Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz Urteil, 08. Juni 2017 - 2 Sa 2/17

ECLI:ECLI:DE:LAGRLP:2017:0608.2Sa2.17.00
bei uns veröffentlicht am08.06.2017

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 24.11.2016 - 7 Ca 657/16 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung sowie die Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers.

2

Der Kläger war seit dem 01. Oktober 2005 zunächst in Teilzeit und seit 01. Juni 2006 in Vollzeit als Gemeindearbeiter bei der Beklagten beschäftigt.

3

Mit Schreiben vom 24. Juli 2016 (Bl. 9 d. A.), dem Kläger am 26. Juli 2016 zugegangen, kündigte die Beklagte das mit dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 2016.

4

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 15. August 2016 beim Arbeitsgericht Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - eingegangenen Kündigungsschutzklage. Am 02. November 2016 erhielt der Kläger drei Abmahnungen jeweils mit Datum vom 01. November 2016 (Bl. 76 - 81 d. A.). Mit seiner Klageerweiterung vom 17. November 2016 begehrt er die Entfernung der drei Abmahnungen vom 01. November 2016 aus seiner Personalakte.

5

Wegen des wechselseitigen Vorbringens der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - vom 24. November 2016 - 7 Ca 657/16 - Bezug genommen.

6

Mit dem vorgenannten Urteil hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die streitgegenständliche Kündigung vom 24. Juli 2016 habe das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam zum 31. Dezember 2016 beendet. Soweit sich der Kläger auf den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX berufe, schütze die Vorschrift lediglich denjenigen Arbeitnehmer, der über eine Anerkennung als Schwerbehinderter verfüge oder dessen Schwerbehinderung offenkundig sei. Beides liege hier nicht vor. Der Kläger habe den entsprechenden Antrag erst nach Zugang der Kündigung gestellt. Die Schwerbehinderung des Klägers sei auch in keiner Weise offensichtlich. Offensichtlichkeit setze insoweit voraus, dass für jeden unbefangenen Betrachter ohne nähere Nachforschungen ohne Weiteres festgestellt werden könne, dass der Arbeitnehmer mit erheblichen körperlichen Einschränkungen belastet sei, die die ihm die Erfüllung seiner normalen oder einer normalen Arbeit nur unter äußersten Schwierigkeiten möglich mache. Offensichtlich beim Kläger sei, dass ihm ein Zeigefinger fehle. Hingegen seien weder seine Hautkrankheit noch seine Zuckererkrankung ihm offen anzusehen. Selbst wenn die Beklagte gewusst hätte, dass der Kläger zuckerkrank sei und an einer Hautkrankheit leide, sei nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass der Kläger aufgrund dieser Erkrankungen massiv in der Erbringung seiner Arbeitsleistung behindert wäre. Vor diesem Hintergrund lasse sich eine Offensichtlichkeit einer Schwerbehinderung im Sinne des SGB IX nicht begründen. Da der Kläger sich zudem auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung berufe, sei es seine Sache, die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes zum einen darzulegen und zum anderen nachzuweisen. Dem werde der Vortrag des Klägers aber nicht gerecht. Soweit der Kläger unter Hinweis auf ein Bild in der Festschrift behauptet habe, sämtliche der im Kupferbergwerk eingesetzten Gästeführer seien als Arbeitnehmer mit einem Arbeitskraftanteil von 0,5 anzusehen, entbehre dies einer tragfähigen Begründung. Die Beklagte gehe nach ihrem unwidersprochenen Vorbringen so vor, dass sie aus einem Personalpool bei Bedarf Leute heraussuche, die angerufen und abgefragt würden, ob sie denn entsprechende Führungen an bestimmten Tagen leiten wollten. Bei positiver Antwort würden diese Personen herangezogen, während bei negativer Antwort eine weitere Person befragt werde. Darüber hinaus habe die Beklagte die Zahl der tatsächlich herangezogenen Arbeitnehmer insoweit exakt geschildert. Unter Zugrundelegung der tatsächlichen Entwicklung des personellen Umfangs der Heranziehung sei zum einen zu bemerken, dass die Beklagte im Jahr 2016 tatsächlich nur noch so viele Kräfte herangezogen habe, dass diese bei Bewertung mit 0,5 in der Summe nicht mehr zum Übersteigen der zehn Arbeitnehmer bei ihr führen würden. Zum anderen sei die vom Kläger geäußerte Qualifizierung der Rechtsverhältnisse der Gästeführer als Abrufarbeitsverhältnis unzutreffend. Das Abrufarbeitsverhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass der abgerufene Arbeitnehmer auf entsprechenden Abruf zur Arbeitsleistung tatsächlich verpflichtet sei. Dies sei im vorliegenden Fall gerade nicht so. Die Heranziehung richte sich rein nach Freiwilligkeitskriterien. Mangels Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes sei der Kündigungsschutzantrag unbegründet. Aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 2016 trete darüber hinaus eine Beeinträchtigung der Rechtsposition des Klägers nicht mehr ein, so dass ein Anspruch auf Beseitigung der Abmahnungen unabhängig von der Frage, ob sie nun zu Recht oder zu Unrecht erteilt worden seien, nicht mehr bestehe.

7

Gegen das ihm am 05. Dezember 2016 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat der Kläger mit Schriftsatz vom 02. Januar 2017, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am gleichen Tag eingegangen, Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 06. Februar 2017, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am gleichen Tag (Montag) eingegangen, begründet.

8

Er trägt vor, die Kündigung sei aus zwei Gründen unzulässig. Zum einen stehe ihm aufgrund seiner Schwerbehinderung der Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX zu. In dem vorgelegten Feststellungsbescheid vom 17. Februar 2017 (Bl. 142, 143 d. A.) habe das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung rückwirkend zum 29. August 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Die damit belegte Schwerbehinderteneigenschaft sei für jedermann bzw. insbesondere auch für die Beklagte erkennbar gewesen. Sowohl der Verlust eines Fingers an der rechten Hand als auch die Psoriasis resultierten aus Arbeitsunfällen. Der Finger der rechten Hand sei von seinem Kollegen beim Einschlagen von Pfosten mit einem schweren Hammer derart zerschlagen worden, dass eine Rekonstruktion des Fingers nicht mehr habe erfolgen können. Die Psoriasis sei ausgebrochen, als er bei einem gemeindeeigenen Haus der Beklagten in die Kanalisation habe einsteigen müssen. Auch der festgestellte Diabetes mellitus sei der Beklagten bekannt gewesen, weil das Gesundheitsamt der Stadt B-Stadt darauf hingewiesen habe, dass er wegen dieser Erkrankung nicht mehr alleine und nicht ohne Funkempfang eingesetzt werden dürfe. Er habe dargelegt, wie dies jeweils im Rahmen der Prüfung der Schwerbehinderung anhand der Versorgungsmedizinverordnung beurteilt werde. Danach habe davon ausgegangen werden müssen, dass bei ihm ein GdB von mindestens 50 festgestellt werde. Zum anderen werde die in § 23 KSchG genannte Zahl von zehn Mitarbeitern regelmäßig überschritten. Neben ihm selbst und den von der Beklagten eingeräumten Beschäftigten (Herr W. in Vollzeit, Herr X. in Vollzeit, Herr G. W. mit 30 Wochenstunden, Frau J. mit 11,75 Wochenstunden sowie Herr H. mit ebenfalls 11,75 Wochenstunden) seien auch die zusätzlich beschäftigten Helfer zu berücksichtigen, die die Besucher durch das von der Beklagten als ein gemeindeeigenes Besucherbergwerk geführte Kupferbergwerk führen würden. Ausweislich der von ihm vorgelegten Festschrift, in der das "Team Kupferbergwerk" abgebildet sei, würden sich regelmäßig 22 Personen für Führungen im Kupferbergwerk verantwortlich zeichnen, die als Aushilfskräfte mit einem Faktor von 0,5 anzusetzen seien. Hinzu komme noch der Hausmeister der Gemeindehalle, Herr L., mit einem Faktor von 0,5, so dass man auf insgesamt 16,25 durchschnittliche Stellen bei der Beklagten gelange. Das Arbeitsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass es sich bei den im Kupferbergwerk eingesetzten Aushilfskräften um ehrenamtliche Helfer handele. Vielmehr ergebe sich aus den Lohnsteueranmeldungen beim Finanzamt, dass es sich eben nicht um eine ehrenamtliche Tätigkeit handele. Auch wenn dies überwiegend zwar Schüler und Studenten seien, die sich im Rahmen eines Mini-Jobs Geld hinzuverdienen würden, müssten aber auch diese angemeldet sein. Die Schüler übten dies insbesondere nicht aus Verpflichtung zur Gemeinde oder des Bergwerkes aus, sondern um sich ihr Taschengeld entsprechend aufzubessern. Zu Unrecht habe sich das Arbeitsgericht nicht damit auseinandergesetzt, dass die Beklagte selbst vortrage, dass die Beschäftigten ein Entgelt erhalten würden. Dann müsse aber klar sein, dass dieses Entgelt, auch wenn es pauschaliert bezahlt werde, selbstverständlich zu versteuern sei und die Mitarbeiter weisungsgebunden seien, so dass selbstverständlich auch auf diese die Arbeitnehmereigenschaft zutreffe. Mini-Jobs seien regelmäßig mit dem Faktor 0,5 bei der Berechnung der Mitarbeiterzahl zu berücksichtigen. Insofern sei die Grenze von mehr als zehn Personen nach dem Kündigungsschutzgesetz überschritten.

9

Der Kläger beantragt,

10

das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - 7 Ca 657/16 - abzuändern und

11

1. festzustellen, dass die arbeitgeberseitige Kündigung vom 24. Juli 2016 unwirksam ist und dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weiterhin unverändert und ungekündigt fortbesteht,

12

2. die Beklagte zu verurteilen, die drei Abmahnungen vom 01. November 2016 aus seiner Personalakte vollständig zu entfernen und diese gegenüber ihm für gegenstandslos zu erklären.

13

Die Beklagte beantragt,

14

die Berufung zurückzuweisen.

15

Sie erwidert, der vom Kläger erst nach Zugang der Kündigung gestellte Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft sei verspätet und deshalb unerheblich. Eine "offensichtliche" Schwerbehinderung habe im Zeitpunkt der Kündigung gemäß den zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts nicht vorgelegen. Sie habe das vor Kündigungsausspruch eingeholte amtsärztliches Gutachten des Gesundheitsamtes der Kreisverwaltung B-Stadt vom 08. August 2016 (Bl. 61, 62 d. A.) vorgelegt, nach dem der Kläger als Gemeindearbeiter voll einsatzfähig sei, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung auf Dauer erfüllen könne und nicht absehbar sei, dass in Zukunft krankheitsbedingte Fehlzeiten entstünden, die über das normale Maß hinausgingen. In Anbetracht des eindeutigen Gutachtens komme die Annahme einer offensichtlichen Schwerbehinderung nicht in Betracht. Im Übrigen sei allgemein bekannt, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen gerade keine Addition der einzelnen GdBs, sondern vielmehr eine Gesamtbetrachtung erfolge. Ausweislich des vom Kläger vorgelegten Feststellungsbescheides handele es sich bei sämtlichen zur Feststellung des Behinderungsgrads angeführten Erkrankungen um innere Erkrankungen, welche dem Kläger gerade nicht offensichtlich und für jeden objektiven Dritten nach außen erkennbar anheften würden, wie beispielsweise eine Leberzirrhose, Diabetes, Psoriasis oder eine Nervenstörung. Diese Erkrankungen seien ihr auch nicht bekannt und nicht erkennbar gewesen. Weiterhin habe das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt, dass die Grenze des Kündigungsschutzgesetzes vorliegend nicht erreicht werde. Der Kläger habe lediglich die von ihr geschilderte und von ihm nicht bestrittene Praxis der Heranziehung der einzelnen Gästeführer nach reinen Freiwilligkeitskriterien rechtlich unzutreffend als Abrufarbeitsverhältnis qualifiziert. Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt habe, sei ein Abrufarbeitsverhältnis dadurch gekennzeichnet, dass der abgerufene Arbeitnehmer auf entsprechenden Abruf zur Arbeitsleistung tatsächlich verpflichtet sei, was hier gerade nicht der Fall sei.

16

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. b und c ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist insbesondere form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. 519, 520 ZPO).

18

Die Berufung des Klägers hat aber in der Sache keinen Erfolg.

19

Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen. Die Kündigung der Beklagten vom 24. Juli 2016 ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum angegebenen Termin (31. Dezember 2016) beendet. Ein Anspruch des Klägers auf Entfernung der ihm erteilten Abmahnungen aus der Personalakte besteht nicht.

I.

20

Die Kündigung der Beklagten vom 24. Juli 2016 ist wirksam.

21

1. Dem Kläger stand im Kündigungszeitpunkt der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX nicht zu.

22

a) Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Allerdings findet das Zustimmungserfordernis nach § 90 Abs. 2a SGB IX dann keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes setzt damit grundsätzlich voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die Schwerbehinderung bereits anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder die Stellung des Antrags auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt (BAG 09. Juni 2011 - 2 AZR 703/09 - Rn. 18, NZA-RR 2011, 516).

23

b) Diese Voraussetzungen für das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes liegen hier nicht vor.

24

Der Kläger hat den Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung unstreitig erst nach Zugang der Kündigung gestellt. Ausweislich des vom Kläger vorgelegten Feststellungsbescheids vom 17. Februar 2017 ist sein Antrag erst am 29. August 2016 eingegangen.

25

Zwar ist die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch auch dann i.S.v. § 90 Abs. 2a SGB IX nachgewiesen, wenn die Behinderung offenkundig ist. An diesem schon zum bisherigen Recht vertretenen Verständnis wollte der Gesetzgeber mit der Einführung des § 90 Abs. 2a SGB IX nichts ändern (BAG 13. Februar 2008 - 2 AZR 864/06 - Rn. 17, NZA 2008, 1055). Dabei muss jedoch nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde (vgl. BAG 13. Oktober 2011 - 8 AZR 608/10 - Rn. 42, juris; LAG Rheinland-Pfalz 12. Januar 2017 - 5 Sa 361/16 - Rn. 38, juris).

26

Danach war die Schwerbehinderung auch unter Zugrundelegung des Vortrags des Klägers im Zeitpunkt der Kündigung nicht offenkundig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der Beklagten der Verlust eines Fingers, die angeführte Hauterkrankung (Psoriasis) und der Diabetes mellitus bekannt waren, folgt daraus nicht, dass diese Beeinträchtigungen offenkundig auch mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten waren.

27

Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung hat nach dem vorgelegten Feststellungsbescheid vom 17. Februar 2017 (Bl. 142, 143 d. A.) einen GdB von 50 festgestellt und dabei folgende Beeinträchtigungen berücksichtigt:

28

"Leberzirrhose
Refluxkrankheit der Speiseröhre (40)
Diabetes mellitus (20)
Psoriasis (20)
Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (20)
Verlust eines Fingers rechts (10)"

29

Die an erster Stelle genannte "Leberzirrhose Refluxkrankheit der Speiseröhre" mit einem Einzel-GdB von 40 und die aufgeführte Nervenstörung beider Beine mit einem Einzel-GdB von 20 waren auch nach dem Vortrag des Klägers nicht offenkundig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die weiteren berücksichtigten Beeinträchtigungen der Beklagten bekannt waren, von denen der Diabetes mellitus mit einem Einzel-GdB von 20, die Psoriasis mit einem Einzel-GdB von 20 und der Verlust eines Fingers mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet worden sind, ist danach nicht offenkundig, dass diese Beeinträchtigungen einen GdB von mindestens 50 ergeben würden. Gemäß dem Feststellungsbescheid vom 17. Februar 2017 dürfen Einzel-GdB-Werte nicht addiert werden. Maßgebend sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Gesundheitsstörungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Die nach dem Vortrag des Klägers der Beklagten bekannten Beeinträchtigungen waren jedenfalls nicht so erheblich, dass sie auch ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung einzustufen waren.

30

Vielmehr hat das Gesundheitsamt B-Stadt nach der vor Kündigungsausspruch am 05. Juli 2016 erfolgten amtsärztlichen Untersuchung des Klägers in seiner amtsärztlichen Stellungnahme vom 08. August 2016 (Bl. 61, 62 d. A.) ausgeführt, dass der Kläger an einem bisher komplikationslos verlaufenden insulinpflichtigen Diabetes mellitus leide und er ungeachtet der in der Vergangenheit nicht aufgetretenen Komplikationen während der Arbeitszeit jederzeit die Möglichkeit zur Nahrungsaufnahme haben sollte. Die Hauterkrankung des Klägers erfordere zu bestimmten Zeiten die Einnahme eines Medikaments, das die Fahrtüchtigkeit und das Bedienen von Maschinen beeinträchtige. Aufgrund seiner Hauterkrankung solle der Kläger nicht ungeschützt mit Fetten/Schmierölen und Farben in Kontakt kommen. Eine Erkrankung im Bereich des Magen-/Darmsystems habe im Arbeitsalltag des Klägers zu keinerlei Einschränkungen führen sollen. Als Ergebnis der Beurteilung wird mitgeteilt, dass der Kläger als Gemeindearbeiter voll einsatzfähig sei und die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung auf Dauer voll erfüllen könne.

31

Auch in Anbetracht dieser amtsärztlichen Stellungnahme war es im Zeitpunkt der Kündigung nicht offenkundig, dass die der Beklagten nach dem Vortrag des Klägers bekannten Beeinträchtigungen dazu führen, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde. Mangels Offenkundigkeit der Schwerbehinderung findet gemäß § 90 Abs. 2a SGB IX das Zustimmungserfordernis des § 85 SGB IX keine Anwendung, weil der Kläger den Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung erst nach Zugang der Kündigung gestellt hat.

32

2. Die Kündigung bedurfte zu ihrer Wirksamkeit keines Kündigungsgrundes i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG, weil der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nach § 23 Abs. 1 KSchG keine Anwendung findet.

33

Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gelten in Betrieben und Verwaltungen, in denen in der Regel nicht mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden, die Vorschriften des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes mit Ausnahme von dessen §§ 4 bis 7, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis - wie hier - nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat.

34

Im Zeitpunkt des Kündigungszugangs waren bei der Beklagten neben dem Kläger die Arbeitnehmer W., X., W. (G.), J., H. und L. beschäftigt, womit der Schwellenwert des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG nicht überschritten ist.

35

Entgegen der Ansicht des Klägers sind die von ihm angeführten Aushilfskräfte, die als Gästeführer im Kupferbergwerk eingesetzt werden, nicht als Arbeitnehmer i.S.v. § 23 Abs. 1 KSchG zu berücksichtigen.

36

Die Darlegungs- und Beweislast für das Überschreiten des Schwellenwertes gemäß § 23 Abs. 1 KSchG trägt der Arbeitnehmer. Etwaigen Schwierigkeiten, die sich mangels eigener Kenntnismöglichkeiten ergeben, ist durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast Rechnung zu tragen (BAG 02. März 2017 - 2 AZR 427/16 - Rn. 12, NZA 2017, 859; BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - Rn. 13, NZA 2016, 1196). Danach ist der betriebliche Geltungsbereich gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG im Streitfall nicht eröffnet. Es ist weder aus dem Vorbringen des Klägers noch objektiv ersichtlich, dass die von der Beklagten im Kupferbergwerk als Gästeführer eingesetzten Personen als Arbeitnehmer anzusehen sind.

37

a) Arbeitnehmer ist derjenige Mitarbeiter, der seine Dienstleistung im Rahmen einer von Dritten bestimmten Arbeitsorganisation erbringt. Die Eingliederung in die fremde Arbeitsorganisation zeigt sich insbesondere daran, dass der Beschäftigte einem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen. Arbeitnehmer ist derjenige Mitarbeiter, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Ein Arbeitsverhältnis liegt danach insbesondere dann vor, wenn der Dienstberechtigte innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens über die Arbeitsleistung verfügen kann. Das ist etwa dann der Fall, wenn ständige Dienstbereitschaft erwartet wird oder wenn der Mitarbeiter in nicht unerheblichem Umfang auch ohne entsprechende Vereinbarung herangezogen wird, ihm also die Arbeiten letztlich "zugewiesen" werden. Die ständige Dienstbereitschaft kann sich sowohl aus den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen der Partei als auch aus der praktischen Durchführung der Vertragsbeziehungen ergeben. Für die Abgrenzung von Bedeutung sind demnach in erster Linie die Umstände, unter denen die Dienstleistung zu erbringen ist, und nicht die Modalitäten der Bezahlung oder die steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung (vgl. BAG 29. November 1995 - 5 AZR 422/94 - Rn. 36 - 38, juris).

38

b) Die Tätigkeit eines Gästeführers im Kupferbergwerk kann sowohl im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als auch im Rahmen eines freien Mitarbeiterverhältnisses ausgeübt werden. Im Streitfall ist weder vorgetragen noch ersichtlich, ob und ggf. inwieweit die Gästeführer einem Weisungsrecht unterliegen sollen. Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie über einen Pool von Gästeführern verfüge, die frei entscheiden könnten, ob und ggf. welche Führung sie zu welchen Zeiten übernehmen wollten. Entgegen der Ansicht des Klägers begründet der Umstand, dass die Gästeführer ein Entgelt erhalten und dieses zu versteuern ist, nicht deren Arbeitnehmereigenschaft. Vielmehr ist die sozial- und steuerrechtliche Behandlung des Mitarbeiters arbeitsrechtlich ohne Belang, weil für die Abgrenzung eines freien Mitarbeiterverhältnisses zu einem Arbeitsverhältnis primär auf die Umstände abzustellen ist, unter denen die Dienstleistung zu erbringen ist, und nicht auf die Modalitäten der Bezahlung (BAG 14. März 2007 - 5 AZR 499/06 - Rn. 34, NZA-RR 2007, 424). Auch wenn für die eingesetzten Gästeführer Lohnsteueranmeldungen beim Finanzamt vorliegen, lässt sich daraus deren Arbeitnehmereigenschaft nicht ableiten.

39

Mithin sind die im Kupferbergwerk eingesetzten Gästeführer bei der Anzahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer nicht zu berücksichtigen. Danach ist der Anwendungsbereich des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG nicht eröffnet.

II.

40

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entfernung der ihm jeweils unter dem 01. November 2016 erteilten drei Abmahnungen aus seiner Personalakte.

41

Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann ein Anspruch auf Entfernung von Abmahnungen nach § 242, 1004 Abs. 1 S. 1 BGB nur dann bestehen, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Abmahnung dem Arbeitnehmer noch schaden kann (BAG 17. November 2016 - 2 AZR 730/15 - Rn. 47, NZA 2017, 394). Dafür hat der Kläger keine Tatsachen vorgetragen.

42

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

43

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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(1) Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten und des öffentlichen Rechts, vorbehaltlich der Vorschriften des § 24 für die Seeschiffahrts-, Binnenschiffahrts- und Luftverkehrsbetriebe. Die Vorschriften des Ersten Abschnitts gelten mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden. In Betrieben und Verwaltungen, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden, gelten die Vorschriften des Ersten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat; diese Arbeitnehmer sind bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach Satz 2 bis zur Beschäftigung von in der Regel zehn Arbeitnehmern nicht zu berücksichtigen. Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach den Sätzen 2 und 3 sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.

(2) Die Vorschriften des Dritten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten Rechts sowie für Betriebe, die von einer öffentlichen Verwaltung geführt werden, soweit sie wirtschaftliche Zwecke verfolgen.

(1) Die Frist für die Einlegung der Berufung beträgt einen Monat, die Frist für die Begründung der Berufung zwei Monate. Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Berufung muß innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Berufungsbegründung beantwortet werden. Mit der Zustellung der Berufungsbegründung ist der Berufungsbeklagte auf die Frist für die Berufungsbeantwortung hinzuweisen. Die Fristen zur Begründung der Berufung und zur Berufungsbeantwortung können vom Vorsitzenden einmal auf Antrag verlängert werden, wenn nach seiner freien Überzeugung der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn die Partei erhebliche Gründe darlegt.

(2) Die Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung muss unverzüglich erfolgen. § 522 Abs. 1 der Zivilprozessordnung bleibt unberührt; die Verwerfung der Berufung ohne mündliche Verhandlung ergeht durch Beschluss des Vorsitzenden. § 522 Abs. 2 und 3 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.

Werden Menschen mit Behinderungen in ihren Rechten nach diesem Buch verletzt, können an ihrer Stelle und mit ihrem Einverständnis Verbände klagen, die nach ihrer Satzung Menschen mit Behinderungen auf Bundes- oder Landesebene vertreten und nicht selbst am Prozess beteiligt sind. In diesem Fall müssen alle Verfahrensvoraussetzungen wie bei einem Rechtsschutzersuchen durch den Menschen mit Behinderungen selbst vorliegen.

(1) Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

(2) Besondere Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, eine Beeinträchtigung nach § 99 Absatz 1 abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder die Leistungsberechtigten soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

(3) Besondere Aufgabe der Teilhabe am Arbeitsleben ist es, die Aufnahme, Ausübung und Sicherung einer der Eignung und Neigung der Leistungsberechtigten entsprechenden Beschäftigung sowie die Weiterentwicklung ihrer Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit zu fördern.

(4) Besondere Aufgabe der Teilhabe an Bildung ist es, Leistungsberechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Schulbildung und schulische und hochschulische Aus- und Weiterbildung für einen Beruf zur Förderung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

(5) Besondere Aufgabe der Sozialen Teilhabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 21. August 2009 - 3 Sa 698/08 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten noch über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

2

Die Beklagte betreibt in C ein Steuerberatungsbüro. In S unterhielt sie eine Zweigstelle/Beratungsstelle.

3

Der Kläger, der über keinen Abschluss als Steuerberater verfügt, war seit Oktober 1994 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin tätig. Ihm oblag die Bearbeitung der laufenden Geschäfte der Zweigstelle. Außerdem war er „fachlicher Ansprechpartner“ der in S eingesetzten Arbeitnehmer der Beklagten.

4

Seit August 2006 war der Kläger arbeitsunfähig. Am 2. Januar 2007 beantragte er beim Amt für Familie und Soziales - Versorgungsamt - der Stadt C rückwirkend ab dem 27. September 2006 „die Feststellung einer Behinderung, des Grades der Behinderung (GdB) und die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises“.

5

Im Februar 2007 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31. Juli 2007 wegen Schließung der Zweigstelle. Dagegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage. Mit außergerichtlichem Schreiben vom 7. März 2007 teilte sein Prozessbevollmächtigter der Beklagten - unter Hinweis auf die ihm vorliegende Kündigung und die bereits eingereichte Klage - „der Vollständigkeit halber“ mit, dass der Kläger beim Versorgungsamt C „einen Antrag auf Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung“ gestellt habe. Eine Entscheidung liege noch nicht vor.

6

Mit Bescheid vom 21. März 2007 stellte das Versorgungsamt die Schwerbehinderung des Klägers mit einem GdB von 100 rückwirkend ab dem 27. September 2006 fest.

7

Am 16. April 2007 fand in dem Kündigungsschutzprozess die Güteverhandlung statt. Ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers dabei nähere Angaben zu dem Antrag beim Versorgungsamt und zum Stand des Verfahrens machte, ist zwischen den Parteien streitig. Die Verhandlung endete mit dem Abschluss eines für den Kläger bis zum 30. April 2007 widerruflichen Vergleichs, der hinsichtlich einer vereinbarten Abfindung eine Ratenzahlung vorsah.

8

Am 27. April 2007 suchte der Kläger die Beklagte in S auf und begehrte die Zahlung der zugesagten Abfindung in einer Summe. Das lehnte die Beklagte ebenso ab wie eine vom Kläger alternativ geforderte Sicherheitsleistung. Daraufhin widerrief der Kläger den Vergleich. Seine Kündigungsschutzklage nahm er später zurück.

9

Die Beklagte erstattete nach dem Gespräch gegen den Kläger Strafanzeige mit der Begründung, der Kläger habe versucht, sie zu nötigen. Außerdem kündigte sie das Arbeitsverhältnis - ohne Zustimmung des Integrationsamts - mit Schreiben vom 8. Mai 2007 fristlos.

10

Gegen diese Kündigung hat sich der Kläger mit seiner vorliegenden Kündigungsschutzklage gewandt und geltend gemacht, ein wichtiger Grund liege nicht vor. Zudem sei die Kündigung wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamts unwirksam. Er habe die Beklagte durch das Schreiben vom 7. März 2007 hinreichend über seine zur Feststellung beantragte Schwerbehinderung unterrichtet. Während der Güteverhandlung im ersten Kündigungsschutzprozess habe sein Prozessbevollmächtigter zudem mitgeteilt, das Antragsverfahren sei abgeschlossen und er - der Kläger - sei „zu 100 % schwerbehindert“.

11

Der Kläger hat - soweit noch von Bedeutung - beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 8. Mai 2007 nicht aufgelöst worden ist.

12

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die fristlose Kündigung sei wirksam. Der Kläger habe anlässlich des Gesprächs in S mit unlauteren Mitteln versucht, sie zum Eingehen auf seine Forderungen betreffend die Abfindungszahlung zu bewegen. Außerdem habe er gegen ein bestehendes Verbot verstoßen, Abschriften aus Handakten und Mandantenunterlagen zu fertigen. Ein sonstiger Unwirksamkeitsgrund liege nicht vor. Der Kläger habe das Recht, sich auf einen besonderen Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen, verwirkt. Er habe sich gegenüber der Kündigung vom 8. Mai 2007 - unstreitig - erstmals im Gütetermin vom 14. Juni 2007 auf seine Schwerbehinderung berufen. Das Schreiben vom 7. März 2007 habe ihr keine ausreichende Kenntnis der Möglichkeit des Bestehens einer Schwerbehinderung verschafft. Es fehle an der Mitteilung des Datums der Antragstellung und des Aktenzeichens des beim Versorgungsamt bearbeiteten Vorgangs. Im Gütetermin des Vorprozesses habe sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht in der Lage gesehen, hierzu nähere Angaben zu machen.

13

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision begehrt die Beklagte weiterhin, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

14

Die Revision ist unbegründet. Die fristlose Kündigung vom 8. Mai 2007 ist nach § 134 BGB nichtig. Die Kündigung bedurfte gemäß § 91 Abs. 1, § 85 SGB IX der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Daran fehlt es.

15

I. Der Kläger hat gegen die Kündigung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 iVm. § 4 Satz 1 KSchG binnen Dreiwochenfrist Kündigungsschutzklage erhoben. Dass er sich erst nach Ablauf dieser Frist auf seine Schwerbehinderung und einen daraus resultierenden Unwirksamkeitsgrund berufen hat, ist mit Blick auf die Klageerhebungsfrist unschädlich; er hat die erforderliche Rüge ordnungsgemäß (§ 6 KSchG) innerhalb des ersten Rechtszugs nachgeholt (vgl. BAG 11. Dezember 2008 - 2 AZR 395/07 - Rn. 15, BAGE 129, 25; 23. April 2008 - 2 AZR 699/06 - Rn. 22, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 65 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 84).

16

II. Dem Kläger stand im Kündigungszeitpunkt der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX zu.

17

1. Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Das gilt uneingeschränkt auch für die außerordentliche Kündigung, § 91 Abs. 1 SGB IX.

18

Allerdings findet das Zustimmungserfordernis nach § 90 Abs. 2a SGB IX dann keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes setzt damit grundsätzlich voraus, dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung entweder die Schwerbehinderung bereits anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) ist oder die Stellung des Antrags auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. auf Gleichstellung) mindestens drei Wochen zurückliegt (BAG 29. November 2007 - 2 AZR 613/06 - Rn. 15, AP SGB IX § 90 Nr. 5 = EzA SGB IX § 90 Nr. 3; 1. März 2007 - 2 AZR 217/06 - BAGE 121, 335).

19

2. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat das Versorgungsamt am 21. März 2007 - und damit vor Zugang der fristlosen Kündigung - die Schwerbehinderung des Klägers mit einem Grad von 100 festgestellt.

20

III. Der Kläger musste die Beklagte nicht binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung vom 8. Mai 2007 auf seine Anerkennung als schwerbehinderter Mensch hinweisen, um sich den besonderen Kündigungsschutz zu erhalten.

21

1. Ist der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt bereits als schwerbehinderter Mensch anerkannt, steht ihm der Kündigungsschutz gemäß §§ 85 ff. SGB IX nach dem Wortlaut des Gesetzes auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder dem Anerkennungsantrag nichts wusste. Das ergibt sich schon daraus, dass § 85 iVm. § 2 SGB IX mit der „Schwerbehinderung“ ohnehin auf einen objektiven Grad der Behinderung und nicht auf dessen behördliche Feststellung abstellt(BAG 6. September 2007 - 2 AZR 324/06 - Rn. 24, BAGE 124, 43; 12. Januar 2006 - 2 AZR 539/05 - Rn. 15, AP SGB IX § 85 Nr. 3 = EzA SGB IX § 85 Nr. 5).

22

2. Gleichwohl trifft den Arbeitnehmer - sowohl im Fall der außerordentlichen als auch der ordentlichen Kündigung - bei Unkenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung bzw. der Antragstellung die Obliegenheit, innerhalb einer angemessenen Frist - die in der Regel drei Wochen beträgt - auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen (vgl. BAG 23. Februar 2010 - 2 AZR 659/08 - Rn. 16, AP SGB IX § 85 Nr. 8 = EzA SGB IX § 85 Nr. 6; 12. Januar 2006 - 2 AZR 539/05 - zu II 3 b der Gründe, AP SGB IX § 85 Nr. 3 = EzA SGB IX § 85 Nr. 5). Dies trägt dem Verwirkungsgedanken (§ 242 BGB) Rechnung und ist aus Gründen des Vertrauensschutzes gerechtfertigt (BAG 13. Februar 2008 - 2 AZR 864/06 - Rn. 16, BAGE 125, 345; 20. Januar 2005 - 2 AZR 675/03 - zu II 3 a der Gründe, AP SGB IX § 85 Nr. 1 = EzA SGB IX § 85 Nr. 3). Der Arbeitgeber, der keine Kenntnis von dem bestehenden oder möglichen Schutztatbestand hat, hat keinen Anlass, eine behördliche Zustimmung zur Kündigung einzuholen. Je nach dem Stand des Verfahrens beim Versorgungsamt ist ihm dies sogar unmöglich. Das Erfordernis, sich zeitnah auf den besonderen Kündigungsschutz zu berufen, ist geeignet, einer Überforderung des Arbeitgebers vorzubeugen. Dieser müsste anderenfalls vor Kündigungen stets vorsorglich einen Antrag auf Zustimmung beim Integrationsamt stellen, damit nicht der besondere Schutztatbestand ggf. erst nach längerer Prozessdauer offenbar wird. Das Erfordernis trägt zugleich dem Gebot der Rechtssicherheit Rechnung (BAG 20. Januar 2005 - 2 AZR 675/03 - zu II 3 a der Gründe, aaO).

23

3. Eine Einschränkung der Möglichkeit des Arbeitnehmers, sich auf den Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch zu berufen, ist aber nur gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber tatsächlich schutzbedürftig ist. Das ist hier nicht der Fall.

24

a) Das Rechtsinstitut der Verwirkung verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn der Gläubiger sich längere Zeit nicht auf seine Rechte berufen hat (Zeitmoment). Der Gläubiger muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckt haben, er wolle sein Recht nicht mehr wahrnehmen, so dass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Hierbei muss das Bedürfnis nach Vertrauensschutz auf Seiten des Verpflichteten das Interesse an der Rechtsausübung auf Seiten des Berechtigten derart überwiegen, dass ersterem die Erfüllung seiner Verpflichtung nicht mehr zuzumuten ist (BAG 15. Februar 2007 - 8 AZR 431/06 - Rn. 42, BAGE 121, 289).

25

b) Danach kann der Arbeitgeber regelmäßig keinen Vertrauensschutz für sich in Anspruch nehmen, wenn er die Schwerbehinderung oder den Antrag vor Ausspruch der Kündigung kannte und deshalb mit dem Zustimmungserfordernis rechnen musste (vgl. BAG 23. Februar 2010 - 2 AZR 659/08 - Rn. 16, AP SGB IX § 85 Nr. 8 = EzA SGB IX § 85 Nr. 6; 6. September 2007 - 2 AZR 324/06 - Rn. 25, BAGE 124, 43). Der Arbeitgeber ist auch dann nicht schutzbedürftig, wenn die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers offenkundig ist und er deshalb auch ohne Kenntnis von Anerkennung oder Antragstellung Anlass hatte, vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung zu beantragen (BAG 13. Februar 2008 - 2 AZR 864/06 - Rn. 15, 20, BAGE 125, 345).

26

c) Gemessen hieran sind die Voraussetzungen einer Verwirkung nicht erfüllt. Der Beklagten war durch das Schreiben des Klägers vom 7. März 2007 die Antragstellung beim Versorgungsamt bekannt. Sie musste mit einer Anerkennung des Klägers als schwerbehinderter Mensch und damit der Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung vom 8. Mai 2007 rechnen. Weitergehender Informationen bedurfte sie nicht. Insbesondere war der Kläger nicht verpflichtet, ihr das Datum der Antragstellung mitzuteilen oder seine Schwerbehinderung innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch Vorlage des Feststellungsbescheids nachzuweisen.

27

aa) Das Schreiben vom 7. März 2007 war geeignet, der Beklagten die erforderliche Kenntnis von der Möglichkeit des Bestehens einer Schwerbehinderung des Klägers zu vermitteln.

28

(1) Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Der Antrag auf Feststellung einer „Behinderung“ schließt, da die Versorgungsämter die Behinderung von Amts wegen festzustellen haben, die Feststellung einer Schwerbehinderung iSv. § 2 Abs. 2 SGB IX ein. Darüber hinaus bedarf es - soweit die Schwerbehinderung nicht ohnehin offensichtlich ist - einer (förmlichen) Feststellung der Behinderung und ihres Grades nach § 69 SGB IX nur für die Inanspruchnahme der besonderen Hilfen zur Teilhabe Schwerbehinderter am Arbeitsleben und für einen Nachteilsausgleich nach Teil 2 SGB IX(vgl. dazu BT-Drucks. 14/5074 S. 98; Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 2 Rn. 26). Dazu zählt auch der besondere Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX.

29

(2) Die Beklagte hat die Mitteilung ersichtlich zunächst so verstanden, dass sich der Antrag des Klägers (auch) auf die Feststellung einer Schwerbehinderung bezog. Sie hat behauptet, ihr Prozessbevollmächtigter habe sich im Gütetermin vom 16. April 2007 nach dem Datum der Antragstellung und dem Aktenzeichen des Vorgangs erkundigt. Diese Fragen zielten erkennbar darauf, die Relevanz der Antragstellung für die Wirksamkeit der ersten (ordentlichen) Kündigung mit Blick auf vom Kläger einzuhaltende Fristen (§ 90 Abs. 2a iVm. § 69 Abs. 2 SGB IX)abzuklären. Wäre die Beklagte im Zweifel darüber gewesen, ob sich der Antrag auch auf die Feststellung einer Schwerbehinderung bezog, hätte sie dies aller Wahrscheinlichkeit nach zum Ausdruck gebracht.

30

(3) Ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Gütetermin vom 16. April 2007 in der Lage war, nähere Auskünfte zum Antragsverfahren zu erteilen, kann offenbleiben. Selbst wenn dies - wie die Beklagte behauptet - nicht der Fall gewesen sein sollte, war daraus nicht abzuleiten, die Angaben im Schreiben vom 7. März 2007 entbehrten jeglicher Grundlage. Wenn die Beklagte dies dennoch tat, handelte sie auf eigenes Risiko.

31

bb) Die Beklagte war aufgrund der Angaben im Schreiben vom 7. März 2007 ausreichend in die Lage versetzt, zumindest vorsorglich die Zustimmung zur Kündigung zu beantragen. Nach § 87 Abs. 1 SGB IX ist der Zustimmungsantrag schriftlich bei dem für den Sitz des Betriebes zuständigen Integrationsamt anzubringen. Dabei ist anzugeben, ob das Arbeitsverhältnis ordentlich oder außerordentlich gekündigt werden soll, und sind die Gründe der Kündigung einschließlich des in Auge gefassten Kündigungstermins zu benennen. Darüber hinaus sind Angaben zur Person des Betroffenen wie Name und Anschrift erforderlich (vgl. Düwell in Dau/Düwell/Joussen SGB IX 3. Aufl. § 87 Rn. 9; Knittel SGB IX 5. Aufl. § 87 Rn. 5a; Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß SGB IX 3. Aufl. § 87 Rn. 2 ff.; jeweils mwN). Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, konkrete Angaben zu einem bestimmten Feststellungsantrag des Arbeitnehmers zu machen, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Die Zustimmungsbedürftigkeit der beabsichtigten Kündigung hat das Integrationsamt nach § 20 Abs. 1 SGB X von Amts wegen aufzuklären. Dabei haben sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer mitzuwirken. Sie sollen insbesondere ihnen bekannte Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 21 Abs. 2 SGB X).

32

cc) Zu Unrecht meint die Beklagte, der Mitteilung des Datums der Antragstellung habe es bedurft, um ihr eine Überprüfung der Relevanz der Antragstellung mit Blick auf die Frist des § 90 Abs. 2a SGB IX zu ermöglichen.

33

(1) Allerdings ist der Zeitpunkt der Antragstellung durchaus von Bedeutung. Ist die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers im Kündigungszeitpunkt noch nicht festgestellt, sondern ist lediglich ein entsprechender Antrag gestellt, besteht der Sonderkündigungsschutz nur, wenn der Arbeitnehmer den Antrag so frühzeitig gestellt hat, dass eine Entscheidung bei Ausspruch der Kündigung binnen der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX möglich gewesen wäre. Hat demnach der Arbeitnehmer seinen Antrag nicht mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt und liegt im Kündigungszeitpunkt auch noch kein Bescheid vor, der seine Schwerbehinderung feststellt, kann er keinen besonderen Kündigungsschutz beanspruchen (BAG 1. März 2007 - 2 AZR 217/06 - Rn. 43, BAGE 121, 335). Aus diesem Grund wird im Schrifttum die Auffassung vertreten, der Arbeitnehmer, der sich nach Ausspruch der Kündigung auf eine bereits geltend gemachte, aber noch nicht durch Bescheid festgestellte Schwerbehinderung berufe, müsse zugleich die Rechtzeitigkeit der Antragstellung darlegen (vgl. Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen SGB IX 12. Aufl. § 85 Rn. 37).

34

(2) Ob dieser Auffassung zu folgen ist, kann dahinstehen. Im Streitfall kam es auf die Rechtzeitigkeit der Antragstellung schon deshalb nicht an, weil im Kündigungszeitpunkt ein die Schwerbehinderung des Klägers feststellender Bescheid bereits vorlag. Zudem waren seit der Mitteilung vom 7. März 2007 bis zur Kündigung am 8. Mai 2007 mehr als drei Wochen verstrichen.

35

4. § 90 Abs. 2a SGB IX verlangt nicht, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber den Bescheid über die Schwerbehinderung vorlegt, damit der Sonderkündigungsschutz erhalten bleibt. Ausreichend ist die objektive Existenz eines geeigneten Bescheides, der die Schwerbehinderung nachweist (BAG 11. Dezember 2008 - 2 AZR 395/07 - Rn. 28, BAGE 129, 25). Der Arbeitgeber, der die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers im Kündigungszeitpunkt nicht kennt, ist ausreichend durch die vom Senat entwickelten Grundsätze zur Verwirkung geschützt. Bezweifelt er die ihm mitgeteilte Schwerbehinderung oder Antragstellung, kann er die Anerkennung bestreiten und sich auf diese Weise Klarheit verschaffen (BAG 11. Dezember 2008 - 2 AZR 395/07 - aaO). Hat der Arbeitnehmer vorprozessual eine Antragstellung behauptet, kann der Arbeitgeber beim Integrationsamt vorsorglich einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung stellen. Erhält er auf seinen form- und fristgerecht gestellten Antrag ein Negativattest, beseitigt dieses, jedenfalls wenn es bestandskräftig ist, die Kündigungssperre (BAG 6. September 2007 - 2 AZR 324/06 - Rn. 15, BAGE 124, 43).

36

IV. Darauf, ob ein wichtiger Grund zur Kündigung im Sinne von § 626 BGB vorlag, kommt es nicht an.

37

V. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

        

    Kreft    

        

    Schmitz-Scholemann    

        

    Berger    

        

        

        

    H. Frey    

        

    Nielebock    

                 

(1) Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

(2) Besondere Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, eine Beeinträchtigung nach § 99 Absatz 1 abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder die Leistungsberechtigten soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

(3) Besondere Aufgabe der Teilhabe am Arbeitsleben ist es, die Aufnahme, Ausübung und Sicherung einer der Eignung und Neigung der Leistungsberechtigten entsprechenden Beschäftigung sowie die Weiterentwicklung ihrer Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit zu fördern.

(4) Besondere Aufgabe der Teilhabe an Bildung ist es, Leistungsberechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Schulbildung und schulische und hochschulische Aus- und Weiterbildung für einen Beruf zur Förderung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

(5) Besondere Aufgabe der Sozialen Teilhabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 6. September 2010 - 4 Sa 18/10 - aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über einen Entschädigungsanspruch, den der Kläger geltend macht, weil er sich wegen seiner Behinderung bei einer Bewerbung benachteiligt sieht.

2

Der 1964 geborene Kläger absolvierte von 1982 bis 1985 eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann. Nachdem er 1987 die Fachhochschulreife erworben hatte, studierte er anschließend bis 1992 Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule F. Er schloss mit dem Diplom als „Betriebswirt FH“ ab. Danach übte der Kläger bis 1996 verschiedene Tätigkeiten aus. Dem schloss sich bis 1998 eine weitere Berufsausbildung als Chemisch-Technischer Assistent an, die in den Folgejahren zu keiner stabilen Beschäftigung führte. Im September 1997 wurde die Schwerbehinderung des Klägers aufgrund eines nicht behandlungsbedürftigen essentiellen Tremors mit einem GdB von 60 anerkannt.

3

Von September 2004 bis August 2005 nahm der Kläger bei einer Gemeinde am praktischen Einführungsjahr für den gehobenen Verwaltungsdienst teil. Anschließend studierte er bis September 2008 an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in K. Für das Hauptstudium wählte er das Fach „Wirtschaft“ und das Wahlpflichtfach „Rechnungswesen“. Die Staatsprüfung für den gehobenen Verwaltungsdienst absolvierte der Kläger mit der Gesamtnote „befriedigend“ (7 Punkte).

4

Die Beklagte ist eine Gemeinde mit rd. 3.700 Einwohnern, die in ihrer Verwaltung auf acht Stellen zwölf Arbeitnehmer beschäftigt. Im Sommer 2009 schrieb die Beklagte eine Stelle für einen Mitarbeiter/eine Mitarbeiterin im Bereich Personalwesen, Bauleitplanung, Liegenschaften und Ordnungsamt zur Mutterschaftsvertretung aus. Für dieses Aufgabengebiet suchte die Beklagte „eine/n Mitarbeiter/in mit der Qualifikation des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes und umfassenden Kenntnissen“. Die Vergütung sollte gemäß dem TVöD erfolgen. Nach seiner Staatsprüfung hatte sich der Kläger um zahlreiche Stellen im öffentlichen Dienst beworben. Nachdem er anfänglich in den Bewerbungsschreiben auf seine Schwerbehinderteneigenschaft hingewiesen hatte, entschloss er sich wegen der Erfolglosigkeit seiner Bewerbungen ab einem bestimmten Zeitpunkt, nur noch den Hinweis auf eine „Behinderung“ zu geben. Vom 12. Januar bis 31. März 2010 arbeitete der Kläger bei einem öffentlichen Arbeitgeber in Oberbayern.

5

Mit Schreiben vom 8. Juli 2009 bewarb sich der Kläger um die ausgeschriebene Stelle der Beklagten. Am Ende des Bewerbungsschreibens führte er aus:

        

„Durch meine Behinderung bin ich, insbesondere im Verwaltungsbereich, nicht eingeschränkt.“

6

Bei der Beklagten bearbeitete die Beschäftigte M das Bewerbungsverfahren. Diese kannte den Kläger von dem gemeinsamen Besuch der Fachhochschule K her flüchtig. Frau M hatte dabei den Eindruck gewonnen, dass sich der Kläger anderen Studentinnen und Studenten aufdränge. Davon unterrichtete sie den Bürgermeister der Beklagten, der sich daraufhin gegen eine Berücksichtigung des Klägers entschied. Die Beklagte nahm keine Verbindung mit der Agentur für Arbeit auf und prüfte nicht, ob die ausgeschriebene Stelle mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen besetzt werden könne. Im weiteren Verlauf wurden zwei der ca. zehn Bewerber dem Gemeinderat vorgestellt. Eingestellt wurde schließlich Frau Mü, die ihr Staatsexamen mit acht Punkten bestanden hatte und während des Hauptstudiums den Bereich „Verwaltung“ und das Schwerpunktfach „Kommunalpolitik“ gewählt hatte. Unter dem 30. Juli 2009 sagte die Beklagte dem Kläger schriftlich ab.

7

Durch Schreiben seiner damaligen Anwälte ließ der Kläger am 14. August 2009 der Beklagten mitteilen, dass er seit September 1997 im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einem GdB von 60 sei. Er rügte, nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden zu sein und machte vorsorglich Schadensersatzansprüche nach § 15 AGG dem Grunde nach geltend. Der spätere Prozessbevollmächtigte des Klägers in den Vorinstanzen bezifferte mit Schreiben vom 10. September 2009 die vom Kläger begehrte Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG auf drei Bruttomonatsgehälter oder 6.689,85 Euro. Mit Schreiben vom 24. September 2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass wegen offensichtlich fehlender fachlicher Eignung eine Einladung zum Vorstellungsgespräch entbehrlich gewesen sei.

8

Mit Eingang beim Arbeitsgericht am 26. Oktober 2009 hat der Kläger die von ihm verlangte Entschädigung gerichtlich geltend gemacht. Zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung betrieb der Kläger in mindestens 27 weiteren Fällen Entschädigungsklagen gegen öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften.

9

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch begründe bereits die Vermutung einer Benachteiligung wegen seiner Behinderung. Auch habe es die Beklagte unterlassen, die freie Stelle der Bundesagentur für Arbeit zu melden und den Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung über seine Bewerbung und die Ablehnungsgründe zu unterrichten. Jedenfalls habe Frau M gewusst, dass er schwerbehindert sei. Dies sei ohne weiteres an seinem Tremor und daran erkennbar gewesen, dass er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nur als Schwerbehinderter die Zulassung zum Studium habe erhalten können. Zumindest habe die Beklagte eine Schwerbehinderteneigenschaft aufgrund der Zulassungsbestimmungen zur Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst erkennen müssen.

10

Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn eine angemessene Entschädigung, mindestens jedoch 6.689,85 Euro nebst fünf % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 26. September 2009 zu zahlen.

11

Den Antrag auf Klageabweisung hat die Beklagte damit begründet, dass Frau M nicht bekannt gewesen sei, dass der Kläger schwerbehindert sei. Frau M und der Kläger hätten weder im selben Semester studiert noch seien sie näher bekannt gewesen, weshalb Frau M auch das Alter des Klägers nicht gekannt habe. Auch habe die Beklagte aus sonstigen Umständen die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers nicht erkannt bzw. erkennen müssen. Im Übrigen sei die ausgeschriebene Stelle nicht als Arbeitsplatz iSv. SGB IX anzusehen.

12

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers nach Beweisaufnahme zur Frage des Bestehens einer Schwerbehindertenvertretung bzw. eines Personalrats zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

Entscheidungsgründe

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Die Revision des Klägers ist begründet. Er hat dem Grunde nach einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, § 81 Abs. 2 SGB IX. Über die Höhe des Entschädigungsanspruchs kann der Senat nicht entscheiden. Insoweit fehlen tatsächliche Feststellungen, die das Landesarbeitsgericht innerhalb seines tatrichterlichen Beurteilungsspielraums rechtlich zu würdigen haben wird.

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A. Das Landesarbeitsgericht hat seine klageabweisende Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG bestehe nicht, da der Kläger nicht wegen seiner Behinderung benachteiligt worden sei. Zwar habe er Umstände vorgetragen, die als Indiztatsachen iSv. § 22 AGG eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vermuten ließen. Dem Kläger habe die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle nicht offensichtlich gefehlt. Die Beklagte habe als öffentliche Arbeitgeberin gegen ihre Verpflichtung nach den § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2, § 82 SGB IX verstoßen, der Agentur für Arbeit frühzeitig frei werdende und neu zu besetzende sowie neue Arbeitsplätze zu melden. Diese Verpflichtung beziehe sich aber nur auf das Vorfeld des eigentlichen Stellenbesetzungsverfahrens. Offenbare ein Bewerber seine Schwerbehinderung nicht, so sei die unterlassene Meldung gegenüber der Agentur für Arbeit nicht kausal für die in Unkenntnis der Schwerbehinderung getroffene Entscheidung des Arbeitgebers. Entsprechendes gelte für den Verstoß gegen die Pflicht der öffentlichen Arbeitgeber zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nach § 82 Satz 2 SGB IX. Aus den Bewerbungsunterlagen habe die Beklagte die Schwerbehinderung weder gekannt noch erkennen müssen, auch habe eine Pflicht zur Erkundigung nicht bestanden. Der Beschäftigten M seien die persönlichen Umstände des Klägers nicht bekannt gewesen, weshalb die Beklagte auch nicht von seinem Alter oder den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Studienzulassung auf eine Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers habe schließen müssen. Die Beweisaufnahme habe zum Ergebnis gehabt, dass bei der Beklagten weder ein Personalrat noch eine Schwerbehindertenvertretung bestehe, so dass die Nichtbeteiligung derartiger Gremien kein Indiz darstelle. Im Ergebnis fehle es damit an Indizien, die eine Benachteiligung „wegen“ Behinderung vermuten ließen.

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B. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hält im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

16

I. Der auf Zahlung einer Entschädigung gerichtete Klageantrag ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der Kläger durfte die Höhe der von ihm begehrten Entschädigung in das Ermessen des Gerichts stellen. Grundlage hierfür ist § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG, der für einen Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld vorsieht. Dem Gericht wird bei der Bestimmung der Höhe der Entschädigung ein Beurteilungsspielraum eingeräumt (vgl. BT-Drucks. 16/1780 S. 38), weshalb eine Bezifferung des Zahlungsantrags nicht notwendig ist. Erforderlich ist allein, dass der Kläger Tatsachen, die das Gericht bei der Bestimmung des Betrags heranziehen soll, benennt und die Größenordnung der geltend gemachten Forderung angibt (vgl. BAG 19. August 2010 - 8 AZR 370/09 - AP SGB IX § 81 Nr. 19 = EzA AGG § 15 Nr. 11; 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21, jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger hat einen Sachverhalt dargelegt, der dem Gericht grundsätzlich die Bestimmung einer Entschädigung ermöglicht, und den Mindestbetrag der angemessenen Entschädigung mit 6.689,85 Euro beziffert.

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II. Die Klage ist begründet. Die Beklagte hat bei der Besetzung der Stelle im Bereich Personalwesen, Bauleitplanung, Liegenschaften und Ordnungsamt im Juli 2009 gegen das Verbot verstoßen, schwerbehinderte Beschäftigte wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen (§ 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, §§ 7 und 1 AGG). Der Kläger hat als benachteiligter schwerbehinderter Beschäftigter nach § 81 Abs. 2 Satz 2 SGB IX, § 15 Abs. 2 AGG Anspruch auf eine angemessene Entschädigung.

18

1. Als Bewerber ist der Kläger nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG „Beschäftigter“ und fällt in den persönlichen Anwendungsbereich des AGG. Unerheblich ist dabei, ob der Bewerber für die ausgeschriebene Tätigkeit objektiv geeignet ist (BAG 19. August 2010 - 8 AZR 466/09 - AP AGG § 3 Nr. 5 = EzA AGG § 15 Nr. 12; 19. August 2010 - 8 AZR 370/09 - AP SGB IX § 81 Nr. 19 = EzA AGG § 15 Nr. 11).

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2. Die Beklagte ist als „Arbeitgeberin“ passiv legitimiert. Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 AGG ist Arbeitgeber im Sinne des Gesetzes, wer „Personen nach Absatz 1“ des § 6 AGG „beschäftigt“. Arbeitgeber eines Bewerbers ist also der, der um Bewerbungen für ein von ihm angestrebtes Beschäftigungsverhältnis gebeten hat (BAG 19. August 2010 - 8 AZR 370/09 - AP SGB IX § 81 Nr. 19 = EzA AGG § 15 Nr. 11). Aufgrund ihrer Stellenausschreibung trifft dies auf die Beklagte zu.

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3. Der Kläger hat auch die gesetzlichen Fristen nach § 15 Abs. 4 AGG zur Geltendmachung des Anspruchs auf Entschädigung gewahrt.

21

a) Nach § 15 Abs. 4 Satz 1 AGG muss ein Anspruch nach Abs. 1 oder Abs. 2 des § 15 AGG innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs beginnt die Frist mit dem Zugang der Ablehnung (§ 15 Abs. 4 Satz 2 AGG). Nach der schriftlichen Ablehnung des Klägers vom 30. Juli 2009 durch die Beklagte war das Schreiben des vormaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 10. September 2009 fristwahrend. Auf das vorangegangene Schreiben seiner ehemaligen Bevollmächtigten vom 14. August 2009 kommt es nicht an. Im Geltendmachungsschreiben vom 10. September 2009 werden unter Vorlage des Schwerbehindertenausweises und unter Bezugnahme auf das Bewerbungsschreiben des Klägers vom 8. Juli 2009 Pflichtverstöße gegen die §§ 81, 82 SGB IX gerügt und eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. drei Monatsgehältern mit der Bezifferung auf 6.689,85 Euro geltend gemacht.

22

b) Die am 26. Oktober 2009 beim Arbeitsgericht Freiburg - Kammern Villingen-Schwenningen - eingegangene Klage wahrte die Dreimonatsfrist des § 61b Abs. 1 ArbGG. Dass die Klage zunächst bei einem örtlich unzuständigen Gericht eingereicht und mit Beschluss vom 11. November 2009 an das Arbeitsgericht Pforzheim verwiesen wurde, ist schon deswegen nicht von Bedeutung, weil der Rechtsstreit nach Zustellung der Klage an die Beklagte innerhalb der Klagefrist an das zuständige Gericht verwiesen wurde (vgl. BGH 21. September 1961 - III ZR 120/60 - BGHZ 35, 374; GMP/Germelmann 7. Aufl. § 61b ArbGG Rn. 6).

23

4. Die Beklagte hat den Kläger auch benachteiligt. Eine unmittelbare Benachteiligung liegt nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AGG vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation.

24

a) Der Kläger erfuhr eine weniger günstige Behandlung als Frau Mü, die tatsächlich zum Vorstellungsgespräch bei der Beklagten eingeladen, in die Auswahl einbezogen und schließlich eingestellt wurde. Ein Nachteil im Rahmen einer Auswahlentscheidung liegt vor, wenn der Bewerber - wie hier der Kläger - nicht in die Auswahl einbezogen, sondern vorab ausgeschieden wird. Die Benachteiligung liegt bereits in der Versagung einer Chance (vgl. BAG 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21; EuGH 22. April 1997 - C-180/95 - [Draehmpaehl] Slg.1997, I-2195 = AP BGB § 611a Nr. 13 = EzA BGB § 611a Nr. 12; BVerfG 16. November 1993 - 1 BvR 258/86 - BVerfGE 89, 276 = AP BGB § 611a Nr. 9 = EzA BGB § 611a Nr. 9; Schleusener in: Schleusener/Suckow/Voigt AGG 2. Aufl. § 3 Rn. 24; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 3 Rn. 13). Wie sich auch aus § 15 Abs. 2 AGG ergibt, ist nicht erforderlich, dass der Bewerber aufgrund des Benachteiligungsgrundes nicht eingestellt worden ist. Auch dann, wenn der Bewerber selbst bei diskriminierungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, ist ein Anspruch nicht ausgeschlossen, sondern nur der Höhe nach begrenzt.

25

b) Der Kläger und Frau Mü befanden sich auch in einer vergleichbaren Situation.

26

aa) Das Vorliegen einer vergleichbaren Situation setzt voraus, dass der Kläger objektiv für die ausgeschriebene Stelle geeignet war, denn vergleichbar (nicht: gleich) ist die Auswahlsituation nur für Arbeitnehmer, die gleichermaßen die objektive Eignung für die zu besetzende Stelle aufweisen (vgl. BAG 7. April 2011 - 8 AZR 679/09 - AP AGG § 15 Nr. 6 = EzA AGG § 15 Nr. 13; 18. März 2010 - 8 AZR 77/09 - AP AGG § 8 Nr. 2 = EzA AGG § 8 Nr. 2). Für das Vorliegen einer Benachteiligung ist es erforderlich, dass eine Person, die an sich für die Tätigkeit geeignet wäre, nicht ausgewählt oder schon nicht in Betracht gezogen wurde. Könnte auch ein objektiv ungeeigneter Bewerber immaterielle Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen, stünde dies nicht im Einklang mit dem Schutzzweck des AGG. Das AGG will vor ungerechtfertigter Benachteiligung schützen, nicht eine unredliche Gesinnung des (potentiellen) Arbeitgebers sanktionieren. Die objektive Eignung ist keine ungeschriebene Voraussetzung der Bewerbereigenschaft, sondern Kriterium der „vergleichbaren Situation“ iSd. § 3 Abs. 1 AGG(vgl. BAG 19. August 2010 - 8 AZR 466/09 - AP AGG § 3 Nr. 5 = EzA AGG § 15 Nr. 12).

27

Grundsätzlich ist für die objektive Eignung nicht auf das formelle Anforderungsprofil, welches der Arbeitgeber erstellt hat, abzustellen, sondern auf die Anforderungen, die der Arbeitgeber an einen Stellenbewerber stellen durfte (vgl. BAG 7. April 2011 - 8 AZR 679/09 - AP AGG § 15 Nr. 6 = EzA AGG § 15 Nr. 13). Für die Dauer des Auswahlverfahrens bleibt der Arbeitgeber an das in der veröffentlichten Stellenbeschreibung bekanntgegebene Anforderungsprofil gebunden (BAG 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - mwN, BAGE 131, 232 = AP SBG IX § 82 Nr. 1 = EzA SGB IX § 82 Nr. 1).

28

bb) Bei der Besetzung von Stellen öffentlicher Arbeitgeber ist weiter Art. 33 Abs. 2 GG zu beachten. Hiernach besteht nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung Anspruch auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Darunter sind auch Stellen zu verstehen, die mit Arbeitern und Angestellten besetzt werden. Art. 33 Abs. 2 GG dient mit der Anforderung einer Bestenauslese zum einen dem öffentlichen Interesse an der bestmöglichen Besetzung der Stellen des öffentlichen Dienstes, dessen fachliches Niveau und rechtliche Integrität gewährleistet werden sollen. Zum anderen trägt sie dem berechtigten Interesse der Bewerber an ihrem beruflichen Fortkommen Rechnung. Art. 33 Abs. 2 GG begründet ein grundrechtsgleiches Recht auf rechtsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl und eine Durchführung des Auswahlverfahrens anhand der in der Regelung genannten Auswahlkriterien(BAG 7. April 2011 - 8 AZR 679/09 - AP AGG § 15 Nr. 6 = EzA AGG § 15 Nr. 13; 23. Januar 2007 - 9 AZR 492/06 - BAGE 121, 67 = AP ZPO 1977 § 233 Nr. 83 = EzA GG Art. 33 Nr. 30). Der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes ist somit verpflichtet, für die zu besetzende Stelle ein Anforderungsprofil festzulegen und nachvollziehbar zu dokumentieren, weil nur so seine Auswahlentscheidung nach den Kriterien der Bestenauslese gerichtlich überprüft werden kann (BAG 7. April 2011 - 8 AZR 679/09 - mwN, aaO). Die Festlegung des Anforderungsprofils muss dabei im Hinblick auf die Anforderungen der zu besetzenden Stelle sachlich nachvollziehbar sein, wobei allerdings der von der Verfassung dem öffentlichen Arbeitgeber gewährte Beurteilungsspielraum nur eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle zulässt.

29

cc) Unter Beachtung dieser Maßstäbe bestehen an der objektiven Eignung des Klägers für die von der Beklagten ausgeschriebene Stelle keine Zweifel. Die Beklagte hat mit ihrer Ausschreibung, wonach ein/e Mitarbeiter/in mit „der Qualifikation des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes und umfassenden Kenntnissen“ gesucht wird, das Anforderungsprofil für die zu besetzende Stelle aufgestellt und dokumentiert. Weder werden die „umfassenden Kenntnisse“ in einem bestimmten Gebiet verlangt, noch wird zusätzlich zur Qualifikation für den gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst eine bestimmte Mindestnote in der Staatsprüfung als Voraussetzung aufgestellt. Der Kläger hat die Staatsprüfung für den gehobenen Verwaltungsdienst abgelegt und verfügt damit über umfassende Kenntnisse, wenn auch - aufgrund seiner Schwerpunktsetzung - eher auf betriebswirtschaftlichem Gebiet. Dies ist jedoch im Hinblick auf das verbindliche Anforderungsprofil der Beklagten nicht relevant.

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5. Bei der von der Beklagten ausgeschriebenen Stelle handelt es sich auch um einen Arbeitsplatz iSd. § 82 Satz 1 SGB IX.

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§ 82 Satz 1 SGB IX verweist auf § 73 SGB IX, der in Abs. 1 einen funktionalen Arbeitsplatzbegriff enthält(Großmann GK-SGB IX Stand Oktober 2011 § 73 Rn. 15; Trenk-Hinterberger in HK-SGB IX 3. Aufl. § 73 Rn. 5). Danach sind Arbeitsplätze im Sinne des Teils 2 des SGB IX alle Stellen, auf denen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Beamte und Beamtinnen, Richter und Richterinnen sowie Auszubildende und andere zu ihrer beruflichen Bildung Eingestellte beschäftigt werden. Arbeitsplatz ist diejenige Stelle, in deren Rahmen eine bestimmte Tätigkeit auf der Grundlage eines Arbeits-, Dienst- oder Ausbildungsverhältnisses mit all den sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten vollzogen wird (vgl. BVerwG 8. März 1999 - 5 C 5/98 - NZA 1999, 826). Bei der ausgeschriebenen Stelle handelt es sich um einen Arbeitsplatz iSv. §§ 82, 73 Abs. 1 SGB IX. Ob die Einschränkungen des § 73 Abs. 2 SGB IX nur für die Berechnungs- und Anrechnungsvorschriften der §§ 71, 74, 75 und 76 SGB IX von Bedeutung sind und es im Übrigen beim allgemeinen Arbeitsplatzbegriff des § 73 Abs. 1 SGB IX verbleibt, kann vorliegend schon deswegen dahinstehen, weil die von der Beklagten zu besetzende Stelle gerade eine Mutterschaftsvertretung sein sollte, also noch nicht mit einer Vertreterin oder einem Vertreter besetzt war(§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX).

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6. Die nachteilige Behandlung hat der Kläger auch „wegen seiner Behinderung“ erfahren.

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a) Der Begriff der Behinderung im Sinne von § 1 AGG, wegen der gemäß § 7 AGG Beschäftigte nicht benachteiligt werden dürfen, entspricht der gesetzlichen Definition in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX(vgl. BT-Drucks. 16/1780 S. 31). Menschen sind danach behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Begriff der „Behinderung“ ist damit weiter als der Begriff der „Schwerbehinderung“ im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB IX; auf einen bestimmten Grad der Behinderung kommt es nicht an (vgl. BAG 3. April 2007 - 9 AZR 823/06 - BAGE 122, 54 = AP SGB IX § 81 Nr. 14 = EzA SGB IX § 81 Nr. 15; Schleusener in: Schleusener/Suckow/Voigt AGG 2. Aufl. § 1 Rn. 66; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 1 Rn. 39). Die Ausweitung des Benachteiligungsverbots über den Kreis der Schwerbehinderten (§ 81 Abs. 2 SGB IX) auf alle behinderten Menschen ist durch das unionsrechtliche Begriffsverständnis gefordert (vgl. ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 1 AGG Rn. 10 mwN). Im Hinblick auf die Richtlinie 2000/78/EG ist eine einheitlich geltende Auslegung des Behindertenbegriffs notwendig, der eine Beschränkung auf „Schwerbehinderung“ nicht kennt (vgl. BAG 3. April 2007 - 9 AZR 823/06 - aaO). Der Kläger, der an einem essentiellen Tremor leidet und für den seit dem 23. September 1997 ein Grad der Behinderung von 60, also eine Schwerbehinderung, festgestellt ist, unterfällt damit dem Behindertenbegriff des § 1 AGG.

34

b) Der Kausalzusammenhang zwischen nachteiliger Behandlung und Behinderung ist bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung an die Behinderung anknüpft oder durch sie motiviert ist (vgl. BT-Drucks. 16/1780 S. 32 zu § 3 Abs. 1 AGG). Dabei ist es nicht erforderlich, dass der betreffende Grund das ausschließliche Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist. Ausreichend ist vielmehr, dass die Behinderung Bestandteil eines Motivbündels ist, welches die Entscheidung beeinflusst hat (vgl. BAG 27. Januar 2011 - 8 AZR 580/09 - EzA AGG § 22 Nr. 3; 19. August 2010 - 8 AZR 530/09 - AP AGG § 15 Nr. 5 = EzA AGG § 15 Nr. 10; 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 7 Rn. 14; Schleusener in: Schleusener/Suckow/Voigt AGG 2. Aufl. § 3 Rn. 11; ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 7 AGG Rn. 3). Auf ein schuldhaftes Handeln oder gar eine Benachteiligungsabsicht kommt es nicht an (vgl. BAG 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - aaO).

35

Hinsichtlich der Kausalität zwischen Nachteil und dem verpönten Merkmal ist in § 22 AGG eine Beweislastregelung getroffen, die sich auch auf die Darlegungslast auswirkt. Der Beschäftigte genügt danach seiner Darlegungslast, wenn er Indizien vorträgt, die seine Benachteiligung wegen eines verbotenen Merkmals vermuten lassen. Dies ist der Fall, wenn die vorgetragenen Tatsachen aus objektiver Sicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass die Benachteiligung wegen dieses Merkmals erfolgt ist. Durch die Verwendung der Wörter „Indizien“ und „vermuten“ bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass es hinsichtlich der Kausalität zwischen einem der in § 1 AGG genannten Gründe und einer ungünstigeren Behandlung genügt, Hilfstatsachen vorzutragen, die zwar nicht zwingend den Schluss auf die Kausalität erfordern, die aber die Annahme rechtfertigen, dass Kausalität gegeben ist(BAG 27. Januar 2011 - 8 AZR 580/09 - EzA AGG § 22 Nr. 3; 20. Mai 2010 - 8 AZR 287/08 (A) - AP AGG § 22 Nr. 1 = EzA AGG § 22 Nr. 1). Liegt eine Vermutung für die Benachteiligung vor, trägt nach § 22 AGG die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.

36

c) Die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vorgetragenen oder unstreitigen Tatsachen eine Benachteiligung wegen seiner Behinderung vermuten lassen, ist nur beschränkt revisibel. Die nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO gewonnene Überzeugung bzw. Nichtüberzeugung von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen einer Behinderung und einem Nachteil kann revisionsrechtlich nur darauf überprüft werden, ob sie möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt (BAG 27. Januar 2011 - 8 AZR 580/09 - EzA AGG § 22 Nr. 3; 19. August 2010 - 8 AZR 530/09 - AP AGG § 15 Nr. 5 = EzA AGG § 15 Nr. 10; 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21; 24. April 2008 - 8 AZR 257/07 - AP AGG § 33 Nr. 2 = EzA BGB 2002 § 611a Nr. 6 zu § 611a Abs. 1 Satz 3 BGB aF bzgl. einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung).

37

d) Ob die Verletzung einer Unterrichtungspflicht nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX Indizwirkung nur bei bestehendem Personalrat und/oder Schwerbehindertenvertretung hat - wovon das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist - oder aber eine eigenständige, von den Sätzen 4 bis 8 unabhängige Pflicht des Arbeitgebers darstellt, die auch dann besteht, wenn es keinen Betriebs-/Personalrat oder keine Schwerbehindertenvertretung gibt(so Knittel SGB IX Kommentar 5. Aufl. § 81 Rn. 44) kann vorliegend dahinstehen. Jedenfalls ist von einer Indizwirkung iSd. § 22 AGG nur dann auszugehen, wenn wie bei der Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nach § 82 Satz 2 SGB IX dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft oder die Gleichstellung des Bewerbers bekannt gewesen ist oder er sich aufgrund der Bewerbungsunterlagen diese Kenntnis hätte verschaffen können. Andernfalls kann der Pflichtenverstoß dem Arbeitgeber nicht zugerechnet werden (vgl. BAG 18. November 2008 - 9 AZR 643/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 16 = EzA SGB IX § 81 Nr. 19; 16. September 2008 - 9 AZR 791/07 - BAGE 127, 367 = AP SGB IX § 81 Nr. 15 = EzA SGB IX § 81 Nr. 17; Knittel aaO Rn. 91b; Düwell in: LPK-SGB IX 3. Aufl. § 82 Rn. 19; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 22 Rn. 10 zur Nichtbeteiligung der Schwerbehindertenvertretung). Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Kausalzusammenhang zwischen Benachteiligung und eines der in § 1 AGG genannten Merkmale kann aus einem Verfahrensverstoß nur dann abgeleitet werden, wenn der Arbeitgeber anhand der objektiv bestehenden Umstände erkannt hat oder erkennen musste, dass ihn eine entsprechende Pflicht trifft. Dies ist der Fall, wenn der Arbeitgeber positive Kenntnis von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung oder zumindest Anlass dazu hatte, eine solche anzunehmen.

38

aa) Daher obliegt es dem abgelehnten Bewerber darzulegen, dass dem Arbeitgeber die Schwerbehinderteneigenschaft oder Gleichstellung bekannt gewesen ist oder er sich aufgrund der Bewerbungsunterlagen diese Kenntnis jedenfalls hätte verschaffen müssen (Düwell in: LPK-SGB IX 3. Aufl. § 82 Rn. 19). Andererseits hat der Arbeitgeber die Erledigung seiner Personalangelegenheiten so zu organisieren, dass er seine gesetzlichen Pflichten zur Förderung schwerbehinderter Bewerber erfüllen kann. Die für den Arbeitgeber handelnden Personen sind verpflichtet, das Bewerbungsschreiben vollständig zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Ein ordnungsgemäßer Hinweis auf eine Schwerbehinderung liegt vor, wenn die Mitteilung in einer Weise in den Empfangsbereich des Arbeitgebers gelangt ist, die es ihm ermöglicht, die Schwerbehinderteneigenschaft des Bewerbers zur Kenntnis zu nehmen (BAG 16. September 2008 - 9 AZR 791/07 - BAGE 127, 367 = AP SGB IX § 81 Nr. 15 = EzA SGB IX § 81 Nr. 17). Zwar muss der Bewerber keinen Schwerbehindertenausweis oder seinen Gleichstellungsbescheid vorlegen, jedoch muss sein Hinweis so beschaffen sein, dass ein gewöhnlicher Leser der Bewerbung die Schwerbehinderung oder Gleichstellung zur Kenntnis nehmen kann.

39

bb) Danach ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wonach den Bewerbungsunterlagen des Klägers kein ausreichender Hinweis auf eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung des Klägers zu entnehmen war und im Übrigen auch keine positive Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bei der Beklagten bestand.

40

Der Kläger hatte seinen Bewerbungsunterlagen keinen Schwerbehindertenausweis beigelegt, wozu auch keine Pflicht bestand. Allerdings hat er auch im Bewerbungsschreiben ausgeführt „durch meine Behinderung bin ich, insbesondere im Verwaltungsbereich, nicht eingeschränkt“. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, hieraus habe die Beklagte nicht entnehmen müssen, dass beim Kläger eine Schwerbehinderung vorliegt, verstößt nicht gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze. Aufgrund der Weite des Behindertenbegriffs fallen auch Einschränkungen hierunter, die unterhalb der Schwelle eines Grades der Behinderung von 50 (§ 2 Abs. 2 SGB IX), 30 oder gar 20 liegen und daher die besonderen Pflichten nach §§ 81, 82 SGB IX, die nur für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen gelten(§ 68 Abs. 1 SGB IX), nicht auslöst. Der Senat hat zwischenzeitlich kargestellt, dass sich für die Zeit nach Inkrafttreten des AGG ein einfachbehinderter Bewerber im Sinne von Vermutungstatsachen auf Verstöße des Arbeitgebers im Bewerbungsverfahren gegen die §§ 81 ff. SGB IX nicht mit Erfolg berufen kann (BAG 27. Januar 2011 - 8 AZR 580/09 - EzA AGG § 22 Nr. 3; Beyer jurisPR-ArbR 35/2011 Anm. 2).

41

Aus den sonstigen Bewerbungsunterlagen, insbesondere dem Lebenslauf des Klägers ergeben sich keine ausreichenden Hinweise auf eine Schwerbehinderung. Zutreffend ist das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, dass wegen des Alters des Klägers im Zusammenhang mit der Zulassung zum Studium und des Hinweises auf die Behinderung kein ausreichender Hinweis auf eine Schwerbehinderung vorlag. Unabhängig von der Frage, ob ein ausreichender Hinweis auf eine Schwerbehinderung auch dann vorliegt, wenn diese wiederum nur aus sonstigen Umständen wie Lebensalter bei Ausbildungsbeginn etc. abgeleitet werden kann, musste die Beklagte aus dem Lebensalter des am 23. März 1964 geborenen Klägers und dem Beginn des Studiums an der Fachhochschule K im September 2005 (Einführungspraktikum ab September 2004) nicht von einer Schwerbehinderteneigenschaft ausgehen. Denn nach § 6 Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 APrOVw gD BW(Ausbildungs- und Prüfungsordnung für den gehobenen Verwaltungsdienst Baden-Württemberg) wird zur Ausbildung zugelassen, wer als schwerbehinderter Mensch im Zeitpunkt der Einstellung in den Vorbereitungsdienst das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet haben wird bzw. wer die Voraussetzungen voraussichtlich zum Zeitpunkt der Einstellung in das Einführungspraktikum erfüllen wird. Hiernach war eine Zulassung des schwerbehinderten Klägers zur Ausbildung gar nicht möglich. Auch der Kläger behauptet dies nicht. Vielmehr trägt der Kläger selbst vor, die ausnahmsweise Zulassung zur Ausbildung habe auf einer Entscheidung des Landespersonalausschusses nach § 55 Landeslaufbahnverordnung Baden-Württemberg iVm. § 6 Abs. 3 APrOVw gD BW beruht.

42

Zu Recht ist schließlich das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen, dass bei Frau M keine positive Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bestand, die der Beklagten zuzurechnen wäre. Selbst wenn zugunsten des Klägers eine Stellung von Frau M unterstellt wird, die eine Wissenszurechnung ermöglicht und darüber hinaus nicht nur das geschäftlich erlangte Wissen von Frau M, sondern auch privat erlangtes Wissen in das zuzurechnende Wissen einbezogen wird (vgl. Palandt/Ellenberger 70. Aufl. § 166 BGB Rn. 6), fehlt es an einer vom Kläger dargelegten positiven Kenntnis Frau M von seiner Schwerbehinderteneigenschaft. Auch mit der Revision bringt der Kläger allein vor, „an der FH K sei bekannt gewesen, dass er schwerbehindert ist“. Dies stellt keinen ausreichenden Sachvortrag zur Kenntnis von Frau M dar, die mit dem Kläger weder im gleichen Semester studiert hat noch näher persönlich bekannt war. Auch der Kläger behauptet nicht, er habe Frau M über seine Schwerbehinderung zu irgendeinem Zeitpunkt informiert. Entsprechendes gilt für den Sachvortrag des Klägers, Frau M habe die Schwerbehinderteneigenschaft aufgrund seines Alters oder des Tremors erkennen müssen. Auch dieser Sachvortrag ist nicht schlüssig. Der Kläger behauptet nicht, dass Frau M sein Alter bekannt gewesen sei. Auch gibt er nicht an, was Frau M bezüglich seines Tremors wahrgenommen haben soll. Zwar ist der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist (vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 703/09 - EzA SGB IX § 85 Nr. 7; 13. Februar 2008 - 2 AZR 864/06 - mwN, BAGE 125, 345 = AP SGB IX § 85 Nr. 5 = EzA KSchG § 4 nF Nr. 83). Dabei muss jedoch nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde. Eine von Frau M wahrgenommene, offenkundige Beeinträchtigung, die ebenso offenkundig auch mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten war, hat der Kläger nicht schlüssig vorgetragen. Der Kläger hat nicht behauptet, dass seine Bewegungsstörungen so erheblich waren oder sind, dass sie auch von Frau M ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen waren. Daher hat das Landesarbeitsgericht zu Recht von einer Beweisaufnahme hierzu abgesehen.

43

Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht eine Pflicht des Arbeitgebers, sich nach einer Schwerbehinderteneigenschaft zu erkundigen, abgelehnt. Eine solche, von einem etwa bestehenden Recht zur Erkundigung zu unterscheidende Pflicht zur Erkundigung besteht schon deshalb nicht, weil der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, sich tätigkeitsneutral nach dem Bestehen einer Schwerbehinderteneigenschaft zu erkundigen, wenn er hiermit keine positive Fördermaßnahme verbinden will. Gerade durch solche Nachfragen kann der Arbeitgeber Indiztatsachen schaffen, die ihn bei einer Entscheidung gegen den schwerbehinderten Bewerber in die Darlegungslast nach § 22 AGG bringen können. Eine Pflicht zur Erkundigung zielte auf ein verbotenes Differenzierungsmerkmal nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in Verb. mit § 1 AGG und stellte eine unmittelbare oder mittelbare Benachteiligung dar(ErfK/Preis 11. Aufl. § 611 BGB Rn. 272 mwN; Düwell in: LPK-SGB IX 3. Aufl. § 85 Rn. 22; Schleusener in: Schleusener/Suckow/Voigt AGG 2. Aufl. § 3 Rn. 30, 32 f.). Der Arbeitgeber kann nicht verpflichtet sein, mit einer Frage zur Schwerbehinderteneigenschaft Tatsachen zu schaffen, die ihm als Indiztatsachen nach § 22 AGG in einem späteren möglichen Prozess entgegengehalten werden können.

44

e) Der Kläger hat aber ein Indiz iSd. § 22 AGG dadurch dargelegt, dass er darauf verwiesen hat, die Beklagte habe ihre Prüf- und Meldepflichten nach § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB IX verletzt.

45

aa) Nach § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist ein Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen besetzt werden können. Weiter ist nach § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX jeder Arbeitgeber verpflichtet, vor der Besetzung einer freien Stelle frühzeitig mit der Agentur für Arbeit Verbindung aufzunehmen. Die Verletzung dieser Pflicht ist als Vermutungstatsache für einen Zusammenhang zwischen Benachteiligung und Behinderung geeignet (vgl. BAG 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21).

46

Nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts prüfte die Beklagte entgegen der sich aus § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ergebenden Pflicht vor der Besetzung der Stelle nicht, ob der freie Arbeitsplatz mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann. Auch die Agentur für Arbeit wurde nicht eingeschaltet, § 81 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Daher wurde auch der frei werdende und neu zu besetzende Arbeitsplatz der Agentur für Arbeit nicht gemeldet (§ 82 Satz 1 SGB IX).

47

bb) Der Senat teilt die Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht, die Kausalität zwischen dem Merkmal der Behinderung und der benachteiligenden Behandlung entfalle, weil der Kläger der Beklagten nur eine „Behinderung“ mitgeteilt habe. Als schwerbehinderter Mensch (GdB von 60) kann sich der Kläger auf Verstöße gegen § 81 SGB IX berufen(vgl. BAG 27. Januar 2011 - 8 AZR 580/09 - EzA AGG § 22 Nr. 3). Der zurechenbare Pflichtverstoß der Beklagten begründet eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die dem Kläger zuteil gewordene benachteiligende Behandlung auf dem Merkmal der Behinderung beruht. Mit ihrem Verhalten erweckt die Beklagte den Anschein, nicht nur an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein, sondern auch möglichen Vermittlungsvorschlägen und Bewerbungen von arbeitsuchenden schwerbehinderten Menschen aus dem Weg gehen zu wollen (Düwell in: LPK-SGB IX 3. Aufl. § 81 Rn. 57). Der Verstoß gegen die Pflichten nach § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB IX deutet darauf hin, dass das Merkmal der Behinderung Teil des Motivbündels der Beklagten bei der benachteiligenden Behandlung von Schwerbehinderten und damit auch des schwerbehinderten Klägers war. Andernfalls würde der durch besondere verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu gewährende Schutz vor einer Benachteiligung weitgehend leerlaufen (BVerwG 3. März 2011 - 5 C 16/10 - Rn. 27, BVerwGE 139, 135). Ob sich ein solcher Verfahrensverstoß in der Auswahlentscheidung konkret ausgewirkt hat, ist unerheblich, da § 15 Abs. 2 AGG auch bei der besseren Eignung von Mitbewerbern eine Entschädigung gewährt. Das Landesarbeitsgericht hat verkannt, dass § 15 Abs. 2 AGG in Verb. mit § 81 Abs. 2 Satz 1, § 82 Satz 2 SGB IX bereits vor einem diskriminierenden Verfahren schützt(BAG 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - Rn. 42, BAGE 131, 232 = AP SGB IX § 82 Nr. 1 = EzA SGB IX § 82 Nr. 1).

48

7. Die Beklagte hat die Vermutung der Benachteiligung wegen der Behinderung des Klägers nicht widerlegt. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts rechtfertigt ihr Vorbringen nicht den Schluss, dass die Behinderung des Klägers in dem Motivbündel nicht enthalten war, das die Beklagte beim Ausschluss des Klägers aus dem Auswahlverfahren beeinflusste.

49

a) Wenn die festgestellten Tatsachen eine Benachteiligung wegen der Behinderung vermuten lassen, trägt der Arbeitgeber nach § 22 AGG die Beweislast dafür, dass eine solche Benachteiligung nicht vorlag. Der Arbeitgeber muss das Gericht davon überzeugen, dass die Benachteiligung nicht auch auf der Behinderung beruht. Damit muss er Tatsachen vortragen und gegebenenfalls beweisen, aus denen sich ergibt, dass es ausschließlich andere Gründe waren als die Behinderung, die zu der weniger günstigen Behandlung führten (vgl. BAG 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21; 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - BAGE 131, 232 = AP SGB IX § 82 Nr. 1 = EzA SGB IX § 82 Nr. 1; 18. November 2008 - 9 AZR 643/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 16 = EzA SGB IX § 81 Nr. 19), und in seinem Motivbündel weder die Behinderung als negatives noch die fehlende Behinderung als positives Kriterium enthalten war. Für die Mitursächlichkeit reicht es aus, dass die vom Arbeitgeber unterlassenen Maßnahmen objektiv geeignet sind, schwerbehinderten Bewerbern keine oder weniger günstige Chancen einzuräumen, als sie nach dem Gesetz zu gewähren sind (vgl. BAG 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - Rn. 44, aaO; Düwell in: LPK-SGB IX 3. Aufl. § 81 Rn. 67).

50

b) Die Beklagte kann die Benachteiligungsvermutung nicht durch den Verweis auf die bessere Eignung der tatsächlich eingestellten Frau Mü widerlegen. Eine solche bessere Eignung der bevorzugten Mitbewerberin schließt eine Benachteiligung nicht aus. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG, wonach selbst dann eine Entschädigung zu leisten ist, wenn der schwerbehinderte Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre(vgl. BAG 3. April 2007 - 9 AZR 823/06 - BAGE 122, 54 = AP SGB IX § 81 Nr. 14 = EzA SGB IX § 81 Nr. 15). Auch aus dem Vortrag der Beklagten, Frau M habe das Verhalten des Klägers während der Zeit an der Fachhochschule K als aufdrängend wahrgenommen, was den Bürgermeister veranlasst habe, den Kläger nicht weiter am Auswahlverfahren teilnehmen zu lassen, ergibt sich keine Widerlegung der Vermutung. Damit hat die Beklagte keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich ergäbe, dass es ausschließlich andere Gründe waren als die Behinderung, die zu der weniger günstigen Behandlung führten. Der Sachgehalt eines solchen Auswahlkriteriums steht zudem in Frage.

51

8. Der Entschädigungsanspruch des Klägers ist auch nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs, § 242 BGB, ausgeschlossen.

52

a) Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung, wobei eine gegen § 242 BGB verstoßende Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage wegen der Rechtsüberschreitung als unzulässig angesehen wird(vgl. BGH 16. Februar 2005 - IV ZR 18/04 - NJW-RR 2005, 619; BAG 28. August 2003 - 2 AZR 333/02 - AP BGB § 242 Kündigung Nr. 17 = EzA BGB 2002 § 242 Kündigung Nr. 4; 23. Juni 1994 - 2 AZR 617/93 - BAGE 77, 128 = AP BGB § 242 Kündigung Nr. 9 = EzA BGB § 242 Nr. 39; Palandt/Grüneberg 70. Aufl. § 242 BGB Rn. 38). § 242 BGB eröffnet damit die Möglichkeit jede atypische Interessenlage zu berücksichtigen, bei der ein Abweichen von der gesetzlichen Rechtslage zwingend erscheint(vgl. BAG 23. November 2006 - 8 AZR 349/06 - AP BGB § 613a Wiedereinstellung Nr. 1 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 61; MünchKommBGB/Roth 5. Aufl. § 242 BGB Rn. 180). Zur Konkretisierung atypischer Interessenlagen wurden Fallgruppen gebildet, in denen ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nahe liegt. Hierzu zählt die Fallgruppe des unredlichen Erwerbs der eigenen Rechtsstellung (vgl. BAG 23. November 2006 - 8 AZR 349/06 - aaO; Palandt/Grüneberg aaO Rn. 42 f.).

53

Im Falle von Ansprüchen nach § 15 AGG kann unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls der Erwerb der Rechtsstellung als Bewerber dann als unredlich erscheinen, wenn die Bewerbung allein deshalb erfolgte, um Entschädigungsansprüche zu erlangen(vgl. BVerwG 3. März 2011 - 5 C 16/10 - BVerwGE 139, 135; Windel RdA 2011, 193, 194 f.; Jacobs RdA 2009, 193, 198 f.; ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 15 AGG Rn. 10; HK-ArbR/Berg 2. Aufl. § 15 AGG Rn. 9). Das Verbot des Rechtsmissbrauchs ist dabei ein anerkannter Grundsatz des Gemeinschaftsrechts (EuGH 9. März 1999 - C-212/97 - [Centros] Rn. 24, Slg. 1999, I-1459; 12. Mai 1998 - C-367/96 - [Kefalas ua.] Rn. 20, Slg. 1998, I-2843; Däubler/Bertzbach-Deinert AGG 2. Aufl. § 15 Rn. 53; Windel RdA 2011, 193 f.).

54

Für die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit, dh. den Rechtsmissbrauch ist der Arbeitgeber darlegungs- und beweisbelastet (vgl. MünchKommBGB/Thüsing 5. Aufl. § 15 AGG Rn. 17; HK-ArbR/Berg 2. Aufl. § 15 AGG Rn. 9), wobei der Arbeitgeber Indizien vortragen muss, die geeignet sind, den Schluss auf die fehlende Ernsthaftigkeit zuzulassen (ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 15 AGG Rn. 10; Windel RdA 2011, 193, 195; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 3. Aufl. § 6 Rn. 12). Zwar könnte ein krasses Missverhältnis zwischen Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle und der Qualifikation des Bewerbers die Ernsthaftigkeit der Bewerbung in Frage stellen (vgl. BAG 18. März 2010 - 8 AZR 77/09 - AP AGG § 8 Nr. 2 = EzA AGG § 8 Nr. 2; MünchKommBGB/Thüsing aaO; DFL/Kappenhagen/Kramer 4. Aufl. § 11 AGG Rn. 5). Der Kläger hat jedoch die Staatsprüfung für den gehobenen Verwaltungsdienst abgelegt und besitzt damit die Qualifikation für eine Tätigkeit im gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst. Ein Missverhältnis zwischen Anforderungsprofil und Qualifikation des Klägers als Bewerber liegt nicht vor.

55

b) Danach hat die Beklagte keine ausreichenden Indizien für eine mangelnde Ernsthaftigkeit der Bewerbung des Klägers vorgetragen.

56

Auch wenn der Kläger eine Vielzahl von Entschädigungsklagen gegen öffentliche Arbeitgeber in Folge der Vielzahl seiner Bewerbungen angestrengt hat, so liegt hierin allein kein ausreichender Umstand, der die Bewerbung bei der Beklagten als subjektiv nicht ernsthaft erscheinen ließe (vgl. BAG 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - BAGE 131, 232 = AP SGB IX § 82 Nr. 1 = EzA SGB IX § 82 Nr. 1; Däubler/Bertzbach-Deinert 2. Aufl. § 15 Rn. 54). Der Kläger hat im fortgeschrittenen Alter und trotz vorhandener anderer Berufsabschlüsse das Studium an der Fachhochschule K mit der Staatsprüfung im September 2008 abgeschlossen und sich entsprechend dieser Ausbildung bei einer Vielzahl von öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften beworben. Der Kläger stand zum Zeitpunkt der Bewerbung in keinem anderweitigen Arbeitsverhältnis. Die Vielzahl der Bewerbungen spricht - auch angesichts des Lebenslaufs des Klägers - mehr für die Ernsthaftigkeit seiner Bewerbung als dafür, dass es dem Kläger nur um die Erlangung einer Entschädigung gegangen sein könnte. Gegen eine fehlende Ernsthaftigkeit spricht vor allem aber, dass sich der Kläger auch erfolgreich beworben und eine entsprechende Tätigkeit bei einem öffentlichen Arbeitgeber im Zeitraum 12. Januar bis 31. März 2010 in Oberbayern ausgeübt hat.

57

III. Über die Höhe der dem Kläger nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG zustehenden angemessenen Entschädigung kann der Senat nicht abschließend entscheiden.

58

1. § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG räumt dem Gericht einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Höhe der Entschädigung ein, um bei der Prüfung der Angemessenheit der Entschädigung die Besonderheiten jedes einzelnen Falls berücksichtigen zu können. Hängt die Höhe des Entschädigungsanspruchs von einem Beurteilungsspielraum ab, ist die Bemessung des Entschädigungsanspruchs grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters (vgl. BAG 17. August 2010 - 9 AZR 839/08 - AP AGG § 15 Nr. 4 = EzA SGB IX § 81 Nr. 21; 22. Januar 2009 - 8 AZR 906/07 - Rn. 80 mwN, BAGE 129, 181 = AP AGG § 15 Nr. 1 = EzA AGG § 15 Nr. 1).

59

2. Das Landesarbeitsgericht wird zu prüfen haben, welche Höhe angemessen ist und ob die Entschädigung in der Höhe auf drei Monatsgehälter begrenzt werden muss. Für die Höhe der festzusetzenden Entschädigung sind Art und Schwere der Verstöße sowie die Folgen für den schwerbehinderten Kläger von Bedeutung (vgl. BAG 21. Juli 2009 - 9 AZR 431/08 - Rn. 55, BAGE 131, 232 = AP SGB IX § 82 Nr. 1 = EzA SGB IX § 82 Nr. 1; 18. November 2008 - 9 AZR 643/07 - Rn. 60, AP SGB IX § 81 Nr. 16 = EzA SGB IX § 81 Nr. 19). Hierbei wird das Landesarbeitsgericht insbesondere zu berücksichtigen haben, dass die Beklagte nicht zurechenbar gegen § 81 Abs. 1 Sätze 4 bis 9, § 82 Satz 2 SGB IX verstoßen hat, sondern allein gegen die Pflichten aus § 81 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB IX.

        

    Hauck    

        

    Böck    

        

    Breinlinger    

        

        

        

    Döring    

        

    Warnke    

                 

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Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 2. Juni 2016, Az. 5 Ca 1808/14, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

2

Der 1951 geborene, verheiratete Kläger war seit Mai 2006 bei der Beklagten zu einem Bruttomonatslohn von zuletzt 2.000 EUR als Konstruktionsmechaniker beschäftigt. Die Beklagte befasste sich mit Herstellung und Montage von Fenstern, Türen und Fassaden aus Aluminium. Sie beschäftigte Ende April 2014 61 Arbeitnehmer; ein Betriebsrat bestand nicht. Der Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten fasste am 22.04.2014 den Beschluss, seinen Betrieb stillzulegen. Mit Schreiben vom 23.04.2014 erstattete der jetzige Prozessbevollmächtigte der Beklagten bei der zuständigen Agentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:

3

"Unsere Mandantin unterhält […] einen Gewerbebetrieb, der Aluminiumfenster und -türen und Fassadenbau ausführt. Der Gewerbebetrieb besteht seit über 40 Jahren und derzeit sind dort insgesamt 62 Arbeitnehmer beschäftigt, die sich in 61 Arbeitnehmern und einem Auszubildenden aufgliedern. Wir überreichen als Anlage eine Liste der Mitarbeiter, aus der Name, Anschrift und Betriebszugehörigkeit hervorgehen. Außerdem ist das letzte gezahlte Nettogehalt aufgeführt. Ein Betriebsrat besteht nicht.

4

Seit Jahren erwirtschaftet der Betrieb keine Gewinne mehr. Die Auftragslage hat sich drastisch verschlechtert, was bedeutet, dass meine Mandantin dieses Jahr noch keinen neuen Auftrag erhalten hat. Zurzeit werden lediglich die Altaufträge aus den vergangenen Jahren abgearbeitet sowie Garantiefälle. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Der alleinige Geschäftsführer […] ist am 07.05.1942 geboren. Er hat schon seit Jahren versucht - da er keinen Nachfolger hat - den Betrieb zu veräußern, was ebenfalls an den betrieblichen Bilanzen scheiterte.

5

Um ein drohendes Insolvenzverfahren abzuwenden, hat sich die Geschäftsleitung entschlossen, den Geschäftsbetrieb zum 30.04.2014 einzustellen bzw. die Betriebsstilllegung vorzunehmen. Das operative Geschäft wird zu diesem Zeitpunkt beendet. Danach werden lediglich die alten Aufträge noch abgearbeitet und die oben erwähnten Garantiefälle. Folge ist, dass sämtliche Mitarbeiter gekündigt werden müssen, da der Arbeitsplatz wegfällt. Die Kündigungsfrist beträgt zwischen 1 und 7 Monaten, wie Sie aus anliegender Arbeitnehmerliste entnehmen können.

6

Da somit der Arbeitsplatz zum 30.04.2014 wegfällt, sollen die Arbeitnehmer ein- schließlich des Lehrlings unter Berücksichtigung der ordentlichen Kündigungsfristen gekündigt werden. Wir bitten insoweit um Genehmigung."

7

Am 25.04.2014 informierte der Geschäftsführer die Belegschaft über die geplante Betriebsstilllegung und die damit verbundenen Kündigungen. Auf ihrer Internetseite veröffentlichte die Beklagte folgenden Text:

8

"Liebe Kunden, leider hat unser Betrieb seit Jahren keine betrieblichen Gewinne mehr erwirtschaftet. … Eine Besserung der wirtschaftlichen Situation ist nicht in Sicht …

9

Aus diesem Grund hat sich die Betriebsleitung entschlossen, den Betrieb zum 30.04.2014, auch aus altersbedingten Gründen […] zu schließen, was bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt das operative Geschäft aufgegeben wird. Danach werden lediglich noch die Altverträge und die Garantiefälle abgearbeitet. …"

10

Dem Kläger war mit Bescheid vom 07.08.2012 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkennt worden. Unter dem Datum vom 25.04.2014 stellte er einen Verschlimmerungsantrag. Mit Schreiben vom 28.04.2014 kündigte die Beklagte sämtlichen Arbeitnehmern wegen beabsichtigter Betriebsstilllegung. Dem Kläger kündigte sie ordentlich zum 31.07.2014. Das Kündigungsschreiben ging ihm am 29.04.2014 zu. Gegen die Kündigung erhob der Kläger am 06.05.2014 die vorliegende Klage. Er ist der Ansicht, die Kündigung sei schon mangels vorheriger Zustimmung des Integrationsamts unwirksam. Sie sei überdies sozial nicht gerechtfertigt und rechtsmissbräuchlich. Außerdem fehle es an einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige.

11

Mit Bescheid vom 08.08.2014 stellte das zuständige Versorgungsamt "auf den am 05.05.2014 eingegangenen Antrag" des Klägers einen GdB von 50 fest. Im Bescheid wurden die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt:

12

"Herzerkrankung
Nierenfunktionseinschränkung
Funktionsstörung der Wirbelsäule
Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression
Funktionsstörung der Zehen
Oberbauchbeschwerden
Schulterfunktionsstörung (links)"

13

Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt beantragt,

14

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 28.04.2014 nicht aufgelöst worden ist,

15

2. die Beklagte zu verurteilen, ihn als Konstruktionsmechaniker weiter zu beschäftigen.

16

Die Beklagte hat beantragt,

17

die Klage abzuweisen.

18

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestandes und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils vom 02.06.2016 Bezug genommen. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe seines Urteils verwiesen.

19

Gegen das am 19.07.2016 zugestellte Urteil hat der Kläger mit am 15.08.2016 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 19.10.2016 verlängerten Begründungsfrist mit am 19.10.2016 eingegangenem Schriftsatz begründet.

20

Er macht geltend, die Kündigung vom 28.04.2014 habe der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bedurft, weil das Versorgungsamt am 08.08.2014 einen GdB von 50 festgestellt habe. Den Verschlimmerungsantrag habe er bereits am 25.04.2014 gestellt. Weshalb das Versorgungsamt im Bescheid einen Antragseingang erst am 05.05.2014 vermerkt habe, könne er heute nicht mehr nachvollziehen. Der Antrag sei somit innerhalb der Dreiwochenfrist gestellt. Darauf komme es letztlich nicht an, weil seine Schwerbehinderung "offenkundig" gewesen sei. Der Beklagten sei bekannt gewesen, dass er laut Ursprungsbescheid vom 07.08.2012 an einer erheblichen Nierenfunktionseinschränkung, einer Herzerkrankung, einer Funktionsstörung der Wirbelsäule, an Funktionsstörungen der Zehen sowie Oberbauchbeschwerden, Schlafstörungen und Ohrgeräuschen gelitten habe. Im Nachgang habe sich sein Gesundheitszustand gravierend verschlechtert. Seine Hörbeeinträchtigung habe durch den Eintritt eines beiderseitigen Tinnitus zugenommen. Auch die Schmerzintensität habe sich gesteigert. Die Erschöpfungsdepression habe sich erheblich verschlechtert. Parallel hierzu habe sich die Herzerkrankung intensiviert. Er habe sich deswegen vom 31.03.2014 bis zum 28.04.2014 in stationärer Behandlung in einem Rehabilitationszentrum befunden. Die Beklagte habe gewusst, dass seine gesundheitliche Lage "kritisch" gewesen sei. Die Kündigung vom 28.04.2014 sei im Übrigen rechtsmissbräuchlich. Der Beklagten sei seine schwere Erkrankung bekannt gewesen. Sie habe auch gewusst, dass er sich in "dauerhafter" stationärer Behandlung befunden habe. Ihr seien die vorausgegangenen Bescheide der Versorgungsämter ebenso bekannt gewesen wie die Intensivierung seiner Beschwerden. Die Kündigung wegen Betriebsstilllegung sei außerdem sozial nicht gerechtfertigt, denn die Beklagte habe den Betrieb nach ihrem eigenen Vortrag fortgeführt. Sie habe während des Laufs der Kündigungsfrist Aufträge für eine Baustelle in Hamburg (Bauvorhaben K.) angenommen und ausgeführt. Eine solche Tätigkeit gehöre zum operativen Geschäft. Überdies habe die Beklagte im maßgeblichen Zeitraum aufgrund eines Neuauftrags Fensterelemente hergestellt und diese auf der eingangs erwähnten Baustelle in Hamburg eingebaut.

21

Der Kläger beantragt zweitinstanzlich,

22

das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 02.06.2016, Az. 5 Ca 1808/14, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung vom 28.04.2014 beendet worden ist.

23

Die Beklagte beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Sir trägt vor, die Schwerbehinderung des Klägers sei nicht offenkundig gewesen. Eine Schwerbehinderung des Klägers sei ihr bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht bekannt gewesen. Den Bescheid des Versorgungsamtes vom 07.08.2012, in dem ein GdB von 40 festgestellt worden sei, habe ihr der Kläger nicht vorgelegt. Hinzu komme, dass der Kläger bis zu seiner stationären Behandlung im April 2014 nicht mehr Krankheitstage aufgewiesen habe, als die anderen Arbeitnehmer.

26

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

27

Die nach § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung des Klägers ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und - gerade noch - ordnungsgemäß begründet worden. Der Kläger hat aufgezeigt, in welchen Punkten er das arbeitsgerichtliche Urteil aus welchen Gründen für unrichtig hält, obwohl er auf eine Vielzahl der rechtlichen und tatsächlichen Argumente des angefochtenen Urteils nicht eingegangen ist. Eine schlüssige, rechtlich haltbare Begründung wird nicht verlangt.

II.

28

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Die Berufungskammer folgt den sorgfältig dargestellten Entscheidungsgründen des Arbeitsgerichts sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung der Beklagten vom 28.04.2014 mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31.07.2014 aufgelöst worden. Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht deshalb nicht.

29

1. Die Kündigung vom 28.04.2014 ist nicht nach § 85 SGB IX iVm. § 134 BGB nichtig. Es bedurfte zu ihrer Wirksamkeit keiner Zustimmung des Integrationsamts. Der Kläger hatte im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 29.04.2014 keinen Sonderkündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

30

a) Ausweislich des zur Gerichtsakte gereichten Bescheides des zuständigen Versorgungsamtes vom 08.08.2014 wurde der Kläger erst ab dem 05.05.2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt.

31

Die behördliche Feststellung eines GdB ist, da sich der GdB - abhängig vom Gesundheitszustand eines Menschen - jederzeit verändern kann, aus der Natur der Sache heraus auf bestimmbare Zeiträume zu beziehen. Demzufolge ist über den GdB auf Antrag (Erstantrag gem. § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX; Verschlimmerungsantrag gem. § 48 SGB X) des Menschen mit Behinderung oder von Amts wegen für abgegrenzte Zeiträume unterschiedlich zu entscheiden. Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen die zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung regelmäßig zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte. Diese aus dem SchwbG - und dem SGB IX - herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften über die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Dazu gehört auch die Regelung des § 6 Abs. 1 S. 2 SchwbAwV (vgl. BSG 16.02.2012 - B 9 SB 1/11 R - Rn. 37). Danach ist auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises als Beginn der Gültigkeit des Ausweises der Tag des Eingangs des Antrags einzutragen.

32

Der Antrag des Klägers ist ausweislich des Bescheides des Versorgungsamtes erst am 05.05.2014 - und damit nach Zugang der Kündigungserklärung am 29.04.2014 - dort eingegangen. Dass das Antragsformular das Ausstellungsdatum 25.04.2014 trägt, ist unerheblich. Es kommt nicht darauf an, dass der Kläger - so die Berufung - heute nicht mehr nachzuvollziehen vermag, weshalb das Versorgungsamt den Antragseingang auf den 05.05.2014 vermerkt hat, denn ihm obliegt nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für einen früheren Eingang seines Antrags. Der Kläger hat nicht ansatzweise dargelegt, wann er das Antragsformular abgesandt haben will und wann es beim Versorgungsamt, wenn nicht erst am 05.05.2014, eingegangen sein soll. Im Übrigen fehlt es an einem Beweisantritt.

33

b) Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass sein Antrag bereits am 25.04.2014 beim Versorgungsamt eingegangen ist, wofür nicht das Geringste spricht, verhilft dies der Klage nicht zum Erfolg. Auch dann wäre die Beklagte nicht verpflichtet gewesen, vor Ausspruch der Kündigung vom 28.04.2014 die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen.

34

Wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, findet für schwerbehinderte Menschen das Zustimmungserfordernis des § 85 SGB IX gem. § 90 Abs. 2a SGB IX, eingeführt mit Wirkung ab 01.05.2004 durch das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.04.2004 (BGBl. I S. 606), keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 S. 2 SGG IX eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte. Das heißt, bei Zugang der Kündigung muss entweder bereits die Schwerbehinderung anerkannt (oder eine Gleichstellung erfolgt) oder der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung (bzw. der Gleichstellungsantrag) muss vom Arbeitnehmer mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein (BAG 29.11.2007 - 2 AZR 613/06 - Rn. 15 mwN).

35

Unter Anwendung dieser Grundsätze kann sich der Kläger, dem das Kündigungsschreiben am 29.04.2014 zugegangen ist, nicht auf den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen nach dem SGB IX berufen, da er seinen Antrag -was hier unterstellt wird - frühestens am 25.04.2014 und damit nicht rechtzeitig, nämlich mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung, gestellt hat.

36

c) Zu Unrecht macht die Berufung geltend, im Zeitpunkt der Kündigung des Arbeitsverhältnisses sei "offenkundig" gewesen, dass der Kläger schwerbehindert sei.

37

Das Versorgungsamt hat im Bescheid vom 08.08.2014 ab Antragseingang am 05.05.2014 einen GdB von 50 festgestellt und dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Herzerkrankung, Nierenfunktionseinschränkung, Funktionsstörung der Wirbelsäule, Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Erschöpfungsdepression, Funktionsstörung der Zehen, Oberbauchbeschwerden und Schulterfunktionsstörung (links). Im Bescheid vom 07.08.2012, den die Beklagte nach der - unsubstantiierten - Behauptung des Klägers gekannt haben soll, wurde ein GdB von 40 festgestellt. Dabei wurden ausweislich des Bescheides, den der Kläger zweitinstanzlich (noch nicht einmal vollständig) vorgelegt hat, die Auswirkungen folgender Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Nierenfunktionseinschränkung, Herzerkrankung, Funktionsstörung der Wirbelsäule, Funktionsstörung der Zehen, Schlafstörungen, Ohrgeräusche, Oberbauchbeschwerden.

38

Zwar ist der Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft gegenüber dem Arbeitgeber dann entbehrlich, wenn die Schwerbehinderung offenkundig ist. Dabei muss jedoch nicht nur das Vorliegen einer oder mehrerer Beeinträchtigungen offenkundig sein, sondern auch, dass der Grad der Behinderung auf wenigstens 50 in einem Feststellungsverfahren festgesetzt würde (vgl. BAG 13.10.2011 - 8 AZR 608/10 - Rn. 42 mwN). Dafür spricht im Streitfall nichts. Eine vom Geschäftsführer der Beklagten wahrgenommene, offenkundige Beeinträchtigung, die ebenso offenkundig auch mit einem GdB von mindestens 50 zu bewerten war, hat der Kläger nicht ansatzweise vorgetragen. Er hat nicht behauptet, dass seine Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich waren oder sind, dass sie auch vom Geschäftsführer der Beklagten ohne sozialmedizinische Vorbildung als offensichtliche Schwerbehinderung wahrzunehmen und einzustufen waren. Die in den vorgelegten Bescheiden angeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers sind jedenfalls nicht so auffallend, dass sie ohne weiteres "ins Auge springen" (vgl. zu diesem Maßstab BAG 24.11.2005 - 2 AZR 514/04 - Rn. 33).

39

2. Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.04.2014 ist sozial gerechtfertigt, weil sie durch dringende betriebliche Erfordernisse iSv. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers entgegenstehen. Dies hat das Arbeitsgericht ebenfalls zutreffend erkannt.

40

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der auch die Berufungskammer folgt, gehört die Stilllegung des gesamten Betriebes durch den Arbeitgeber zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen iSv. § 1 Abs. 2 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Unter Betriebsstilllegung ist die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und ihren unmittelbaren Ausdruck darin findet, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Verfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen. Mit der Stilllegung des gesamten Betriebes entfallen alle Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Arbeitgeber ist dabei nicht gehalten, eine Kündigung erst nach Durchführung der Stilllegung auszusprechen. Neben der Kündigung wegen erfolgter Stilllegung kommt auch eine Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung in Betracht. Erforderlich ist dazu aber, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig stillzulegen (vgl. unter vielen BAG 21.05.2015 - 8 AZR 409/13 - Rn. 51 ff. mwN).

41

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Arbeitsgericht zu Recht angenommen, dass die Beklagte die Kündigung vom 28.04.2014 in Befolgung ihrer Stilllegungsabsicht ausgesprochen hat. Im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung am 29.04.2014, der zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung maßgeblich ist, lag ein endgültiger Beschluss der Beklagten vor, ihren Betrieb stillzulegen. Diese Entscheidung hatte auch greifbare Formen angenommen.

42

Der 1942 geborene Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten hat im April 2014 vor Ausspruch der streitbefangenen Kündigung aus wirtschaftlichen Überlegungen und aus Altersgründen den endgültigen Entschluss gefasst, die Betriebstätigkeit der Beklagten auf Dauer einzustellen. Diesen inneren Willensbildungsprozess hat er nach außen durch seinen schriftlichen Beschluss vom 22.04.2014, die Information der Belegschaft am 25.04.2014 und den Internetauftritt manifestiert. In der Regel liegt ein starkes Indiz für einen ernstlichen und endgültigen Stilllegungsplan vor, wenn der Arbeitgeber den Stilllegungsbeschluss gegenüber Lieferanten, Kunden, Banken usw. bekannt gibt, weil ein Arbeitgeber, der die Betriebsfortführung oder Veräußerung ernsthaft ins Auge fasst, die Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten, Kunden, Banken etc. in der Regel nicht durch die Bekanntgabe einer Stilllegungsentscheidung gefährden will (vgl. BAG 16.02.2012 - 8 AZR 693/10 - Rn. 51 mwN). So ist es hier.

43

Einer ernsthaften Stilllegungsabsicht steht nicht entgegen, dass die Beklagte die gekündigten Arbeitnehmer über den 30.04.2014 hinaus in ihrer jeweiligen Kündigungsfrist noch eingesetzt hat, um vorhandene Aufträge oder Garantiefälle (zB. das Bauvorhaben K. in Hamburg) abzuarbeiten. Der Arbeitgeber erfüllt damit gegenüber den tatsächlich eingesetzten Arbeitnehmern lediglich seine auch im bereits gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Beschäftigungspflicht (vgl. BAG 20.06.2013 - 6 AZR 805/11 - Rn. 53 mwN). Selbst wenn die Beklagte nach Ausspruch der Kündigung noch neue Aufträge angenommen haben sollte, spricht dies nicht gegen die Stilllegungsabsicht. Erforderlich, aber auch ausreichend für eine Stilllegungsabsicht ist, dass bis zum Ende der Kündigungsfristen keine Tätigkeiten mehr ausgeführt werden; nicht erforderlich ist, dass der Arbeitgeber bis dahin ineffizient arbeitet oder es unterlässt, mögliche Geschäfte zu tätigen (vgl. BAG 21.05.2015 - 8 AZR 409/13 - Rn. 56).

44

Auch die tatsächliche Stilllegung des Betriebs, die der Kläger nicht in Zweifel zieht, lässt Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit der Unternehmerentscheidung zu. Zwar ist maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung der des Kündigungszugangs. Verläuft die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung planmäßig, ist es jedoch gerechtfertigt, von einem tragfähigen Konzept im Zeitpunkt der Kündigung auszugehen. Die im Kündigungszeitpunkt gestellte Prognose, mit Ablauf der Kündigungsfrist werde der Beschäftigungsbedarf entfallen, wird so bestätigt (vgl. BAG 16.02.2012 - 8 AZR 693/10 - Rn. 40 mwN).

45

Die Stilllegungsabsicht der Beklagten hatte zum Kündigungszeitpunkt bereits "greifbare Formen" angenommen. Zwar besagt die Entlassung von Arbeitnehmern allein für die Betriebsstilllegung im Sinne eines betriebsbedingten Kündigungsgrundes nichts, weil es gerade um die Frage geht, ob diese Entlassungen gerechtfertigt sind. Beim Vorliegen einer ernsthaft und endgültig beabsichtigten Betriebsstilllegung muss vor Zugang der Kündigung nicht bereits mit der Verwirklichung der Entscheidung begonnen worden sein (vgl. BAG 20.11.2014 - 2 AZR 512/13 - Rn. 24 mwN). Das betrifft nicht nur deren unmittelbare Umsetzung. Auch vorbereitende Maßnahmen musste die Beklagte noch nicht ergriffen haben. Es genügt, dass sie berechtigterweise annehmen durfte, die laufende Kündigungsfrist biete ihr hierfür ausreichend Zeit.

46

Im Streitfall haben sich dringende betriebliche Gründe für die beabsichtigte Betriebsstilllegung konkret und greifbar abgezeichnet. Der Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Beklagten hat seine Entscheidung nicht etwa für sich behalten, sondern die Belegschaft am 25.04.2014 hierüber informiert. Er hat seinen Stilllegungsbeschluss außerdem auf der Homepage veröffentlicht und eine Massenentlassungsanzeige erstattet. Der Kläger bestreitet nicht, dass der Betrieb spätestens zum 31.12.2014 tatsächlich stillgelegt worden ist. Es sind auch zweitinstanzlich keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen noch sonst ersichtlich, die zumindest in ihrer Gesamtschau dafür sprechen könnten, dass der Geschäftsführer der Beklagten im April 2014 nicht endgültig beabsichtigt haben könnte, den Betrieb stillzulegen.

47

3. Die Kündigung vom 28.04.2014 ist nicht gem. § 134 BGB nichtig, weil sie vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige gem. § 17 Abs. 1 KSchG erklärt wurde (vgl. BAG 19.12.2013 - 6 AZR 790/12 - Rn. 71 mwN). Auch dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.

48

Das Kündigungsschreiben ist dem Kläger am 29.04.2014 und damit erst nach Erstattung der Anzeige zugegangen. Die Beklagte hat der örtlichen Agentur für Arbeit mit Schreiben vom 23.04.2014 die beabsichtigte Massenentlassung aller Arbeitnehmer angezeigt und ihre Angaben mit Schreiben vom 28.04.2014 ergänzt. Beide Schreiben sind dort vor Erklärung der streitbefangenen Kündigung eingegangen. Hiergegen erhebt die Berufung keine Rügen. Sonstige Fehler des Anzeigeverfahrens wurden nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

49

4. Entgegen der Ansicht der Berufung ist die Kündigung vom 28.04.2014 nicht rechtsmissbräuchlich. Allein die Tatsache, dass die Kündigung ausgesprochen worden ist, während der Kläger (vom 31.03. bis 28.04.2014) in einer Rehabilitationsklinik eine Rehabilitationsmaßnahme durchführte, führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Der Zugang einer Kündigungserklärung während einer Krankheit führt, abgesehen von krassen Ausnahmefällen (Kündigung zur Unzeit), nicht zu deren Unwirksamkeit (vgl. ErfK/Oetker KSchG § 1 Rn. 110). Ein solch krasser Ausnahmefall liegt hier aber ersichtlich nicht vor. Weshalb sich der Kläger im Verlauf der fünfwöchigen Rehabilitationsmaßnahme in einer "kritischen" Situation befunden haben soll, ist nicht nachvollziehbar.

50

5. Da der Kläger länger als acht, aber noch keine zehn Jahre bei der Beklagten beschäftigt war, betrug die gesetzliche Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 Ziff. 3 BGB drei Monate zum Ende eines Kalendermonats. Diese Frist hat die Beklagte gewahrt.

51

6. Der nur in erster Instanz anhängige Weiterbeschäftigungsantrag war unbegründet, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28.04. mit Ablauf des 31.07.2014 aufgelöst worden ist.

III.

52

Der Kläger hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen.

53

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

(1) Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Die Leistung soll sie befähigen, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich wahrnehmen zu können.

(2) Besondere Aufgabe der medizinischen Rehabilitation ist es, eine Beeinträchtigung nach § 99 Absatz 1 abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder die Leistungsberechtigten soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen.

(3) Besondere Aufgabe der Teilhabe am Arbeitsleben ist es, die Aufnahme, Ausübung und Sicherung einer der Eignung und Neigung der Leistungsberechtigten entsprechenden Beschäftigung sowie die Weiterentwicklung ihrer Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit zu fördern.

(4) Besondere Aufgabe der Teilhabe an Bildung ist es, Leistungsberechtigten eine ihren Fähigkeiten und Leistungen entsprechende Schulbildung und schulische und hochschulische Aus- und Weiterbildung für einen Beruf zur Förderung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen.

(5) Besondere Aufgabe der Sozialen Teilhabe ist es, die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Werden Menschen mit Behinderungen in ihren Rechten nach diesem Buch verletzt, können an ihrer Stelle und mit ihrem Einverständnis Verbände klagen, die nach ihrer Satzung Menschen mit Behinderungen auf Bundes- oder Landesebene vertreten und nicht selbst am Prozess beteiligt sind. In diesem Fall müssen alle Verfahrensvoraussetzungen wie bei einem Rechtsschutzersuchen durch den Menschen mit Behinderungen selbst vorliegen.

(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.

(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Die Kündigung ist auch sozial ungerechtfertigt, wenn

1.
in Betrieben des privaten Rechts
a)
die Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes verstößt,
b)
der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann
und der Betriebsrat oder eine andere nach dem Betriebsverfassungsgesetz insoweit zuständige Vertretung der Arbeitnehmer aus einem dieser Gründe der Kündigung innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes schriftlich widersprochen hat,
2.
in Betrieben und Verwaltungen des öffentlichen Rechts
a)
die Kündigung gegen eine Richtlinie über die personelle Auswahl bei Kündigungen verstößt,
b)
der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in derselben Dienststelle oder in einer anderen Dienststelle desselben Verwaltungszweigs an demselben Dienstort einschließlich seines Einzugsgebiets weiterbeschäftigt werden kann
und die zuständige Personalvertretung aus einem dieser Gründe fristgerecht gegen die Kündigung Einwendungen erhoben hat, es sei denn, daß die Stufenvertretung in der Verhandlung mit der übergeordneten Dienststelle die Einwendungen nicht aufrechterhalten hat.
Satz 2 gilt entsprechend, wenn die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen oder eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Arbeitsbedingungen möglich ist und der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat. Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen.

(3) Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des Absatzes 2 gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. In die soziale Auswahl nach Satz 1 sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen.

(4) Ist in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes oder in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte nach Absatz 3 Satz 1 im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die Bewertung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.

(5) Sind bei einer Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 des Betriebsverfassungsgesetzes die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet, so wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des Absatzes 2 bedingt ist. Die soziale Auswahl der Arbeitnehmer kann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht, soweit sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat. Der Interessenausgleich nach Satz 1 ersetzt die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2.

(1) Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten und des öffentlichen Rechts, vorbehaltlich der Vorschriften des § 24 für die Seeschiffahrts-, Binnenschiffahrts- und Luftverkehrsbetriebe. Die Vorschriften des Ersten Abschnitts gelten mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden. In Betrieben und Verwaltungen, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden, gelten die Vorschriften des Ersten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat; diese Arbeitnehmer sind bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach Satz 2 bis zur Beschäftigung von in der Regel zehn Arbeitnehmern nicht zu berücksichtigen. Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach den Sätzen 2 und 3 sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.

(2) Die Vorschriften des Dritten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten Rechts sowie für Betriebe, die von einer öffentlichen Verwaltung geführt werden, soweit sie wirtschaftliche Zwecke verfolgen.

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Schlussurteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. April 2016 - 10 Sa 887/15, 10 Sa 2231/15 - aufgehoben.

2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Potsdam vom 23. April 2015 - 7 Ca 300/14 - wird auch insoweit zurückgewiesen, wie über sie nicht durch das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 22. Oktober 2015 - 10 Sa 887/15, 10 Sa 932/15 - entschieden ist.

3. Die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz tragen die Beklagte zu 61 % und der Kläger zu 39 %. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit mehrerer ordentlicher Kündigungen.

2

Die Beklagte ist eine konzernunabhängige Fondsgesellschaft. Sie unterhält zwei Betriebsstätten in H und M. Der Kläger war bei ihr bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit Juli 2011 als Vertriebsleiter beschäftigt.

3

Bei der Beklagten waren im Februar/März 2014 neben dem Kläger insgesamt acht Mitarbeiter in Vollzeit sowie ein Mitarbeiter mit neun Arbeitsstunden wöchentlich beschäftigt. Darüber hinaus war im H Büro eine Mitarbeiterin als Leiterin Fondsmanagement tätig, deren Beschäftigungsumfang zwischen den Parteien streitig gewesen ist. Arbeitsvertraglich war zwischen ihr und der Beklagten eine Arbeitszeit von 15 Stunden wöchentlich, mit Wirkung ab März 2014 von 18 Stunden wöchentlich vereinbart. Mit ihrem Gehalt sollten monatlich bis zu acht Überstunden abgegolten sein.

4

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 6. Februar, 21. Februar und 4. März 2014 jeweils außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30. September 2014.

5

Gegen diese Kündigungen hat sich der Kläger mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage gewandt und weitere Ansprüche erhoben. Durch mittlerweile rechtskräftig gewordenes Teilurteil des Landesarbeitsgerichts steht ua. fest, dass die außerordentlichen Kündigungen das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst haben. Bezogen auf die von der Beklagten hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigungen hat der Kläger geltend gemacht, sie seien sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Das Kündigungsschutzgesetz finde Anwendung. Die Beklagte betreibe einen einheitlichen Betrieb mit regelmäßig mehr als zehn Beschäftigten. Die Leiterin Fondsmanagement arbeite tatsächlich mehr als 20 Stunden wöchentlich.

6

Der Kläger hat, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 6. Februar 2014, 21. Februar 2014 und 4. März 2014 aufgelöst worden ist.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, hilfsweise das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen. Sie hat gemeint, der betriebliche Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes sei nicht eröffnet. Bei den beiden Betriebsstätten in H und M handele es sich um eigenständige Betriebe, in denen jeweils deutlich weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigt seien.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage in Bezug auf die ordentlichen Kündigungen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben und den Auflösungsantrag der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Diese ist unbegründet. Das kann der Senat selbst abschließend entscheiden.

10

I. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Rechtswirksamkeit der von der Beklagten hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigungen vom 6. Februar 2014, 21. Februar 2014 und 4. März 2014 sowie der darauf bezogene Auflösungsantrag der Beklagten. Die Revision ist insoweit vom Landesarbeitsgericht, entgegen der Auffassung des Klägers, ohne Beschränkung auf einen abtrennbaren Teil des Streitgegenstandes zugelassen worden.

11

II. Der Kündigungsschutzantrag ist unbegründet. Bereits die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 6. Februar 2014 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30. September 2014 aufgelöst. Der erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes fand gem. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine Anwendung. Andere Gründe für eine Unwirksamkeit der Kündigung als ihre mangelnde soziale Rechtfertigung iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG hat der Kläger nicht geltend gemacht. Auf die Wirksamkeit der weiteren Kündigungen zum 30. September 2014 kommt es demnach nicht mehr an.

12

1. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Mitarbeiterin B sei bei der Anzahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer gem. § 23 Abs. 1 Satz 4 KSchG mit einem Wert von mehr als 0,5 zu zählen. Das Berufungsgericht ist dabei von unzutreffenden Grundsätzen für die Verteilung der Beweislast ausgegangen. Es hat dahinstehen lassen, wie viele Stunden wöchentlich Frau B tatsächlich für die Beklagte erbracht hat und es für ausreichend gehalten, dass die Beklagte nicht bewiesen habe, dies seien regelmäßig nur 20 oder weniger Stunden gewesen. Bereits dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Berufungsurteils. Für das Überschreiten des Schwellenwertes gem. § 23 Abs. 1 Satz 2 bzw. Satz 3 KSchG trägt der Arbeitnehmer die Beweislast. Einer größeren Sachnähe des Arbeitgebers und etwaigen Beweisschwierigkeiten des Arbeitnehmers ist durch eine abgestufte Darlegungslast Rechnung zu tragen (im Einzelnen BAG 23. Oktober 2008 - 2 AZR 131/07 - Rn. 29 f.; 26. Juni 2008 - 2 AZR 264/07 - Rn. 15 ff., BAGE 127, 102). An dieser Auffassung hält der Senat fest. Das angefochtene Urteil enthält keine Argumente, mit denen sich der Senat nicht bereits auseinandergesetzt hat.

13

2. Es kann dahinstehen, ob der Senat selbst abschließend entscheiden könnte, dass der Kläger auch nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast keine hinreichenden Anhaltspunkte vorgetragen hat, die entgegen dem Vorbringen der Beklagten für einen regelmäßigen Beschäftigungsumfang von Frau B von mehr als 20 Stunden wöchentlich sprachen. Der Kläger hat jedenfalls nicht in der erforderlichen Weise dargelegt, dass die Betriebsstätten der Beklagten in H und M einen einheitlichen Betrieb iSd. § 23 Abs. 1 KSchG bildeten. Der Schwellenwert gem. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG war in den Betriebsstätten für sich genommen selbst bei voller Berücksichtigung der Mitarbeiterin B unstreitig jeweils nicht erreicht. Mit dem von ihm nicht in ausreichender Weise bestrittenen und damit gem. § 138 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO als zugestanden geltenden Vorbringen der Beklagten ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich bei den Betriebsstätten in H und M um eigenständige Betriebe iSd. § 23 Abs. 1 KSchG handelte. Besondere Umstände, die in verfassungskonformer Auslegung von § 23 Abs. 1 KSchG ausnahmsweise ein Abstellen auf die Unternehmensgröße erforderten, sind weder vorgetragen noch objektiv ersichtlich.

14

a) Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gelten in Betrieben, in denen in der Regel nicht mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden, die Vorschriften des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes mit Ausnahme von dessen §§ 4 bis 7, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis - wie hier - nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat.

15

b) § 23 Abs. 1 KSchG enthält ebenso wie das gesamte Kündigungsschutzgesetz keine eigene Definition des Betriebsbegriffs. Es gilt daher im Wesentlichen derjenige des § 1 BetrVG. Danach ist der Betrieb die organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln, mit deren Hilfe der Arbeitgeber allein oder in Gemeinschaft mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt, der nicht nur in der Befriedigung von Eigenbedarf liegt (zuletzt BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - Rn. 12). Dies setzt einen einheitlichen organisatorischen Einsatz der Sachmittel und Personalressourcen voraus. Die einen Betrieb konstituierende Leitungsmacht wird dabei dadurch bestimmt, dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten von derselben institutionalisierten Leitung im Wesentlichen selbstständig ausgeübt wird. Entscheidend ist, wo schwerpunktmäßig über Arbeitsbedingungen und Organisationsfragen entschieden wird und in welcher Weise Einstellungen, Entlassungen und Versetzungen vorgenommen werden (BAG 7. Juli 2011 - 2 AZR 476/10 - Rn. 36; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 16). Entsprechend der Unterscheidung zwischen „Betrieb“ und „Unternehmen“ in § 1 Abs. 1 KSchG ist der Betriebsbegriff auch in § 23 Abs. 1 KSchG nicht mit dem des Unternehmens gleichzusetzen(BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - Rn. 12; 17. Januar 2008 - 2 AZR 902/06 - Rn. 15 f., BAGE 125, 274). Dies ist verfassungsrechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B II 4 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169).

16

c) Der Betriebsbegriff ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Bei der Beurteilung, ob eine Organisationseinheit ein Betrieb, ein selbständiger oder ein unselbständiger Betriebsteil ist, steht dem Gericht der Tatsacheninstanz ein Beurteilungsspielraum zu. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts ist nur daraufhin überprüfbar, ob es den Rechtsbegriff selbst verkannt, gegen Denkgesetze, anerkannte Auslegungsgrundsätze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände außer Acht gelassen hat (BAG 13. Februar 2013 - 7 ABR 36/11 - Rn. 31; 18. Januar 2012 - 7 ABR 72/10 - Rn. 28).

17

d) Die angefochtene Entscheidung hält selbst diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab nicht stand. Das Landesarbeitsgericht hat dem Erfordernis einer einheitlichen Leitungsmacht als Voraussetzung einer betrieblichen Einheit nicht die zutreffende Bedeutung beigemessen. Die von ihm gewürdigten Tatsachen rechtfertigen nicht die Annahme, die beiden Betriebsstätten der Beklagten in H und M hätten im Zeitpunkt der Kündigung unter einer einheitlichen institutionalisierten Leitung in Bezug auf den Kern der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten gestanden.

18

aa) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lassen weder eine „gemeinsame Telefonanlage“ noch die in einem Fragebogen dargestellte enge Verbindung zwischen dem Fondsmanagement in H und dem Fondsrechnungswesen in M oder das Abhalten einer regelmäßigen montäglichen Telefonkonferenz zwischen beiden Standorten darauf schließen, die wesentlichen Entscheidungen in personellen oder sozialen Angelegenheiten würden von einer einheitlichen Leitung getroffen.

19

bb) Soweit das Landesarbeitsgericht darauf abgestellt hat, die „internen Angelegenheiten des Klägers“ wie Urlaubsanträge, Reisekostenabrechnungen und Mobilfunkrechnungen seien unmittelbar in M „bearbeitet“ worden, ist nicht festgestellt, worin diese „Bearbeitung“ bestanden haben soll. Insbesondere hat das Landesarbeitsgericht nicht etwa angenommen, über die Urlaubsanträge sei von einer einheitlichen Leitung in M entschieden worden.

20

cc) Das Landesarbeitsgericht hat auch sonst keine solchen „Verzahnungen“ der beiden Betriebsstätten festgestellt, die auf die Ausübung des Kerns der Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten durch eine einheitliche Leitung schließen ließen.

21

e) Einer Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht bedarf es nicht. Der Senat kann selbst abschließend entscheiden, dass das Vorbringen der Parteien nicht die Annahme gestattet, die Betriebsstätten der Beklagten in H und M bildeten einen einheitlichen Betrieb iSd. § 23 Abs. 1 KSchG.

22

aa) Nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungs- und Beweislast (dazu Rn. 12) dürfen an die Darlegungslast des Arbeitnehmers zur betrieblichen Organisation keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Es reicht in der Regel aus, wenn dieser die äußeren Umstände schlüssig darlegt, die für die Annahme sprechen, dass die Betriebsstätte, in der er beschäftigt ist, über keinen eigenständigen Leitungsapparat verfügt, diese vielmehr zentral gelenkt wird. Hat der Arbeitnehmer schlüssig derartige Umstände behauptet, hat der Arbeitgeber hierauf gem. § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen zu erklären, welche rechtserheblichen Umstände gegen die Annahme eines einheitlichen Leitungsapparates für mehrere Betriebsstätten sprechen. Nach dem Prinzip der Sachnähe ist regelmäßig nur der Arbeitgeber in der Lage, nähere Auskunft über die betrieblichen Führungsstrukturen zu geben (BAG 15. März 2001 - 2 AZR 151/00 - zu II 1 c der Gründe).

23

bb) Selbst unterstellt, der Kläger sei auf der ersten Stufe seiner Darlegungslast für einen einheitlichen Betrieb noch nachgekommen, ist die Beklagte dem in erheblicher Weise entgegengetreten. Sie hat im Einzelnen Umstände vorgetragen, aus denen sich eine organisatorisch eigenständige Leitung der beiden Betriebsstätten in den wesentlichen personellen und sozialen Angelegenheiten ergibt. Die von der Beklagten behaupteten Tatsachen hat der Kläger weder konkret bestritten noch hat er substantiierten Gegenvortrag zur Darlegung einer einheitlichen Leitungsmacht gehalten. Er hat sich auch nicht darauf berufen, ihm habe insofern die eigene Kenntnis gefehlt. Sein demnach gem. § 138 Abs. 2 ZPO nicht hinreichend substantiiertes Bestreiten führt dazu, dass das Vorbringen der Beklagten nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt. Diese Würdigung kann der Senat selbst vornehmen. Ob ein Bestreiten ausreichend ist, unterliegt selbst ohne Rüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht (zu § 138 Abs. 4 ZPO vgl. BGH 10. Oktober 1994 - II ZR 95/93 - zu 3 d der Gründe).

24

(1) Die Beklagte hat mit dem vom Landesarbeitsgericht in Bezug genommenen Schriftsatz vom 14. Dezember 2015 behauptet, die Entscheidungen über Einstellungen, Entlassungen, Versetzungen und Urlaubsgewährung treffe für die Betriebsstätte in H der für diese zuständige Geschäftsführer V und für den Standort M der dortige Geschäftsführer H. Auch Personalgespräche und Personalbeurteilungen führe der jeweils zuständige Geschäftsführer durch. Ebenso werde über Arbeitsbedingungen und Organisationsfragen am jeweiligen Standort entschieden.

25

(2) Der Kläger ist diesem Vorbringen nicht in erheblicher Weise entgegengetreten. Er hat die von der Beklagten behaupteten Zuständigkeiten der Geschäftsführer in den personellen und sozialen Angelegenheiten des jeweiligen Standorts nicht konkret bestritten. Soweit er geltend gemacht hat, es gebe nicht zwei Betriebe, es existierten auch nicht zwei klar getrennte Aufgabenbereiche, der Vortrag über die „gekünstelt dargestellte“ vorgebliche Aufgabenverteilung werde als unzutreffend in Abrede gestellt, liegt darin kein substantiiertes Bestreiten. Dies gilt auch, soweit der Kläger behauptet hat, der Geschäftsführer H habe sich ebenso für Vertriebsaktivitäten verantwortlich gefühlt und beide Geschäftsführer hätten „auch parallele Aktionen“ durchgeführt, entsprechend hätten in der Vergangenheit seine Ansprechpartner in der Geschäftsführung gewechselt. Dies spricht zwar möglicherweise für eine unternehmerische Befassung auch des Geschäftsführers H mit Vertriebsaktivitäten, nicht aber gegen die von der Beklagten behauptete eigenständige Leitungsmacht der beiden Geschäftsführer in den jeweiligen personellen und sozialen Angelegenheiten „ihres“ Standorts. Der Kläger hat sich auch nicht darauf berufen, er könne sich hierzu mangels eigener Kenntnis nicht näher einlassen. Soweit er seine eigene organisatorische Anbindung an die H Betriebsstätte bestreitet, fehlt es an ausreichendem Tatsachenvortrag, woraus sich stattdessen seine Zuordnung zur M Betriebsstätte ergeben soll. Aus der Formulierung im Arbeitsvertrag, dass er am Sitz der Gesellschaft an zwei Tagen im Monat persönlich verfügbar sein müsse, folgt dies jedenfalls nicht. Unerheblich ist auch sein Vorbringen zum Firmensitz der Beklagten sowie ihrer Eintragung im Handelsregister. Weshalb sich schließlich aus den gesetzlichen Vorgaben des Investmentgesetzes ergeben soll, dass die von der Beklagten behauptete Struktur mit zwei eigenständigen Betrieben unzulässig sei, wird weder aus dem Vortrag des Klägers deutlich, noch ist dies objektiv ersichtlich.

26

f) Für eine vom Gesetzeswortlaut abweichende Berechnung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl iSd. § 23 Abs. 1 KSchG besteht im Streitfall kein Anlass. Es ist nicht ausnahmsweise geboten, auf die Unternehmensgröße der Beklagten abzustellen, weil anderenfalls eine mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr zu vereinbarende Ungleichbehandlung der Mitarbeiter ihrer Betriebe mit den Arbeitnehmern in einem nicht in mehrere betriebliche Einheiten gegliederten Unternehmen vorläge.

27

aa) Der Betriebsbezug des § 23 Abs. 1 KSchG ist verfassungsrechtlich unbedenklich, solange dadurch nicht angesichts der vom Arbeitgeber geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung von Kleinbetrieben bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und die Bestimmung des Betriebsbegriffs nach herkömmlicher Definition zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer führt(BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B II 4 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169; BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - Rn. 20; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 25). Die Durchbrechung des Betriebsbezugs des Schwellenwerts ist demnach nicht schon immer dann geboten, wenn sich das Unternehmen zwar in mehrere kleine, organisatorisch verselbständigte Einheiten gliedert, insgesamt aber mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Das liefe auf eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte generelle Gleichsetzung von Betrieb und Unternehmen hinaus und berücksichtigte nicht, dass auch das Bundesverfassungsgericht lediglich von Einzelfällen ausgegangen ist, die dem gesetzgeberischen Leitbild nicht entsprächen (BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - aaO; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 24). Die Anwendung der Kleinbetriebsklausel ist auch nicht schon dann ausgeschlossen, wenn die als „Betrieb“ im kündigungsschutzrechtlichen Sinne zu verstehende Einheit nicht sämtliche vom Bundesverfassungsgericht als charakteristisch benannten Merkmale eines Kleinbetriebs erfüllt. Dieses hat lediglich typologisch Gesichtspunkte angeführt, die für einen Kleinbetrieb bezeichnend sind (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B I 3 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169), ohne dass diese wie tatbestandliche Voraussetzungen einer Norm zu behandeln wären. Maßgeblich ist vielmehr eine alle Umstände des Einzelfalls einbeziehende, wertende Gesamtbetrachtung dahingehend, ob die Anwendung der Kleinbetriebsklausel nach Maßgabe des allgemeinen Betriebsbegriffs unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse dem mit ihr verbundenen Sinn und Zweck (noch) gerecht wird (BAG 19. Juli 2016 - 2 AZR 468/15 - aaO; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - aaO).

28

bb) Danach sind Umstände weder vorgetragen noch objektiv ersichtlich, die die Annahme rechtfertigten, dass sich die enge Zusammenarbeit der am jeweiligen Standort beschäftigten Arbeitnehmer wesentlich von der in einem typischen Kleinbetrieb unterschiede, dass sich also etwa die Persönlichkeit und der Leistungsbeitrag eines jeden einzelnen Beschäftigten nicht in einer solchen Weise unmittelbar auf das Betriebsklima und die Funktionsfähigkeit der jeweils in H und M gelegenen betrieblichen Einheiten auswirkte, wie dies für einen Kleinbetrieb typischerweise anzunehmen ist. Auch für eine missbräuchliche, allein auf die Verhinderung des Entstehens allgemeinen Kündigungsschutzes der Beschäftigten gerichtete willkürliche Zersplitterung des Unternehmens der Beklagten in mehrere eigenständige Einheiten gibt es keine Anhaltspunkte.

29

III. Der Auflösungsantrag der Beklagten fällt nicht zur Entscheidung an. Er ist nur hilfsweise für den Fall des Unterliegens der Beklagten mit dem Klageabweisungsantrag gestellt.

30

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 1 Satz 1, § 97 Abs. 1, § 269 Abs. 3 ZPO.

        

    Koch     

        

    Berger     

        

    Rachor     

        

        

        

    Alex     

        

    Sieg     

                 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 7. Mai 2015 - 9 Sa 1036/14 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

2

Der Kläger war seit Juli 2007 als Sales- und Marketingmanager zunächst bei einer Schwestergesellschaft der Beklagten beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde ab Juli 2009 mit der Beklagten fortgeführt. Diese erwarb von ihrer Schwestergesellschaft neben deren Betrieb in F eine im Handelsregister als selbständige Niederlassung eingetragene Betriebsstätte in der Schweiz. Deren Leiter ist für die Einstellung und Entlassung des Personals der Niederlassung verantwortlich. Zwei bei der Schweizer Niederlassung angestellte Mitarbeiter haben ihren Wohnsitz in Deutschland.

3

Die Beklagte kündigte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 28. Oktober 2013 zum 31. Dezember 2013. Zum Zeitpunkt der Kündigung beschäftigte sie in ihrem Betrieb in F neben dem Kläger neun weitere Arbeitnehmer.

4

Die Beklagte suchte im März 2014 über das Internet für ihre in F gelegene Niederlassung einen „Sales Assistant“.

5

Gegen die Kündigung hat der Kläger rechtzeitig die vorliegende Klage erhoben. Die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Das Kündigungsschutzgesetz finde Anwendung. Die in der Schweizer Niederlassung beschäftigten Arbeitnehmer seien bei der Bemessung der Arbeitnehmerzahl der Hauptniederlassung zu berücksichtigen. Jedenfalls habe er einen Anspruch auf Wiedereinstellung als „Sales Assistant“.

6

Der Kläger hat beantragt,

        

1.    

festzustellen, dass die Kündigung der Beklagten vom 28. Oktober 2013 das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat;

        

2.    

die Beklagte zu verurteilen, ihn für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung als Sales & Marketing Manager zu beschäftigen;

        

3.    

für den Fall des Unterliegens mit dem Kündigungsschutzantrag die Beklagte zu verurteilen, sein Angebot auf Wiedereinstellung mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 als Sales Assistent zu den bei der Beklagten üblichen Arbeitsbedingungen mit einer Jahresvergütung in Höhe von 95.000,00 Euro unter Anrechnung einer Betriebszugehörigkeit seit dem 1. Juli 2007 anzunehmen.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die beiden vom Kläger benannten Mitarbeiter der Schweizer Niederlassung erhielten ihre Arbeitsanweisungen von deren Leiter. Sie suchten nur gelegentlich aus geschäftlichen Anlässen den Betrieb in F auf.

8

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen.

10

I. Die Kündigungsschutzklage ist unbegründet. Die Kündigung ist nicht sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG. Der Kläger war im Kündigungszeitpunkt nicht in einem Betrieb beschäftigt, für den gem. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes Anwendung fand. Andere Unwirksamkeitsgründe hat er gegenüber der streitgegenständlichen Kündigung nicht geltend gemacht.

11

1. Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gelten in Betrieben, in denen in der Regel nicht mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden, die Vorschriften des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes mit Ausnahme von dessen §§ 4 bis 7, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis - wie hier - nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat.

12

2. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG enthält ebenso wie das gesamte Kündigungsschutzgesetz keine Definition des Betriebsbegriffs. Für §§ 1, 15 und 17 KSchG gilt daher im Wesentlichen der Betriebsbegriff iSd. § 1 BetrVG. Danach ist der Betrieb die organisatorische Einheit von Arbeitsmitteln, mit deren Hilfe der Arbeitgeber allein oder in Gemeinschaft mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen Mitteln einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolgt, der nicht nur in der Befriedigung von Eigenbedarf liegt. Mangels entgegenstehender Hinweise ist davon auszugehen, dass der Betriebsbegriff im gesamten Kündigungsschutzgesetz einheitlich gebraucht wird. Entsprechend der Unterscheidung zwischen „Betrieb“ und „Unternehmen“ in § 1 Abs. 1 KSchG ist er auch in § 23 Abs. 1 KSchG nicht mit dem des Unternehmens gleichzusetzen(BAG 17. Januar 2008 - 2 AZR 902/06 - Rn. 15 f., BAGE 125, 274). Dies ist verfassungsrechtlich im Grundsatz nicht zu beanstanden (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B II 4 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169).

13

3. Die Darlegungs- und Beweislast für die betrieblichen Geltungsvoraussetzungen nach § 23 Abs. 1 KSchG trägt grundsätzlich der Arbeitnehmer. Etwaigen Schwierigkeiten, die sich mangels eigener Kenntnismöglichkeiten ergeben, ist durch die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast Rechnung zu tragen (BAG 24. Januar 2013 - 2 AZR 140/12 - Rn. 27, BAGE 144, 222).

14

4. Danach ist der betriebliche Geltungsbereich gem. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG im Streitfall nicht eröffnet. Die Beklagte beschäftigte im Zeitpunkt der Kündigung in ihrem Betrieb in F nicht mehr als zehn Arbeitnehmer. Es ist weder aus dem Vorbringen des Klägers noch objektiv ersichtlich, dass außer den - einschließlich des Klägers - unstreitig dort beschäftigten zehn Arbeitnehmern noch mindestens ein weiterer Mitarbeiter der Schweizer Niederlassung dem Betrieb in F zuzurechnen wäre.

15

a) Der Kläger hat behauptet, die beiden von ihm benannten Mitarbeiter würden „in der Hauptniederlassung beschäftigt und von Deutschland aus den gesamten europäischen Markt bearbeiten“. Einen auf ihre Eingliederung in den F Betrieb gerichteten substantiierten Tatsachenvortrag hat er indes nicht gehalten. Nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vorbringen der Beklagten suchen die beiden Mitarbeiter den Betrieb in F lediglich gelegentlich im Rahmen von Meetings und Präsentationen auf. Dies genügt nicht, um sie bei der Bestimmung der Betriebsgröße mitzuzählen. Sie müssten vielmehr in die dortige betriebliche Struktur eingebunden sein. Dafür wäre zumindest erforderlich, dass sie ihre Tätigkeit für den Betrieb in F erbringen und die Weisungen zu ihrer Durchführung im Wesentlichen von dort erhalten (zur Einbindung in die Struktur einer betrieblichen Einheit BAG 24. August 2006 - 8 AZR 556/05 - Rn. 28). An einem darauf bezogenen Vorbringen des Klägers fehlt es jedoch.

16

b) Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen gegen die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, die benannten Mitarbeiter mit Wohnsitz in Deutschland seien bei der Schweizer Niederlassung angestellt, greifen nicht durch. Sie richten sich gegen tatbestandliche Feststellungen, die nicht mit einer Verfahrensrüge in der Revision, sondern nur mit einem Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO bekämpft werden könnten(BAG 2. Mai 2014 - 2 AZR 490/13 - Rn. 24). Einen solchen hat der Kläger nicht gestellt. Der Senat ist daher gem. § 559 ZPO an die Feststellungen im Berufungsurteil gebunden. Selbst bei einem Widerspruch zwischen diesen und dem Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze ginge der Tatbestand des Berufungsurteils vor (BGH 8. Januar 2007 - II ZR 334/04 - Rn. 11).

17

c) Nach den nicht mit beachtlichen Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts handelt es sich bei der Schweizer Niederlassung - unbeschadet ihres im Ausland gelegenen Geschäftssitzes - nicht um einen unselbständigen Betriebsteil der F Hauptniederlassung. Die in der Schweiz gelegene Betriebsstätte ist organisatorisch eigenständig. Sie verfügt über eine selbständige Verwaltung und Lohnbuchhaltung. Ihr Niederlassungsleiter nimmt die Einstellung und Entlassung des dort beschäftigten Personals eigenverantwortlich wahr.

18

d) Auf die Frage, ob auf das Arbeitsverhältnis der vom Kläger benannten Mitarbeiter der Schweizer Niederlassung entgegen der getroffenen Rechtswahl deutsches Recht Anwendung findet, kommt es danach nicht an. Dies gilt gleichermaßen für die Behauptung des Klägers, einer der dort beschäftigten Mitarbeiter verfüge über ein „Home-Office“ in Deutschland.

19

5. Eine Zusammenrechnung der Arbeitnehmer beider Niederlassungen ist - unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen Mitarbeiter einer ausländischen Niederlassung bei der Bestimmung der Betriebsgröße iSd. § 23 Abs. 1 KSchG Berücksichtigung finden könnten - nicht deshalb geboten, weil anderenfalls eine mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr zu vereinbarende Ungleichbehandlung der Mitarbeiter der F Niederlassung mit den Arbeitnehmern in einem nicht in mehrere betriebliche Einheiten gegliederten Unternehmen vorläge.

20

a) § 23 Abs. 1 KSchG stellt weiterhin auf die Betriebs- und nicht auf die Unternehmensgröße ab. Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich, solange dadurch nicht angesichts der vom Arbeitgeber geschaffenen konkreten Organisation die gesetzgeberischen Erwägungen für die Privilegierung des Kleinbetriebs bei verständiger Betrachtung ins Leere gehen und die Bestimmung des Betriebsbegriffs nach herkömmlicher Definition zu einer sachwidrigen Ungleichbehandlung betroffener Arbeitnehmer führte (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B II 4 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169; BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 25; APS/Moll 4. Aufl. § 23 KSchG Rn. 41; Falder NZA 1998, 1254, 1257). Der Betriebsbezug des Schwellenwerts ist demnach nicht schon immer dann zu durchbrechen, wenn sich das Unternehmen zwar in mehrere kleine, organisatorisch verselbständigte Einheiten gliedert, insgesamt aber mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt (aA Gragert/Kreutzfeldt NZA 1998, 567, 569; Kittner NZA 1998, 731). Das liefe auf eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte generelle Gleichsetzung von Betrieb und Unternehmen hinaus und berücksichtigte nicht, dass auch das Bundesverfassungsgericht lediglich von Einzelfällen ausgegangen ist, die dem gesetzgeberischen Leitbild nicht entsprächen (BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - Rn. 24; vHH/L KSchG 15. Aufl. § 23 Rn. 36). Die Anwendung der Kleinbetriebsklausel ist auch nicht schon dann ausgeschlossen, wenn die als „Betrieb“ im kündigungsschutzrechtlichen Sinne zu verstehende Einheit nicht sämtliche vom Bundesverfassungsgericht als charakteristisch benannten Merkmale eines Kleinbetriebs erfüllt. Dieses hat lediglich typologisch Gesichtspunkte angeführt, die für einen Kleinbetrieb bezeichnend sind (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B I 3 b bb der Gründe, BVerfGE 97, 169), ohne dass diese wie tatbestandliche Voraussetzungen einer Norm zu behandeln wären. Maßgeblich ist vielmehr eine alle Umstände des Einzelfalls einbeziehende, wertende Gesamtbetrachtung dahingehend, ob die Anwendung der Kleinbetriebsklausel nach Maßgabe des allgemeinen Betriebsbegriffs unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse dem mit ihr verbundenen Sinn und Zweck (noch) gerecht wird (BAG 28. Oktober 2010 - 2 AZR 392/08 - aaO; 13. Juni 2002 - 2 AZR 327/01 - zu II 1 d der Gründe, BAGE 101, 321).

21

b) Danach wäre im Streitfall selbst dann nicht auf die Unternehmensgröße der Beklagten abzustellen, wenn es sich bei der Niederlassung in der Schweiz um einen eigenständigen, im Inland gelegenen Betrieb handelte. Es ist weder vorgetragen noch objektiv ersichtlich, dass sich aufgrund der gelegentlichen Anwesenheit von Mitarbeitern der Schweizer Niederlassung zu Meetings und Präsentationen in F die enge Zusammenarbeit der dort beschäftigten Arbeitnehmer wesentlich von der in einem typischen Kleinbetrieb unterschiede, dass sich also etwa die Persönlichkeit und der Leistungsbeitrag eines jeden einzelnen Beschäftigten nicht in einer solchen Weise unmittelbar auf das Betriebsklima und die Funktionsfähigkeit der in F gelegenen betrieblichen Einheit auswirkte, wie dies für einen Kleinbetrieb typischerweise anzunehmen ist.

22

c) Für eine missbräuchliche, allein auf die Verhinderung des Entstehens allgemeinen Kündigungsschutzes der Beschäftigten gerichtete willkürliche Zersplitterung des Unternehmens der Beklagten in mehrere eigenständige Einheiten bestehen keine Anhaltspunkte.

23

6. Soweit der Kläger geltend gemacht hat, die Beklagte habe ihre Beschäftigtenzahl nur vorübergehend abgesenkt, hat er Umstände, aufgrund derer sich ergäbe, die Zahl der im Betrieb in F „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer liege höher als im Zeitpunkt der Kündigung, nicht vorgetragen. Sie sind auch objektiv nicht ersichtlich.

24

II. Den Wiedereinstellungsantrag hat das Landesarbeitsgericht zu Recht zurückgewiesen. Selbst wenn ein Anspruch auf Wiedereinstellung trotz wirksamer Kündigung - ausnahmsweise - auch in einem Kleinbetrieb nach § 242 BGB in Betracht käme, gibt es im Streitfall keine Anhaltspunkte für ein treuwidriges Verhalten der Beklagten. Die vom Kläger in Bezug genommene Stellenausschreibung aus dem März 2014 bezog sich auf eine andere Tätigkeit als die von ihm zuvor ausgeübte. Seinem Vorbringen ist auch nicht zu entnehmen, dass eine Beschäftigungsmöglichkeit bereits in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 31. Dezember 2013 bestanden hat.

25

III. Der als unechter Hilfsantrag nur für den Fall des Obsiegens mit dem Kündigungsschutzantrag gestellte Antrag des Klägers auf vorläufige Weiterbeschäftigung fällt dem Senat nicht zur Entscheidung an.

26

IV. Als unterlegene Partei hat der Kläger gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

        

    Koch     

        

    Berger    

        

    Rachor    

        

        

        

    Söller    

        

    A. Claes    

                 

(1) Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten und des öffentlichen Rechts, vorbehaltlich der Vorschriften des § 24 für die Seeschiffahrts-, Binnenschiffahrts- und Luftverkehrsbetriebe. Die Vorschriften des Ersten Abschnitts gelten mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden. In Betrieben und Verwaltungen, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden, gelten die Vorschriften des Ersten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat; diese Arbeitnehmer sind bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach Satz 2 bis zur Beschäftigung von in der Regel zehn Arbeitnehmern nicht zu berücksichtigen. Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach den Sätzen 2 und 3 sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.

(2) Die Vorschriften des Dritten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten Rechts sowie für Betriebe, die von einer öffentlichen Verwaltung geführt werden, soweit sie wirtschaftliche Zwecke verfolgen.

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 16. Oktober 2015 - 17 Sa 1222/15 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist sowie die Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers.

2

Die Beklagte betreibt öffentlichen Nahverkehr. Der Kläger war bei ihr seit Oktober 1989 als Busfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der Spartentarifvertrag für Nahverkehrsbetriebe (TV-N NW) vom 25. Mai 2001 Anwendung. Nach dessen § 20 Abs. 6 Unterabs. 1 kann das Arbeitsverhältnis nach einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur noch „aus einem wichtigen Grund (§ 626 Abs. 1 BGB)“ gekündigt werden.

3

Die Beklagte schloss mit ihrem Betriebsrat im Jahre 2014 eine Betriebsvereinbarung über den Einsatz des sog. RIBAS-Systems (BV) auf ihren Fahrzeugen. Dieses wertet elektronisch Fahrereignisse aus und informiert die Busfahrer durch eine Warnleuchte über hochtouriges Fahren, Leerlaufzeitüberschreitungen, scharfes Bremsen, überhöhte Beschleunigung und Geschwindigkeitsüberschreitungen. Die Daten werden aufgezeichnet und gespeichert.

4

Nach der BV sind alle Fahrer zur Teilnahme am RIBAS-System verpflichtet. Fahrer, die nicht an dem vorgesehenen personalisierten Berichts- und Prämiensystem teilnehmen wollen, erhalten einen anonymisierten Systemschlüssel. Aufgrund von Einwendungen des Landesdatenschutzbeauftragten hatten die Betriebsparteien die BV entsprechend angepasst.

5

Der Kläger stimmte einer Teilnahme am personalisierten Berichts- und Prämiensystem nicht zu. Ihm wurde Ende August 2014 der anonymisierte RIBAS-Schlüssel zur Nutzung übergeben. Das entsprechende Empfangsbekenntnis sandte er nicht zurück. In einem von der Beklagten veranlassten Gespräch Mitte Oktober 2014 teilte er mit, er habe seinen Teamleiter so verstanden, dass er wählen könne, ob er - überhaupt - an dem System teilnehme.

6

Ende Oktober 2014 führten der Fachbereichsleiter Personal und der Leiter des Omnibusbetriebs ein weiteres Gespräch mit dem Kläger. Sie erläuterten ihm das RIBAS-System und wiesen auf die Beteiligung des Landesdatenschutzbeauftragten hin. Der Kläger wurde aufgefordert, den anonymisierten RIBAS-Schlüssel ab sofort zu verwenden. Dem kam er auch nach einer entsprechenden Schulung nicht nach. Die Beklagte mahnte den Kläger deshalb im Dezember 2014 ab und wies ihn darauf hin, dass er sich zur Vermeidung arbeitsrechtlicher Konsequenzen vor jeder Fahrt im System anzumelden habe.

7

Eine erneute Einweisung in das System lehnte der Kläger ab. Er nutzte seinen RIBAS-Schlüssel im Januar 2015 an sechs Arbeitstagen, an elf Arbeitstagen wiederum nicht. Ende Januar 2015 führte der Kläger ein Gespräch mit seinem Teamleiter. Diesem erklärte er, sich zu der Angelegenheit nicht mehr äußern und sie gerichtlich klären lassen zu wollen.

8

Anfang Februar 2015 erteilte die Beklagte dem Kläger eine weitere Abmahnung. Bei der Übergabe des Schreibens wies sie den Kläger darauf hin, sie erwarte - unabhängig von seiner Ankündigung, eine gerichtliche Klärung herbeizuführen - die Einhaltung des in der BV geregelten Verfahrens. Der Kläger setzte den RIBAS-Schlüssel weiterhin nicht ein. Die Beklagte erteilte ihm deshalb unter dem 26. Februar 2015 eine dritte Abmahnung und forderte ihn noch einmal eindringlich auf, sich vor jedem Dienstantritt im System anzumelden. Beide Schreiben gingen dem Kläger am 4. März 2015 zu. Am 5. und am 6. März 2015 meldete er sich erneut nicht im System an.

9

Die Beklagte hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 10. März 2015 zu ihrer Absicht an, das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, hilfsweise außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist von sechs Monaten zum Schluss eines Kalendervierteljahres zu kündigen. Der Betriebsrat erklärte am Folgetag seine Zustimmung zu den beabsichtigten Kündigungen.

10

Mit Schreiben vom 12. März 2015, das dem Kläger am selben Tag zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich zum 13. März 2015, hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist zum 30. September 2015.

11

Dagegen hat sich der Kläger rechtzeitig mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage gewandt. Er hat gemeint, ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung liege nicht vor. Er sei nicht zur Teilnahme am RIBAS-System verpflichtet gewesen. Die BV sei unwirksam. Er habe nicht schuldhaft gehandelt, sondern sich in einem gut begründeten und vertretbaren Verbotsirrtum befunden. Der Lauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB habe überdies bereits mit seiner Erklärung begonnen, den Schlüssel bis zu einer gerichtlichen Klärung nicht zu bedienen. Die ausgesprochenen Abmahnungen seien zu Unrecht erfolgt und aus seiner Personalakte zu entfernen.

12

Der Kläger hat beantragt,

        

1.    

die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnungen vom 18. Dezember 2014, 5. Februar 2015 und 26. Februar 2015 aus der Personalakte zu entfernen;

        

2.    

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die Kündigung vom 12. März 2015 aufgelöst worden ist.

13

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Kläger sei zur Nutzung des anonymisierten RIBAS-Schlüssels verpflichtet gewesen. Gegen diese Pflicht habe er beharrlich verstoßen. Seine Weigerung habe es ihr unzumutbar gemacht, ihn weiter zu beschäftigen.

14

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die außerordentliche, fristlose Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe

15

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat sein Urteil ordnungsgemäß verkündet (I.) und die außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist zu Recht als wirksam angesehen (II.). Ein Anspruch des Klägers auf Entfernung der ihm erteilten Abmahnungen aus der Personalakte besteht nicht (III.).

16

I. Die Rüge des Klägers, das schriftlich abgefasste Urteil entspreche in Bezug auf den Kündigungsschutzantrag nicht dem verkündeten Urteilstenor, ist unzulässig. Dieser ist ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 16. Oktober 2015 so verkündet worden, wie er auch aus dem schriftlich abgefassten Urteil ersichtlich ist. Nach § 165 Satz 1 ZPO beweist das Protokoll die Beachtung der für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten. Zu diesen gehört gem. § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO die Verkündung des Urteils, die nach § 311 Abs. 2 Satz 1 ZPO ua. durch die Verlesung der Urteilsformel erfolgen kann. Eine Entkräftung des Protokolls ist gem. § 165 Satz 2 ZPO nur durch den Nachweis der Fälschung möglich. Für eine Fälschung des Protokolls hat der Kläger weder hinreichende Umstände vorgetragen noch Mittel zu ihrem Nachweis benannt. Die bloße Behauptung, es sei auch bezüglich der außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist ein der Klage stattgebender Tenor verkündet worden, reicht dazu nicht aus.

17

II. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, für die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist habe ein wichtiger Grund iSd. § 20 Abs. 6 Unterabs. 1 TV-N NW, § 626 Abs. 1 BGB vorgelegen, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

18

1. Nach dem kraft einzelvertraglicher Bezugnahme anwendbaren § 20 Abs. 6 Unterabs. 1 TV-N NW konnte das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Beklagte nur noch aus wichtigem Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB gekündigt werden. Der Kläger war im Zeitpunkt der Kündigung weit mehr als 15 Jahre beschäftigt.

19

2. Die Tarifbestimmung verweist im Zusammenhang mit dem Begriff des wichtigen Grundes auf die Regelung des § 626 Abs. 1 BGB. Deren Verständnis ist deshalb auch für die Auslegung der Tarifnorm maßgebend (vgl. BAG 13. Mai 2015 - 2 AZR 531/14 - Rn. 26; 31. Juli 2014 - 2 AZR 407/13  - Rn. 23 ). Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann.

20

a) Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht ( BAG 13. Mai 2015 - 2 AZR 531/14 - Rn. 28; 31. Juli 2014 - 2 AZR 407/13  - Rn. 2 5). Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegt auch im Verhältnis zu einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis ordentlich nicht gekündigt werden kann, dann vor, wenn es dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - objektiv - nicht zuzumuten ist, den Arbeitnehmer auch nur bis zum Ablauf der (fiktiven) ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen. In diesem Fall wäre eine außerordentliche Kündigung auch dann gerechtfertigt, wenn die ordentliche Kündigung nicht ausgeschlossen wäre (BAG 13. Mai 2015 - 2 AZR 531/14 - Rn. 42).

21

b) Darüber hinaus kann ein pflichtwidriges Verhalten, das bei einem Arbeitnehmer ohne Sonderkündigungsschutz nur eine ordentliche Kündigung rechtfertigen würde, unter Umständen gerade wegen der infolge des Ausschlusses der ordentlichen Kündigung langen Bindungsdauer ebenfalls einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB zur außerordentlichen Kündigung durch den Arbeitgeber darstellen. Zwar wirkt sich der Sonderkündigungsschutz insofern zum Nachteil für den Arbeitnehmer aus. Dies ist jedoch im Begriff des wichtigen Grundes gem. § 626 Abs. 1 BGB angelegt. Dieser richtet sich nach der Zumutbarkeit einer Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses. Zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs muss in einem solchen Fall allerdings zugunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden. Der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber ordentlich nicht gekündigt werden kann, darf im Ergebnis nicht schlechter gestellt sein, als wenn er dem Sonderkündigungsschutz nicht unterfiele (BAG 13. Mai 2015 - 2 AZR 531/14 - Rn. 44; 15. November 2001 - 2 AZR 605/00 - zu II 5 a, b der Gründe, BAGE 99, 331 ).

22

3. Von diesen Grundsätzen ist auch das Landesarbeitsgericht ausgegangen und hat sie ohne Rechtsfehler auf den Streitfall angewandt.

23

a) Der Kläger hat es wiederholt vorsätzlich unterlassen, den für Fahrer, die nicht an dem personalisierten System teilnehmen, vorgesehenen anonymisierten RIBAS-Schlüssel zu verwenden. Er hat dadurch beharrlich seine arbeitsvertragliche Leistungspflicht verletzt. Dies ist „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung iSd. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden.

24

aa) Die Pflicht zur Verwendung des Schlüssels folgt aus § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG iVm. § 4 BV. Nach § 4 Abs. 1 BV ist die Anmeldung eines jeden Fahrers an das RIBAS-System „zwingend erforderlich“. Gem. § 4 Abs. 2 Satz 4 BV bleibt die „Pflicht zur generellen Teilnahme am System“ bestehen, auch wenn der Fahrer seine Zustimmung zur Datenerhebung im personalisierten System nicht erteilt. Dafür erhält der Fahrer nach § 4 Abs. 2 Satz 2 BV einen anonymisierten Schlüssel.

25

bb) Die gem. § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG auch für den Kläger begründete Pflicht zur Teilnahme am RIBAS-System steht mit höherrangigem Recht im Einklang. Sie verletzt insbesondere nicht § 75 Abs. 2 Satz 1 BetrVG iVm. Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG.

26

(1) Zu dem durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht gehört das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses garantiert die Befugnis, selbst über die Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten zu befinden ( BVerfG 11. März 2008 - 1 BvR 2074/05 ua. - BVerfGE 120, 378 ; BAG 21. November 2013 - 2 AZR 797/11 - Rn. 45, BAGE 146, 303). Der Achtung dieses Rechts dient zudem Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) (BAG 21. November 2013 - 2 AZR 797/11 - aaO; BGH 15. Mai 2013 - XII ZB 107/08  - Rn. 14). Die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) über die Anforderungen an eine zulässige Datenverarbeitung konkretisieren und aktualisieren den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Sie regeln, in welchem Umfang im Anwendungsbereich des Gesetzes Eingriffe durch öffentliche oder nichtöffentliche Stellen iSd. § 1 Abs. 2 BDSG in diese Rechtspositionen zulässig sind(vgl. BAG 21. November 2013 - 2 AZR 797/11 - aaO).

27

(2) Danach ist das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung durch die in § 4 BV begründete Verpflichtung, zumindest mithilfe des anonymisierten Schlüssels am RIBAS-System teilzunehmen, nicht verletzt. Zwar hat der Kläger in die damit verbundene Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten nicht iSd. § 4 Abs. 1 BDSG eingewilligt. Diese ist aber gem. § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG und damit durch eine Rechtsvorschrift iSd. § 4 Abs. 1 BDSG gerechtfertigt. Es bedarf demnach keiner Entscheidung, ob auch allein die Regelungen der BV eine die Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung gestattende Rechtsvorschrift iSd. § 4 Abs. 1 BDSG sein können.

28

(a) Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG dürfen personenbezogene Daten eines Beschäftigten für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses ua. dann erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn dies für dessen Durchführung erforderlich ist. Um personenbezogene Daten iSd. § 3 Abs. 1 BDSG handelt es sich auch bei einer zunächst anonymisierten Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung, wenn die Anonymisierung ohne unangemessenen Aufwand aufgehoben werden kann. Es genügt, wie ein Umkehrschluss aus § 3 Abs. 6 BDSG ergibt, dass die betroffene Person ohne besondere Schwierigkeiten bestimmbar ist(Gola/Schomerus BDSG 12. Aufl. § 3 Rn. 10; Simitis/Dammann BDSG 8. Aufl. § 3 Rn. 23; Plath/Schreiber BDSG § 3 Rn. 15; Erbs/Kohlhaas Strafrechtliche Nebengesetze Stand 2015 § 3 BDSG Rn. 3; zum Begriff der personenbezogenen Daten iSd. RL 95/46/EG EuGH 19. Oktober 2016 - C-582/14 - Rn. 49). So liegt der Fall hier. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann der Anonymisierungsschutz im RIBAS-System im Grundsatz ohne großen Aufwand durch Hinzuziehung der Dienstpläne aufgehoben werden. Eine entsprechende Personalisierung ist auch - in Abstimmung mit dem Betriebsrat - nach § 10 Satz 3 BV zur Ermittlung von Schulungsbedarf vorgesehen, sofern im anonymisierten Fahrdatenbestand erhebliche Überschreitungen der Grenzwerte im Vergleich zu durchschnittlichen Ergebnissen erkennbar werden.

29

(b) § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG kodifiziert die von der Rechtsprechung aus dem verfassungsrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht(Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleiteten allgemeinen Grundsätze zum Datenschutz im Beschäftigungsverhältnis ( BT-Drs. 16/13657 S. 21). Dabei nimmt die Gesetzesbegründung zur Konkretisierung des Maßstabs der Erforderlichkeit einer Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten zur Durchführung oder Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses auf die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 22. Oktober 1986 (- 5 AZR 660/85 -) und 7. September 1995 (- 8 AZR 828/93 -) Bezug. Diesen zufolge dürfe sich der Arbeitgeber bei seinen Beschäftigten nicht nur über Umstände informieren oder Daten verwenden, um seine vertraglichen Pflichten ihnen gegenüber erfüllen zu können, wie zB Pflichten im Zusammenhang mit der Personalverwaltung, Lohn- und Gehaltsabrechnung, sondern auch, um seine im Zusammenhang mit der Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses bestehenden Rechte wahrzunehmen, zB durch Ausübung des Weisungsrechts oder durch Kontrollen der Leistung oder des Verhaltens des Beschäftigten ( BT-Drs. 16/13657 aaO).

30

(c) Erforderlichkeit iSd. § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG setzt damit ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung voraus, das aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis herrühren muss. Es muss ein Zusammenhang mit der Erfüllung der vom Arbeitnehmer geschuldeten vertraglichen Leistung, seiner sonstigen Pflichtenbindung oder mit der Pflichtenbindung des Arbeitgebers bestehen (BAG 7. September 1995 - 8 AZR 828/93 - zu II 2 c aa der Gründe, BAGE 81, 15). Die Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung darf ferner keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen. Sie muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen. Greift eine Maßnahme in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers ein, muss der Eingriff einer Abwägung der beiderseitigen Interessen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit standhalten (BAG 7. September 1995 - 8 AZR 828/93 - zu II 2 c bb der Gründe, aaO; 22. Oktober 1986 - 5 AZR 660/85 - zu B I 2 a der Gründe, BAGE 53, 226). Dieser verlangt, dass der Eingriff geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen ist, um den erstrebten Zweck zu erreichen (BAG 15. April 2014 - 1 ABR 2/13 (B) - Rn. 41, BAGE 148, 26; 29. Juni 2004 - 1 ABR 21/03 - zu B I 2 d der Gründe, BAGE 111, 173 ). Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht (BVerfG 4. April 2006 - 1 BvR 518/02 - zu B I 2 b dd der Gründe, BVerfGE 115, 320 ; BAG 15. April 2014 - 1 ABR 2/13 (B) - aaO).

31

(d) Danach hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen, die Verpflichtung des Klägers, zumindest mit dem anonymisierten Schlüssel am RIBAS-System teilzunehmen, greife nicht unverhältnismäßig in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dies gilt auch dann, wenn die Betriebsparteien hinsichtlich Eignung und Erforderlichkeit des Eingriffs entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts (ebenso BAG 29. Juni 2004 - 1 ABR 21/03  - zu B I 2 d aa und bb der Gründe, BAGE 111, 173 ) nicht über einen vergleichbaren Beurteilungsspielraum wie der Gesetzgeber verfügen.

32

(aa) Das berechtigte Interesse der Beklagten an der Verwendung des RIBAS-Systems besteht darin, dass die bei ihr beschäftigten Busfahrer zu einer vorausschauenden und sparsamen Fahrweise angehalten werden sollen (§ 2 BV). Das betrifft unmittelbar die von ihnen geschuldete Arbeitsleistung und damit die Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses iSd. § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG. Die verfolgten Ziele einer Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs sowie einer Steigerung der Kundenzufriedenheit sind, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, nicht unbillig oder unrechtmäßig, sondern ökonomisch vernünftig und liegen zudem im ökologischen Interesse der Allgemeinheit. Das System hält die Busfahrer nicht, wie die Revision meint, in Bezug auf ihr Bremsverhalten zu einem straßenverkehrswidrigen Verhalten an. Dass es darauf hinweist und es aufzeichnet, wenn ein Fahrer scharf gebremst hat, heißt nicht, er solle auch dann nicht entsprechend reagieren, wenn die Verkehrssituation es erfordert.

33

(bb) Die Teilnahme der Busfahrer am RIBAS-System ist zur Erreichung dieser Ziele geeignet. Das Landesarbeitsgericht verweist zu Recht darauf, dass das System sowohl die Selbstkontrolle fördert als auch Erkenntnisse über einen etwaigen Schulungsbedarf aufgrund des Vergleichs von Fahrleistungen mit den durchschnittlichen Grenzwerten ermöglicht.

34

(cc) Zur Erreichung der verfolgten Ziele ist die Teilnahme aller Busfahrer, auch die des Klägers, erforderlich. Das RIBAS-System soll Durchschnittswerte ermitteln und bei erheblichen Abweichungen einen hierdurch begründeten konkreten Schulungsbedarf identifizieren. Dafür müssen alle Busfahrer - zumindest anonymisiert - daran teilnehmen. Dem trägt die nach § 4 Abs. 1 BV vorgesehene, für alle Busfahrer verpflichtende Teilnahme am System Rechnung. Ein anderes gleichermaßen geeignetes und der Beklagten zumutbares, das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Klägers weniger berührendes Mittel ist nicht ersichtlich. So wäre eine ausschließlich freiwillige Teilnahme oder die Beschränkung auf eine elektronische Signalgebung unmittelbar im Anschluss an ein Fahrmanöver ohne eine weitere Speicherung der Daten zur Ermittlung von Schulungsbedarf nicht ausreichend. Durch ein Mitfahren von Fahrtrainern mag zwar Schulungsbedarf identifiziert werden können. Es ersetzte aber nicht den Erkenntnisgewinn durch die Ermittlung der Durchschnittswerte aller Fahrer und regte auch nicht in gleicher Weise zur Selbstkontrolle des Fahrverhaltens an wie das RIBAS-System. Ausschließlich vorbeugende Schulungen hätten diesen Effekt ebenso wenig. Der Einwand des Klägers, eine Ausrüstung der Busse mit technischen „Begrenzungsmechanismen“ betreffend „Verzögerung, Drehzahl und Geschwindigkeit“ wäre eine mildere, ebenso effektive Möglichkeit gewesen, lässt nicht erkennen, dass dadurch in gleich geeigneter Weise wie durch das RIBAS-System eine vorausschauende und sparsame Fahrweise gefördert werden könnte. Der Kläger macht nicht mit einer Verfahrensrüge geltend, hierzu bereits in den Vorinstanzen vorgetragen zu haben. Entsprechendes gilt für seine Behauptung, es wäre auch eine Kombination aus den von ihm benannten alternativen Maßnahmen möglich gewesen.

35

(dd) Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist gewahrt. Die Beeinträchtigung des informationellen Selbstbestimmungsrechts des Klägers steht nicht außer Verhältnis zu den von der Beklagten legitimerweise verfolgten Interessen. Es liegt keine Dauerüberwachung in dem Sinne vor, dass die Busfahrer - wie bei einer Videoüberwachung - in ihrem gesamten Verhalten während der Arbeitszeit kontrolliert würden. Gespeichert werden allein die Daten zu den fraglichen Fahrmanövern und dies im Grundsatz auch nur zur Ermittlung der Durchschnittswerte. Dem einzelnen Fahrer zugeordnet werden die Daten lediglich dann, wenn er dem zugestimmt hat oder es in seiner Fahrleistung erhebliche Abweichungen vom Durchschnitt gibt. Dadurch ermöglicht das System in erster Linie eine Selbstkontrolle der Busfahrer. Eine personalisierte Leistungskontrolle ist dagegen, wenn der Fahrer ihr nicht durch Teilnahme am Prämiensystem zugestimmt hat, nur aus gegebenem Anlass und ausschließlich zur Ermittlung von Schulungsbedarf zulässig. Ob im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Personalisierung gegeben wären, ist dabei nach § 10 Satz 3 BV in Abstimmung mit dem Betriebsrat festzustellen und unterläge ggf. gesonderter Überprüfung. Die Vorgabe, die Personalisierung dürfe nur bei einer erheblichen Überschreitung der Grenzwerte erfolgen, trägt dem Maßstab des § 32 Abs. 1 Satz 1 BDSG im Grundsatz hinreichend Rechnung. Zudem ordnet § 11 BV an, dass die Bestimmungen des BDSG einzuhalten sind. Daraus folgt nicht etwa eine besondere Missbrauchsgefahr, wie die Revision zu Bedenken gibt, sondern die Garantie eines Schutzstandards entsprechend dem Gesetz. In Bezug genommen sind damit insbesondere auch die Verantwortung der Beklagten für eine Auftragsdatenverarbeitung nach § 11 BDSG sowie die Ansprüche auf Löschung oder Sperrung von Daten gem. § 35 BDSG.

36

cc) Die den Inhalt der von ihm zu erbringenden Arbeitsleistung als Busfahrer ausgestaltende Pflicht zur Teilnahme am RIBAS-System hat der Kläger beharrlich und vorsätzlich verletzt. Er ist seiner Verpflichtung, sich im System anzumelden, wiederholt nicht nachgekommen, obwohl er von der Beklagten mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass dies für eine ordnungsgemäße Vertragserfüllung unerlässlich sei. Der Kläger hat es bewusst in Kauf genommen, dadurch nachhaltig seine arbeitsvertraglichen Leistungspflichten zu verletzen. Er unterlag insofern keinem unverschuldeten Rechtsirrtum.

37

(1) Der Geltungsanspruch des Rechts bewirkt, dass der Schuldner das Risiko eines Rechtsirrtums grundsätzlich selbst trägt und es nicht dem Gläubiger überbürden kann ( BAG 22. Oktober 2015 - 2 AZR 569/14 - Rn. 43, BAGE 153, 111; 19. August 2015 - 5 AZR 975/13  - Rn. 31 , BAGE 152, 213). Ein unverschuldeter Rechtsirrtum liegt nur vor, wenn der Schuldner seinen Irrtum auch unter Anwendung der zu beachtenden Sorgfalt nicht erkennen konnte. Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen. Es reicht nicht aus, dass er sich für seine eigene Rechtsauffassung auf eine eigene Prüfung und fachkundige Beratung stützen kann. Ein Unterliegen in einem möglichen Rechtsstreit muss zwar nicht undenkbar sein ( BAG 12. November 1992 - 8 AZR 503/91  - zu I 1 der Gründe, BAGE 71, 350 ). Gleichwohl liegt ein entschuldbarer Rechtsirrtum nur dann vor, wenn der Schuldner damit nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht zu rechnen brauchte; ein normales Prozessrisiko entlastet ihn nicht (BAG 22. Oktober 2015 - 2 AZR 569/14 - aaO; 29. August 2013 - 2 AZR 273/12  - Rn. 34 ; BGH 6. Dezember 2006 - IV ZR 34/05  - zu II 1 a aa der Gründe; 27. September 1989 -  IVa ZR 156/88  -).

38

(2) Hier hat der Kläger das Risiko, mit seiner Einschätzung falsch liegen zu können, nicht verkannt. Er hat lediglich gemeint, die Teilnahme am RIBAS-System zumindest so lange verweigern zu können, bis die Rechtslage durch die Gerichte geklärt sei. Damit hat er es bewusst darauf ankommen lassen, sich pflichtwidrig zu verhalten. Die Beklagte hatte ihn mehrfach auf ihre Sichtweise hingewiesen sowie darauf, dass der Landesdatenschutzbeauftragte in die Ausgestaltung der BV einbezogen gewesen war. Für den Kläger stritt auch nicht etwa eine höchstrichterliche Entscheidung in einem vergleichbaren Fall (zu einer solchen Konstellation BAG 19. August 2015 - 5 AZR 975/13  - Rn. 31  f., BAGE 152, 213). Unerheblich ist, ob er mit seinem Vorbringen, einen Rechtsanwalt um Rechtsauskunft gebeten zu haben, in der Revision noch gehört werden könnte. Selbst dies zu Gunsten des Klägers unterstellt, läge kein unverschuldeter Rechtsirrtum vor. Der Kläger behauptet insbesondere nicht, der Rechtsanwalt habe ihn dahingehend beraten, es bestehe kein Risiko für eine andere rechtliche Bewertung durch die Gerichte.

39

b) Die Interessenabwägung des Landesarbeitsgerichts ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

40

aa) Eine außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist kam grundsätzlich in Betracht. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Beklagten wäre bei einem ordentlich kündbaren Arbeitnehmer die Einhaltung der Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Quartalsende zumutbar gewesen. Dies steht aufgrund seiner Entscheidung, die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten habe das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst, rechtskräftig fest. Die Würdigung, ein bestimmter Lebenssachverhalt könne eine Kündigung materiell nicht begründen, nimmt an der Rechtskraftwirkung der Entscheidung gem. § 322 ZPO teil(BAG 20. Dezember 2012 - 2 AZR 867/11 - Rn. 27).

41

bb) Bei der Würdigung, eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses noch bis zum Eintritt des ordentlich nicht mehr kündbaren Klägers in den Ruhestand sei der Beklagten jedoch nicht zuzumuten gewesen, hat das Landesarbeitsgericht alle relevanten widerstreitenden Interessen berücksichtigt und in vertretbarer Weise gegeneinander abgewogen. Auch die Revision zeigt insoweit keinen Rechtsfehler auf.

42

(1) Zwar hat das Landesarbeitsgericht nicht ausdrücklich gewürdigt, welche „Nachteile“ der Beklagten aus der Weigerung des Klägers entstehen. Es hat aber ihrem Interesse, das RIBAS-System, wie nach der BV vorgesehen, umfänglich und damit auch im Verhältnis zum Kläger zur Anwendung zu bringen, erkennbar ein hohes Gewicht beigemessen. Dies ergibt sich aus seinen Erwägungen zur Schutzwürdigkeit der verfolgten Interessen bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des dadurch bewirkten Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers und entspricht der durch die Betriebsparteien vorgenommenen Wertung, die Anmeldung eines jeden Fahrers an das RIBAS-System sei „zwingend erforderlich“ (§ 4 Abs. 1 BV). Auch für langjährig Beschäftigte war danach keine Ausnahme vorgesehen. Der Nachteil, das RIBAS-System gegenüber dem Kläger zumindest für die Dauer eines Rechtsstreits darüber nicht und damit nicht in der von den Betriebsparteien vorgesehenen Weise unter Einbeziehung aller Busfahrer effektiv nutzen zu können, wog nach der revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Abwägung des Landesarbeitsgerichts selbst unter Berücksichtigung der langjährigen Betriebszugehörigkeit des Klägers besonders schwer. Dabei hat das Landesarbeitsgericht zu Recht berücksichtigt, dass die Weigerung des Klägers beharrlich war und, wie die erfolglos gebliebenen Abmahnungen gezeigt haben, nicht mehr zu erwarten stand, dass er durch eine erneute Abmahnung zu vertragstreuem Verhalten angehalten werden könnte. Soweit der Kläger geltend macht, die Beklagte habe zumindest die Durchführung des Gütetermins in dem schon anhängigen Rechtsstreit gegen die erteilten Abmahnungen abwarten müssen, verkennt er, dass es auch nach seinem Vorbringen keinen Anhaltspunkt dafür gab, er werde bereits im Anschluss an diesen Termin seine Weigerungshaltung aufgeben. Vielmehr hatte er ausdrücklich angekündigt, zunächst eine gerichtliche „Klärung“ herbeiführen zu wollen, die jedoch in einem Gütetermin noch nicht zu erwarten stand.

43

(2) Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge, das Landesarbeitsgericht habe auf bestrittenen Vortrag zu der Frage abgestellt, weshalb eine Unterbrechung der Zündung vor Dienstantritt des nächsten Fahrers auf Dauer keine zumutbare Alternative sei, ist - ungeachtet seiner Entscheidungserheblichkeit für die Revision - unzulässig. Der Kläger legt schon nicht dar, an welcher Stelle welches Schriftsatzes oder in welcher Weise in der mündlichen Verhandlung er das entsprechende Vorbringen der Beklagten bestritten habe. Es kann daher dahinstehen, ob er dies nicht ohnehin nur mit einem Tatbestandsberichtigungsantrag nach § 320 ZPO hätte geltend machen können.

44

(3) Den Umstand, dass der Kläger sich in einem - wenn auch nicht unverschuldeten - Rechtsirrtum in Bezug auf die Pflicht, am RIBAS-System teilzunehmen, befunden hat, hat das Landesarbeitsgericht ebenfalls vertretbar gewürdigt. Es hat den Irrtum deshalb nicht ausschlaggebend zu seinen Gunsten gewertet, weil es dem Kläger zumutbar gewesen sei, den anonymisierten Schlüssel zumindest unter dem Vorbehalt einer gerichtlichen Prüfung zunächst zu nutzen. Auch dies begegnet mit Blick darauf, dass es sich um ein kollektiv eingeführtes und zudem unter Beteiligung des Landesdatenschutzbeauftragten etabliertes System handelte, keinen durchgreifenden Bedenken.

45

4. Die Beklagte hat die Kündigungserklärungsfrist gem. § 626 Abs. 2 BGB gewahrt. Grund für die Kündigung war, dass der Kläger sich wiederholt nicht im RIBAS-System angemeldet hatte. Zuletzt war dies am 5. und 6. März 2015 der Fall gewesen. Die Kündigung ging dem Kläger am 12. März 2015 und damit innerhalb von zwei Wochen zu.

46

III. Der Kläger hat keinen Anspruch aus §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Entfernung der Abmahnungen vom 18. Dezember 2014, 5. Februar 2015 und 26. Februar 2015 aus seiner Personalakte. Ein Anspruch auf Löschung von in den Abmahnungen enthaltenen personenbezogenen Daten nach § 35 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BDSG, weil deren Kenntnis zur Erfüllung der Zwecke, für die sie erhoben wurden, nicht mehr erforderlich sei, hat der Kläger nicht geltend gemacht.

47

1. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses kann ein Anspruch auf Entfernung von Abmahnungen nach §§ 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB nur dann bestehen, wenn es objektive Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Abmahnung dem Arbeitnehmer noch schaden kann(BAG 19. April 2012 - 2 AZR 233/11 - Rn. 51). Dafür hat der Kläger nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts keine Tatsachen vorgetragen. Eine Verfahrensrüge erhebt er insoweit nicht.

48

2. Aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 16. November 2010 (- 9 AZR 573/09 - BAGE 136, 156) ergibt sich kein anderer Maßstab. Dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt. Auch danach ist das Recht auf Einsicht in die Personalakte von der Frage zu trennen, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch darauf besteht, bestimmte Inhalte daraus entfernen zu lassen (BAG 16. November 2010 - 9 AZR 573/09 - Rn. 42, aaO).

49

IV. Als unterlegene Partei hat der Kläger gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

        

    Koch    

        

    Niemann    

        

    Rachor    

        

        

        

    Beckerle     

        

    Grimberg     

                 

(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.

(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.

(3) (weggefallen)

(1) Gegen das Endurteil eines Landesarbeitsgerichts findet die Revision an das Bundesarbeitsgericht statt, wenn sie in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts oder in dem Beschluß des Bundesarbeitsgerichts nach § 72a Abs. 5 Satz 2 zugelassen worden ist. § 64 Abs. 3a ist entsprechend anzuwenden.

(2) Die Revision ist zuzulassen, wenn

1.
eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts oder, solange eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts in der Rechtsfrage nicht ergangen ist, von einer Entscheidung einer anderen Kammer desselben Landesarbeitsgerichts oder eines anderen Landesarbeitsgerichts abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 547 Nr. 1 bis 5 der Zivilprozessordnung oder eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht wird und vorliegt.

(3) Das Bundesarbeitsgericht ist an die Zulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht gebunden.

(4) Gegen Urteile, durch die über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung eines Arrests oder einer einstweiligen Verfügung entschieden wird, ist die Revision nicht zulässig.

(5) Für das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Revision mit Ausnahme des § 566 entsprechend.

(6) Die Vorschriften der §§ 46c bis 46g, 49 Abs. 1, der §§ 50, 52 und 53, des § 57 Abs. 2, des § 61 Abs. 2 und des § 63 dieses Gesetzes über den elektronischen Rechtsverkehr, Ablehnung von Gerichtspersonen, Zustellung, Öffentlichkeit, Befugnisse des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, gütliche Erledigung des Rechtsstreits sowie Inhalt des Urteils und Übersendung von Urteilen in Tarifvertragssachen und des § 169 Absatz 3 und 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes über die Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen bei der Entscheidungsverkündung gelten entsprechend.