz zu Feldeinheiten der Waffen-SS generell jederzeit möglich waren, sofern der Bewerber zumindest eingeschränkt fronttauglich war.
203Gründe dafür, dass gerade im Fall des Angeklagten anders verfahren worden sein könnte, haben sich aufgrund der Beweisaufnahme nicht ergeben. Insbesondere war der Angeklagte, der sich auf mangelnde Verwendungsfähigkeit nicht berufen hat, im Tatzeitraum kriegsverwendungsfähig. Das wird durch den entsprechenden Eintrag auf seiner SS-Stammkarte, durch den entsprechenden Vermerk im ärztlichen Untersuchungsbogen vom 5. Dezember 1944 sowie durch seine entsprechende Angabe im Schreiben an das Rasse- und Siedlungshauptamt vom 12. Januar 1945 belegt. Der Angeklagte wäre auch aufgrund seiner Erfahrungen im Feldeinsatz ein besonders wertvolles Mitglied der kämpfenden Truppe gewesen, während er in Auschwitz als zunächst einfacher Mannschaftsdienstgrad und späterer Rotten- und Unterführer zwar einen wesentlichen Beitrag zum reibungslosen Ablauf des Vernichtungsgeschehens leistete, aber in dieser Funktion doch zu ersetzen war. Das gilt erst recht für die Zeit ab 1942, als – wie der Sachverständige SV 1 erläuterte – zur Verstärkung des Wachsturmbanns in Auschwitz aufgrund des Kriegsverlaufs sowohl sogenannte „Volksdeutsche“ als auch nicht mehr voll kriegsverwendungsfähige Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht – 1943 wurde in Birkenau die ausschließlich aus Wehrmachtssoldaten bestehende 4. Kompanie eingerichtet – nach Auschwitz versetzt wurden. Dass der Angeklagte in Auschwitz abkömmlich war, zeigt schließlich auch seine Versetzung zum Konzentrationslager Sachsenhausen am 13. Juni 1944.
204Angesichts der für den Angeklagten bestehenden Möglichkeit der Meldung zur Front hat die Kammer keinen Zweifel, dass der Angeklagte im Tatzeitraum freiwillig und gewollt in Auschwitz verblieb und dort seinen Dienst verrichtete. Dafür sprechen über die nicht genutzte Möglichkeit der Meldung zur Front hinaus in besonderem Maße auch das Ansehen und die Stellung, die der Angeklagte als reichsdeutscher Angehöriger der Waffen-SS mit Feldeinsatz und Fronterfahrung und nach überstandener schwerer Verwundung im Kampf im Wachsturmbann Auschwitz genoss. Der Sachverständige SV 1 hat dazu eingehend und plausibel ausgeführt, dass der Angeklagte mit einer solchen Vita in der Hierarchie des multikulturell zusammengesetzten, überwiegend aus Wachmännern volksdeutscher und fremdvölkischer Herkunft bestehenden Wachsturmbanns weit oben stand. Er stand nicht nur über den volksdeutschen und fremdvölkischen Wachleuten und Wehrmachtssoldaten, sondern auch über solchen reichsdeutschen SS-Wachleuten seines Dienstranges, die diese Sozialisation nicht hatten. Der Sachverständige SV 1 hat dazu ausgeführt, dass die SS- Wachverbände im Gesamtkomplex Auschwitz in der Zeit von der Errichtung des Lagers bis zu seiner Auflösung im Januar 1945 stetig von anfangs 700 Männer auf schließlich 5.000 Männer gestiegen sei. Der massive Personalbedarf sei im Gefolge des Kriegsverlaufs und der Okkupation zahlreicher Länder zunehmend durch den Einbezug sogenannter „Volksdeutscher“, also außerhalb des Reiches lebender Personen deutscher „Volkszugehörigkeit“, fremd völkischer Hilfswilliger – vor allem ukrainischer Männer aus dem Ausbildungslager Trawniki –, aber auch nicht mehr „kriegsverwendungsfähigen“ Wehrmachtssoldaten erfüllt worden. Dadurch sei der Anteil der „reichsdeutschen“ SS-Leute bis zum Jahr 1944 auf 10 % gesunken. Die Kammer hat im Hinblick auf den Kriegsverlauf einerseits, durch den ab dem Jahr 1942 immer mehr kriegsverwendungsfähige Männer an der Kriegsfront benötigt wurden, der stetig steigenden Zahl der Deportierten und dem sich daraus ergebenden Bedarf an Wachpersonal andererseits keinen Zweifel daran, dass die diesbezüglichen Angaben des Sachverständigen zutreffend sind. Die Schlussfolgerung des Sachverständigen, wonach die verdienten, reichsdeutschen Angehörigen der Waffen-SS hierarchisch über den übrigen Angehörigen des Wachsturmbannes standen, ist vor diesem Hintergrund für die Kammer überaus plausibel und überzeugend. Sie wird zudem gestützt durch die Angaben des Zeugen Z 2. Dieser hat bekundet, dass er selbst 1943 als Volksdeutscher aus Jugoslawien zusammen mit einem ganzen Zug voller jugoslawischen Kameraden eingezogen und nach Auschwitz verbracht worden sei. Die Kompanien dort hätten ganz überwiegend aus volksdeutschen Jugoslawen, Ungarn und Rumänen bestanden.
205Der Angeklagte gehörte danach zur Elite des Wachsturmbannes und trug dies nach außen hin durch entsprechendes Uniformzubehör zur Schau, so dass seine Bedeutung von jedermann wahrgenommen werden konnte. Dass gerade auch der Angeklagte auf diese Stellung in der Hierarchie des Wachsturmbanns Wert legte, zeigt sich anhand des in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbildes des uniformierten Angeklagten in Auschwitz. Der Angeklagte trägt darauf das ihm verliehene Verwundetenabzeichen sowie den Ärmelstreifen seines früheren Feldregimentes „Der Führer“, obwohl der Angeklagte – wie der Sachverständige erläuterte – dem Regiment nach Versetzung zum Wachsturmbann Auschwitz nicht mehr angehörte und der Ärmelstreifen deshalb nach den Bekleidungsvorschriften des Konzentrationslagers hätte abgelegt werden müssen.
206Der Sachverständige SV 1 hat darüber hinaus dargelegt, dass die jungen reichsdeutschen Wachmänner mit der oben beschriebenen Vita von dem im Tatzeitraum eingesetzten Kompanieführer P 1 – selbst altgedienter, fronterfahrener und kampfversehrter Angehöriger der Waffen-SS – bewusst in der 3. Kompanie des Wachsturmbannes zusammengezogen wurden. Der Sachverständige hat dies anhand der Biografien der Wachmänner P 7, P 10, P 5 und P 6 eindrucksvoll belegt. Sie bildeten die Kerntruppe um den Kompanieführer P 1 und konnten sich seiner Fürsorge und seiner Förderung sicher sein. Dazu hat der Sachverständige aus dem Auszeichnungsvorschlag des Führers des Wachsturmbannes betreffend P 1 vom Dezember 1943 zitiert: „Als alter Soldat und SS-Mann hat sich P 1 nicht nur für die dienstlichen Belange, sondern auch für seine Unterführer und Männer stets eingesetzt und durch sein persönliches und soldatisches Auftreten eine ausgezeichnete Führung seiner Kompanie erreicht.“ Auch der Angeklagte gehörte aufgrund seines nationalsozialistischen und militärischen Werdegangs zu dieser „Peer Group“ des Kompanieführers. Unter weiterer Berücksichtigung des Verzichts auf eine Meldung zurück zur Front, seiner freiwilligen Meldung zum Unterführerlehrgang und der Verlängerung seiner Verpflichtungszeit auf zwölf Jahre hat die Kammer keinen Zweifel, dass der Angeklagte sich im Wachsturmbann Auschwitz und speziell in der 3. Kompanie gut aufgehoben fühlte. Die Kammer ist sich sicher, dass der junge Angeklagte – was nach den Kampferfahrungen und seiner Verwundung nachvollziehbar ist – sich die mit seinem Verbleib im Wachsturmbann verbundene Sicherheit, das Ansehen und die Aufstiegsmöglichkeiten erhalten wollte.
207Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach Überzeugung der Kammer auch im Tatzeitraum die nationalsozialistische „Rassenideologie“ jedenfalls insoweit teilte, als er die „arischen“ Deutschen für die höherwertige und die Menschen nicht „arischer“ Herkunft, insbesondere die Juden, für grundsätzlich „minderwertig“ hielt. Das folgt zur sicheren Überzeugung der Kammer aus dem Umstand, dass der Angeklagte in voller Kenntnis des Vernichtungsgeschehens seinen Aufstieg innerhalb der Waffen-SS betrieb und seine dortige Dienstverpflichtung noch im Jahr 1944 auf zwölf Jahre verlängerte. Auch unter Berücksichtigung dessen, dass der Angeklagte durch die Kriegserlebnisse sicherlich geprägt und um sein eigenes Leben besorgt war, hält es die Kammer für ausgeschlossen, dass er sich auf diese Weise in der nationalsozialistischen Waffen-SS engagiert hätte, wenn er deren „Werte“ selbst nicht zumindest gebilligt hätte. Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte – wie er in seiner Einlassung schildert – bei Begegnungen mit Gefangenen des Lagers auch einmal menschliche Züge gezeigt und geholfen haben will. Die Kammer hält es für denkbar, dass der junge Angeklagte trotz seiner nationalsozialistischen Gesinnung im konkreten und unmittelbaren Zusammentreffen mit Menschen der als „minderwertig“ betrachteten Herkunft und bei direkter Ansprache durch diese entgegen seiner grundsätzlichen Einstellung in geringem Umfang Hilfestellung gab.
208In der Gesamtschau aller vorgenannten Umstände hat die Kammer insgesamt keinen Zweifel, dass der nationalsozialistisch überzeugte Angeklagte zumindest um seiner eigenen Sicherheit und seines eigenen Fortkommens willen den in Auschwitz verübten Massenmord und seine eigene Hilfeleistung dazu billigend in Kauf genommen hat.
209Dagegen haben sich für die Kammer hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte aufgrund seiner nationalsozialistischen Weltanschauung ein eigenes unmittelbares Interesse an dem Massenmord hatte und diesen selbst unmittelbar wollte, aufgrund der Beweisaufnahme nicht ergeben. Der Angeklagte selbst hat dies in Abrede gestellt. Die festgestellte Weltanschauung und der Werdegang des Angeklagten sind für die Annahme eines solchen Interesses kein hinreichendes Indiz.
210j)
211Die Feststellungen zum Werdegang des Angeklagten nach dem Ende seiner Tätigkeit in Auschwitz beruhen auf seiner Einlassung sowie den Eintragungen seiner SS-Stammrolle, seiner SS-Stammkarte, seiner Kriegsgefangenenpersonalkarte und seines Antrags auf Gewährung einer Kriegsgefangenenentschädigung vom 15. September 1954, mit welchem der Angeklagte seine Tätigkeit in den Konzentrationslagern Auschwitz und Sachsenhausen verschwieg.
212k)
213Die Feststellungen zu dem Werdegang der Nebenkläger nach dem Verlust ihrer Angehörigen durch die Massenvernichtungen in Auschwitz im Tatzeitraum beruhen auf den Angaben der Nebenkläger NK 11, NK 2, NK 32, NK 43, NK 11, NK 15, NK 35, NK 10, NK 49, NK 5, NK 52 und NK 54. Sie alle haben ruhig, aber eindringlich den unbeschreiblichen Schmerz, die tiefen Lücken und das bleibende Trauma, welche der grausame und unfassbare Verlust der nächsten Angehörigen bei ihnen bewirkt hat und den sie als zur Tatzeit Jugendliche und junge Erwachsene bewältigen mussten, beschrieben. Allen gemeinsam war die tief empfundene Verpflichtung, das Erlebte weiterzugeben und die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen wach zu halten, um die nachfolgenden Generationen für die Gefahren von Rassismus und Ausgrenzung zu sensibilisieren.
214V.
215Nach alledem hat sich der Angeklagte der Beihilfe zum Mord in 170.000 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen gemäß §§ 211, 27 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
2161.
217Die auf Grundlage der durch die nationalsozialistischen Machthaber beschlossenen „Endlösung“ aus Rassenhass erfolgten vorsätzlichen Tötungen der Menschen im Konzentrationslager Auschwitz durch Giftgas, durch das Erschießen an der sogenannten „schwarzen Wand“ sowie durch das Verhungern lassen der Gefangenen erfüllen den Tatbestand des Mordes. Anzuwenden ist insofern § 211 StGB in der aktuellen Fassung, da diese Vorschrift mit Blick auf die Rechtsfolge des zur Tatzeit geltenden § 211 StGB [nachfolgend a.F. StGB] – welcher die Todesstrafe vorsah – das mildere Gesetz darstellt (§ 2 Abs. 3 StGB).
218a)
219Die vorsätzlichen Tötungen der Menschen in den Gaskammern erfüllen die Mordmerkmale der Heimtücke und der Grausamkeit.
220aa)
221Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs [st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 03. September 2015 – 3 StR 242/15 m. w. N.]. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinn erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Eines darüber hinausgehenden, voluntativen Elements in dem Sinne, dass der Täter die Arglosigkeit des Opfers für seine Tat instrumentalisiert oder anstreben muss, bedarf es nicht [vgl. BGH, Urteil vom 04. Dezember 2012 – 1 StR 336/12, NStZ 2013, 339 m. w. N.]. An diesem Maßstab gemessen sind die Voraussetzungen für eine heimtückische Tötung der Menschen in den Gaskammern erfüllt. Durch eine gezielte Propaganda der Nationalsozialisten gingen die Deportierten davon aus, dass Auschwitz ein Arbeitslager sei. Diese Täuschung wurde bewusst aufrechterhalten, bis die selektierten Menschen in die Gaskammern gelockt worden waren: Bei der Ankunft an der Rampe wurde den Opfern vorgegaukelt, ihr Gepäck würde ihnen später nachgebracht werden. Ihnen wurde vorgespiegelt, sie sollten duschen. Die Aufforderung, sich auszuziehen, erfolgte mit dem Hinweis, dass sie sich merken sollten, wo sie ihre Sachen ablegten, damit sie sie später wiederfänden. Die dadurch bei Betreten der Gaskammern bestehende Arglosigkeit der Menschen nutzten die Täter bewusst aus, um einen reibungslosen Ablauf des Tötungsgeschehens zu gewährleisten. Nachdem die Türen von außen verriegelt worden waren, waren die Opfer dem Giftgas wehrlos ausgesetzt.
222bb)
223Die Tötung der Menschen mit dem Giftgas Zyklon B, dessen Wirkstoff Blausäure ist, war grausam. Grausam tötet, wer seinem Opfer in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen [vgl. BGH, Urteil vom 08. September 2005 – 1 StR 159/05, NStZ-RR 2006, 236]. So war es hier. Der langsame Todeskampf, der sich bis zu 30 Minuten hinzog, war für die Opfer mit erheblichen körperlichen Qualen verbunden. Mit zunehmender Giftgaskonzentration kam es bei den Menschen zu extrem steigendem Kopfdruck, Atemnot, Herzschmerzen und Krämpfen. Hinzu kam, dass zunächst die Menschen nahe der Einwurfstelle an den Symptomen der Vergiftung litten, so dass die anderen deren Leiden mit ansehen mussten in dem Wissen, dass auch ihnen deren Schicksal bevorstand, was eine allgemeine Todesangst und Panik zur Folge hatte. Der gesamte Tötungsvorgang war Ausdruck der gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung gegenüber der jüdischen Bevölkerung und anderen Menschen, die nach der nationalsozialistischen Rassenideologie als „lebensunwert“ betrachtet wurden und „ausgelöscht“ werden sollten.
224b)
225Die Erschießungen der Gefangenen an der sogenannten „schwarzen Wand“ waren ebenfalls grausam. Die ganz überwiegende Zahl der Opfer hatte zuvor die Tötung der Mitgefangenen miterlebt. Sie wussten, dass deren Schicksal nun auch ihnen bevorstand. Hinzu kamen die entwürdigenden und menschenverachtenden Umstände der Exekution. Nackt und barfüßig wurden die Menschen zur sogenannten „schwarzen Wand“ gebracht. Auf dem Weg dorthin sahen die Meisten das Blut der bereits Getöteten sowie deren Leichen, die zu einem Haufen gestapelt worden waren. Sie mussten sich mit dem Gesicht zur Wand stellten und dort auf ihre Hinrichtung warten. Durch diese Art der Tatausführung wussten die Opfer schon einen ganz erheblichen Zeitraum vor der Tat, was ihnen bevorstand. Das bedeutete für sie eine besondere Qual [vgl. BGH, Urteil vom 04. Juli 1984 – 3 StR 199/84, BGHSt 32, 382-384]. Die Menschen mussten zudem erkennen, dass sie den Tätern wehrlos ausgesetzt waren, was eine große Todesangst zur Folge hatte. Auch die Erschießungen waren subjektiv dadurch gekennzeichnet, dass den Opfern als „minderwertig“ kein Lebensrecht zuerkannt und ihnen jede Menschenwürde aberkannt wurde.
226c)
227Einen Menschen verhungern zu lassen, erfüllt ebenfalls das Mordmerkmal der Grausamkeit [vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2007 – 5 StR 320/06, NStZ 2007, 402]. Die Gefangenen litten aufgrund der chronischen Unterernährung an einem quälenden und alles andere überlagernden Hungergefühl. Es kam infolge der mangelhaften Nahrungszufuhr zu einem massiven Gewichtsverlust bis zum Abbau der inneren Organe und aufgrund der dadurch bedingten Schwächung des Körpers zu schmerzhaften Infektionen. Zudem waren sich die Opfer die ganze Zeit über bewusst, dass sie dabei waren, ihr Leben zu verlieren. Damit erlitten sie Schmerzen und Qualen sowohl körperlicher als auch seelischer Art. Auch die „Vernichtung“ der Gefangenen durch das Verhungern lassen war getragen von der gefühllosen und mitleidslosen Mentalität des Nationalsozialismus, nach der die im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie als „wertlos“ angesehenen Menschen zu „vernichten“ waren.
228d)
229Soweit die vorsätzlichen Tötungen der Menschen durch Giftgas, Erschießen und Verhungern lassen auch aus niedrigen Beweggründen erfolgten, nämlich eines nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswerten und auf tiefster Stufe stehenden Antisemitismus, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass dieses persönliche Mordmerkmal [vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2009 – 4 StR 645/08, NStZ 2009, 627] auch in der Person des Angeklagten vorlag. Die Kammer hat keine sicheren Feststellungen dazu treffen können, dass der Angeklagte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie an der „Endlösung“ mitwirken wollte.
2302.
231Der Angeklagte hat zur Begehung der vorstehend genannten Verbrechen Hilfe geleistet.
232a)
233Nach ständiger Rechtsprechung ist als Hilfeleistung im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB (§ 49 Abs. 1 a.F. StGB) grundsätzlich jede Handlung anzusehen, welche die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert. Dass sie für den Eintritt des Erfolges in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal ist, ist nicht erforderlich [vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 206/11, NStZ 2012, 316 m. w. N.].
234Diese Voraussetzung ist erfüllt. Das Konzentrationslager Auschwitz diente allein dem Zweck der massenhaften „Vernichtung“ der jüdischen Bevölkerung Europas und anderer als „minderwertig“ angesehener Menschen. Ohne die Tätigkeiten der Wachleute hätte dieser Massenmord so nicht umgesetzt werden können. Das Wachpersonal sicherte das Lagergeschehen in allen Bereichen, von der Umstellung der ankommenden Deportationszüge, über die Begleitung der Selektierten auf ihrem Weg in die Gaskammer bis hin zur Bewachung der Gefangenen im Rahmen der Postenketten oder bei den Außenkommandos. Durch die von den schwer bewaffneten Wachleuten aufgebaute Drohkulisse wurde jeder Gedanke an Widerstand oder Flucht im Keim erstickt. Die Angehörigen des Wachpersonals waren zudem verpflichtet, Widerstand oder Fluchtversuche mit Waffengewalt zu unterbinden. So gewährleistete jeder Wachmann – gleichgültig, an welcher Stelle er im Lager eingesetzt war – den reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung. Das Wachpersonal war damit die funktionierende Stütze im Konzentrationslager. Mit seiner Verwendung im Wachsturmbann und seiner Bereitschaft, Widerstand oder Fluchtversuche erforderlichenfalls mit Waffengewalt zu unterbinden, hat damit auch der Angeklagte als in die Befehlskette eingegliederter Akteur den Massenmord in Auschwitz durch aktives Tun objektiv erleichtert und gefördert. Im Übrigen muss sich der Angeklagte über seinen individuellen Tatbeitrag hinaus aufgrund der arbeitsteiligen Vorgehensweise bei der Ermordung der Menschen die Hilfeleistungen der anderen Wachleute im Rahmen der gleichsam mittäterschaftlich geleisteten Beihilfe zurechnen lassen [vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144-149].
235Der Angeklagte hat allerdings keine Hilfeleistung zu den im Zusammenhang mit der Ungarnaktion begangenen Morden in den Gaskammern geleistet, soweit die Opfer der Aktion ab dem 17. Mai 1944 an der neuen Rampe im Lager Birkenau eintrafen. Dass der Angeklagte auch nach diesem Zeitpunkt Dienst an der neuen Rampe oder in den Postenketten um das Lager Birkenau getätigt hat, hat die Kammer nicht festgestellt. Die Bewachung der seit dem 17. Mai 1944 im Lager Birkenau angekommenen und anschließend in den Gaskammern umgebrachten Deportierten erfolgte nicht mehr unter Mitwirkung der 3. Kompanie, welcher der Angeklagte zu dieser Zeit angehörte.
236b)
237Für die Beihilfe ist ferner Vorsatz erforderlich, der zwei Bezugspunkte hat: Die Ausführung der zukünftigen Haupttat und die eigene Hilfeleistung (sogenannter Doppelvorsatz des Gehilfen). Der Gehilfe muss zunächst hinsichtlich der Haupttat einen hinreichend bestimmten Vorsatz haben. Dieser muss sich auf die Ausführung einer zwar nicht in allen Einzelheiten, wohl aber in ihren wesentlichen Grundzügen konkretisierten Tat richten. Diese muss er in ihren wesentlichen Merkmalen – insbesondere ihre Unrechts- und Angriffsrichtung – erfassen. Welche Tatumstände dabei als wesentliche Merkmale anzusehen sind, richtet sich nach der jeweiligen Haupttat [BGHSt 42, 135, 137]. Eine Bestrafung wegen Teilnahme am Mord setzt insofern voraus, dass der Gehilfe zum Zeitpunkt seines Tatbeitrages um die Tötung und das Vorliegen der Mordqualifikation beim Täter weiß [BGH, Urteil vom 07. Mai 1996 – 1 StR 168/96, NStZ 1996, 434]. Einzelheiten der Haupttat braucht der Gehilfe dagegen nicht zu kennen und auch keine bestimmte Vorstellung von ihr zu haben [BGH, Beschluss vom 08. November 2011 – 3 StR 310/11, NStZ 2012, 264; Beschluss vom 20. Januar 2011 – 3 StR 420/, NStZ 2011, 399, 400]. So müssen Opfer, Tatzeit und nähere Details der konkreten Begehungsweise dem Gehilfen nicht bekannt sein [BGHSt 42, 135, 139]. Der Gehilfe muss die Vollendung der Haupttat wollen. Dabei haftet er nur im Rahmen des von ihm ins Auge gefassten Tatbestandes. Entscheidend ist, was er im Zeitpunkt der Hilfeleistung wusste. Des Weiteren muss der Gehilfe vorsätzlich bezüglich der geleisteten Hilfe handeln. Er muss sich darüber bewusst sein, dass sein Verhalten das Vorhaben der Haupttat fördert. Für den die Hilfeleistung betreffenden Vorsatz ist dabei – ebenso wie bei dem Vorsatz bezüglich der Haupttat – kein dolus directus erforderlich. Es genügt, wenn der Gehilfe seinen eigenen Tatbeitrag zumindest für möglich hält und billigt [BGH, Beschluss vom 08. November 2011 – 3 StR 310/11, NStZ 2012, 264; Urteil vom 11. November 2006, 2 StR 157/06, NStZ 2007, 290].
238Danach hatte der Angeklagte auch den erforderlichen Beihilfevorsatz. Ihm war im Tatzeitraum durchgängig bewusst, dass in Auschwitz jeden Tag Menschen in den Gaskammern getötet wurden, regelmäßig Gefangene an der sogenannten „schwarzen Wand“ erschossen wurden und die Lagerinsassen verhungerten. Er konnte anhand der Anzahl der ankommenden Waggons und der aus ihnen heraus getriebenen Menschen sowie der Vielzahl der Leichen in etwa abschätzen, wie hoch die Zahl der Opfer war. Dem Angeklagten waren auch alle Umstände bekannt, welche die Tötungen als heimtückisch und grausam qualifizierten. Das Morden hat er zumindest billigend in Kauf genommen. Dem Angeklagten war darüber hinaus auch klar, dass er mit seiner Wachtätigkeit für einen reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung Sorge trug und damit die Tötungen unterstützte. Auch dies hat er zumindest billigend in Kauf genommen.
239c)
240Die Kammer legt dem Angeklagten 170.000 der mindestens 217.000 im Tatzeitraum durch Erschießen, Vergiften mit Zyklon B und Verhungern lassen erfolgten Tötungen zur Last. Denn die Kammer kann nicht ausschließen, dass es einige Fälle gab, in denen aufgrund besonderer Umstände kein Mordmerkmal erfüllt war. Zudem war zu berücksichtigen, dass der Angeklagte im Tatzeitraum maximal drei Monate lang aufgrund von Fortbildung, Krankheit und Urlaub nicht im Dienst war und somit die in dieser Zeit erfolgten Tötungen durch seine Tätigkeit nicht gefördert hat.
2413.
242Eine Verurteilung des Angeklagten als Mittäter kam nicht in Betracht.
243Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein, so dass die Durchführung und der Ausgang der Tat maßgeblich auch vom Willen des Beteiligten abhängen [st. Rspr., BGH, Urteil vom 16. März 2016 – 2 StR 346/15 m. w. N.].
244An diesem Maßstab gemessen liegt kein täterschaftliches Handeln des Angeklagten vor. Die Kammer muss davon ausgehen, dass der Angeklagte zunächst als einfacher Wachmann und ab September 1943 – nach seiner Beförderung zum Unterscharführer – als Gruppenführer eingesetzt war. In diesen Funktionen hatte er indes keinen Einfluss auf die eigentlichen Tötungsvorgänge. Die Kammer hat nicht feststellen können, dass der Angeklagte an den Selektionen der Menschen und ihrer nachfolgenden Tötung in den Gaskammern oder an der Auswahl der Häftlinge und ihrer anschließenden Erschießung an der schwarzen Wand beteiligt war. Auch konnte er nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Lebensverhältnisse im Lager nicht beeinflussen. Mit Rücksicht hierauf hatte der Angeklagte keine Tatherrschaft. Hinzu kommt, dass die Beweisaufnahme nicht ergeben hat, dass der Angeklagte – auch wenn er die Tötungen billigend in Kauf genommen hat – ein eigenes Interesse am Taterfolg gehabt hat. Seine Bezüge als SS-Mann waren nicht von der Zahl der ermordeten Menschen abhängig und auch sonst hatte der Angeklagte durch ihren Tod keinerlei Vorteile. Dass der Angeklagte im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie an der „Endlösung“ mitwirken wollte, hat die Beweisaufnahme nicht ergeben.
2454.
246Die durch die Wachtätigkeit geleistete Beihilfe des Angeklagten zu dem Mord an mindestens 170.000 Menschen stellt sich rechtlich als eine einheitliche Tat im Sinne des § 52 StGB dar.
247Sind an einer Deliktserie mehrere Personen als Mittäter, mittelbare Täter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt, ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags. Leistet ein Gehilfe für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten – soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt – als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Gehilfe aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden [st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 19. November 2014 – 4 StR 284/14; BGH, Beschluss vom 07. Dezember 2010 – 3 StR 434/10, StraFO 2011, 238].
248Letzteres ist vorliegend der Fall. Die Kammer hat im Rahmen der Beweisaufnahme keine Feststellungen dazu treffen können, dass der Angeklagte zu einigen Morden einen individuellen, allein diese Einzeltaten fördernden Tatbeitrag erbracht hat. Vielmehr hat er während seiner Anwesenheit im Konzentrationslager Auschwitz durch seine fortlaufende Tätigkeit im Wachsturmbann zu sämtlichen in diesem Zeitraum begangenen Haupttaten Beihilfe geleistet. Seine gesamte Wachtätigkeit war bei wertender Gesamtschau und gerade auch aus Sicht des Angeklagten selbst dadurch gekennzeichnet, dass er das Vernichtungsgeschehen insgesamt und damit eine Vielzahl von Tötungen dauerhaft förderte. Das ist rechtlich als eine Beihilfehandlung zum Mord zu werten.
2495.
250Der Angeklagte handelte rechtswidrig.
251Die Beihilfehandlung des Angeklagten ist weder aufgrund der zur Tatzeit geltenden Rechtslage gerechtfertigt, noch kann sich der Angeklagte auf aktuell geltende Rechtfertigungsgründe berufen. Der Massenmord im Vernichtungslager Auschwitz war nicht durch Gesetz gedeckt und auch nicht kriegsnotwendig. Insofern bestehende Befehle konnten mit Rücksicht auf die allen Völkern gemeinsamen Leitgedanken der Menschlichkeit und Gerechtigkeit nicht verbindlich sein [vgl. LG München II, Urteil vom 12. Mai 2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08]. Ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB lag ebenfalls nicht vor, da grundsätzlich keine Abwägung „Leben gegen Leben“ möglich ist, so dass eine für den Angeklagten – vermeintlich – bestehende Todesgefahr im Falle der Weigerung an der Mitwirkung am Massenmord die Beihilfehandlung des Angeklagten nicht zu rechtfertigen vermag [vgl. Fischer, StGB, 63. Auflage 2016, § 34 StGB Rn.14 f. m. w. N.].
2526.
253Der Angeklagte handelte schließlich auch schuldhaft.
254a)
255Anhaltspunkte dafür, dass wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen Schwachsinns oder wegen einer schweren seelischen Abartigkeit zum Tatzeitpunkt die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder danach zu handeln, aufgehoben oder aber zumindest erheblich vermindert war (§§ 20, 21 StGB bzw. § 51 a.F. StGB), hat die Hauptverhandlung nicht erbracht. Insbesondere kann mit Rücksicht auf den Lebenslauf des Angeklagten und den von ihm in der Hauptverhandlung gewonnenen Eindruck sicher ausgeschlossen werden, dass die im September 1941 erlittene Kopfverletzung zu einer hirnorganischen Schädigung geführt hat.
256b)
257Die Wachtätigkeit des Angeklagten ist nicht durch die Befehlslage oder einen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) entschuldigt. Die in Auschwitz geschehene ungeheuerliche Massenermordung wehrloser Zivilisten – darunter Kinder, Frauen und Greise – verstieß in so grundlegender und fundamentaler Weise gegen den auch einfach strukturierten Menschen bekannten Anspruch eines jeden menschlichen Wesens auf sein Leben, dass der Verstoß gegen geltendes Recht für jedermann offenkundig auf der Hand lag. Vor diesem Hintergrund und mit Rücksicht auf die Herkunft sowie den Bildungsstand des Angeklagten war auch diesem zur Überzeugung der Kammer stets bewusst, dass die Befehle zur Teilnahme am Massenmord nicht verbindlich waren und er mit ihrer Ausführung Unrecht beging.
258c)
259Entschuldigungsgründe nach § 52 a.F. StGB (entschuldigender Nötigungsstand), § 54 a.F. StGB (entschuldigender Notstand) bzw. § 35 StGB liegen ebenfalls nicht vor. Der Angeklagte hätte sich im Tatzeitraum jederzeit und ohne Nachteile für sich oder seine Angehörigen zur Front versetzen lassen können. Er war kriegsverwendungsfähig. Zudem wurden ständig – auch nur eingeschränkt einsatzfähige – SS-Leute für den Frontdienst gesucht, und zwar in großen Kontingenten und insbesondere ab dem Jahre 1943. Zudem ist nach den in der Hauptverhandlung getroffenen Feststellungen kein einziger Fall bekannt, in denen die Befehlsverweigerung, sich an den Massenmorden zu beteiligen, mit der Einweisung in ein Konzentrationslager oder gar der Todesstrafe geahndet worden wäre.
260VI.
2611.
262Den Strafrahmen hat die Kammer den nach §§ 27 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB gemilderten § 211 StGB in seiner derzeitig gültigen Fassung entnommen. Die zum Tatzeitpunkt geltenden Vorschriften der §§ 211, 49 Abs. 2, 44 Abs. 2, 14 Abs. 2 a.F. StGB sahen für die Beihilfe zum Mord eine „Zuchthausstrafe“ von drei bis fünfzehn Jahren vor. Die „Zuchthausstrafe“ stellte gegenüber der damals als „Gefängnisstrafe“ (§ 16 a. F. StGB) bezeichneten Freiheitsstrafe im Hinblick auf ihre Dauer und Art die schwerere freiheitsentziehende Sanktion dar. Bei den aktuell geltenden Vorschriften handelt es sich damit um das mildere Gesetz im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB. Mithin hatte die Kammer auf eine Freiheitsstrafe zwischen drei und fünfzehn Jahren zu erkennen war.
2632.
264In dem so eröffneten Strafrahmen hat die Kammer bei der konkreten Strafzumessung zugunsten des Angeklagten zunächst seine teilgeständige Einlassung berücksichtigt. Ferner hat der Angeklagte sich persönlich für das von ihm eingeräumte Verhalten entschuldigt. Für den Angeklagten spricht zudem, dass er sich uneingeschränkt vier Monate lang unter Anstrengung seiner geistigen und körperlichen Kräfte dem Verfahren gestellt hat. Durch all dies hat der Angeklagte gezeigt, dass er zu seiner Schuld steht und Verantwortung für sein Tun übernehmen will. Zugunsten des Angeklagten war weiter zu berücksichtigen, dass er zur Tatzeit noch sehr jung war, knapp über dem Alter, in welchem noch die Anwendung von Jugendstrafrecht zu erwägen gewesen wäre. Zudem war er lebensunerfahren und durch den Nationalsozialismus sowie durch seine Kriegserlebnisse, insbesondere seine Verwundung geprägt. Der Angeklagte handelte nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl. Erheblich strafmildernd war ferner zu berücksichtigen, dass die Tat nunmehr mehr als siebzig Jahre zurückliegt. Vor diesem Hintergrund und mit Rücksicht auf das hohe Alter des Angeklagten bedarf es einer spezialpräventiven Einwirkung auf ihn nicht mehr. Aus seinem vorgeschrittenen Alter resultiert weiterhin eine hohe Strafempfindlichkeit, was ebenfalls zu seinen Gunsten zu berücksichtigen war. Zudem muss der Angeklagte mit Blick auf die in Artikel 1 GG verbürgte Menschenwürde zwar nicht die Gewissheit, aber doch zumindest die Chance haben, zu Lebzeiten aus der Haft entlassen zu werden. Weiterhin kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass dieser Prozess und die mit ihm verbundene öffentliche und mediale Aufmerksamkeit für den Angeklagten eine hohe Belastung dargestellt und ihm ersichtlich zugesetzt haben. Hiervon wird er sich vermutlich nicht mehr erholen. Strafmildernd war schließlich zu berücksichtigen, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist.
265Zu Lasten des Angeklagten musste sich demgegenüber das gesamte Tatbild auswirken, insbesondere, dass dem Angeklagten in der KZ-Hierarchie eine über die des „einfachen“ Wachmanns hinausgehende, hervorgehobene Stellung zukam, sowie die Länge des Tatzeitraums. Strafschärfend waren ferner die große Zahl der Opfer sowie die Folgen für die Angehörigen der Opfer, die bis heute unter dem Verlust ihrer Familien leiden, zu berücksichtigen.
266Nach Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände hat die Kammer eine Freiheitsstrafe von
267fünf Jahren
268für tat- und schuldangemessen erachtet. Eine geringere Strafe würde dem Maß der Schuld des Angeklagten nicht mehr gerecht werden.
2693.
270Eine teilweise Vollstreckbarkeitserklärung der von der Kammer ausgeurteilten Freiheitsstrafe wegen einer rechtstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und damit eines Verstoßes gegen Art. 6 MRK kommt nicht in Betracht.
271Eine teilweise Vollstreckbarkeitserklärung würde voraussetzen, dass der Abschluss des Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden ist, dass dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss [BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124-148]. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Aufgrund von staatlich zu vertretenen Verzögerungen ist es zwar erst Jahrzehnte nach der Tat zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Angeklagten gekommen. Bis zu dem vorliegenden Verfahren wurde gegen den Angeklagten aber nicht ermittelt. Er war damit keinen mit einem Ermittlungsverfahren üblicherweise verbundenen Belastungen ausgesetzt. Vielmehr hat er sein Leben frei von Angst vor einem Strafverfahren und einer Strafe geführt. Anhaltspunkte für eine rechtsstaatswidrige Verzögerung des vorliegenden Verfahrens, welches im November 2013 von der Staatsanwaltschaft Dortmund gegen den Angeklagten eingeleitet wurde, sind nicht ersichtlich.
272VII.
273Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465 Abs. 1 S. 1, 472 Abs. 1 S. 1 StPO.
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(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.
(2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.
(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.
(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.
(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.
(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.
(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.
(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.
(2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
(1) Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung folgendes:
- 1.
An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. - 2.
Bei zeitiger Freiheitsstrafe darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze. - 3.
Das erhöhte Mindestmaß einer Freiheitsstrafe ermäßigt sich im Falle eines Mindestmaßes von zehn oder fünf Jahren auf zwei Jahre, im Falle eines Mindestmaßes von drei oder zwei Jahren auf sechs Monate, im Falle eines Mindestmaßes von einem Jahr auf drei Monate, im übrigen auf das gesetzliche Mindestmaß.
(2) Darf das Gericht nach einem Gesetz, das auf diese Vorschrift verweist, die Strafe nach seinem Ermessen mildern, so kann es bis zum gesetzlichen Mindestmaß der angedrohten Strafe herabgehen oder statt auf Freiheitsstrafe auf Geldstrafe erkennen.
(1) Verletzt dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals, so wird nur auf eine Strafe erkannt.
(2) Sind mehrere Strafgesetze verletzt, so wird die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht. Sie darf nicht milder sein, als die anderen anwendbaren Gesetze es zulassen.
(3) Geldstrafe kann das Gericht unter den Voraussetzungen des § 41 neben Freiheitsstrafe gesondert verhängen.
(4) Auf Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Absatz 1 Nummer 8) muss oder kann erkannt werden, wenn eines der anwendbaren Gesetze dies vorschreibt oder zulässt.
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.
(2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.
(2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.
(1) Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.
(2) Wird die Strafdrohung während der Begehung der Tat geändert, so ist das Gesetz anzuwenden, das bei Beendigung der Tat gilt.
(3) Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden.
(4) Ein Gesetz, das nur für eine bestimmte Zeit gelten soll, ist auf Taten, die während seiner Geltung begangen sind, auch dann anzuwenden, wenn es außer Kraft getreten ist. Dies gilt nicht, soweit ein Gesetz etwas anderes bestimmt.
(5) Für Einziehung und Unbrauchbarmachung gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.
(6) Über Maßregeln der Besserung und Sicherung ist, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nach dem Gesetz zu entscheiden, das zur Zeit der Entscheidung gilt.
(1) Die Kosten des Verfahrens hat der Angeklagte insoweit zu tragen, als sie durch das Verfahren wegen einer Tat entstanden sind, wegen derer er verurteilt oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung gegen ihn angeordnet wird. Eine Verurteilung im Sinne dieser Vorschrift liegt auch dann vor, wenn der Angeklagte mit Strafvorbehalt verwarnt wird oder das Gericht von Strafe absieht.
(2) Sind durch Untersuchungen zur Aufklärung bestimmter belastender oder entlastender Umstände besondere Auslagen entstanden und sind diese Untersuchungen zugunsten des Angeklagten ausgegangen, so hat das Gericht die entstandenen Auslagen teilweise oder auch ganz der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten. Dies gilt namentlich dann, wenn der Angeklagte wegen einzelner abtrennbarer Teile einer Tat oder wegen einzelner von mehreren Gesetzesverletzungen nicht verurteilt wird. Die Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für die notwendigen Auslagen des Angeklagten. Das Gericht kann anordnen, dass die Erhöhung der Gerichtsgebühren im Falle der Beiordnung eines psychosozialen Prozessbegleiters ganz oder teilweise unterbleibt, wenn es unbillig wäre, den Angeklagten damit zu belasten.
(3) Stirbt ein Verurteilter vor eingetretener Rechtskraft des Urteils, so haftet sein Nachlaß nicht für die Kosten.