Finanzgericht München Urteil, 02. Aug. 2016 - 2 K 2532/14

bei uns veröffentlicht am02.08.2016

Gericht

Finanzgericht München

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.

Der Kläger ist verheiratet. Seine Ehefrau ist pensionierte Lehrerin.

Der Kläger und seine Ehefrau wurden letztmals für den Veranlagungszeitraum 2004 zur Einkommensteuer beim Beklagten (dem Finanzamt -FA-) veranlagt. Der Kläger und seine Ehefrau teilten dem FA seit ihrem Auszug aus dem Einfamilienhaus in T im Jahr 2006 trotz wiederholter Nachfrage ihre Wohnanschrift nicht mit.

Der Kläger verfügt über Grundvermögen (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 114 ff und Bl. 118 ff.):

FlNr./Gemarkung/Fläche

Grundstücksart

Eigentümer

Grundbuchrechtliche Belastung

.../4 + .../5

T / 1.379 m²

Einfamilienhaus

T, …

Str. …

Kläger

0,00 €

.../5 in T / 359 m²

unbebautes Grundstück

Kläger

0,00 €

..9/10 in T / 318 m²

Weg

Kläger

0,00 €

..2/8 in T/ 941 m²

Bauplatz

Kläger / Ehefrau zu je ½

Sicherungshypothek zg. FA über

5.717,96 €

Der Ehefrau des Klägers wurde im unbefristet geltenden Schwerbehindertenausweis vom 15. Juni 2001 ein Grad der Behinderung von 50 ohne Merkzeichen bescheinigt (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 148).

Am 5. Januar 2011 wurde auf das Ersuchen des FA eine Sicherungshypothek zu 5.717,96 € für … in das Grundbuch hinsichtlich des Bauplatzes in T eingetragen. Dem lagen damals Steuerrückstände des Klägers (überwiegend Vermögensteuer 1989 – 1993 sowie Säumniszuschläge) von 5.717,96 € zugrunde. Die Ehefrau hatte nach beantragter Aufteilung (und nach Ergehen der Aufteilungsbescheide vom 9. August 2005) ihren Anteil an der Gesamtschuld aufgrund von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen in Teilbeträgen beglichen. Pfändungen beim Kläger hatten dagegen keinen Erfolg.

Beim Markt T bestanden im August 2011 Abgabenschulden des Klägers, teilweise gesamtschuldnerisch mit seiner Ehefrau, in Höhe von 1.513,28 € (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 179).

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 18. November 2011 den Erlass der Steuerrückstände. Zur Begründung trug er vor, dass er (in den Jahren 1985 bis 1991, vgl. FG-Akte, Bl. 52) langjährig seine Eltern gepflegt habe. Nun müsse er seine schwerkranke Ehefrau, der noch keine Pflegestufe zugesprochen worden sei, pflegen. Er bekomme keine Unterstützung von öffentlicher Seite, um durch Fortbildung wieder Arbeit zu finden. Er betreibe ein Studium in Österreich, um wieder eine Verlagsarbeit zu finden. Zudem müsse er sein seit 2006 unbewohnbares Haus in T grundlegend renovieren. Wegen der Unbewohnbarkeit müssten er und seine Ehefrau teure Übernachtungskosten aufwenden. Der Markt T verlange von ihm Abgaben, obwohl die Hausabwasserversorgung seit 2006 außer Betrieb sei und die Trinkwasserleitung seither abgesperrt sei. Hinzu komme, dass er an einer hochgradigen Hör- und Sehbehinderung sowie einem pflegebedingten Nierenschaden und Bluthochdruck leide.

Am 21. November 2011 bat das FA den Kläger, aktuelle Auszüge aller Konten mit laufendem Geldverkehr und Angabe des jeweiligen Kreditrahmens, eine Aufstellung der derzeitigen monatlichen Einnahmen und Ausgaben der Ehegatten mit Verdienstbescheinigungen sowie über das wesentliche Vermögen (auch soweit es sich im Ausland befinde) vorzulegen. Ferner sollte der Kläger mitteilen, was er studiere, in welchem Semester er sich befinde und seine Wohnanschrift in Österreich nennen. Ebenso sollte er die Kosten für die Renovierung seines Hauses und für die Erstellung von Außenanlagen angeben (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 26).

Der Kläger erwiderte am 15. März 2012, dass er selbst über keine Einnahmen verfüge. Er befinde sich im Anschluss an das Studium der christlichen Philosophie im dritten Semester des Diplomstudiums der Theologie. Seine Ehefrau beziehe eine Pension von monatlich netto 2.624,49 € (erhöht seit 1. März 2012, vgl. vier Ausdrucke über Kontoumsätze ohne Nennung der Bank, Stundungs- und Erlassakte, Bl. 38 ff.). Die monatlichen Ausgaben für Übernachtungen von 1.200 €, für Verpflegung von 300 €, Kleidung von 100 €, Orthopädisches Schuhwerk etc. von 30 € sowie Taxikosten von 250 € wegen Behinderung der Ehefrau, Arzneimittelkosten von 100 €, Kontoführungsgebühren von 5 €, Körperpflegekosten von 200 €, kulturelle Veranstaltungen von 100 €, Spenden für Messen etc. von 100 € sowie Studienkosten von 350 € seien durch die monatlichen Bezüge der Ehefrau gedeckt. Schulden ergäben sich aus Steuern von gegenwärtig 5.899,16 € und Kommunalabgaben von 1.261,70 € zudem für Strom seit 2007 von 150 € und für Rundfunkgebühren von 100 €. Daneben seien noch für eine nicht durch die Versicherung gedeckte Zahnbehandlung 1.000 €, für Grabgebühren 50 €, für die Kanalisationswiederherstellung 200 € und für den Rückstand der Brandversicherung 200 € zu zahlen.

Ein Kredit sei in Anbetracht der Schwerbehinderung, der Krankheit und des Alters seiner Ehefrau nicht möglich. Die teuren Unterbringungskosten infolge der Unbewohnbarkeit seines Hauses hätten sämtliche Ersparnisse trotz sparsamster Lebensführung aufgebraucht. Er habe mit seiner Ehefrau in über 100 Quartieren gewohnt. Ferienwohnungen auf der deutschen Seite seien die Notlösung. Die Kostenschätzung für sein Wohnhaus mit Außenanlage betrage lt. Angebot 20.606,14 €. Für die energetische Sanierung und die Innenrenovierung seien noch einmal Kosten von 10.000 € zu veranschlagen. Er sei entschlossen, diese Beträge durch einen Kredit bei der KfW, Eigenleistung und durch Ausübung einer Tätigkeit beim Bundesfreiwilligendienst sowie die in Aussicht gestellte Verlagsarbeit zu finanzieren.

Mit Bescheid vom 23. April 2012 (öffentlich zugestellt, vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 92) lehnte das FA den Erlassantrag des Klägers ab.

Am 9. November 2012 teilte das … Landesamt für Steuern dem Kläger mit, dass die Handlungs- und Vorgehensweise des FA hinsichtlich des Erlass offener Steuerrückstände nicht zu beanstanden sei. Hinzu komme, dass nach Aktenlage der Verbleib der Kapitalanlage aus Luxemburg (vgl. FG-Akte, Bl. 114: im Jahr 2002 mindestens noch: 284.157,51 DM), die zur Steuernachzahlung geführt habe, ungeklärt sei. Für die am 5. November 2011 eingetragene Sicherungshypothek bestehe nach Ablehnung des Erlassantrags vom 23. April 2012 kein Anlass zur Löschung. Gegenteilig sei Vollstreckungslage nach wie vor gegeben. Zudem sei der Kläger gebeten worden, sich zur Vermeidung weiterer Vollstreckungsmaßnahmen mit dem FA in Verbindung zu setzen und seine aktuelle Wohnanschrift mitzuteilen.

Am 12. Mai 2013 stellte der Kläger erneut einen Erlassantrag (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 107), den das FA mit Bescheid vom 6. August 2013 ablehnte. Dagegen legte der Kläger per Telefax vom 9. September 2013 Einspruch ein.

Am 4. Februar 2014 teilte das … Staatsministerium der Finanzen dem Kläger auf seine Eingabe hin mit, dass nur in sehr wenigen Ausnahmefällen, in denen die Versagung des Billigkeitserlasses die wirtschaftliche Existenz eines redlichen Bürgers unausweichlich gefährden würde, ein Erlass gewährt werden könne. Eine solche Erlassbedürftigkeit habe der Kläger bisher nicht dargelegt. So könne der gemeinsame Lebensunterhalt des Klägers und seiner Ehefrau von deren Einkommen bestritten werden. Zudem verfüge der Kläger über Grundbesitz. Darüber hinaus habe sich der Kläger bisher nicht über den Verbleib einer Kapitalanlage in Luxemburg geäußert (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 190).

Das Schreiben des FA vom 18. Juni 2014 mit Darlegung der Sach- und Rechtslage blieb seitens des Klägers unbeantwortet. Die Rückstände des Klägers betrugen zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich der Vermögensteuer 1989 bis 1996 insgesamt 2.684,15 € und hinsichtlich der Säumniszuschläge insgesamt 3.990.01 €, gesamt: 6.674,16 € (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 191).

Mit Einspruchsentscheidung vom 5. August 2014 (zugestellt durch Einschreiben mit Rückschein am 22. August 2014) wies das FA den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner am 19. September 2014 bei Gericht eingegangenen Klage. Zur Begründung trägt er ergänzend noch vor, dass er seine Erwerbstätigkeit aufgegeben habe, um seine Eltern langjährig zu pflegen. Seine letzten Reserven lägen in dem vom FA belasteten Grundstück. Seine Ehefrau habe ihn während der Pflege, seiner Langzeitarbeitslosigkeit und seines Studiums bis zum heutigen Tag unterstützt. Es sei eine Frage der Menschenwürde, dass ihm noch etwas Eigenes verbleibe. Die Unbewohnbarkeit seines Hauses und die damit zusammenhängenden teuren Unterbringungskosten seien vom FA bei der Erlassentscheidung nicht gewürdigt worden. Er sei vom FA zudem über seine angeblichen Schulden erst im November 2011 informiert worden. Adressiert sei dieser Brief an seine Ehefrau gewesen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 6. August 2013 und der Einspruchsentscheidung vom 5. August 2014 das FA zu verpflichten, den beantragten Billigkeitserlass auszusprechen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es nimmt Bezug auf seine Einspruchsentscheidung sowie auf die Ausführungen des … Staatsministeriums der Finanzen und des … Landesamts für Steuern.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Anordnung des Gerichts vom 5. Juli 2016 und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

II.

1. Die Klage ist mangels aktueller Angaben über den tatsächlichen Wohnort des Klägers unzulässig. Der Kläger hat bis zum Ablauf der Frist mit ausschließender Wirkung nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO keine ladungsfähige Anschrift angegeben.

Die Angabe des (tatsächlichen) Wohnorts des Klägers ist eine Sachentscheidungsvoraussetzung, vgl. § 65 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Zur Bezeichnung des Klägers gehört auch die Pflicht zur Angabe einer ladungsfähigen Anschrift. Ist der Aufenthalt eines Klägers unbekannt, so ist die Klage unzulässig (vgl. Bundesfinanzhof -BFHUrteil vom 17. Juni 2010 III R 53/07, BFH/NV 2011, 264).

Die Angabe der Wohnanschrift war vorliegend auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil der Kläger über „postlagernd, …“ oder über die Caritas … auch für förmliche Zustellungen des Gerichts in Form des Einschreibens mit Rückschein gemäß § 53 Abs. 2 FGO i.V.m. § 175 der Zivilprozessordnung erreichbar gewesen ist. Denn die Vorschriften über den notwendigen Inhalt einer Klageschrift dienen nicht nur zur Erleichterung der Zustellung, die nicht notwendig von der Angabe einer Wohnanschrift abhängt. Hinzu kommt das Interesse des Justizfiskus einen Ansatzpunkt für eine etwaige Vollstreckung zu haben (vgl. BFH-Urteil vom 19. Oktober 2000 IV R 25/00, BStBl II 2001, 112, Gräber/Herbert, Kommentar zur FGO, § 65 Rz. 15, m.w.N.).

Auf die Angabe der ladungsfähigen Anschrift kann zwar verzichtet werden, wenn durch die Angabe schützenswerte Interessen des Klägers gefährdet würden. Derartige schützenswerte Interessen sind im Streitfall nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.

Die Angabe der Anschrift kann auch bei einem Wohnungslosen fehlen (Gräber/Herbert, Kommentar zur FGO § 65 Rz. 15). Der Kläger ist jedoch nicht wohnungslos. Auch möblierte Zimmer oder Ferienwohnungen kommen z.B. als Wohnung in Betracht (vgl. Klein/Gersch, Abgabenordnung -AO-, § 8, Rz. 2). Nach seinen Angaben wohnt der Kläger -ohne die jeweilige Unterkunft konkret zu bezeichnen und Anschriften zu nennenseit Winter 2006 zusammen mit seiner Ehefrau in Ferienwohnungen, Pensionen oder christlichen Heimen für Studenten (vgl. Schriftsatz des Klägers vom 11. April 2014, 2 K 2532/14, FG-Akte, Bl. 31). Auch wenn die angemieteten Wohnunterkünfte nur vorübergehend und jeweils höchstens drei Monate genutzt worden sein sollten -wie dies der Kläger behauptet hat, obwohl nach den von ihm vorgetragenen Lebensumständen mit seiner schwerbehinderten und pflegebedürftigen Ehefrau und dem monatlich für Unterkunft zur Verfügung stehenden Betrag von 1.200 € nur schwer vorstellbar ist, dass keine Wohnung zur dauerhaften Nutzung angemietet worden ist,- ist gegenüber dem Gericht weder die zum Zeitpunkt der Klageerhebung aktuelle Anschrift noch die gegenwärtige Anschrift (vgl. Gräber/Herbert, Kommentar zur FGO § 65 Rz. 16) in der vom Gericht gesetzten Frist mit ausschließender Wirkung mitgeteilt worden. Frau Lichtenstern vom Caritas …, hat auf telefonische Rückfrage mitgeteilt, dass der Kläger nicht im Caritas-Zentrum wohnt. Sie hat auch nicht bestätigen können, dass der Kläger obdachlos ist.

2. Die Klage ist im Übrigen auch unbegründet.

2.1. Gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig ist.

a) Der Erlass aus Billigkeitsgründen ist gegenüber der Steuerfestsetzung ein selbstständiges Verfahren (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Juli 1987 1 BvR 623/86, HFR 1988, 177), das von der Rechtsanwendung zu trennen ist. Sein Zweck ist es, durch Nichtberücksichtigung einer Norm Gerechtigkeit in einem Einzelfall zu schaffen, in welchem die konkrete Steuerbelastung, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Besteuerung, nicht mehr zu rechtfertigen ist. § 227 AO ist ebenso wie § 163 AO die Rechtsgrundlage für die Abweichung von einem allgemeinen Gesetzesbefehl. Eine solche ausdrückliche Grundlage wird durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefordert. Da die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestands und bei der Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sind, kommen als sachliche Billigkeitsgründe nur solche Umstände in Betracht, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden (vgl. BFH-Urteil 21. April 2014 X R 40/12, BStBl II 2016, 117, m.w.N.).

Die Entscheidung über eine derartige Billigkeitsmaßnahme stellt eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde dar, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 28. März 2012 II R 42/11, BFH/NV 2012, 1486, vom 14. März 2008 III B 30/06, BFH/NV 2008, 985). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung demnach darauf beschränkt, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessen überschritten oder von dem eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Das Gericht darf daher in der Regel nur die Verpflichtung aussprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO). Nur für den Fall, dass der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeschränkt ist, dass lediglich eine Entscheidung ganz bestimmten Inhalts als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null), kann das Gericht ausnahmsweise eine Verpflichtung zum Erlass aussprechen (§ 101 Satz 1 FGO, vgl. BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297).

Abzustellen ist für die gerichtliche Prüfung der Ermessensentscheidung der Finanzbehörde auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung als letzte Verwaltungsentscheidung (vgl. nur BFH-Urteil vom 11. Juni 1997 X R 14/95, BStBl II 1997, 642, BFH-Beschluss vom 4. März 1999 VII B 315/98, BFH/NV 1999, 1223 und Gräber/Stapperfend, Kommentar zur FGO, 8. Auflage, § 102 FGO Rz. 13, m.w.N).

b) Im Streitfall war das FA weder zu einem Erlass der Vermögensteuer 1989 bis 1986, des Solidaritätszuschlags zur Einkommensteuer 1993 und der Säumniszuschläge (vgl. im Einzelnen, Stundungs- und Erlassakte, Bl. 191) verpflichtet, noch hat es durch die Ablehnung des Erlassantrags des Klägers dessen Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung verletzt.

Da der Erlass einen Verzicht auf einen gesetzlich begründeten Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis darstellt und damit einen einzelnen Steuerpflichtigen zu Lasten der Allgemeinheit begünstigt, können die Finanzbehörden von der Steuereinziehung nur dann ausnahmsweise absehen, wenn sich dies im Einzelfall aus sachlichen oder persönlichen Gründen zur Beseitigung einer unbilligen Härte rechtfertigen lässt.

aa) Sachliche Billigkeitsgründe liegen im Streitfall nicht vor.

Sachliche Billigkeitsgründe sind solche die aus dem anspruchsbegründenden Tatbestand selbst hervorgehen und von den außerhalb dieses Tatbestandes liegenden persönlichen Gründen -insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigenunabhängig sind (vgl. Loose, in Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 227 AO Rz. 40). Solche sachlichen Billigkeitsgründe sind dann gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichem Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage -hätte er sie geregeltim Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte oder wenn angenommen werden kann, dass die Einbeziehung den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2012, 1486, vom 4. Februar 2010, II R 25/08, BStBl II 2010, 663 und vom 23. März 1998 II R 41/96, BStBl II 1998, 396). Dagegen rechtfertigen Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat, keine Billigkeitsmaßnahmen.

Bei der Vermögensteuer knüpft die Besteuerung ausschließlich an das Vorhandensein von Vermögen an. Die Herkunft des Vermögens spielt ebenso wenig eine Rolle wie die Absichten, die mit einer Vermögensbildung bzw. -umschichtung (zum Beispiel Umschichtung von Grundvermögen in Kapitalvermögen) verfolgt werden. Persönlichen Verhältnissen, wie für die Alterssicherung bestimmte Rücklagen und eine Behinderung im Sinn des Schwerbehindertengesetzes, hat der Gesetzgeber typisierend durch Freibeträge (§ 6 Abs. 3 des Vermögensteuergesetzes nach der bis 31. Dezember 1996 geltenden Fassung) Rechnung getragen. Der Verzicht auf eine individuelle Berücksichtigung der Verhältnisse insoweit entspricht den Gesetzesvorgaben und widerspricht daher nicht den Wertungen des Gesetzes. Das BVerfG hat zwar mit Beschluss vom 22. Juni 1995 (2 BvL 37/91, BStBl II 1995, 655) entschieden, dass die Bestimmungen des Vermögensteuerrechts wegen der ungleichen Behandlung von Grundvermögen und sonstigem Vermögen mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes nicht vereinbar sind. Die Vorschriften des Vermögensteuergesetzes dürfen jedoch nach dem Beschluss des BVerfG noch bis zum 31. Dezember 1996 angewendet werden (vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 30. März 1998 1 BvR 1831/97, BStBl II 1998, 422 und BFH-Beschluss vom 18.6.1997 II B 33/97, BStBl II 1997, 515). Es konnten weiterhin Vermögensteuerfestsetzungen für Stichtage vor dem 1. Januar 1997 ergehen (vgl. BFH-Urteil vom 30. Juli 1997 II R 9/95, BStBl II 1997, 635). Es besteht für die Finanzbehörden auch keine Verpflichtung zum Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen bei weiterer Anwendung des Vermögensteuergesetzes bis 1996 (BVerfG-Beschluss vom 1. März 1996 1 BvR 2415/95, HFR 1996, 433; vgl. auch Urteil des Niedersächsisches Finanzgericht vom 17. Dezember 1991 II 392/87, EFG 1992, 577 zur fehlenden Verpflichtung zu einem Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen bei bestandskräftig festgesetzten Steuern nach Feststellung der Verfassungswidrigkeit der der Festsetzung zugrunde liegenden Norm, und Urteil des Finanzgerichts München vom 29. Juli 2003 13 K 206/99, juris).

bb) Billigkeitsmaßnahmen aus persönlichen Billigkeitsgründen setzen Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit voraus. Erlassbedürftig ist der Steuerpflichtige, dessen wirtschaftliche oder persönliche Existenz im Fall der Versagung des Billigkeitserlasses ernstlich gefährdet ist. Die wirtschaftliche Existenz ist gefährdet, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann. Für die Frage, ob die Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet ist, spielt außer seinen Einkommensverhältnissen auch seine Vermögenslage eine entscheidende Rolle. Der Steuerpflichtige ist grundsätzlich gehalten, zur Zahlung seiner Steuerschulden alle verfügbaren Mittel einzusetzen und auch seine Vermögenssubstanz anzugreifen. Die Verwertung der Vermögenssubstanz darf jedoch nicht den Ruin des Steuerpflichtigen bedeuten. Alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerpflichtigen ist wenigstens so viel von ihrem Vermögen zu belassen, dass sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können (vgl. BFH-Urteile vom 29. April 1981 IV R 23/78, BStBl II 1981, 726, und vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BStBl II 1987, 612).

Hiervon ausgehend, ist der Kläger im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung nicht erlassbedürftig gewesen. Begehrt ein Ehegatte Billigkeitsmaßnahmen, so ist die Frage der Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts bei Eheleuten nicht ohne Berücksichtigung der Grundsätze des Familienunterhaltsrechts zu beurteilen. Bei einem Erlassantrag nicht getrennt lebender Eheleute ist danach die persönliche Erlassbedürftigkeit für die Ehegatten unter Einbeziehung ihrer gemeinsamen Einkommens- und Vermögenslage zu würdigen (vgl. BFH-Urteil vom 26. Oktober 2011 VII R 50/10, BFH/NV 2012, 552, BFH-Beschlüsse vom 4. Mai 2007 XI S 4/07 (PKH), BFH/NV 2007, 1620; vom 31. März 1982 I B 97/81, BStBl II 1982, 530, m.w.N.; vom 3. Oktober 1988 IV S 5/86, BFH/NV 1989, 411; anschließend auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 1990 8 C 42/88, NJW 1991, 1073; grundlegend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63, unter B.III.).

Im Streitfall ist die wirtschaftliche und persönliche Existenz des Klägers und seiner Ehefrau nicht gefährdet gewesen. Allein die Pension der Ehefrau hat für den notwendigen Unterhalt beider Ehegatten auch unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Ehefrau des Klägers, insbesondere deren krankheits- und pflegebedingter Aufwand, nach den Angaben des Klägers ausgereicht (vgl. Stundungs- und Erlassakte, Bl. 50 ff.). Darüber hinaus hat das monatliche Einkommen der Ehefrau neben dem notwendigen Lebensunterhalt auch noch die hohen Übernachtungskosten und die Studienkosten des Klägers ohne weiteres abgedeckt. Umstände, dass erheblich höhere Pflegekosten für die Ehefrau in Bälde anfallen würden, sind vom Kläger dem FA weder konkret vorgetragen noch nachgewiesen worden. Dagegen spricht, dass aktuelle (zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung) ärztliche Bestätigungen für die Ehefrau und für den Kläger weder dem FA noch dem Gericht vorgelegt worden sind.

Neben dem Einkommen der Ehefrau verfügen der Kläger und seine Ehefrau über im Wesentlichen unbelasteten Grundbesitz. Der Kläger ist Eigentümer eines bebauten 1.379 m² großen Grundstücks -möglicherweise mit einem unbewohnbaren Haus- und Miteigentümer eines 941 m² großen Bauplatzes in T. Allein der Wert dieses im hälftigen Miteigentum des Klägers stehende Bauplatz übersteigt die Steuerrückstände der Klägers um ein Vielfaches (vgl. Bodenrichtwerte, FG-Akte, Bl. 111 ff.). Hinzu kommt, dass der Kläger auf die Feststellung des …Landesamts für Steuern und des … Staatsministeriums der Finanzen, nicht erklärt hat, was aus der zunächst in Luxemburg angelegten Kapitalanlage geworden ist. Dieses Kapital hat weder wegen der Pflege der Eltern im Zeitraum 1985 bis 1991 noch durch die hohen Übernachtungskosten aufgebraucht werden können, weil 1998 noch 394.157,81 € an Kapitalvermögen vorhanden gewesen sind (vgl. FG-Akte, Bl. 114) und die hohen Übernachtungskosten vom monatlichen Einkommen der Ehefrau haben beglichen werden können. Den Hinweis seitens des …Landesamtes für Steuer und des … Staatsministeriums der Finanzen auf diese Kapitalanlage hat der Kläger unerwidert gelassen. In Anbetracht der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Klägers und seiner Ehefrau ist jedenfalls durch die Entrichtung der Vermögenssteuer etc. in Höhe von 6.674,16 € zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung deren wirtschaftliche und persönlicher Existenz nicht gefährdet gewesen. Eine finanzielle Notlage hat nicht vorgelegen. Dem Gericht ist nicht nachvollziehbar, dass der Kläger nicht längst seine Steuerrückstände beglichen hat. Dem Gericht ist ebenso wenig nachvollziehbar, warum der Kläger das Risiko einer Zwangsvollstreckung in sein Immobilienvermögen eingeht.

2.2. Ebenso ist die vom FA getroffene Entscheidung, keine Säumniszuschläge zu erlassen, nicht zu beanstanden. Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird. Nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bleiben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert wird (BFH-Urteile vom 24. April 2014 V R 52/13, BFHE 245, 105, BStBl II 2015, 106, Rz 11, m.w.N. und vom 10. März 2016 III R 2/15, BFH/NV 2016, 1082). Im Streitfall wurden die Vermögensteuerfestsetzungen weder geändert noch aufgehoben. Eine persönliche Erlasssituation des Klägers hat das FA zutreffend verneint.

3. Selbst wenn man das Schreiben des Klägers vom 30. Juli 2016 (eingegangen per Telefax am 1. August 2016 um 22.29 Uhr) als Antrag auf Terminsverlegung auslegt, war diesem nicht zu entsprechen. Erhebliche Gründe sind vom Kläger nicht glaubhaft gemacht worden. Bereits in der Ladung vom 7. Juli 2016 war der Kläger darauf hingewiesen worden, dass Gründe für eine Terminsverlegung glaubhaft zu machen sind.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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Finanzgerichtsordnung - FGO | § 135


(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werd

Abgabenordnung - AO 1977 | § 227 Erlass


Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder an

Abgabenordnung - AO 1977 | § 163 Abweichende Festsetzung von Steuern aus Billigkeitsgründen


(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Mi

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 102


Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Er

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 101


Soweit die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Finanzbehörde aus, den begehrten Verwaltungsakt zu erlassen, wenn die Sache spr

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 65


(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten. Die z

Abgabenordnung - AO 1977 | § 240 Säumniszuschläge


(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten d

Abgabenordnung - AO 1977 | § 8 Wohnsitz


Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 53


(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sowie Terminbestimmungen und Ladungen sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist. (2) Zugestellt wird von Amt

Zivilprozessordnung - ZPO | § 175 Zustellung von Schriftstücken gegen Empfangsbekenntnis


(1) Ein Schriftstück kann den in § 173 Absatz 2 Genannten gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden. (2) Eine Zustellung gegen Empfangsbekenntnis kann auch durch Telekopie erfolgen. Die Übermittlung soll mit dem Hinweis „Zustellung gegen Empfang

Vermögensteuergesetz - VStG 1974 | § 6 Freibeträge für natürliche Personen


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Tenor 1. Der Antrag wird abgelehnt. 2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gründe I. Streitig ist im Hauptsacheverfahren (2 K 2532/14) die Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids vom 6.

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(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben werden. Der Klage soll eine Abschrift des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder der nach § 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Berufsrichter (Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist gilt § 56 entsprechend.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), dessen Staatsangehörigkeit nicht geklärt ist, gehört nach seinen Angaben dem Volk der Palästinenser an und lebt seit 1992 in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Er war im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis, die mehrfach verlängert wurde. Bis Mai 2004 war er erwerbstätig.

2

Im Juli 2000 beantragte der Kläger Kindergeld für seine vier Kinder. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag ab, der Einspruch hatte keinen Erfolg.

3

Im anschließenden Klageverfahren erklärte der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2007, er habe bereits seit Mai 2004 keinen Kontakt mehr zum Kläger und wisse auch nicht, wo sich dieser aufhalte. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für drei Kinder des Klägers für den Zeitraum Juli 1997 bis Mai 2004 und für ein weiteres Kind für den Zeitraum Mai 1998 bis Mai 2004 zu gewähren, im Übrigen wies es die Klage ab. Es war der Ansicht, nach dem Wortlaut des § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes bestehe zwar kein Anspruch auf Kindergeld. Die Vorschrift sei jedoch einschränkend dahin auszulegen, dass der Ausschluss von Ausländern von der Kindergeldberechtigung nicht für solche Eltern gelte, die --wie der Kläger-- auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden könnten und die sich seit mindestens einem Jahr ununterbrochen in der Bundesrepublik aufhielten.

4

Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, die Neuregelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern sei verfassungsrechtlich unbedenklich.

5

Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht der Klage zum Teil stattgegeben, vielmehr hätte es sie als unzulässig verwerfen müssen, weil sie nicht den Anforderungen des § 65 Abs. 1 FGO genügt.

8

Nach § 65 Abs. 1 FGO muss die Klage u.a. den Kläger bezeichnen. Hierzu gehört auch die Pflicht zur Angabe einer ladungsfähigen Anschrift (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. Januar 1997 VII R 33/96, BFH/NV 1997, 585, und vom 11. Dezember 2001 VI R 19/01, BFH/NV 2002, 651; Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 2009  2 BvL 4/07, BFH/NV 2010, 153; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Rz 7; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 65 FGO Rz 44; Gräber/v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 65 Rz 25; Stöcker in Beermann/Gosch, FGO, § 65 Rz 37). Ein Kläger hat im Rahmen seiner prozessualen Mitwirkungspflicht dafür Sorge zu tragen, dass er durch die Angabe seines tatsächlichen Wohnortes und Lebensmittelpunktes für das Gericht stets erreichbar bleibt. Die Sachentscheidungsvoraussetzung der ausreichenden Bezeichnung des Klägers muss grundsätzlich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242). Im Streitfall konnte der Klägervertreter bis zu diesem Zeitpunkt keine Anschrift benennen, er wies vielmehr darauf hin, dass ihm der Aufenthalt des Klägers nicht bekannt sei und er keinen Kontakt mehr zu ihm habe. Die Klage ist somit unzulässig.

(1) Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, sowie Terminbestimmungen und Ladungen sind den Beteiligten zuzustellen, bei Verkündung jedoch nur, wenn es ausdrücklich vorgeschrieben ist.

(2) Zugestellt wird von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung.

(3) Wer seinen Wohnsitz oder seinen Sitz nicht im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat, hat auf Verlangen einen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen. Geschieht dies nicht, so gilt eine Sendung mit der Aufgabe zur Post als zugestellt, selbst wenn sie als unbestellbar zurückkommt.

(1) Ein Schriftstück kann den in § 173 Absatz 2 Genannten gegen Empfangsbekenntnis zugestellt werden.

(2) Eine Zustellung gegen Empfangsbekenntnis kann auch durch Telekopie erfolgen. Die Übermittlung soll mit dem Hinweis „Zustellung gegen Empfangsbekenntnis“ eingeleitet werden und die absendende Stelle, den Namen und die Anschrift des Zustellungsadressaten sowie den Namen des Justizbediensteten erkennen lassen, der das Dokument zur Übermittlung aufgegeben hat.

(3) Die Zustellung nach den Absätzen 1 und 2 wird durch das mit Datum und Unterschrift des Adressaten versehene Empfangsbekenntnis nachgewiesen.

(4) Das Empfangsbekenntnis muss schriftlich, durch Telekopie oder als elektronisches Dokument (§ 130a) an das Gericht gesandt werden.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben werden. Der Klage soll eine Abschrift des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder der nach § 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Berufsrichter (Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist gilt § 56 entsprechend.

Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.

(1) Die Klage muss den Kläger, den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Sie soll einen bestimmten Antrag enthalten. Die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sollen angegeben werden. Der Klage soll eine Abschrift des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung beigefügt werden.

(2) Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder der nach § 21g des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Berufsrichter (Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern. Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in Absatz 1 Satz 1 genannten Erfordernisse fehlt. Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist gilt § 56 entsprechend.

Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Mit Zustimmung des Steuerpflichtigen kann bei Steuern vom Einkommen zugelassen werden, dass einzelne Besteuerungsgrundlagen, soweit sie die Steuer erhöhen, bei der Steuerfestsetzung erst zu einer späteren Zeit und, soweit sie die Steuer mindern, schon zu einer früheren Zeit berücksichtigt werden.

(2) Eine Billigkeitsmaßnahme nach Absatz 1 kann mit der Steuerfestsetzung verbunden werden, für die sie von Bedeutung ist.

(3) Eine Billigkeitsmaßnahme nach Absatz 1 steht in den Fällen des Absatzes 2 stets unter Vorbehalt des Widerrufs, wenn sie

1.
von der Finanzbehörde nicht ausdrücklich als eigenständige Billigkeitsentscheidung ausgesprochen worden ist,
2.
mit einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 verbunden ist oder
3.
mit einer vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 verbunden ist und der Grund der Vorläufigkeit auch für die Entscheidung nach Absatz 1 von Bedeutung ist.
In den Fällen von Satz 1 Nummer 1 entfällt der Vorbehalt des Widerrufs, wenn die Festsetzungsfrist für die Steuerfestsetzung abläuft, für die die Billigkeitsmaßnahme Grundlagenbescheid ist. In den Fällen von Satz 1 Nummer 2 entfällt der Vorbehalt des Widerrufs mit Aufhebung oder Entfallen des Vorbehalts der Nachprüfung der Steuerfestsetzung, für die die Billigkeitsmaßnahme Grundlagenbescheid ist. In den Fällen von Satz 1 Nummer 3 entfällt der Vorbehalt des Widerrufs mit Eintritt der Endgültigkeit der Steuerfestsetzung, für die die Billigkeitsmaßnahme Grundlagenbescheid ist.

(4) Ist eine Billigkeitsmaßnahme nach Absatz 1, die nach Absatz 3 unter Vorbehalt des Widerrufs steht, rechtswidrig, ist sie mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. § 130 Absatz 3 Satz 1 gilt in diesem Fall nicht.

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Oktober 2011  1 K 1040/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1992 bis 1999 machten sie jeweils Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben geltend, die dadurch entstanden waren, dass ihr Sohn eine Privatschule in Großbritannien besucht hatte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ließ die Aufwendungen nicht zum Abzug zu. Die nach erfolglosem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) durch Urteil vom 17. März 1995  3 K 1046/94 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1995, 747) mit der Begründung ab, Schulgeldzahlungen an Schulen im Ausland seien nicht nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes in der in den Streitjahren geltenden Fassung (EStG a.F.) abziehbar. Die hiergegen gerichtete Revision wies der erkennende Senat mit Urteil vom 11. Juni 1997 X R 74/95 (BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617) zurück. Die von den Klägern hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1994 bis 1997 erhobene Klage wies das FG mit Urteil vom 5. Juli 2000  1 K 2074/99 ebenfalls ab. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision wurde vom Bundesfinanzhof (BFH) durch Beschluss vom 11. März 2002 XI B 125/00 (BFH/NV 2002, 1037) als unzulässig verworfen. Die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1993, 1998 und 1999 wurden ohne Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig.

2

Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in seinen Urteilen vom 11. September 2007 C-76/05 --Schwarz/Gootjes-Schwarz-- (Slg. 2007, I-6849) und C-318/05 --Kommission/ Deutschland-- (Slg. 2007, I-6957) entschieden hatte, sowohl die in Art. 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union --AEUV-- (bis 2008 Art. 49 EG) gewährleistete Dienstleistungsfreiheit als auch die allgemeine Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV (bis 2008 Art. 18 EG) würden durch die Beschränkung des Sonderausgabenabzugs für Schulgeldzahlungen an inländische Privatschulen beeinträchtigt, beantragten die Kläger im Oktober 2007, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1992 bis 1999 dahingehend zu ändern, dass die von ihnen geleisteten Schulgeldzahlungen nunmehr gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. steuerlich berücksichtigt würden. Das FA lehnte diesen Antrag ab. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20. Januar 2010  1 K 1285/08, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2011, 767). Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision wies der erkennende Senat durch Beschluss vom 9. Juni 2010 X B 41/10 (BFH/NV 2010, 1783) als unbegründet zurück.

3

Im Juli 2010 beantragten die Kläger daraufhin gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) den Erlass der Einkommensteuerbeträge, soweit diese wegen Nichtanerkennung der Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben in den Jahren 1992 bis 1999 festgesetzt worden waren. Sie trugen zur Begründung vor, es sei zwar grundsätzlich mit dem Sinn und Zweck der Bestandskraft von Steuerbescheiden nicht zu vereinbaren, eine bestandskräftig festgesetzte Steuer nur deshalb zu erlassen, weil die Festsetzung im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung stehe. Die Rechtsprechung des EuGH zur Abänderung bestandskräftiger Entscheidungen rechtfertige jedoch eine Ausnahme. Die Dienstleistungsfreiheit sei für die Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht. Werde sie verletzt, sei der betroffene Bürger darauf angewiesen, dass die nationalen Gerichte dem EuGH die Rechtsfragen vorlegten. Unterbleibe dies, obwohl eine Vorlagepflicht bestehe, habe die Bestandskraft dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben zu weichen. Der Vorrang des Unionsrechts verlange in diesem Fall eine Korrektur des nationalen Rechts.

4

Das FA lehnte den Antrag ab und wies den Einspruch der Kläger zurück. In dem sich anschließenden Klageverfahren trugen die Kläger weiter vor, in einem Billigkeitsverfahren, das die Bestandskraft der Steuerbescheide unberührt lasse, müsse dem EuGH-Urteil vom 13. Januar 2004 C-453/00 --Kühne & Heitz-- (Slg. 2004, I-837) in der Weise Geltung verschafft werden, dass eine Vorlage an den EuGH erfolge. Dessen Rechtsprechung beruhe auf dem Rechtsgedanken von Treu und Glauben. Wenn Rechtsuchende alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, um unionswidrige und damit rechtswidrige Entscheidungen von Behörden zu verhindern, sei es unbillig, den nach nationalem Recht möglichen Erlass der Steuerschuld mit der Begründung zu verweigern, die Bestandskraft des Steuerbescheids stehe einer Abänderung entgegen. Die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur der nach nationalem Recht bestandskräftigen Bescheide sei die notwendige Folge und der angemessene Ausgleich dafür, dass der Rechtsuchende nicht selbst den EuGH anrufen könne, sondern insoweit von den nationalen Gerichten abhängig sei.

5

Das FG hat die Klage mit dem in EFG 2013, 578 veröffentlichten Urteil abgewiesen.

6

Zur Begründung ihrer --auf die Streitjahre 1992 und 1994 bis 1997 beschränkten-- Revision machen die Kläger in Ergänzung ihres bisherigen Vorbringens geltend, das FG habe keine am Gemeinschaftsrecht orientierte Auslegung des § 227 AO vorgenommen. Es habe nicht dargelegt, wie sich das Effektivitätsprinzip des Unionsrechts bei bestehender Bestandskraft eines Steuerbescheids auf die Billigkeitsentscheidung nach § 227 AO auswirke, wenn sich nach Erschöpfung des Rechtswegs herausstelle, dass der bestandskräftige Steuerbescheid das Gemeinschaftsrecht verletze und deswegen rechtswidrig sei. Das FG habe die Problematik, die sich aus dem EuGH-Urteil Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 ergebe, dadurch umgangen, dass es auf sein früheres Urteil vom 20. Januar 2010 in DStRE 2011, 767 verwiesen habe. In dieser Entscheidung sei aber nicht berücksichtigt worden, dass im Streitfall der Steuerbescheid angefochten und der Rechtsweg vollständig --ebenso wie im Sachverhalt der Rechtssache Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837-- ausgeschöpft worden sei. Das sei die Besonderheit des konkreten Falles, die ihn von dem EuGH-Urteil vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 --i-21 Germany und Arcor-- (Slg. 2006, I-8559) sowie den BFH-Entscheidungen vom 29. Mai 2008 V R 45/06 (BFH/NV 2008, 1889) und vom 15. Juni 2009 I B 230/08 (BFH/NV 2009, 1779) unterscheide. Hinge die Anwendung des § 227 AO im Streitfall davon ab, dass die Steuerfestsetzung eindeutig und offenbar unrichtig sei --was nicht der Fall sei, wenn sie auf der BFH-Rechtsprechung beruhe--, sei dies mit der Kühne & Heitz-Rechtsprechung des EuGH unvereinbar, da sie in Fällen der vorliegenden Art praktisch leerlaufe, in denen der Steuerpflichtige alles unternommen habe, um die dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden Steuerbescheide zu korrigieren.

7

Die Kläger sind der Auffassung, § 227 AO müsse aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Effektivitätsprinzips als Änderungsmöglichkeit im Sinne der ersten Voraussetzung der EuGH-Rechtsprechung in Kühne & Heitz angesehen werden. Der gesetzliche Tatbestand des Billigkeitsverfahrens nach § 227 AO enthalte keine Einschränkung und finde seinem Wortlaut nach auf jeden rechtswidrigen Steuerbescheid Anwendung.

8

Im Rahmen der Billigkeit müssten ergänzend die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts zur Anwendung kommen, um den nach der EuGH-Rechtsprechung gebotenen Rechtsschutz zu gewährleisten. Zwar sei der Tatbestand des § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) bei einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich nicht erfüllt. Es sei aber zumindest vertretbar, die Verwaltungsbehörde für befugt zu halten, bei einer Verletzung der Vorlagepflicht des letztinstanzlichen nationalen Gerichts einen gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakt abzuändern, da die besondere Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung es nahelege, diese einer Änderung des materiellen Rechts gleichzustellen, damit die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werde. Die Auswirkungen des unionsrechtlich zu beachtenden Effektivitätsprinzips zeige sich insbesondere bei der Auslegung des § 48 VwVfG, der im Rahmen einer Ermessensentscheidung eine Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte ermögliche. Das Ermessen der Behörde, den Bescheid aufzuheben, reduziere sich auf Null, weil in der vorliegenden besonderen Konstellation, in der den Belangen der Rechtssicherheit durch das Ausschöpfen des Rechtswegs und die Einhaltung angemessener Fristen ausreichend Rechnung getragen worden sei, das Prinzip der Effektivität des Gemeinschaftsrechts überwiege.

9

Das deutsche Recht erlaube die Rücknahme einer rechtskräftig gerichtlich bestätigten Verwaltungsentscheidung, ohne dabei die Rechtskraft des Urteils selbst zu berühren.

10

Der Senat habe zudem mit seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 offenkundig und qualifiziert gegen das Unionsrecht und seine Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) verstoßen. Er habe --trotz eindeutiger Hinweise aus dem Schrifttum (vgl. z.B. Meilicke, Deutsche Steuerzeitung --DStZ-- 1996, 97)-- schon für das Streitjahr 1992 verkannt, dass nicht die Organisation der Privatschulen in Deutschland, sondern die passive Dienstleistungsfreiheit sowie die Freizügigkeit der Schüler gemäß Art. 8a EG (jetzt Art. 21 AEUV) entscheidend sei. Somit müssten auch aus diesem Grunde die zu Unrecht erhobenen Steuern erlassen werden.

11

Soweit die Steuerbescheide 1994 bis 1997 betroffen seien, gelte Entsprechendes. Es könne für die Erschöpfung des Rechtswegs gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV keinen Unterschied machen, dass die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorgelegen hätten und es deshalb nicht zu einem Revisionsverfahren gekommen sei.

12

Die Kläger beantragen,
1. das angefochtene Urteil des FG Rheinland-Pfalz abzuändern und das FA zu verpflichten, unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Juli 2010 und seiner Einspruchsentscheidung vom 10. Dezember 2010 für die Steuerjahre 1992 und 1994 bis 1997 Steuerbeträge in Höhe von 4.500,88 € wegen Nichtberücksichtigung von Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben zu erlassen sowie den Erlassbetrag ab Rechtshängigkeit mit eineinhalb Prozent für jeden Monat zu verzinsen;

13

hilfsweise,
die Sache in dem angefochtenen Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen und die Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden;

14

2. dem EuGH zur Vorabentscheidung folgende Fragen vorzulegen:

15

a) Ist eine Vorschrift des nationalen Rechts geeignet, die erste Voraussetzung des EuGH-Urteils Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 zu erfüllen, wenn die nationale Vorschrift der Behörde ein Ermessen einräumt und die Rechtsprechung diese Vorschrift nur anwendet, wenn die Verletzung des Unionsrechts offenkundig und eindeutig war?

16

b) Ist die dritte Voraussetzung des EuGH-Urteils Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 dahin zu verstehen, dass die Verletzung der Vorlagepflicht vorwerfbar (schuldhaft) oder objektiv offenkundig und eindeutig war?

17

c) Verletzt ein letztinstanzliches Gericht bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV und beruht darauf der bestandskräftige und gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Steuerbescheid, ist dann aufgrund des EuGH-Urteils Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 die Steuerbehörde in einem Billigkeitsverfahren (§ 227 AO), das der Behörde ein Ermessen einräumt, verpflichtet, die Steuerschuld zurück zu erstatten, die bei richtiger Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht geschuldet gewesen wäre?

18

d) Ist eine nationale Regelung mit der Kühne & Heitz-Rechtsprechung (Effektivitätsprinzip) vereinbar, wenn die Steuerfestsetzung, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstieß, ohne behördliche Überprüfung endgültig und nicht abänderbar wird?

19

e) Sind die Urteile des EuGH Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 sowie vom 12. Februar 2008 C-2/06 --Kempter-- (Slg. 2008, I-411) dahin auszulegen, dass die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eine grobe Verkennung durch das letztinstanzliche Gericht verlangt oder sind es die gleichen Voraussetzungen, die der Gerichtshof im Urteil vom 6. Oktober 1982 283/81 --C.I.L.F.I.T.-- (Slg. 1982, I-3415) aufgestellt hat?

20

f) Verstößt es gegen den Grundsatz der Effektivität, wenn ein nationales Verfahrensrecht die Möglichkeiten einer nachträglichen Korrektur bestandskräftiger und rechtskräftiger unionsrechtswidriger Bescheide auf die Fälle beschränkt, in denen die Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids offenkundig war?

21

Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

22

II. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend erkannt, dass das FA den Erlassantrag der Kläger ermessensfehlerfrei abgelehnt hat. Es ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO, den Klägern die Einkommensteuer nicht zu erstatten, die darauf beruht, dass ihnen der Sonderausgabenabzug des an die britische Privatschule gezahlten Schulgelds verwehrt wurde, obwohl dies vom Unionsrecht gefordert gewesen wäre.

23

1. Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Unbilligkeit kann in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben. In der wirtschaftlichen Situation des Steuerpflichtigen liegende (persönliche) Billigkeitsgründe sind weder geltend gemacht noch erkennbar, so dass allein sachliche Unbilligkeit in Betracht kommen kann.

24

Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage --hätte er sie geregelt-- im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte oder wenn angenommen werden kann, dass die Einziehung der Steuer den Wertungen des Gesetzgebers widerspricht (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. jüngst Senatsurteil vom 19. Oktober 2010 X R 9/09, BFH/NV 2011, 561, unter II.1.a, m.w.N.). Dies wiederum kann seinen Grund entweder in Gerechtigkeitsgesichtspunkten oder in einem Widerspruch zu dem der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegenden Zweck haben. § 227 AO ermächtigt allerdings nicht zur Korrektur des Gesetzes. Der Erlass ist daher nur zulässig, wenn die Einziehung der Steuer zwar dem Gesetz entspricht, aber infolge eines Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers derart zuwiderläuft, dass sie unbillig erscheint (Senatsurteil in BFH/NV 2011, 561, unter II.1.a, m.w.N.).

25

Im vorliegenden Streitfall ist zu prüfen, ob das FA sein Ermessen zu Recht dahingehend ausgeübt hat, dass es den Erlass der auf der Nichtberücksichtigung des Schulgelds als Sonderausgaben beruhenden Steuerschuld abgelehnt hat. Da die zu Grunde liegenden Steuerbescheide zwar bestandskräftig und die Gerichtsentscheidungen rechtskräftig sind, sie aber materiell-rechtlich mit dem Unionsrecht nicht übereinstimmen, sind sowohl die Wertungen des deutschen Gesetzgebers (unter 2.) als auch die Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben (unter 3.), zu berücksichtigen.

26

2. Die Bindung an die Wertungen des deutschen Gesetzgebers bedeutet im Hinblick auf den Streitfall zweierlei:

27

a) Zunächst sind Reichweite und Grenzen der Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO zu beachten. Ein Erlass darf nicht Änderungsmöglichkeiten schaffen, die diese Vorschriften nicht vorsehen und nach der gesetzgeberischen Konzeption nicht vorsehen sollten (so auch Senatsurteil in BFH/NV 2011, 561, unter II.1.b).

28

Ein Steuerbescheid kann nur aufgrund der §§ 172 ff. AO, die eine abschließende Regelung enthalten, geändert werden (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 1783). Dies unterscheidet den Steuerbescheid von einem sonstigen Steuerverwaltungsakt, der --wenn er rechtswidrig ist-- gemäß § 130 AO, selbst nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Diese ausdrückliche gesetzliche Differenzierung erlaubt es daher nicht, im Rahmen des Billigkeitsverfahrens die Änderungsmöglichkeit nach § 130 AO heranzuziehen oder gar --wie von den Klägern vorgeschlagen-- auf die Regelungen des VwVfG zurückzugreifen.

29

b) Zum anderen und damit zusammenhängend sind die Grundsätze der Bestandskraft zu beachten. Bei Einwänden, die, wie hier, die materiell-rechtliche Richtigkeit der Steuerfestsetzung betreffen, ist ein Erlass aus Billigkeitsgründen nur möglich, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich rechtzeitig gegen die Fehlerhaftigkeit zu wehren (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. Urteile vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611; vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; Senatsurteil vom 21. Juli 1993 X R 104/91, BFH/NV 1994, 597; Urteil vom 14. November 2007 II R 3/06, BFH/NV 2008, 574, und Senatsurteil in BFH/NV 2011, 561; s. auch Stöcker in Beermann/Gosch, AO § 227 Rz 22).

30

Im Streitfall hat das FA unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung die Ablehnung des Erlassantrages u.a. damit begründet, im Zeitpunkt seiner letzten Entscheidung im Festsetzungsverfahren sei die Ablehnung des Abzugs der Schulgeldzahlungen nicht offensichtlich und eindeutig falsch gewesen, da sie der damaligen Rechtslage und den Grundsätzen der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprochen habe.

31

Diese Argumentation des FA ist überzeugend, sie entspricht den Grundsätzen der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung und wird auch insoweit von den Klägern nicht in Frage gestellt.

32

c) Ziel der Kläger im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme ist indes nicht nur die faktische Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids. Sie wollen vielmehr auch die tatsächliche Rückgängigmachung einer ihnen gegenüber ergangenen letztinstanzlichen Entscheidung erreichen, da der Senat in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 das klageabweisende FG-Urteil bestätigt hat, so dass zwischen den Klägern und dem FA rechtskräftig entschieden ist, dass die Schulgeldzahlungen im Jahr 1992 nicht als Sonderausgaben abgezogen werden konnten. Entsprechendes gilt für die Schulgeldzahlungen der Jahre 1994 bis 1997, deren Nichtberücksichtigung durch den BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 1037 rechtskräftig wurde.

33

aa) Die Frage, ob ein Erlass aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO auch möglich ist, wenn ein rechtskräftiges Urteil dem inhaltlich entgegensteht, wird in der BFH-Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet.

34

Nach Auffassung des VIII. Senats kommt ein Erlass aus Billigkeitsgründen nicht mehr in Betracht, soweit über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung bereits rechtskräftig entschieden worden ist. Ein Erlass gemäß § 227 Abs. 1 AO bei bestandskräftiger Steuerfestsetzung setze nicht nur voraus, dass die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch sei. Es müsse vielmehr hinzukommen, dass es für den Steuerpflichtigen nicht möglich und unzumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Daraus ergebe sich im Umkehrschluss, dass in den Fällen ein Erlass aus Billigkeitsgründen nicht in Betracht komme, in denen über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung bereits rechtskräftig entschieden worden sei. Insofern seien die Beteiligten gemäß § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO an die Rechtskraft des Urteils gebunden (s. BFH-Beschluss vom 11. Mai 2011 VIII B 156/10, BFH/NV 2011, 1537).

35

Soweit erkennbar, ist diese generelle Ablehnung einer Billigkeitsmaßnahme im Falle eines rechtskräftigen Urteils in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eher die Ausnahme. Die Frage, ob und inwieweit die Rechtskraft eines Urteils einer Billigkeitsmaßnahme entgegensteht, wurde von anderen Senaten des BFH --soweit sie überhaupt als problematisch angesehen wurde-- ausdrücklich offengelassen, weil die Voraussetzungen des § 227 AO in den jeweiligen Sachverhalten schon aus anderen Gründen nicht gegeben waren (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 22. September 1976 I R 68/74, BFHE 120, 200, BStBl II 1977, 15, und vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610).

36

bb) Selbst wenn eine Billigkeitsmaßnahme, die sich über die Rechtskraft eines Urteils hinwegsetzen würde, grundsätzlich nicht ausgeschlossen sein sollte, dürfte sie nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommen, da bei der Prüfung der sachlichen Unbilligkeit berücksichtigt werden muss, welch hohen Stellenwert der Gesetzgeber der Rechtskraft beimisst.

37

(1) Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Die Vorschriften der AO über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten bleiben davon zwar unberührt, allerdings nur, soweit sich aus der Rechtskraftwirkung nichts anderes ergibt (§ 110 Abs. 2 FGO). Dieser Vorrang der Rechtskraft gegenüber den Änderungsvorschriften bedeutet, dass eine Änderung ausgeschlossen ist, falls sich dadurch ein Widerspruch zur rechtlichen Beurteilung des Gerichts im rechtskräftigen Urteil ergeben würde (vgl. BFH-Urteil vom 26. November 1998 IV R 66/97, BFH/NV 1999, 788, unter II.1.b).

38

Der hohe Stellenwert, den das deutsche Verfahrensrecht der Rechtskraft zubilligt, zeigt sich zudem darin, dass nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Der Gesetzgeber hat sich in verfassungskonformer Weise zwischen den im Rechtsstaatsprinzip gegründeten gleichrangigen Verfassungsgrundsätzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten einerseits und der Gerechtigkeit im Einzelfall andererseits zu Gunsten der Rechtssicherheit entschieden (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 12. Dezember 1957  1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195).

39

(2) Eine Billigkeitsmaßnahme kann daher nur bei einem Urteil in Betracht kommen, welches so offenbar unrichtig ist, dass dessen Fehlerhaftigkeit ohne Weiteres erkannt werden konnte.

40

Im Streitfall ist eine derartige offensichtliche inhaltliche Unrichtigkeit eines letztinstanzlichen Urteils nicht gegeben. Nicht nur im Zeitpunkt des Senatsurteils in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617, sondern bis zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Europäische Kommission Anfang Januar 2004 wurde die Begrenzung der Abziehbarkeit von Schulgeldzahlungen auf inländische Privatschulen von der Rechtsprechung --trotz einiger kritischer Stimmen im Schrifttum (vgl. z.B. Meilicke, Der Betrieb 1994, 1011; ders., DStZ 1996, 97)-- als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen (neben dem FG Rheinland-Pfalz in den die Kläger betreffenden Verfahren auch FG Köln, Urteil vom 28. Juni 2001  7 K 8690/99, EFG 2004, 1044, und FG Münster, Urteil vom 26. Februar 2003  1 K 1545/01 E, EFG 2003, 1084). Selbst in seinem Vorlagebeschluss vom 27. Januar 2005  10 K 7404/01 (EFG 2005, 709, unter II.3.c) hat das FG Köln noch darauf hingewiesen, dass § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. nicht klar und eindeutig gegen Unionsrecht verstoße.

41

Bei einer solchen Lage kann nicht davon ausgegangen werden, dass die den Klägern gegenüber ergangenen gerichtlichen Entscheidungen, die der bis dahin bestehenden Rechtsprechung entsprachen, in einem solchen Maße fehlerhaft gewesen sein könnten, dass --sich über deren Rechtskraft hinwegsetzende-- Billigkeitsmaßnahmen gerechtfertigt wären.

42

3. Die vom FG bestätigte Auffassung des FA steht nicht im Widerspruch zu den Anforderungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, das von allen Stellen der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten einzuhalten ist (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 12. Juni 1990 C-8/88 --Deutschland/Kommission--, Slg. 1990, I-2321, Rz 13).

43

Zwar rügen die Kläger eine Verletzung des Unionsrechts, indem sie ausführen, der Senat habe nicht nur einen unionsrechtswidrigen Steuerbescheid bestätigt, sondern darüber hinaus als letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht an den EuGH offensichtlich verletzt, so dass im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung die Bestands- bzw. Rechtskraft kein Grund sein dürfe, den Erlass der zu Unrecht festgesetzten Steuer zu verweigern.

44

Indes erfordert weder das Unionsrecht eine faktische Aufhebung oder Änderung rechtskräftiger unionsrechtswidriger Urteile (unter a) noch führt ein möglicher unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch dazu, den Klägern die unionsrechtswidrig erhobenen Steuern zu erlassen (unter b).

45

a) Dem Unionsrecht kann nicht entnommen werden, dass eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftig festgesetzte Steuer erstattet werden müsste.

46

aa) Der EuGH hat ausdrücklich die Verpflichtung verneint, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich herausstellt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. Dabei hat der EuGH die Bedeutung betont, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollten nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können. Damit gebiete das Gemeinschaftsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte (EuGH-Urteile vom 1. Juni 1999 C-126/97 --Eco Swiss--, Slg. 1999, I-3055, Rz 47 f.; vom 30. September 2003 C-224/01 --Köbler--, Slg. 2003, I-10239, Rz 38; vom 16. März 2006 C-234/04 --Kapferer--, Slg. 2006, I-2585, Rz 20 f.; vom 3. September 2009 C-2/08 --Fallimento Olimpiclub--, Slg. 2009, I-7501, Rz 22, und vom 6. Oktober 2009 C-40/08 --Asturcom Telecomunicaciones--, Slg. 2009, I-9579, Rz 35 ff.).

47

bb) Da auf dem Gebiet des Verfahrensrechts gemeinschaftsrechtliche Vorschriften fehlen, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, Umfang und Grenzen des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen (s. z.B. EuGH-Urteile Kempter in Slg. 2008, I-411, Rz 57; vom 4. Oktober 2012 C-249/11 --Byankov--, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, 273, Rz 69, jeweils m.w.N.).

48

Dabei haben die Mitgliedstaaten in ihren Verfahrensvorschriften den Effektivitätsgrundsatz sowie das Äquivalenzprinzip zu beachten (vgl. z.B. EuGH-Urteile Kapferer in Slg. 2006, I-2585, Rz 22, und Fallimento Olimpiclub in Slg. 2009, I-7501, Rz 24). Beide Prinzipien leiten sich aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) ab, aufgrund dessen die Union und die Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung aufgerufen sind. Die Mitgliedstaaten haben danach alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben.

49

(1) Der Effektivitätsgrundsatz garantiert eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft vor allem das Verfahren, weniger die Frage, ob es in der Sache schwierig ist, eine günstige Rechtsentwicklung vorherzusehen und durchzusetzen.

50

Der EuGH hat die deutschen Einspruchs- und Klagefristen und damit die nationalen verfahrensrechtlichen Regelungen zur Durchsetzung des Unionsrechts nicht beanstandet (EuGH-Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 59 f.; ähnlich auch BFH-Urteil vom 16. September 2010 V R 57/09, BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II.5.c cc). Zwar können die Verfahrensvorschriften im Ergebnis dazu führen, dass Entscheidungen, die materiell dem Unionsrecht nicht entsprechen, bestands- und rechtskräftig werden. Dies ändert aber nichts daran, dass es dem Betroffenen weder unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, die ihm durch das Unionsrecht vermittelten Rechte geltend zu machen (so auch Gundel, Festschrift für V. Götz, 2005, 191, 201).

51

Eine andere Ausprägung des Effektivitätsgrundsatzes ist die mitgliedstaatliche Haftung für Verstöße gegen Unionsrecht, wenn auf andere Weise die Durchsetzung des Unionsrechts nicht gesichert werden kann (vgl. EuGH-Urteil vom 19. November 1991 C-6/90, C-9/90 --Francovich--, Slg. 1991, I-5357, Rz 35; s. Gundel in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 2. Aufl., § 3 Rz 197). Auch diese Anforderung erfüllt das deutsche Recht, da ein unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch vor den ordentlichen Gerichten geltend gemacht werden kann (s. unten II.3.b).

52

(2) Das Äquivalenzprinzip verlangt, bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften einschließlich der vorgesehenen Fristen nicht danach zu unterscheiden, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht oder gegen nationales Recht gerügt wird. Sollte ein nach innerstaatlichem Recht rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückzunehmen sein, sofern seine Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" wäre, muss eine solche Verpflichtung zur Rücknahme unter den gleichen Voraussetzungen im Fall eines Verwaltungsakts gelten, der gegen Gemeinschaftsrecht verstößt (EuGH-Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 62 f.).

53

Da nach deutschem Verfahrensrecht ein Verstoß gegen deutsche Rechtsgrundsätze und Normen ebenfalls nur bei eindeutigen und offensichtlichen, im Streitfall nicht vorliegenden (vgl. oben II.2.c bb (2)) Fehlern eines rechtskräftigen, den Steuerbescheid bestätigenden Urteils zu einem Billigkeitserlass führen könnte, erfüllt das nationale Verfahrensrecht auch insoweit die unionsrechtlichen Anforderungen.

54

(3) Die auf europäischer Ebene anerkannte und mit besonderem Gewicht versehene Rechtskraft kann infolgedessen dazu führen, dass der Einwand der Unionsrechtswidrigkeit nach dem Eintritt der Rechtskraft nicht mehr möglich ist und damit ein unionsrechtswidriges Urteil zu Gunsten der Rechtssicherheit akzeptiert werden muss (so auch Baumann, Die Rechtsprechung des EuGH zum Vorrang von Gemeinschaftsrecht vor mitgliedstaatlichen Verwaltungsakten und Gerichtsurteilen, 2010, 160 f.). Insofern verstößt die Ablehnung des Erlassantrages nicht per se gegen Unionsrecht.

55

b) Eine Durchbrechung der Rechtskraft von rechtskräftigen Urteilen ist nach der Rechtsprechung des EuGH wegen des in Art. 4 EUV verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit indes in den Fällen geboten, in denen

56

–       

die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,

–       

die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist,

–       

das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des EuGH zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht worden ist, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt gewesen ist, und

–       

der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

57

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, muss --so der EuGH-- eine Verwaltungsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung überprüfen, um einer mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen (EuGH-Urteil Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837, Rz 28).

58

aa) Im Streitfall ist zwischen den Beteiligten bereits rechtskräftig festgestellt worden, dass eine Änderung der Steuerfestsetzung nicht möglich ist, da das deutsche Verfahrensrecht eine über die §§ 172 ff. AO hinausgehende Änderungsmöglichkeit für Steuerbescheide nicht kennt (Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 1783, s.a. oben unter II.2.a).

59

bb) Das Billigkeitsverfahren gemäß § 227 AO stellt keine Änderungsmöglichkeit im Sinne der EuGH-Rechtsprechung dar.

60

(1) Der Erlass aus Billigkeitsgründen ist gegenüber der Steuerfestsetzung ein selbstständiges Verfahren (vgl. z.B. Beschluss des BVerfG vom 8. Juli 1987  1 BvR 623/86, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1988, 177), das von der Rechtsanwendung zu trennen ist. Sein Zweck ist es, durch Nichtberücksichtigung einer Norm Gerechtigkeit in einem Einzelfall zu schaffen, in welchem die konkrete Steuerbelastung, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Besteuerung, nicht mehr zu rechtfertigen ist. § 227 AO ist ebenso wie § 163 AO die Rechtsgrundlage für die Abweichung von einem allgemeinen Gesetzesbefehl. Eine solche ausdrückliche Grundlage wird durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefordert (so auch von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 227 AO Rz 30; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 227 AO Rz 2 ff.). Da die Wertungen des Gesetzgebers bereits bei der Auslegung des gesetzlichen Steuertatbestands und bei der Frage der Tatbestandsmäßigkeit der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen sind, kommen als sachliche Billigkeitsgründe nur solche Umstände in Betracht, die bei der Steuerfestsetzung durch Auslegung des Steuertatbestandes nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers nicht berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 24. März 1981 VIII R 117/78, BFHE 133, 60, BStBl II 1981, 505).

61

(2) Das Korrektursystem der §§ 172 ff. AO regelt die Durchsetzung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Ansprüche abschließend. Es ist ein sorgfältig austariertes System, das dem Grundsatz der Rechtssicherheit auf dem Gebiet des Steuerrechts, in dem Massenverfahren zu bewältigen sind, einen hohen Stellenwert einräumt. Weiter gehende Korrekturmöglichkeiten für Steuerbescheide muss das nationale Verfahrensrecht wegen des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten auch nach den Vorgaben des Unionsrechts nicht vorsehen (vgl. z.B. EuGH-Urteil i-21 Germany und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 57, m.w.N.; so wohl auch BFH-Urteil in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II.5.c).

62

(3) Entgegen der Auffassung der Kläger ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung Kühne & Heitz in Slg. 2004, I-837 kein Anspruch auf Erlass der auf der Nichtberücksichtigung des Schulgelds beruhenden Steuern aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO. Diese Vorschrift räumt der Behörde --im Gegensatz zu § 48 VwVfG-- ein Ermessen, Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zu erlassen, nur beim Vorliegen weiterer gesetzlicher Voraussetzungen ein, nämlich nur wenn auf der Tatbestandsseite eine Unbilligkeit im Einzelfall gegeben ist. Diese Voraussetzung ist im Streitfall indes, wie bereits oben dargestellt, nicht erfüllt.

63

(4) Mit dieser Auslegung des § 227 AO stimmt der erkennende Senat mit der bisherigen Finanzrechtsprechung überein. Sowohl andere Senate des BFH als auch verschiedene FG haben in § 227 AO keine Änderungsvorschrift im Sinne der oben aufgeführten EuGH-Rechtsprechung gesehen und dementsprechend den Erlass einer Steuerforderung abgelehnt, weil das innerstaatliche Recht keine Vorschrift zur Korrektur bestandskräftig gewordener Steuerbescheide wegen späterer Änderungen der Rechtsprechung kenne (s. BFH-Entscheidungen in BFH/NV 2008, 1889, unter II.3.a; in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II.5.c aa; wohl auch vom 1. April 2011 XI B 75/10, BFH/NV 2011, 1372, und vom 14. Februar 2011 XI B 32/10, BFH/NV 2011, 746; ebenso FG Köln, Urteil vom 18. März 2009  7 K 2808/07, EFG 2009, 1168, unter 1.c; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Juni 2010  5 K 2292/06 B, EFG 2012, 206).

64

cc) Es besteht kein von einer nationalen Änderungsnorm losgelöster, genereller unionsrechtlicher Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bzw. Änderung des Steuerbescheids nach Feststellung eines Verstoßes gegen das Unionsrecht. Dadurch würde die auch vom EuGH anerkannte Bestands- und Rechtskraft in Frage gestellt werden (ebenso Gundel, Festschrift für V. Götz, 205).

65

Um einer Verletzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV Rechnung zu tragen, ist es unionsrechtlich nicht geboten, den darauf beruhenden unionsrechtswidrigen Steuerbescheid bzw. seine Wirkungen aufzuheben (so auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013, 318). Es reicht vielmehr aus, wenn der Betroffene einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch geltend machen kann, auch wenn auf diese Weise einfache Verstöße gegen die Vorlagepflicht unkorrigiert bleiben (so auch im Ergebnis Gundel, Festschrift für V. Götz, 205; Krönke, a.a.O., 316; Baumann, a.a.O., 166 f.).

66

c) Die Ablehnung des Erlassantrages der Kläger ist auch nicht im Hinblick auf einen möglichen Entschädigungsanspruch wegen eines qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht ermessenswidrig.

67

aa) In mehreren Urteilen prüft der V. Senat im Rahmen eines Steuererlasses gemäß § 227 AO, inwieweit ein unionsrechtlicher Entschädigungsanspruch gegeben sein könnte (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 13. Januar 2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, unter II.2.a cc; vom 21. April 2005 V R 16/04, BFHE 210, 159, BStBl II 2006, 96, unter II.3.; in BFH/NV 2008, 1889, unter II.4., und in BFHE 230, 504, BStBl II 2011, 151, unter II.6.). Er geht dabei offensichtlich davon aus, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Entschädigungsanspruches eine sachliche Unbilligkeit der Steuererhebung anzunehmen sei. Soweit ersichtlich, hat diese Prüfung bislang jedoch noch in keinem Fall dazu geführt, einen Steuererlass aus Billigkeitsgründen auszusprechen.

68

bb) Es kann dahingestellt bleiben, ob das Bestehen eines unionsrechtlichen Erstattungsanspruchs einen Billigkeitserlass gemäß § 227 AO rechtfertigen könnte, da im Streitfall die Voraussetzungen eines solchen Erstattungsanspruchs nicht erfüllt sind.

69

(1) Nach der Rechtsprechung des EuGH (s. z.B. EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 bis 55) muss ein Mitgliedstaat Schäden ersetzen, die einem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.

70

Das gilt auch für die Haftung des Staates für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden. Was des Näheren die zweite dieser Voraussetzungen und ihre Anwendung bei der Prüfung einer Haftung des Staates für eine Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts angeht, so sind --nach Auffassung des EuGH-- die Besonderheiten der richterlichen Funktion sowie die berechtigten Belange der Rechtssicherheit zu berücksichtigen. Der Staat haftet für eine unionsrechtswidrige Entscheidung nur in dem Ausnahmefall, in dem das Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat. Bei der Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalls berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes, die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums, ggf. die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans sowie die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das in Rede stehende Gericht. Ein Verstoß gegen das Unionsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkennt (zu dem Vorstehenden s. EuGH-Urteile Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 ff.; vom 13. Juni 2006 C-173/03 --Traghetti del Mediterraneo--, Slg. 2006, I-5177, Rz 43).

71

(2) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Senat in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 die einschlägige Rechtsprechung des EuGH nicht offenkundig verkannt.

72

Vergleicht man die Gründe, die den Senat im Jahr 1997 dazu bewogen haben, in der Versagung des Sonderausgabenabzugs für an eine britische Privatschule gezahltes Schulgeld keine unionswidrige Diskriminierung zu sehen, mit den Urteilsgründen des EuGH in der Rechtssache Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, wird erkennbar, dass der Anwendungsbereich sowohl der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV als auch der allgemeinen Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung des Schulgelds für Privatschulen anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt wurde. Hierin liegt indes kein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung.

73

(a) § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG a.F. führte nach Auffassung des Senats deshalb zu keiner unzulässigen Diskriminierung, weil er meinte, Schulgelder für die Teilnahme am Unterricht eines nationalen staatlichen Bildungssystems stellten aufgrund der ständigen Rechtsprechung des EuGH kein Entgelt i.S. des Art. 57 AEUV dar. Der Senat führte dazu aus, obwohl die bisherigen EuGH-Entscheidungen nur zu staatlichen Schulen ergangen seien, beanspruchten diese Grundsätze auch für den Unterricht einer (privaten) Schule Geltung, die im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanziert werde. Werde hingegen eine Schule im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert, sei ihr Unterrichtsangebot als Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV anzusehen. Insoweit stimmen der EuGH und der Senat überein.

74

Im Unterschied zu dem zehn Jahre später ergangenen EuGH-Urteil Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 folgerte der Senat jedoch aus den bis dahin bekannten Vorgaben des EuGH, auch die inländischen privaten Ersatz- und Ergänzungsschulen seien aufgrund ihrer Einbindung in das nationale Bildungssystem mit ihrer Unterrichtstätigkeit in der Regel nicht erwerbswirtschaftlich tätig, zumal sie überwiegend aus dem Staatshaushalt finanziert würden. Demgegenüber spielt es nach Auffassung des EuGH in der Rechtssache Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849 für die Frage der Anwendbarkeit von Art. 56 AEUV keine Rolle, ob die Schulen im Mitgliedstaat des Leistungsempfängers eine Dienstleistung i.S. des Art. 57 AEUV erbringen. Es komme vielmehr allein darauf an, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatschule als Erbringerin entgeltlicher Leistungen angesehen werden könne (EuGH-Urteil Schwarz/Gootjes-Schwarz in Slg. 2007, I-6849, Rz 44).

75

Diese unterschiedliche Sichtweise beruht auf einem Perspektivenwechsel in der Rechtsprechung des EuGH durch sein Urteil vom 16. Mai 2006 C-372/04 --Watts-- (Slg. 2006, I-4325, unter Rz 90), der für den Senat im Jahr 1997 weder erkennbar noch antizipierbar war (zu den Bedenken gegen diese Rechtsprechung s.a. die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 21. September 2006 C-76/05 --Schwarz/Gootjes-Schwarz--, Slg. 2007, I-6849). Ein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung kann daher insoweit nicht angenommen werden.

76

(b) Für die Frage des Anwendungsbereichs der Dienstleistungsfreiheit sah es der Senat zudem als unerheblich an, dass einige inländische Privatschulen nur geringere Zuschüsse erhalten und daher ein höheres Schulgeld erhoben hatten, da derartige Sonderfälle an der grundsätzlichen Beurteilung nichts änderten. Hierzu berief sich der Senat u.a. auf den Schlussantrag des Generalanwalts Slynn vom 15. März 1988 in der Rechtssache 263/86 --Humbel und Edel-- (Slg. 1988, I-5365). In diesem Verfahren hat der EuGH entschieden, ein Unterricht an einer Fachschule, der innerhalb des nationalen Bildungswesens zum Sekundarunterricht gehörte, sei nicht als Dienstleistung i.S. des Art. 56 AEUV zu qualifizieren (Urteil in Slg. 1988, I-5365, Rz 14 ff.).

77

Die Auffassung des Senats ist zwar im Ergebnis vom EuGH im Jahr 2007 nicht geteilt worden. Liest man aber die vom Senat in Bezug genommene Passage des Generalanwalts Slynn in dem Verfahren Humbel und Edel, konnte sich daraus durchaus der Eindruck ergeben, dass sich an der Beurteilung von Schulleistungen als Dienstleistungen der Sozialpolitik --und damit an der Einordnung als nicht entgeltliche Dienstleistungen-- auch dann nichts ändere, wenn ausnahmsweise von einer Privatschule kostendeckendes Schulgeld erhoben werde. Die vom Senat daraus gezogene Schlussfolgerung, damit seien auch Privatschulen gemeint, lag nicht fern und kann kein offenkundiges Verkennen der EuGH-Rechtsprechung begründen.

78

(c) Aus denselben Gründen geht der Einwand der Kläger fehl, im Ausgangsrechtsstreit sei vom BFH verkannt worden, dass die passive Dienstleistungsfreiheit der Kläger verletzt worden sei. Der Senat hat in seinem Urteil in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617, unter III.1. ausdrücklich unter Bezugnahme auf die einschlägige EuGH-Rechtsprechung dargelegt, der Empfänger einer Dienstleistung dürfe --auch steuerrechtlich-- nicht deshalb benachteiligt werden, weil er eine Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch nehme. Der Senat hat aber --wie gerade dargestellt-- seine Beurteilung, ob überhaupt der Anwendungsbereich der durch den EG geschützten Dienstleistungsfreiheit betroffen ist, auf die Verhältnisse des Ansässigkeitsstaats des Dienstleistungsempfängers gestützt und nicht auf die des Staates, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist.

79

(d) Der BFH hat auch nicht dadurch die EuGH-Rechtsprechung offenkundig verkannt, dass er die mögliche Verletzung der allgemeinen Freizügigkeit nicht geprüft hat, obwohl er den Anwendungsbereich der spezielleren Dienstleistungsfreiheit verneint hat.

80

Der Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (BGBl II 1992, 1253), durch den die Unionsbürgerschaft in den EG-Vertrag aufgenommen wurde, ist erst am 1. November 1993 in Kraft getreten (BGBl II 1993, 1947), war im Streitjahr 1992 also noch nicht anzuwenden. Zudem wurde in dessen Dritten Teil in Titel VIII ein Kapitel 3 eingefügt, das sich mit der allgemeinen und beruflichen Bildung befasst. Bis zu dieser Erweiterung des Geltungsbereichs des Vertrages fielen nur Regelungen, die den Zugang zur Berufsausbildung betrafen, in dessen Anwendungsbereich, nicht jedoch Regelungen in Bezug auf allgemein bildende Schulen (vgl. dazu auch die Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 21. September 2006 C-76/05, Slg. 2007, I-6849, Rz 91).

81

Bezüglich der Streitjahre 1994 bis 1997 hat der BFH mit seiner Entscheidung, eine Revision der Kläger nicht zuzulassen, das Unionsrecht ebenfalls nicht verkannt. In der Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde hatten die Kläger nicht einmal ansatzweise eine mögliche Verletzung des damaligen Gemeinschaftsrechts als Grund für die Zulassung der Revision geltend gemacht. Vielmehr hatten sie sich ausschließlich auf die Rüge der Verletzung nationalen Verfassungsrechts beschränkt. Gegenstand der Prüfung des BFH im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gemäß §§ 115, 116 FGO sind jedoch grundsätzlich nur die ausdrücklich und ordnungsgemäß gerügten Zulassungsgründe (s. BFH-Beschluss vom 27. November 2001 XI B 123/01, BFH/NV 2002, 542; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 116 FGO Rz 30; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 55).

82

(e) Eine offenkundige Verkennung der EuGH-Rechtsprechung kann sich auch nicht daraus ergeben, dass der BFH seine Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV offenkundig verletzt hätte.

83

Wie sich im Bereich der Staatshaftung wegen Verletzung von Unionsrecht durch die Judikative die Verletzung des materiellen Rechts und die Verletzung der Vorlagepflicht zueinander verhalten, ist zwar bislang nicht vollkommen geklärt, bedarf im Streitfall aber keiner weiteren Klärung. Es ist zunächst davon auszugehen, dass im Ausgangspunkt der Primärverstoß gegen die im jeweiligen Ausgangsstreit umstrittene unionsrechtliche Regelung entscheidend ist (vgl. Kokott/Henze/Sobotta, Juristenzeitung --JZ-- 2006, 633, 637). Welche Auswirkungen dann ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht haben könnte, ist bislang vom EuGH insoweit entschieden worden, dass die Voraussetzungen eines unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs dann nicht vorliegen, wenn weder bei der Auslegung des Primärrechts noch bei der Vorlagepflicht offenkundig die EuGH-Rechtsprechung missachtet wurde (s. EuGH-Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239; ebenso Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633, 637).

84

Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Ein offenkundiger Verstoß gegen Art. 56 und Art 21 AEUV ist --wie gerade dargestellt-- nicht erkennbar. Ebenso wenig hat der Senat seine Vorlagepflicht offenkundig verletzt. Er hat seine Entscheidung, das Verfahren in BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617 nicht dem EuGH vorzulegen, darauf gestützt, dass eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH auch dann vorliege, wenn die streitigen Fragen nicht vollkommen mit den vom EuGH bereits entschiedenen Fragen identisch seien und insoweit das EuGH-Urteil C.I.L.F.I.T. in Slg. 1982, I-3415 angewendet. Der Senat hat die Voraussetzungen dieses EuGH-Urteils bejaht, weil er die EuGH-Rechtsprechung, nach der Schulgelder für die Teilnahme am Unterricht staatlicher Bildungssysteme kein Entgelt für eine Dienstleistung sind und dies auch für den Unterricht einer im Wesentlichen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Schule gilt, dahingehend ausgelegt hat, dass damit auch die Frage beantwortet werden könne, unter welchen Umständen der Unterricht an einer privaten Schule als Dienstleistung anzusehen sei. Dass der EuGH zehn Jahre später eine andere Auffassung vertreten hat, bedeutet nicht, dass der Senat die im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannte EuGH-Rechtsprechung zur Vorlagepflicht offenkundig verkannt hat.

85

4. Da der Billigkeitserlass eine Ermessensentscheidung der Behörde ist (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603), unterliegt er gemäß § 102 FGO lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Begründung unter 2. und 3. ist ein Ermessensfehler des FA nicht erkennbar.

86

5. Der Senat ist --im Gegensatz zur Auffassung und den Anträgen der Kläger-- nicht verpflichtet, eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV herbeizuführen.

87

a) Die entscheidungsrelevante Rechtsfrage des Streitfalls ist, ob das FA bei der Ablehnung des Billigkeitsantrages der Kläger sein Ermessen gemäß § 227 AO ordnungsgemäß ausgeübt hat, d.h. ob es bei seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

88

Die Überprüfung dieser behördlichen Ermessensentscheidung, in der die rechtskräftige Versagung des Sonderausgabenabzugs nicht als so offenkundig unionsrechtswidrig und der EuGH-Rechtsprechung widersprechend angesehen wird, dass sie unbillig wäre, obliegt dem nationalen Gericht. Es ist --auch nach der EuGH-Rechtsprechung (s. EuGH-Urteil i-21 und Arcor in Slg. 2006, I-8559, Rz 71)-- seine Aufgabe zu beurteilen, ob eine mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Entscheidung offensichtlich rechtswidrig im Sinne des betreffenden nationalen Rechts ist.

89

b) Die von den Klägern formulierten Vorlagefragen sind entweder nicht entscheidungserheblich oder sie können durch die Rechtsprechung des EuGH beantwortet werden.

90

aa) Der ersten, zweiten sowie fünften Vorlagefrage fehlt die Entscheidungserheblichkeit.

91

§ 227 AO beschränkt sich --anders als § 48 VwVfG-- nicht darauf, der Behörde ein Ermessen einzuräumen, sondern enthält zusätzlich als gesetzliche Voraussetzung die Unbilligkeit der Einziehung der Steuer. Damit stellt sich die erste Vorlagefrage im Streitfall gar nicht.

92

Da bereits die erste Voraussetzung der Kühne & Heitz-Rechtsprechung vorliegend nicht erfüllt wurde, bedarf es auch keiner Erläuterungen, wie deren dritte Voraussetzung zu verstehen wäre.

93

Den beiden von den Klägern in der fünften Vorlagefrage genannten EuGH-Urteilen liegen Sachverhalte zugrunde, in denen nach nationalem Verfahrensrecht eine Änderung eines unionsrechtswidrigen Verwaltungsaktes möglich war. Eine solche Änderungsmöglichkeit sieht jedoch die AO für Steuerbescheide nicht vor (vgl. dazu oben unter II.2.a).

94

bb) Die dritte Vorlagefrage der Kläger kann unter Berücksichtigung und Auslegung der langjährigen Rechtsprechung des EuGH zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten sowie zur Rechts- und Bestandskraft behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen und deren Begrenzung durch das Effektivitäts- und Äquivalenzprinzip beantwortet werden; insofern wird auf die Ausführungen unter II.3. verwiesen.

95

cc) Die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, nach der die gegen das Unionsrecht verstoßende Steuerfestsetzung ohne behördliche Überprüfung endgültig und nicht abänderbar ist, mit dem Effektivitätsprinzip hat der EuGH bereits bejaht, so dass auch die vierte Frage nicht zur Vorlage führen kann. In der Rechtssache Kapferer in Slg. 2006, I-2585 hatte das vorlegende Gericht ausdrücklich gefragt, ob der in Art. 10 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit, der das Effektivitätsprinzip umfasst, dahingehend auszulegen sei, dass auch ein nationales Gericht nach den in der Rechtssache Kühne & Heitz dargelegten Voraussetzungen verpflichtet sei, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, wenn diese gegen das Unionsrecht verstoße. Die Antwort des EuGH lautete, das Unionsrecht gebiete es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Vorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlange, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß gegen das Unionsrecht abgestellt werden könne. Die Mitgliedstaaten hätten jedoch dafür zu sorgen, dass die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität gewährleistet blieben. Dieser Beurteilung stehe auch das Urteil Kühne & Heitz nicht entgegen (Urteil Kapferer in Slg. 2006, I-2585, Rz 21 und 23).

96

dd) Es dürfte unstreitig sein, dass zur effektiven Rechtsschutzgewährung durch das nationale Recht auch gehört, es dem Betroffenen zu ermöglichen, einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch geltend zu machen. Dessen unionsrechtliche Anforderungen, insbesondere die Notwendigkeit eines "offenkundigen" Verstoßes gegen Unionsrecht bei einer richterlichen Entscheidung, wurden vom EuGH vor allem in seinem Urteil Köbler in Slg. 2003, I-10239, Rz 51 ff. herausgearbeitet, so dass der Senat auch die sechste Frage dem EuGH nicht vorlegen musste.

97

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) und die noch zu gründende GmbH beabsichtigten, das Grundstück Z derart gemeinschaftlich von einer GbR zu erwerben, dass die Klägerin den bebauten und die GmbH den unbebauten Grundstücksteil kaufen sollte. Da die GbR jedoch nur bereit war, das Grundstück an lediglich einen Erwerber zu veräußern, kamen die Parteien überein, dass die Ehefrau des Gesellschafters der GmbH, X, das Grundstück zunächst insgesamt erwerben sollte. Mit notariell beurkundetem Kaufvertrag vom 6. Mai 2008 veräußerte die GbR das Grundstück an X zu einem Kaufpreis von 1.625.000 €. Ebenfalls mit notariell beurkundetem Kaufvertrag vom 6. Mai 2008 verkaufte X eine noch nicht vermessene Teilfläche des Grundstücks von ca. 1.160 qm an die Klägerin zu einem Kaufpreis von 1.086.750 €. Die Klägerin hinterlegte den vereinbarten Kaufpreis am 12. September 2008 auf einem Notaranderkonto.

2

Nachdem das Grundstück aufgeteilt worden war, vereinbarten die GbR und X mit notariell beurkundetem Vertrag vom 22. September 2008 (UR-Nr. 07/2008) die Aufhebung des Kaufvertrags vom 6. Mai 2008. Der Vertrag stand u.a. unter der aufschiebenden Bedingung, dass der auf dem Notaranderkonto hinterlegte Betrag aus dem Kaufvertrag der X mit der Klägerin bis spätestens 26. September 2009 an die GbR ausgekehrt wird.

3

Am selben Tag schlossen die Klägerin und X einen notariell beurkundeten Aufhebungsvertrag (UR-Nr. 08/2008) über den Kaufvertrag vom 6. Mai 2008. Der Vertrag stand unter der aufschiebenden Bedingung, dass der zwischen der GbR und X geschlossene Aufhebungsvertrag durch Eintritt der darin vereinbarten aufschiebenden Bedingung wirksam wird.

4

In einem weiteren notariell beurkundeten Vertrag vom 22. September 2008 (UR-Nr. 11/2008) veräußerte die GbR die nunmehr neu vermessene Teilfläche von ca. 1.160 qm an die Klägerin. Der Kaufpreis betrug 1.090.000 €. Der Kaufvertrag stand unter der aufschiebenden Bedingung, dass der zwischen der Klägerin und X geschlossene Aufhebungsvertrag wirksam wird.

5

Die in den Verträgen vom 22. September 2008 vereinbarten aufschiebenden Bedingungen traten ein, so dass diese Verträge wirksam wurden.

6

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) setzte mit Bescheid vom 13. Juni 2008 für den Grundstückserwerb der Klägerin von X nach einer Bemessungsgrundlage von 1.086.750 € gegen die Klägerin Grunderwerbsteuer in Höhe von 38.036 € fest. Ferner erließ das FA am 9. Oktober 2008 gegen die Klägerin einen weiteren Grunderwerbsteuerbescheid. Darin setzte es gegen diese für den Erwerb desselben Grundstücks von der GbR aufgrund einer Bemessungsgrundlage von 1.090.000 € Grunderwerbsteuer in Höhe von 38.150 € fest.

7

Mit Schreiben vom 23. September 2008 leitete der beurkundende Notar den zwischen der Klägerin und X geschlossenen Aufhebungsvertrag an das FA weiter und beantragte für die Klägerin die Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom 13. Juni 2008. Das FA lehnte den Antrag gegenüber der Klägerin mit an den beurkundenden Notar gerichtetem Bescheid vom 16. Oktober 2008 mit der Begründung ab, der Kaufvertrag sei nicht i.S. des § 16 Abs. 1 Nr. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) rückgängig gemacht worden, da der Veräußerer seine vollständige rechtliche und wirtschaftliche Verfügungsmacht nicht zurückerlangt habe.

8

Mit Schreiben vom 3. November 2008 (Schreiben 1) wies die Klägerin auf die Aufhebung des Kaufvertrags hin. Sie bat darum, das Schreiben als "Widerspruch gegen die o.g. Grunderwerbsteuer" zu werten. Die Klägerin sendete das Schreiben per Telefax an die Steuerkasse, die es nicht an das FA weiterleitete. Ferner sendete die Klägerin am 3. November 2008 ein weiteres Schreiben (Schreiben 2) per Telefax an die Steuerkasse. Bei diesem Schreiben handelte es sich um eine Mahnung bezüglich der mit Bescheid vom 13. Juni 2008 festgesetzten Grunderwerbsteuer. Darauf war handschriftlich Folgendes vermerkt: "... Sie sind nicht auf dem Laufenden. Am 22.09.08 ist der Vertrag aufgehoben worden, so dass die Zahlung der Restgrunderwerbsteuer und der Säumniszuschläge nicht in Frage kommt ..." Dieses Schreiben leitete die Steuerkasse an das FA weiter, dem es am 4. November 2008 zuging.

9

Ein weiteres Schreiben der Klägerin an das FA vom 18. Januar 2009, dem die Schreiben vom 3. November 2008 als Anlage beigefügt waren, legte das FA als Einspruch gegen den Bescheid vom 16. Oktober 2008 sowie als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Einspruchsfrist aus. Diesem Antrag gab es statt. Den Einspruch wies es als unbegründet zurück.

10

Mit Schreiben vom 26. April 2010 und 26. Mai 2010 beantragte die Klägerin den Erlass der mit Bescheid vom 13. Juni 2008 bzw. mit Bescheid vom 9. Oktober 2008 festgesetzten Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen. Die Erlassanträge und die gegen die diesbezüglichen Ablehnungsbescheide eingelegten Einsprüche hatten keinen Erfolg.

11

Die Klägerin erhob am 16. Februar 2010 Verpflichtungsklage auf Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom 13. Juni 2008. Mit Schriftsatz vom 17. Januar 2011 beantragte sie ferner, hilfsweise das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 17. August 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2010 zu verpflichten, die mit Bescheid vom 9. Oktober 2008 festgesetzte Grunderwerbsteuer in Höhe eines Teilbetrages von 38.036 € zu erlassen, hilfsweise das FA zu verpflichten, die mit Bescheid vom 13. Juni 2008 festgesetzte Grunderwerbsteuer zu erlassen. Im Erörterungstermin vom 17. Mai 2011 beantragte die Klägerin hilfsweise zudem, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 9. Oktober 2008 aufzuheben. Das FA stimmte dieser Sprungklage zu.

12

Die Klage hatte im Hauptantrag Erfolg. Das Finanzgericht (FG) war der Ansicht, dass die Klägerin zwar die Einspruchsfrist versäumt, das FA der Klägerin jedoch insoweit zu Recht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt habe. Ferner sei das FA verpflichtet, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 13. Juni 2008 nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG aufzuheben. Der zwischen der Klägerin und X geschlossene Kaufvertrag sei durch den Vertrag vom 22. September 2008 aufgehoben worden. Darin liege eine Rückgängigmachung des ursprünglichen Erwerbsvorgangs i.S. des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG, da alle grunderwerbsteuerrechtlich relevanten Beziehungen rechtlicher oder tatsächlicher Art zwischen den Vertragsparteien beseitigt worden seien. Die Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 2007 veröffentlicht.

13

Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG. Entgegen der Ansicht des FG habe die Klägerin das Grundstück nicht aus der Hand gegeben und ihre wirtschaftliche Position in Bezug auf das Grundstück zu keiner Zeit aufgegeben. Ferner sei der Bescheid vom 16. Oktober 2008 bestandskräftig. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei zu Unrecht erfolgt. Das Schreiben 1 der Klägerin sei nicht als Einspruch auszulegen.

14

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

15

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, festzustellen, dass der Grunderwerbsteuerbescheid vom 9. Oktober 2008 rechtswidrig ist.

Entscheidungsgründe

16

II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zu Unrecht hat das FG entschieden, das FA sei verpflichtet, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 13. Juni 2008 nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG aufzuheben.

17

1. Zutreffend hat das FG die Klage nicht wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unbegründet abgewiesen. Die Frage, ob der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung --AO--) zu gewähren war, stellt sich dabei nicht. Denn die Klägerin hat fristgemäß Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 16. Oktober 2008 eingelegt. Das am 3. November 2008 an die Steuerkasse gesandte Schreiben 2 der Klägerin ist nämlich als Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 16. Oktober 2008 auszulegen.

18

a) Außerprozessuale Verfahrenserklärungen sind entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auszulegen. Entscheidend ist, wie das FA als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Schreibens verstehen musste. Dabei ist bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen grundsätzlich davon auszugehen, der Steuerpflichtige habe denjenigen Rechtsbehelf einlegen wollen, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft. Die unrichtige Bezeichnung des Einspruchs allein schadet nach § 357 Abs. 1 Satz 4 AO nicht. Lässt deshalb die Äußerung eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Rechtsbehelf einlegen will, so ist die Erklärung im Allgemeinen als Rechtsbehelf zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der Bestandskraft zu verhindern (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. November 2010 II B 55/10, BFH/NV 2011, 295, m.w.N.).

19

b) Im Streitfall entspricht es dem Gebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 2002  1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835), das am 3. November 2008 an die Steuerkasse gesandte Schreiben 2 der Klägerin als Einspruch auszulegen. Das von der Klägerin darin verfolgte Ziel, für den Grundstückserwerb vom 6. Mai 2008 wegen der Aufhebung des Kaufvertrags keine Grunderwerbsteuer zahlen zu müssen, konnte durch die Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom 13. Juni 2008 gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG erreicht werden. Aus den Ausführungen der Klägerin ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie sich gegen die Ablehnung der Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom 13. Juni 2008 durch den Bescheid vom 16. Oktober 2008 wandte und hiergegen Einspruch einlegen wollte. Zwar hat die Klägerin ihr Schreiben an die Steuerkasse und damit an eine unzuständige Finanzbehörde gerichtet, jedoch hat diese das Schreiben an das FA weitergeleitet. Diesem ist es am 4. November 2008 und damit innerhalb der Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO zugegangen.

20

2. Das FA ist nicht verpflichtet, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 13. Juni 2008 nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG aufzuheben. Denn der Erwerbsvorgang zwischen der Klägerin und X wurde entgegen der Auffassung des FG nicht rückgängig gemacht.

21

a) Nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG wird eine Steuerfestsetzung auf Antrag aufgehoben, wenn ein Erwerbsvorgang vor dem Übergang des Eigentums am Grundstück auf den Erwerber durch Vereinbarung der Vertragspartner innerhalb von zwei Jahren seit der Entstehung der Steuer rückgängig gemacht wird.

22

"Rückgängig gemacht" ist ein Erwerbsvorgang, wenn über die zivilrechtliche Aufhebung des den Steuertatbestand erfüllenden Rechtsgeschäfts hinaus die Vertragspartner sich derart aus ihren vertraglichen Bindungen entlassen haben, dass die Möglichkeit zur Verfügung über das Grundstück nicht beim Erwerber verbleibt, sondern der Veräußerer seine ursprüngliche Rechtsstellung wiedererlangt (BFH-Urteil vom 25. August 2010 II R 35/08, BFH/NV 2010, 2301, m.w.N.).

23

Wird im Zusammenhang mit der Aufhebung eines Kaufvertrags über ein Grundstück dieses weiterveräußert, ist für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG entscheidend, ob für den früheren Erwerber trotz der Vertragsaufhebung die Möglichkeit der Verwertung einer aus dem "rückgängig gemachten" Erwerbsvorgang herzuleitenden Rechtsposition verblieben und der Verkäufer demzufolge nicht aus seinen Bindungen entlassen war (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 2301).

24

Dem Ersterwerber verbleibt die Möglichkeit der Verwertung einer Rechtsposition jedenfalls dann, wenn der Aufhebungs- und der Weiterveräußerungsvertrag in einer einzigen Urkunde zusammengefasst sind. In diesem Fall hat er die rechtliche Möglichkeit, die Aufhebung des ursprünglichen Kaufvertrags zum anschließenden Erwerb des Grundstücks durch eine von ihm ausgewählte dritte Person zu nutzen. Denn der Veräußerer wird aus seiner Übereignungsverpflichtung gegenüber dem früheren Erwerber erst mit der Unterzeichnung des Vertrags durch alle Vertragsbeteiligten und damit erst in dem Augenblick entlassen, in dem er bereits wieder hinsichtlich der Übereignung des Grundstücks an den Zweiterwerber gebunden ist (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 2301, m.w.N.). Da sich diese Schlussfolgerung trotz gleicher Beweggründe der Parteien mühelos umgehen lässt, indem die Aufhebung des ursprünglichen und der Abschluss des neuen Kaufvertrags nacheinander beurkundet werden, kann der Abschluss beider Verträge in aufeinanderfolgenden Urkunden nicht anders beurteilt werden als ihre Zusammenfassung in einer Urkunde (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 2301, m.w.N.).

25

Die Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG ist jedoch nur dann ausgeschlossen, wenn der Ersterwerber eine ihm verbliebene Rechtsposition auch in seinem eigenen (wirtschaftlichen) Interesse verwertet hat (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 2301, m.w.N.). Eine Verwertung in diesem Sinne liegt vor, wenn die Einflussnahme des Ersterwerbers auf die Weiterveräußerung Ausfluss der ihm verbliebenen Rechtsposition ist. In diesem Fall sind die Interessen Dritter an der Weiterveräußerung unbeachtlich (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 2301).

26

b) Nach diesen Grundsätzen lagen im Streitfall die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom 13. Juni 2008 nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG nicht vor. Der durch den Vertrag vom 6. Mai 2008 verwirklichte Erwerbsvorgang zwischen der Klägerin und X wurde nicht rückgängig gemacht. Denn die Klägerin hat im Zusammenhang mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrags vom 22. September 2008 eine ihr verbliebene Rechtsposition verwertet. Die Aufhebungsverträge zwischen der Klägerin und X einerseits sowie zwischen X und der GbR andererseits und der Weiterveräußerungsvertrag zwischen der GbR und der Klägerin wurden in aufeinanderfolgenden Urkunden abgeschlossen. X wurde demgemäß aus ihrer Übereignungsverpflichtung gegenüber der Klägerin erst in dem Augenblick entlassen, in dem sie auf ihren Übereignungsanspruch gegenüber der GbR verzichtet hatte. Für die Annahme einer der Klägerin verbliebenen Rechtsposition ist es entgegen der Ansicht des FG unerheblich, dass die Klägerin ihren ursprünglichen Übereignungsanspruch von einer Nichteigentümerin erlangt hatte. Denn es ist für einen Ausschluss des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG nicht erforderlich, dass der Erwerber das Grundstück als solches verwertet; vielmehr reicht es aus, wenn er eine ihm aus dem ursprünglichen Erwerbsvorgang verbliebene, das Grundstück betreffende Rechtsposition verwertet.

27

Die Klägerin hat die ihr verbliebene Rechtsposition ferner in ihrem eigenen (wirtschaftlichen) Interesse verwertet. Hierfür war es nicht notwendig, dass sie das Grundstück einem Zwischenhändler ähnlich an einen Dritten veräußerte, sondern es genügte bereits, dass sie die ihr verbliebene Rechtsposition verwandte, um den eigenen Erwerb des Grundstücks von der GbR sicherzustellen. Es kam ihr gerade darauf an, dass X gegenüber der GbR auf ihren Übereignungsanspruch verzichtet, damit die GbR bezüglich der Übereignung des Grundstücks schuldrechtlich nicht gebunden war und ihr, der Klägerin, das Grundstück wie ursprünglich geplant verkaufen konnte, ohne sich dadurch die Erfüllung des Kaufvertrags mit X unmöglich zu machen.

28

c) Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.

29

3. Die Sache ist spruchreif. Die Klage war auch hinsichtlich der Hilfsanträge abzuweisen.

30

a) Soweit die Klägerin erstmalig im Revisionsverfahren hilfsweise beantragt hat, die Rechtswidrigkeit des Grunderwerbsteuerbescheids vom 9. Oktober 2008 festzustellen, ist dieses Begehren unzulässig. Denn es handelt sich dabei um eine im Revisionsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 1 FGO unzulässige Klageerweiterung (vgl. Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 43 FGO Rz 108; siehe auch BFH-Urteil vom 27. August 2003 II R 18/02, BFH/NV 2004, 203, zum Übergang von einer Anfechtungs- zu einer Feststellungsklage im Revisionsverfahren).

31

b) Ferner ist die Klage unzulässig, soweit die Klägerin erstmalig im Erörterungstermin vom 17. Mai 2011 hilfsweise beantragt hat, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 9. Oktober 2008 aufzuheben. Zwar hat das FA dieser Sprungklage zugestimmt. Jedoch hat die Klägerin insofern die einmonatige Klagefrist des § 47 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht gewahrt.

32

c) Im Übrigen ist die Klage in ihren Hilfsanträgen zwar zulässig, aber unbegründet. Das FA hat es ermessensfehlerfrei abgelehnt, die mit Bescheid vom 9. Oktober 2008 festgesetzte Grunderwerbsteuer in Höhe eines Teilbetrags von 38.036 € oder die mit Bescheid vom 13. Juni 2008 festgesetzte Grunderwerbsteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen.

33

aa) Nach § 227 AO können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Ein Erlass kommt aus sachlichen Gründen in Betracht, wenn die Einziehung der Steuer zwar dem Gesetz entspricht, aber infolge eines Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers derart zuwiderläuft, dass sie unbillig erscheint (BFH-Urteil vom 4. Februar 2010 II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663, m.w.N.). Beim Erlass handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (BFH-Urteil in BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663, m.w.N.). Die Entscheidung darf gemäß § 102 FGO gerichtlich (nur) daraufhin überprüft werden, ob das FA die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder es von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

34

bb) Das FA hat ermessensfehlerfrei angenommen, dass die Festsetzung der Grunderwerbsteuer in den Bescheiden vom 13. Juni 2008 und 9. Oktober 2008 nicht sachlich unbillig ist. Ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers ist nicht erkennbar. Es entspricht dem Willen des Gesetzgebers, zwei dasselbe Grundstück betreffende aufeinanderfolgende Erwerbsvorgänge zwischen demselben Erwerber und verschiedenen Veräußerern jeweils gesondert zu besteuern, obgleich nur einer dieser Erwerbsvorgänge einen Rechtsträgerwechsel herbeigeführt hat. Soweit es somit zu einer Steuerschuld ohne Rechtsträgerwechsel kommt, entspricht dies der Sachgesetzlichkeit des GrEStG (vgl. auch BFH-Urteil vom 18. November 2009 II R 11/08, BFHE 226, 552, BStBl II 2010, 498, unter II.7.).

Soweit die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Finanzbehörde aus, den begehrten Verwaltungsakt zu erlassen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.

Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.

(1) Bei der Veranlagung einer unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Person bleiben 120.000 Deutsche Mark und im Falle der Zusammenveranlagung von Ehegatten 240.000 Deutsche Mark vermögensteuerfrei.

(2) Für jedes Kind, das mit einem Steuerpflichtigen oder mit Ehegatten zusammen veranlagt wird, sind weitere 120.000 Deutsche Mark vermögensteuerfrei. Kinder im Sinne des Gesetzes sind eheliche Kinder, für ehelich erklärte Kinder, nichteheliche Kinder, Stiefkinder, Adoptivkinder und Pflegekinder.

(3) Weitere 50.000 Deutsche Mark sind steuerfrei, wenn der Steuerpflichtige das 60. Lebensjahr vollendet hat oder voraussichtlich für mindestens drei Jahre behindert im Sinne des Schwerbehindertengesetzes mit einem Grad der Behinderung von 100 ist. Werden mehrere Steuerpflichtige zusammen veranlagt (§ 14 des Vermögensteuergesetzes), wird der Freibetrag mit der Zahl der zusammen veranlagten Steuerpflichtigen, bei denen die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen, vervielfacht.

(4)

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist als Rechtsanwältin in A berufstätig. 2004 übernahm sie auf Bitten ihres Vaters als dessen Treuhänderin die Kommanditeinlage der X-GmbH & Co. KG (X-KG), sämtliche Geschäftsanteile der Komplementär-GmbH (X-GmbH) und die Geschäftsführung der X-GmbH. Die X-KG hatte sämtliche Dienstleistungen für die Y-GmbH, die in B ein Altenpflegeheim betrieb und deren Geschäftsführer der Vater war, übernommen. Faktisch führte der Vater, den die Klägerin in vollem Umfang bevollmächtigt hatte, sämtliche Geschäfte. Diese Tätigkeit überwachte die Klägerin nicht.

2

2005 wurde die X-KG wegen unberechtigter Entnahmen des Vaters insolvent. Als die Klägerin 2007 davon erfuhr, stellte sie umgehend Insolvenzantrag. Das Insolvenzverfahren wurde einen Monat nach dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der Y-GmbH eröffnet, die zeitgleich --wie auch der Vater selbst-- insolvent geworden war.

3

Wegen rückständiger, von Februar bis November 2006 fällig gewordener Umsatzsteuer und Säumniszuschläge der X-KG nahm der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Klägerin 2007 in Höhe von 76.655 € in Haftung. Der Bescheid ist bestandskräftig. Insgesamt belaufen sich die aus der Insolvenz der X-KG und X-GmbH herrührenden Schulden der Klägerin wegen Steuern, Sozialabgaben und Schuldanerkenntnissen gegenüber dem Insolvenzverwalter auf rund 200.000 €.

4

2008 bot die Klägerin sämtlichen Gläubigern den Abschluss eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans an, nach dem sie aufgrund eines von ihrem Ehemann in Aussicht gestellten Darlehens in Höhe von 15.000 € in den folgenden fünf Jahren die Abtretung ihrer pfändbaren Gewinne aus ihrer selbständigen Tätigkeit gegen Befreiung von der Restschuld in Aussicht gestellt hatte. Zugleich teilte sie mit, die zuständige Rechtsanwaltskammer habe im Hinblick auf § 14 Abs. 2 Nr. 7 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) bereits ein Verfahren zum Entzug der Zulassung eröffnet und warte nur noch die Entscheidung über den Schuldenbereinigungsplan ab. Bis auf das FA und eine weitere Finanzbehörde stimmten die Gläubiger dem Plan zu. Das FA lehnte in Abstimmung mit dem anderen FA sowohl die Teilnahme an dem Verfahren im Hinblick auf § 305 Abs. 1 Nr. 1 der Insolvenzordnung (InsO) als auch den Erlass der Haftungsschuld ab.

5

Nach einem weiteren erfolglosen Antrag der Klägerin, an einem von ihr vorgeschlagenen Schuldenbereinigungsverfahren teilzunehmen, lehnte das FA wiederum einen Erlassantrag der Klägerin ab, den sie im Wesentlichen mit der Gefahr der Existenzvernichtung infolge des wegen Vermögensverfalls zu erwartenden Widerrufs ihrer Anwaltszulassung begründet hatte. Eine Beteiligung an einer außergerichtlichen Bereinigung sei nicht möglich und außerdem fehle es sowohl an der Erlassbedürftigkeit als auch an der Erlasswürdigkeit der Klägerin.

6

Das Finanzgericht (FG) gab einem daraufhin von der Klägerin gestellten Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz statt und gab dem FA im Wege einer einstweiligen Anordnung auf, "die Vollstreckung einstweilig einzustellen, und zwar bis einen Monat nach Bekanntgabe einer erneuten Entscheidung ... über den mit der Teilnahme am Schuldenbereinigungsplan verbundenen Erlass."

7

Das FA wies den Einspruch zurück. Einen außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplan nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO gebe es nur im Fall des der Klägerin nicht möglichen Verbraucherinsolvenzverfahrens. Zudem fehle es für einen Erlass nach § 227 der Abgabenordnung (AO) an der Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit. So stehe nicht fest, dass der Widerruf der Rechtsanwaltszulassung im Fall der Versagung des Erlasses unmittelbar bevorstehe. Aber selbst ein drohender Widerruf der Zulassung geböte den Erlass der Forderungen nicht, denn andernfalls würden die Angehörigen rechtsberatender Berufe gegenüber nicht zulassungsabhängigen Berufstätigen begünstigt. Der Klägerin sei zuzumuten, ggf. eine andere juristische Tätigkeit auszuüben. Zudem sei der Lebensunterhalt der Familie der Klägerin angesichts der erheblichen Einkünfte ihres Ehemannes auch im Fall des Verlusts der Anwaltszulassung nicht gefährdet. An der Erlasswürdigkeit der Klägerin fehle es, da sie es dem Vater ermöglicht habe, den Steuerschaden herbeizuführen, indem sie sich vom Vater als Treuhänderin habe vorschieben lassen und die Pro-forma-Geschäftsführung übernommen habe.

8

Der von der Klägerin --mit dem ausdrücklichen Ziel einer Schuldenbereinigung zur Vermeidung des Entzugs der Anwaltszulassung-- weiterverfolgten Klage gab das FG mit dem Tenor statt:

9

"Der Beklagte wird ... verpflichtet, der Klägerin die mit Haftungsbescheid vom ... festgesetzten Steuern und die darauf entstandenen Zinsen und Säumniszuschläge unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erlassen, soweit sie nicht innerhalb von sechs Jahren in Durchführung des von der Klägerin vorgeschlagenen und ihren übrigen Gläubigern angenommenen Schuldenbereinigungsplans getilgt worden sind."

10

Nach Auffassung des FG war das dem FA nach § 227 AO eingeräumte Ermessen im Streitfall auf Null reduziert. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Zustimmung zu dem Schuldenbereinigungsplan und einen insoweit bedingten und durch Nebenbestimmungen konkretisierten Erlass. Die persönliche Unbilligkeit sei gegeben, weil ohne Erlass im Rahmen des Schuldenbereinigungsplans die wirtschaftliche Existenz der Klägerin als Rechtsanwältin wegen des dann zu erwartenden Widerrufs der Anwaltszulassung vernichtet würde. Der Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem Ehemann sei insoweit unbeachtlich, zumal grundsätzlich auf die Dauer der Ehe beschränkt. Eine den Erlass hindernde Erlassunwürdigkeit sei nicht erkennbar. Insbesondere habe sie durch die unterlassene Kontrolle ihres Vaters nicht billigend in Kauf genommen, dass er gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen werde. Angesichts des langjährig erfolgreichen Betriebs des Altenheims habe sie kein Misstrauen hegen müssen. Aber selbst bei fehlender Erlasswürdigkeit müsse bei gehöriger Abwägung des Allgemeininteresses gegen die Pflichtverletzung wegen des verfassungsrechtlichen Gewichts der Berufsfreiheit dem Existenzerhalt der Klägerin Vorrang gegeben werden.

11

Das FA begründet die Revision zum einen damit, dass der Urteilstenor mangels hinreichender Bestimmtheit und Bestimmbarkeit unwirksam sei. Es sei nicht hinreichend erkennbar, was von ihm verlangt werde, ein sofortiger Erlass unter der auflösenden Bedingung der --im Einzelnen ungewissen-- Durchführung eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans oder ein künftiger, von der Durchführung eines nicht klar bezeichneten Schuldenbereinigungsplans abhängiger und deshalb zeitlich und inhaltlich unbestimmter Erlass oder die verbindliche Zusicherung eines zukünftigen Erlasses, auf die mangels gesetzlicher Grundlage kein Rechtsanspruch und auch kein Anspruch auf eine diesbezügliche Ermessensentscheidung bestehe.

12

Des Weiteren habe das FG die Erlassbedürftigkeit der Klägerin zu Unrecht bejaht. Der Widerruf der Anwaltszulassung sei keinesfalls notwendige Folge der Ablehnung des Erlassantrags. Abgesehen davon habe das FG verkannt, dass auch von der Klägerin ohne Verstoß gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit nach Art. 12 des Grundgesetzes (GG) eine Veränderung ihrer juristischen Betätigung verlangt werden könne.

13

Erlasswürdig sei die Klägerin nicht, weil sie als Rechtsanwältin ihre Geschäftsführerpflichten habe kennen müssen und sie sich nicht mit persönlichen Umständen wie Schwangerschaft, räumlicher Distanz oder dem bislang ungestörten persönlichen Verhältnis zu dem die Geschäftsführertätigkeit faktisch ausübenden Vater entschuldigen könne.

14

Schließlich habe das FG die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht beachtet, wonach eine Existenzgefährdung als alleiniger Erlassgrund ausscheide, wenn wegen bestehender familienrechtlicher Unterhaltsansprüche keine Gefahr der Inanspruchnahme öffentlicher Hilfe bestehe.

15

Das FA beantragt, unter Aufhebung des Urteils des FG die Klage abzuweisen, hilfsweise den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

16

Die Klägerin bezieht sich auf ihr Vorbringen im Beschwerdeverfahren, verteidigt die Entscheidung des FG und beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

17

II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht, § 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat entscheidet in der Sache selbst (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Die Ablehnung des FA, der Klägerin die Haftungsschuld nach Maßgabe der von ihr formulierten Bedingungen zu erlassen, ist nicht zu beanstanden.

18

1. Die Revision ist bereits begründet und das Urteil wegen Verstoßes gegen die Grundordnung des Verfahrens aufzuheben, weil die Urteilsformel (§ 105 Abs. 2 Nr. 3 FGO) des finanzgerichtlichen Urteils unklar ist und auch nicht in einem bestimmten Sinn zweifelsfrei ausgelegt werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 27. Juli 1993 VIII R 67/91, BFHE 173, 480, BStBl II 1994, 469; BFH-Beschlüsse vom 5. August 2010 IX B 30/10, BFH/NV 2010, 2104; vom 14. November 2005 X B 106/05, BFH/NV 2006, 580; vom 11. November 2005 XI B 171/04, BFH/NV 2006, 349).

19

Wie das FA in der Revisionsbegründung zutreffend ausgeführt hat, ist der Entscheidung nicht zweifelsfrei zu entnehmen, welche Verpflichtung das FG dem FA auferlegt hat. Selbst wenn man bei wohlwollendem Verständnis den Tenor so verstehen kann, dass das FA --in welchem rechtlichen Kleid auch immer-- verpflichtet wird, die nach der vereinbarungsgemäßen Erfüllung eines Schuldenbereinigungsplans dann noch verbliebene Haftungsschuld zu erlassen, so bleibt unklar, welcher Schuldenbereinigungsplan zugrunde liegt, ob er mit den übrigen Gläubigern überhaupt zustande kommt und wann der Erlass auszusprechen ist. Das FA hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Laufe des Verfahrens mehrere Schuldenbereinigungspläne unterbreitet hat, so dass schon die Laufzeit der Schuldentilgung und damit auch ungewiss ist, für welche Zeiträume die Klägerin ihre pfändbaren Einkünfte abzuführen hat.

20

2. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Sie ist spruchreif.

21

a) Ein vor dem FG einklagbarer Anspruch auf Beteiligung des FA an einem Schuldenbereinigungsverfahren ergibt sich nicht aus der Insolvenzordnung.

22

Zwar verlangt die Insolvenzordnung zur Vermeidung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens nach §§ 304 ff. InsO den Versuch einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung. Die Zustimmung der Gläubiger zu einem Schuldenbereinigungsplan i.S. des § 305 Abs. 1 Nr. 4 InsO wäre aber gemäß § 309 InsO beim Insolvenzgericht einzuklagen.

23

b) Auch aus dem Erlass des Bundesministeriums der Finanzen vom 11. Januar 2002 (BStBl I 2002, 132), der ermessensregelnde "Kriterien für die Entscheidung über einen Antrag auf außergerichtliche Schuldenbereinigung (§ 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO)" enthält, auf deren Einhaltung ein Steuerschuldner aufgrund der damit eingetretenen Selbstbindung der Verwaltung grundsätzlich Anspruch hat (BFH-Urteil vom 29. März 2007 IV R 14/05, BFHE 217, 525, BStBl II 2007, 816, unter II.2. der Gründe, m.w.N.), kann die Klägerin keinen Anspruch auf Zustimmung des FA ableiten. Denn dieser Erlass gilt nur im Rahmen des Verbraucherinsolvenzverfahrens nach §§ 304 ff. InsO, das für die Klägerin nicht in Betracht kommt. Denn das Verbraucherinsolvenzverfahren können nur nicht selbständig Tätige wählen (§ 304 Abs. 1 Satz 1 InsO; Beschluss des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 14. November 2002 IX ZB 152/02, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2003, 591). Die Klägerin will aber ihre selbständige Anwaltstätigkeit fortsetzen.

24

c) Als Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Beteiligung des FA an dem von der Klägerin gewünschten Schuldenbereinigungsverfahren kommt im Streitfall allein § 227 AO in Betracht.

25

Nach § 227 AO können Steuern erstattet oder erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Die Unbilligkeit kann dabei in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen begründet liegen.

26

Der Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen setzt Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit voraus. Nur die Erfüllung beider Voraussetzungen lässt die Einziehung der Steuer als unbillig erscheinen. Deshalb reicht für die Ablehnung eines Erlasses bereits die Verneinung einer Voraussetzung aus (BFH-Beschlüsse vom 18. August 1988 V B 71/88, BFH/NV 1990, 137; vom 9. Dezember 2009 IX B 132/09, BFH/NV 2010, 646).

27

Da die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung von Billigkeitsmaßnahmen eine Ermessensentscheidung ist (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603), können Gegenstand der richterlichen Kontrolle nur diejenigen für die Verwaltungsentscheidung maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse sein, die der Finanzbehörde im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen (ständige Rechtsprechung, Senatsurteil vom 30. Oktober 1990 VII R 106/87, BFH/NV 1991, 509, m.w.N.).

28

Die Klägerin hat mangels Erlassbedürftigkeit keinen Anspruch auf (Teil-)Erlass ihrer Schulden, die ablehnende Entscheidung des FA ist auch nicht ermessensfehlerhaft.

29

Persönliche Unbilligkeit in Gestalt der Erlassbedürftigkeit liegt vor, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerpflichtigen vernichten oder ernstlich gefährden würde.

30

aa) Das ist der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann (BFH-Urteil vom 27. September 2001 X R 134/98, BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176, m.w.N.).

31

Das FA hat den Lebensunterhalt der Klägerin und ihrer Familie wegen der Einkünfte und des Vermögens ihres Ehegatten nicht als durch die Haftungsinanspruchnahme gefährdet angesehen. Die Klägerin hat diesen Sachverhalt noch in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat zugestanden.

32

Es entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die Frage der Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts bei Eheleuten nicht ohne Berücksichtigung der Grundsätze des Familienunterhaltsrechts zu beurteilen. Dies gilt jedenfalls bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4. Mai 2007 XI S 4/07 (PKH), BFH/NV 2007, 1620; vom 31. März 1982 I B 97/81, BFHE 135, 410, BStBl II 1982, 530, m.w.N.; vom 3. Oktober 1988 IV S 5/86, BFH/NV 1989, 411; anschließend auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. August 1990  8 C 42/88, NJW 1991, 1073; grundlegend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Februar 1961  1 BvR 314/60, BVerfGE 12, 180, BStBl I 1961, 63, unter B.III.). Bei einem Erlassantrag nicht getrennt lebender Eheleute ist danach die persönliche Erlassbedürftigkeit für die Ehegatten unter Einbeziehung ihrer gemeinsamen Einkommens- und Vermögenslage zu würdigen.

33

Der Streitfall bietet keine Veranlassung, von dieser Rechtsauffassung abzuweichen. Daran ändert auch nichts, dass das FG die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz der Klägerin bejaht hat, weil ihr Unterhaltsanspruch auf die Dauer der Ehe beschränkt und die wirtschaftliche Existenz der Klägerin über die Ehezeit hinaus nur durch ihre eigene Berufstätigkeit gesichert sei. Den Widerspruch zur zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung begründet das FG nicht. Die Möglichkeit, dass der Unterhaltsanspruch künftig wegfallen kann, muss --da es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung ankommt-- unberücksichtigt bleiben. Das FA hat zutreffend darauf hingewiesen, dass bei veränderter Sachlage ein erneuter Erlassantrag gestellt werden kann.

34

bb) Es entspricht auch der BFH-Rechtsprechung, wenn das FA in einem möglichen Widerruf der Rechtsanwaltszulassung der Klägerin keine einen Erlass erfordernde Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz gesehen hat.

35

Richtig ist allerdings, dass die Klägerin mit einem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens rechnen muss, wenn die von ihr angestrebte außergerichtliche Schuldenbereinigung mangels Zustimmung des FA scheitert, und dass mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die gesetzliche Vermutung des Vermögensverfalls greift, die zum Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft führt, es sei denn, durch den Vermögensverfall sind die Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO).

36

Abgesehen davon, dass die Ablehnung des Erlasses durch das FA nicht unmittelbar den Widerruf der Rechtsanwaltszulassung zur Folge hat, sondern erst der Insolvenzantrag --der, sofern vom FA gestellt, ebenfalls eine nachprüfbare Ermessensentscheidung voraussetzt-- zur Anwendung des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO führen könnte, würde selbst ein unmittelbar drohender Widerruf der Anwaltszulassung die Erlassbedürftigkeit der Klägerin nicht begründen. Dem Urteil sind keine Feststellungen zu entnehmen und es ist auch sonst nicht ersichtlich, weshalb es der Klägerin nicht möglich oder zumindest nicht zumutbar sein sollte, eine andere Erwerbstätigkeit als die einer Anwältin aufzunehmen. Angesichts ihrer juristischen Qualifikation ist die Bandbreite der möglichen Berufe nicht gering. Aber selbst Tätigkeiten ohne juristische Qualifikationsanforderungen wären ihr angesichts ihrer Verpflichtung, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Abgabenschulden zu begleichen, grundsätzlich zumutbar.

37

Nicht näher begründet und nicht nachvollziehbar ist die Auffassung des FG, der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG schütze die konkret gewählte Berufstätigkeit als Strafverteidigerin und deshalb sei ein Verlangen, auf diese zu verzichten und eine andere juristische Berufstätigkeit aufzunehmen, um in den Genuss eines Teilerlasses im Wege der Restschuldbefreiung im Insolvenzverfahren zu kommen, schlechthin sachwidrig. In Konsequenz dieser Annahme müsste das FA stets Steuerforderungen erlassen, wenn die Gefahr des Widerrufs der Anwaltszulassung wegen Eröffnung eines Insolvenzverfahrens oder Eintragung in das Schuldnerverzeichnis nach Abgabe der eidesstattlichen Versicherung (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO, § 915 der Zivilprozessordnung --ZPO--, § 284 AO) bestünde. Der Gesetzgeber hat aber diese Instrumente der Vollstreckung generell bereitgestellt, um die Durchsetzung von Abgabenansprüchen möglichst umfassend sicher zu stellen. Das FA hat im Interesse der Allgemeinheit grundsätzlich die Pflicht, Steueransprüche auch im Zwangswege durchzusetzen. Die Wahrnehmung dieser Pflicht ist nicht schon deshalb unbillig, weil sie zu einer erheblichen wirtschaftlichen Beeinträchtigung des Steuerschuldners führt (Senatsbeschluss vom 18. Mai 1982 VII B 9/82, juris). Für die Aufforderung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, die ebenfalls den Widerruf der Anwaltszulassung zur Folge haben kann, hat der Senat ausdrücklich klargestellt, dass die Gefährdung der wirtschaftlichen und persönlichen Existenz ein Faktor ist, der allgemein im Rahmen des § 284 AO in Erwägung zu ziehen ist und vom Gesetzgeber sogar bewusst in Kauf genommen wird, um das Ziel der eidesstattlichen Versicherung als Druckmittel zur Steigerung der Zahlungsmoral des Vollstreckungsschuldners zu erreichen (z.B. Senatsbeschluss vom 5. Oktober 2001 VII B 15/01, BFH/NV 2002, 160).

38

Der BGH hat dementsprechend Vollstreckungsschutz bei mit den guten Sitten nicht vereinbarer Härte nach § 765a ZPO nicht deshalb gewährt, weil dem Schuldner im Fall der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung der Widerruf seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft drohte. Läge, so der BGH, in der generellen Möglichkeit des Widerrufs der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft schon per se eine sittenwidrige Härte, liefe die Vorschrift des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO weitgehend leer, weil aufgrund der Schutzvorschrift des § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO schon von vornherein weder die eidesstattliche Versicherung abgegeben noch ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffnet werden könnte. Diese Konsequenz laufe ersichtlich dem Schutzzweck des § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO zuwider (BGH-Beschluss vom 10. Dezember 2009 I ZB 36/09, NJW 2010, 1002).

39

d) Da das FA nach alledem die Erlassbedürftigkeit der Klägerin und damit die persönliche Unbilligkeit der angefochtenen Entscheidung aus Gründen verneint hat, die auch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Ablehnung eines Erlassantrags rechtfertigen, das FG keine weiteren tatsächlichen Umstände festgestellt hat, die bei der Entscheidung über den Erlassantrag von Bedeutung sein können und die Klägerin insoweit auch keine Sachaufklärungsmängel gerügt hat, vermag der Senat keinen Ermessensfehler des FA zu erkennen, der nach § 102 FGO die Aufhebung der Behördenentscheidung und erst recht nicht die Verpflichtung des FA zu der vom FG für richtig gehaltenen Entscheidung rechtfertigt.

40

Auf die von den Beteiligten unterschiedlich beurteilte Erlasswürdigkeit der Klägerin, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, sie habe sich bei der Übernahme und Wahrnehmung der Geschäftsführeraufgabe in einer psychischen Zwangslage gegenüber ihrem als "Patron" bezeichneten Vater gefühlt, kommt es demnach nicht an.

41

Der Senat weist darauf hin, dass der BFH in ständiger Rechtsprechung die Haftung eines Geschäftsführers wegen grob fahrlässiger Verletzung seiner steuerlichen Pflichten bejaht, selbst wenn er keine Möglichkeit hatte, innerhalb der Gesellschaft seine rechtliche Stellung als Geschäftsführer zu verwirklichen und die steuerlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Ist der Geschäftsführer nicht in der Lage, sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und seiner Rechtsstellung gemäß zu handeln, so muss er als Geschäftsführer zurücktreten und darf nicht im Rechtsverkehr den Eindruck erwecken, als sorge er für die ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte der GmbH (vgl. schon BFH-Urteil vom 7. November 1963 V 45/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1964, 96). Das gilt grundsätzlich auch für die Kinder und Angehörigen der die Gesellschaft tatsächlich beherrschenden Person, selbst wenn ihnen ihr Amt als Geschäftsführer gegen ihren Willen aufgedrängt worden ist. Eine Ausnahme hat der BFH nur in einem Fall für denkbar gehalten, in dem ein junger Mann von seinem Vater unter Drohungen für Leib und Leben zur Gründung der GmbH gezwungen worden war und der Vater während des Bestehens der GmbH seinen Willen ihm gegenüber stets mit Gewalt durchgesetzt hatte (Senatsbeschluss vom 5. März 1985 VII B 52/84, BFH/NV 1987, 459). Diese Erwägungen sind auch bei der Prüfung eines Erlassbegehrens anzustellen. Die Klägerin hat aber nicht behauptet, in einer vergleichbaren Zwangslage gewesen zu sein.

(1) Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet, so ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag. Das Gleiche gilt für zurückzuzahlende Steuervergütungen und Haftungsschulden, soweit sich die Haftung auf Steuern und zurückzuzahlende Steuervergütungen erstreckt. Die Säumnis nach Satz 1 tritt nicht ein, bevor die Steuer festgesetzt oder angemeldet worden ist. Wird die Festsetzung einer Steuer oder Steuervergütung aufgehoben, geändert oder nach § 129 berichtigt, so bleiben die bis dahin verwirkten Säumniszuschläge unberührt; das Gleiche gilt, wenn ein Haftungsbescheid zurückgenommen, widerrufen oder nach § 129 berichtigt wird. Erlischt der Anspruch durch Aufrechnung, bleiben Säumniszuschläge unberührt, die bis zur Fälligkeit der Schuld des Aufrechnenden entstanden sind.

(2) Säumniszuschläge entstehen nicht bei steuerlichen Nebenleistungen.

(3) Ein Säumniszuschlag wird bei einer Säumnis bis zu drei Tagen nicht erhoben. Dies gilt nicht bei Zahlung nach § 224 Abs. 2 Nr. 1.

(4) In den Fällen der Gesamtschuld entstehen Säumniszuschläge gegenüber jedem säumigen Gesamtschuldner. Insgesamt ist jedoch kein höherer Säumniszuschlag zu entrichten als verwirkt worden wäre, wenn die Säumnis nur bei einem Gesamtschuldner eingetreten wäre.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob ein vollständiger (und nicht nur hälftiger) Erlass von Säumniszuschlägen gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) geboten ist, wenn bei einer rechtswidrigen Steuerfestsetzung zuvor Anträge des Steuerpflichtigen auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) und Finanzgericht (FG) versagt geblieben sind.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) handelte in den Streitjahren 2002 und 2003 mit polygrafischen Maschinen.

3

Nachdem das FA zunächst am 12. Oktober 2005 Umsatzsteuern für 2002 und 2003 festgesetzt hatte und das FG einem Aussetzungsantrag stattgegeben hatte, setzte das FA die Umsatzsteuer auf Einspruch der Klägerin für das Jahr 2002 herab und wies den Einspruch hinsichtlich 2003 zurück. Ein weiterer Antrag auf AdV für den Zeitraum nach Ergehen der Einspruchsentscheidung wurde vom FA am 10. Juni 2008 und vom FG am 28. April 2010 zurückgewiesen.

4

Im Hauptsacheverfahren gab das FG der Klage statt und setzte die Umsatzsteuer 2002 auf den unstreitigen und pünktlich bezahlten Betrag herab und hob die Festsetzung für 2003 vollständig auf. Aufgrund einer Abrechnung vom 6. Februar 2008 forderte das FA für den Zeitraum von der Einspruchsentscheidung bis zur Aufhebung der Steuerfestsetzungen im November 2010 Säumniszuschläge in Höhe von 11.476 € für 2002 und 16.922,50 € für 2003, die das FA auf Erlassantrag der Klägerin zur Hälfte erließ. Den Erlass der weiteren Hälfte lehnte es ab.

5

Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das FG das FA zum vollständigen Erlass der Säumniszuschläge. Zwar seien gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO die Säumniszuschläge aufgrund der formellen Steuerfestsetzung durch das FA unabhängig von ihrer späteren Aufhebung entstanden, da die Aussetzungsanträge erfolglos geblieben waren. Nach Lage des Falles seien jedoch die verwirkten Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit gemäß § 227 AO vollständig zu erlassen. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Aussetzungsanträge beim FA und beim FG alles ihr Mögliche getan, um das Entstehen von Säumniszuschlägen zu verhindern. Die Ablehnung dieser Anträge könne der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen. Aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 20. Mai 2010 V R 42/08 (BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955) folge, dass das Ermessen des FA in einem solchen Falle auf einen vollständigen Erlass der Säumniszuschläge reduziert sei.

6

Hiergegen wendet sich das FA mit der Revision. Säumniszuschläge hätten nach der Rechtsprechung des BFH nicht nur den Sinn, eine Gegenleistung für das Hinausschieben der formell festgesetzten, nicht bezahlten Steuer zu bilden, sondern auch, als Druckmittel den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung der Steuern anzuhalten. Da der Steuerpflichtige nach der (rechtswidrigen) Ablehnung der AdV an sich die Steuer hätte zahlen müssen, behalte die Verwirkung von Säumniszuschlägen auch bei späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung ihren Sinn. Säumniszuschläge seien deshalb nur zur Hälfte zu erlassen.

7

Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision ist unbegründet und ist deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Zutreffend hat das FG das FA verpflichtet, die Säumniszuschläge zu erlassen. Diese Ermessensentscheidung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

10

1. Ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH-Urteile vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58).

11

a) In der Rechtsprechung des BFH ist anerkannt, dass Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben worden ist und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV eines Steuerbescheides zu erreichen, das FA aber die Aussetzung "obwohl möglich und geboten" abgelehnt hat. Demgemäß hat der BFH entschieden, dass ein Erlass von Säumniszuschlägen nach Aufhebung der Steuerfestsetzung zwar dann nicht in Betracht komme, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat oder wenn die Vollziehung deshalb nicht ausgesetzt worden ist, weil --z.B. in Schätzungsfällen-- keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist (BFH-Urteil vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906).

12

b) Hat der Steuerpflichtige jedoch im Aussetzungsverfahren alles Erdenkliche getan, um den einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen, und ist ihm dieser gleichwohl fehlerhaft versagt worden, liegt eine unbillige Härte vor, wenn trotz späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung Säumniszuschläge erhoben wurden (BFH-Urteile in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906; vom 16. September 1992 X R 169/90, BFH/NV 1993, 510; BFH-Beschluss vom 18. März 2003 X B 66/02, BFH/NV 2003, 886). Dementsprechend hat der Senat mit Urteil in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 entschieden, dass ein Anspruch auf vollständigen Erlass der Säumniszuschläge dann besteht, wenn dem Steuerpflichtigen die AdV aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO in einer dem Sinn und Zweck dieser Regelung nicht entsprechenden Weise verwehrt ist. Nichts anderes gilt, wenn eine rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird und der Steuerpflichtige zuvor alles getan hat, um die AdV zu erreichen und diese --obwohl möglich und geboten-- abgelehnt worden ist (Fortführung der Rechtsprechung).

13

2. Bei der Höhe des gebotenen Erlasses ist zu berücksichtigen, dass Säumniszuschläge zwar zum einen Druckmittel zur Durchsetzung fälliger Steuern sind und zum anderen Entgelt für eine verspätet gezahlte Steuer, denn der säumige Steuerpflichtige soll nicht besser gestellt werden, als hätte er Stundungs- oder Aussetzungszinsen (§ 238 AO) zu zahlen (BFH-Urteile in BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58; vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Bei rechtswidriger Steuerfestsetzung ist jedoch die gesetzgeberische Wertung des § 237 AO zu beachten, wonach der Steuerpflichtige bei Gewährung der AdV zwar grundsätzlich Aussetzungszinsen zu zahlen hat, dies aber dann nicht gilt, wenn der Steuerpflichtige mit seinem Rechtsbehelf Erfolg gehabt hat (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Erweist sich eine im Eilverfahren gewährte AdV somit im Ergebnis als berechtigte Abwehr gegen eine rechtswidrige Steuerforderung, hat der Steuerpflichtige keinerlei Aussetzungszinsen --auch nicht zur Hälfte-- zu tragen. Wird dem Steuerpflichtigen die gebotene AdV zu Unrecht versagt, ist er im Billigkeitsverfahren so zu stellen, als hätte er den gebotenen einstweiligen Rechtsschutz erlangt, sodass er nach § 237 AO keinerlei Säumniszuschläge zu zahlen hat (so auch BFH-Beschluss vom 2. Februar 2011 V B 141/09, BFH/NV 2011, 961, unter 3.b; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 240 AO Rz 57; Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 240 AO Rz 114).

14

3. Der Senat weicht nicht von Entscheidungen anderer Senate des BFH ab. Soweit sich das FA auf den BFH-Beschluss vom 4. Februar 1999 IX B 170/98 (BFH/NV 1999, 908) bezieht, liegt keine Divergenz vor, weil der BFH dort die Rechtsfrage eines Erlasses von Säumniszuschlägen bei rechtswidriger Versagung der AdV im Hinblick auf die Besonderheiten des Streitfalles als in einer Revision nicht klärungsfähig bezeichnet hat. In dem BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 886 ging es um die anders gelagerte Problematik eines Erlasses von Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit, bei der der Normzweck der Säumniszuschläge als Druckmittel eigener Art zur pünktlichen Steuerzahlung wegen Insolvenz nicht mehr erreicht werden kann. Soweit der erkennende Senat mit Urteil in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906 bei zu Unrecht verweigerter AdV nur zu einem hälftigen Erlass von Säumniszuschlägen gelangt ist, ist diese Entscheidung durch das vom FG seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Urteil des Senats in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 überholt.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Mai 2014  1 K 1556/13 dahin geändert, dass die Klage in vollem Umfang abgewiesen wird.

Die Revision der Kläger wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens haben die Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Die Kläger, Revisionsbeklagten und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger betreibt zusammen mit seinem Bruder die Firma ... OHG (OHG), deren Gesellschaftszweck der Betrieb eines Handelsgewerbes im Bereich der Güterbeförderung im Straßenverkehr ist. Außerdem erzielt der Kläger als Schiffsführer Einkünfte aus Gewerbebetrieb.

2

Im Rahmen einer für die Jahre 2001 bis 2003 durchgeführten Betriebsprüfung wurde festgestellt, dass sehr hohe Einlagen in das Betriebsvermögen der OHG geleistet wurden, welche den Gesellschaftern jeweils zu gleichen Teilen gutgeschrieben wurden. Eine Steuerfahndungsprüfung kam zu dem Ergebnis, dass als einzig mögliche Geldquelle für die ungeklärten Bareinlagen die gewerbliche Schiffsführertätigkeit des Klägers in Betracht komme. Daraufhin erließ der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) im Jahre 2008 entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2002 bis 2005.

3

Dagegen legten die Kläger am 9. September 2008 zunächst ohne Begründung Einspruch ein. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2008 gaben sie zur Herkunft der ungeklärten Einlagen Spielbankgewinne im Ausland, einen Lottogewinn, Geschenke und die Veräußerung von Privatvermögen an. Im Mai und Juni 2010 änderten sie ihren Vortrag. In einem am 11. Mai 2010 durchgeführten Gespräch an Amtsstelle wiesen die Kläger auf Doppelbuchungen und weitere bisher nicht vorgetragene Möglichkeiten für die ungeklärten Einlagen hin, die mit mehreren Schreiben im Juni 2010 zusammengefasst und anhand von Buchungsunterlagen und Kontoauszügen belegt wurden. Dies führte dazu, dass das FA in den Einspruchsentscheidungen vom 10. Januar 2011 den Einsprüchen teilweise stattgab.

4

Während des Rechtsbehelfsverfahrens hatten die Kläger mit Schreiben vom 16. Oktober 2008, 27. Oktober 2008 und 15. Februar 2011 beim FA Anträge auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) gestellt, die das FA ablehnte.

5

Aufgrund der Vollstreckungsrückstände nahm das FA bereits seit 2008 diverse Pfändungen vor, die jedoch nach einem Gespräch zwischen dem Kläger und dem FA am 25. November 2008 überwiegend nicht verwertet wurden, um den Klägern Gelegenheit zu geben, Rechtsbehelfe einzulegen bzw. zu begründen.

6

Die gegen die Einspruchsentscheidung vom 10. Januar 2011 erhobene Klage wegen Einkommensteuer 2002 bis 2005 wurde in der Hauptsache für erledigt erklärt, nachdem sich die Kläger und das FA dahin verständigt hatten, dass die in der Einspruchsentscheidung angesetzten zusätzlichen Gewinne nur zur Hälfte dem Einzelunternehmen des Klägers, im Übrigen aber dem Bruder des Klägers als Sonderbetriebseinnahmen im Rahmen der Mitunternehmerschaft zuzurechnen seien. Den noch beim Finanzgericht (FG) anhängigen Anträgen auf AdV trug das FA insoweit Rechnung, als es rückwirkend ab Antragstellung beim FA --15. Februar 2011-- die AdV im Rahmen der Änderungen gewährte.

7

Mit mehreren Schreiben vom 5. April 2012 beantragten die Kläger insgesamt Säumniszuschläge in Höhe von 125.515,50 € für die Jahre 1998 bis 2005 sowie für die angepassten Vorauszahlungsbeträge 2007 und 2008 gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) zu erlassen. Mit Bescheid vom 9. November 2012 erließ das FA die Säumniszuschläge zur Hälfte, soweit die Kläger in der Hauptsache Erfolg gehabt hatten. Die danach zu erlassenen Säumniszuschläge ermittelte es mit 32.059,83 €. Im Übrigen lehnte es den Antrag ab.

8

Hiergegen legten die Kläger Einspruch ein. Nachdem das FA die Kläger auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung hingewiesen hatte, hob es mit Einspruchsentscheidung vom 10. April 2013 den bisher gewährten Teilerlass auf. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass die Kläger erstmals in diversen Schreiben vom Juni 2010 zur Mittelherkunft einzelner Hinzuschätzungsbeträge Stellung genommen hätten. Nach eingehender Überprüfung sei dem Sachvortrag teilweise stattgegeben worden. Zu diesem Zeitpunkt sei ein Antrag auf AdV nicht mehr gestellt gewesen.

9

Gegen die Einspruchsentscheidung erhoben die Kläger Klage. Sie begehrten die Aufhebung des Bescheids vom 9. November 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10. April 2013 und die Verpflichtung des FA, die Höhe der zu erlassenden Säumniszuschläge neu zu bestimmen. Zur Begründung trugen sie vor, sie hätten gegen die zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen rechtzeitig Einspruch eingelegt und AdV beantragt. Schon während des Gesprächs im Mai 2011 habe ihr Bevollmächtigter vorgetragen, dass ein Betrag von 100.000 € bis 150.000 € unstreitig sei, und angeboten, die gepfändeten Geldguthaben bei der Bausparkasse und die Pfandbriefe bei der Bank zur Tilgung zu verwenden. Das FA hätte auf diesen Vorschlag nicht reagiert. Darüber hinaus habe der Bevollmächtige am 29. Mai 2010 für jedes einzelne Jahr zwischen 30 und 35 Geschäftsvorfälle nachweisen können, in denen in buchungstechnisch unkorrekter Weise zusätzliche Gewinnerhöhungen in Steuerbescheiden enthalten gewesen seien. Doppelbuchungen und die Verwechslung von Soll und Haben durch zwei Betriebsprüfer hätten ernstliche rechtliche Zweifel an den Steuerbescheiden begründet. Zudem seien ihnen sämtliche Geldmittel durch die Pfändungen entzogen worden.

10

Das FG erachtete die Klage nur hinsichtlich der Aufhebung des Teilerlasses als begründet. Diese richte sich nach den §§ 130, 131 AO, wobei im Streitfall allein § 130 AO einschlägig sei. Dessen Voraussetzungen seien allerdings nicht gegeben. Im Übrigen habe das FA mit der Entscheidung, über den gewährten Teilerlass hinaus den Erlass abzulehnen, nicht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten und ermessensgerecht gehandelt.

11

Gegen dieses Urteil wenden sich das FA und die Kläger mit der Revision.

12

Das FA macht mit seiner Revision geltend, im Einspruchsverfahren sei auch eine Verböserung des angefochtenen Verwaltungsakts zulässig. Bei einem Teilerlass und der Ablehnung im Übrigen handele es sich um einen einheitlichen Verwaltungsakt. Erst die Bestandskraft des Erlasses führe zum Erlöschen der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. In der Sache bestehe auch auf einen Teilerlass kein Anspruch, weil die Kläger nicht alles getan hätten, um eine AdV zu erreichen.

13

Die Kläger begründen ihre Revision damit, dass schon ein Teil der Säumniszuschläge nicht entstanden sei, weil aufgrund des Gesprächs am 25. November 2008 eine stillschweigende Stundung oder AdV gewährt worden sei, so dass allenfalls Stundungs- oder Aussetzungszinsen angefallen seien. Zur Klärung der genauen Höhe der Beträge sei ein Abrechnungsbescheid beantragt worden.

14

Darüber hinaus habe das FG nicht beachtet, dass Säumniszuschläge für den Zeitraum zwischen der Vorlage der Ausarbeitungen des Steuerberaters im Mai 2010, die zu einer erheblichen Herabsetzung der Steuerfestsetzungen im Januar 2011 geführt hätten, und der tatsächlich gewährten AdV ab 15. Februar 2011 entstanden seien. Zumindest mit den Schreiben Mai/Juni 2010 hätten sie alles getan, was von ihnen habe verlangt werden können. Zudem sei nicht berücksichtigt worden, dass die ursprünglichen Steuerfestsetzungen auch auf fehlerhaften Ermittlungen des FA beruht hätten.

15

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung und die Entscheidung des FA vom 9. November 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10. April 2013 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Höhe der zu erlassenden Säumniszuschläge unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bestimmen und die Revision des FA zurückzuweisen.

16

Das FA beantragt, die Revision der Kläger zurückzuweisen, die Vorentscheidung, soweit sie dem klägerischen Begehren entsprochen hat, aufzuheben und die Klage auch insoweit abzuweisen.

Entscheidungsgründe

17

II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Änderung der Vorentscheidung des FG und zur Klageabweisung in vollem Umfang (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Revision der Kläger ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

18

1. Der Senat kann über den beantragten Billigkeitserlass unabhängig von dem von den Klägern beantragten Abrechnungsbescheid über die Säumniszuschläge entscheiden. Denn das Billigkeitsverfahren nach § 227 AO und das Abrechnungsverfahren nach § 218 AO stehen selbständig nebeneinander (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. April 2003 XI B 175/02, BFH/NV 2003, 1393, und vom 31. Juli 2007 VIII B 42/05, BFH/NV 2007, 2305). Deshalb muss das Billigkeitsverfahren auch nicht ausgesetzt werden, wenn geltend gemacht wird, Säumniszuschläge seien aus anderen Gründen bereits nicht entstanden (BFH-Urteil vom 20. Mai 2010 V R 42/08, BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955, Rz 28).

19

2. Das FG hat zu Unrecht eine Änderungsmöglichkeit des mit Bescheid vom 9. November 2012 ausgesprochenen Teilerlasses verneint. Das FA war nach § 367 Abs. 2 AO verfahrensrechtlich berechtigt, in der Einspruchsentscheidung den zuvor gewährten Teilerlass aufzuheben.

20

Gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde im Einspruchsverfahren den Verwaltungsakt "in vollem Umfang erneut zu prüfen". Sie kann nach Abs. 2 Satz 2 dieser Vorschrift den Verwaltungsakt auch zum Nachteil des Einspruchsführers ändern, wenn dieser zuvor auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu äußern. Die Finanzbehörde kann dann im Einspruchsverfahren ebenso entscheiden, als ob sie die Sache erstmals in einem Verwaltungsakt regelt.

21

Dies gilt auch für die nach § 227 AO zu treffende Ermessensentscheidung, die ebenfalls vom Anwendungsbereich des § 367 Abs. 2 AO erfasst wird (vgl. BFH-Urteil vom 18. August 2015 V R 2/15, Deutsches Steuerrecht 2015, 2382, Rz 15; BFH-Beschluss vom 19. November 2007 VIII B 30/07, BFH/NV 2008, 335). Die Rechtsbehelfsstelle hat eine eigenständige Entscheidung aufgrund der sich im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage zu treffen. Sie kann daher auch geänderte Erwägungen anstellen und eine Entscheidung zum Nachteil des Einspruchsführers korrigieren, wenn sie die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen des Verböserungshinweises einhält. Die Finanzbehörde verbraucht mithin durch die Gewährung eines Teilerlasses, sofern dieser mit dem Einspruch angefochten wird, das ihr in § 367 Abs. 2 Satz 2 AO eingeräumte Recht der Selbstkontrolle nicht. Ein Teilabhilfebescheid hindert daher die Verböserung nicht (vgl. BFH-Urteil vom 6. September 2006 XI R 51/05, BFHE 214, 83, BStBl II 2007, 83; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO Rz 22).

22

Der umfassenden Überprüfungsmöglichkeit nach § 367 Abs. 2 AO steht die Rücknahmevorschrift des § 130 AO nicht entgegen. Zwar gilt § 130 AO gemäß § 132 Satz 1 AO auch während des Einspruchsverfahrens. Der zulässig eingelegte Einspruch gegen einen Verwaltungsakt hindert jedoch den Eintritt der formellen bzw. materiellen Bestandskraft. Damit wird die Behörde verpflichtet, über den durch den angefochtenen Verwaltungsakt erfassten Lebenssachverhalt vollumfänglich erneut zu entscheiden (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Mangels Bestandskraft des Verwaltungsakts ist die Behörde damit nicht an die Voraussetzungen der allgemeinen Korrekturvorschriften, wie z.B. §§ 130 f., 172 ff. AO, gebunden (vgl. BFH-Urteil vom 17. Februar 2010 II R 38/08, BFH/NV 2010, 1236, Rz 21; Wernsmann in Hübschmann/ Hepp/Spitaler --HHSp--, § 132 AO Rz 16; Cöster in Koenig, 3. Aufl., § 367 AO Rz 22; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 132 AO Rz 1).

23

Das vom FG angeführte BFH-Urteil vom 5. Februar 1975 I R 85/72 (BFHE 115, 173, BStBl II 1975, 677) betrifft hingegen den Widerruf eines bestandskräftig gewährten Erlasses.

24

Da das FA die Kläger in Übereinstimmung mit § 367 Abs. 2 Satz 2 AO auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihnen Gelegenheit gegeben hat, sich zu äußern, war die Möglichkeit einer (auch negativen) Änderung nach § 367 Abs. 2 AO eröffnet.

25

3. Die Revision der Kläger ist unbegründet. Die Entscheidung des FA, keine Säumniszuschläge zu erlassen, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

26

a) Entgegen der Ansicht der Kläger ist Gegenstand des vorliegenden Verfahrens nicht die Frage, ob den verschiedenen Anträgen der Kläger auf Stundung oder AdV hätte entsprochen werden müssen, was zur Folge gehabt hätte, dass Säumniszuschläge in geringerer Höhe oder gar nicht entstanden wären. Diese Frage hätte nur durch Rechtsbehelfseinlegung in jenen Verfahren überprüft werden können (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Juli 2015 III B 168/14, BFH/NV 2015, 1344, Rz 7 f.). Darüber hinaus kann allein das Ausbleiben von Vollstreckungsmaßnahmen des FA und das Schweigen auf einen Antrag auf AdV vom Schuldner nicht dahin verstanden werden, dass das FA die AdV des betreffenden Verwaltungsakts gewährt hat (BFH-Beschluss vom 16. Juni 2005 VII B 273/04, BFH/NV 2005, 1747).

27

b) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach der Lage des einzelnen Falls --aus persönlichen oder sachlichen Gründen-- unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen einschließlich der nach § 240 Abs. 1 AO entstehenden Säumniszuschläge.

28

Sachlich unbillig ist die Festsetzung bzw. Einziehung einer Steuer oder Nebenleistung, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint. So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage --wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte-- i.S. der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH-Urteil vom 20. September 2012 IV R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505, m.w.N.). Bei der Billigkeitsprüfung müssen solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt (BFH-Urteil vom 21. Juli 1993 X R 104/91, BFH/NV 1994, 597). Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt in der Regel keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteile vom 7. Oktober 2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865, und vom 4. Februar 2010 II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663; jeweils m.w.N.); insbesondere kann § 227 AO nicht als Rechtsgrundlage für eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Befreiungsvorschrift dienen (BFH-Urteil vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649). Die Billigkeitsprüfung darf sich je nach Fallgestaltung nicht nur auf allgemeine Rechtsgrundsätze und verfassungsmäßige Wertungen beschränken; sie verlangt vielmehr eine Gesamtbeurteilung aller Normen, die für die Verwirklichung des in Frage stehenden Steueranspruchs im konkreten Fall maßgeblich sind (BFH-Urteil vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297, m.w.N.).

29

c) Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die vom FA getroffene Entscheidung, Säumniszuschläge nicht zu erlassen, nicht zu beanstanden.

30

aa) Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO sind Säumniszuschläge zu entrichten, falls eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt wird. Nach § 240 Abs. 1 Satz 4 AO bleiben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert wird. Diese Regelung gilt uneingeschränkt auch für die Beseitigung rechtswidriger Steuerfestsetzungen, da die Vollstreckbarkeit eines Steuerbescheids nicht von seiner Bestandskraft abhängt. Säumniszuschläge sind allerdings nicht verwirkt, soweit die Vollziehung des Steuerbescheids ausgesetzt ist.

31

Deshalb ist in der Rechtsprechung des BFH anerkannt, dass Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben worden ist und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV eines Steuerbescheids zu erreichen, das FA aber die Aussetzung "obwohl möglich und geboten" abgelehnt hat. Ein Erlass kommt hingegen nicht in Betracht, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat oder wenn die Vollziehung nicht ausgesetzt worden ist, weil --z.B. in Schätzungsfällen-- keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist (BFH-Urteil vom 24. April 2014 V R 52/13, BFHE 245, 105, BStBl II 2015, 106, Rz 11, m.w.N.).

32

bb) Im Streitfall haben die Kläger nach den Feststellungen des FG nicht alles getan, um die AdV zu erreichen. Die Einsprüche gegen die Änderungsbescheide vom 9. September 2008 wurden zunächst --wie das FG zu Recht festgestellt hat-- nicht "ernsthaft" begründet, ebenso nicht die Anträge auf AdV bzw. Stundung. Die Ablehnung der am 16. und 27. Oktober 2008 gestellten Aussetzungsanträge war daher rechtmäßig. Eine nachvollziehbare Begründung ihres Einspruchs legten die Kläger erstmals im Mai/Juni 2010 vor. Aufgrund dieser Einwendungen hat das FA in den Einspruchsentscheidungen vom 10. Januar 2011 den Einsprüchen teilweise stattgegeben. Mit der erstmaligen substantiierten Einspruchsbegründung haben die Kläger aber keinen erneuten Antrag auf AdV gestellt. Erst nach Erlass der Einspruchsentscheidungen vom 10. Januar 2011 haben die Kläger mit Schreiben vom 15. Februar 2011 erneut AdV beantragt, dem rückwirkend ab Antragstellung in dem sich anschließenden gerichtlichen Verfahren aufgrund eines neuen Vorbringens teilweise entsprochen wurde.

33

cc) Sachliche Unbilligkeit i.S. des § 227 AO lässt sich entgegen der Ansicht der Kläger auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass das FA zunächst auf Wunsch der Kläger auf die vorübergehende Einziehung der gepfändeten Forderungen verzichtet und insoweit einen Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO gewährt hat. Denn Maßnahmen des Vollstreckungsaufschubs, mit denen die Vollstreckungsbehörde lediglich auf einzelne Vollstreckungsmaßnahmen verzichtet, lassen die Steuerforderungen und damit auch deren Fälligkeit unberührt. Der Vollstreckungsaufschub ist regelmäßig kein Grund für einen teilweisen Erlass wegen sachlicher oder persönlicher Unbilligkeit, da Vollstreckungsschutz bereits bei einer vorübergehenden Notlage zu gewähren ist, die nicht die Einziehung der Forderung, sondern lediglich die Art und Weise sowie den Umfang oder den Zeitpunkt ihrer Vollstreckung als unbillig erscheinen lässt (BFH-Urteil vom 14. Mai 1987 X R 26/81, BFH/NV 1988, 411).

34

dd) Soweit die Kläger vorbringen, sie hätten das FA gebeten, hinsichtlich eines unstreitigen Teils der Steuerforderungen die gepfändeten Geldguthaben zu verwerten, begründet auch dies keinen sachlichen Billigkeitsgrund.

35

Den Klägern blieb es trotz des (relativen) Verfügungsverbots nach § 309 Abs. 1 Satz 1 AO unbenommen, die Drittschuldner (Banken) anzuweisen, an das FA als Vollstreckungsgläubiger zu zahlen, um damit die Säumniszuschläge möglichst gering zu halten. Denn das Verfügungsverbot bezieht sich nur auf Verfügungen, die die Rechtsstellung des Vollstreckungsgläubigers beeinträchtigen. Verfügungen, die die Rechtsstellung des Vollstreckungsgläubigers nicht beeinträchtigen, werden von dem durch die Forderungspfändung begründeten Verfügungsverbot nicht berührt (Beermann in HHSp, § 309 AO Rz 117).

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ee) Das FA hat des Weiteren zu Recht eine (persönliche) Erlass- oder Stundungssituation (§ 222 AO), die einen Teilerlass der Säumniszuschläge hätte rechtfertigen können (vgl. BFH-Urteile vom 16. Juli 1997 XI R 32/96, BFHE 184, 193, BStBl II 1998, 7; vom 30. März 2006 V R 2/04, BFHE 212, 23, BStBl II 2006, 612), verneint. Eine Stundung wäre nur dann geboten gewesen, wenn eine Erlass- oder Stundungsbedürftigkeit gegeben gewesen wäre (Senatsurteil vom 7. Mai 1993 III R 43/89, BFH/NV 1994, 144). Eine solche lag aber im vorliegenden Fall nicht vor, da den Klägern während des Säumniszeitraums ausreichende Mittel zur Zahlung der fälligen Steuerforderungen zur Verfügung gestanden haben.

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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.