Bundesgerichtshof Beschluss, 20. Nov. 2012 - VIII ZR 157/12
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Die Parteien streiten um die Räumung von Wohnraum, den die Beklagten im Jahr 2009 von der Klägerin angemietet hatten. Der Beklagte zu 2 erklärte mit einem - nicht unterzeichneten - Schreiben vom 1. Dezember 2010 für beide Beklagte die Kündigung des Mietverhältnisses und ist inzwischen ausgezogen. Die Beklagten zahlten seit Januar 2011 keine Miete mehr; sie berufen sich darauf , dass die Miete wegen diverser Mängel um 60 % gemindert sei und ihnen im Übrigen ein Zurückbehaltungsrecht zustehe.
- 2
- Die von der Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 13. April 2011 gegenüber beiden Beklagten erklärte fristlose Kündigung des Mietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs wurde von der Prozessbevollmächtigten der Beklagten zu 1 mangels Beifügung einer Vollmacht mit Faxschreiben vom 17. April2011 zurückgewiesen. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2011 an die Prozessbevollmächtigte der Beklagten zu 1 kündigte die Klägerin ein weiteres Mal. Nach Abweisung der Räumungsklage durch das Amtsgericht hat die Klägerin mit einem an beide Beklagte gerichteten Schreiben vom 1. Februar 2012 das Mietverhältnis erneut wegen Zahlungsverzugs gekündigt. Das Landgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
II.
- 3
- Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für die Revisionsinstanz von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
- 4
- Das Amtsgericht habe die Klage zu Recht abgewiesen. Das mit beiden Beklagten abgeschlossene Mietverhältnis habe nur von beiden oder beiden gegenüber gekündigt werden können. Die Kündigung des Beklagten zu 2 vom 1. Dezember 2010 sei schon mangels Bevollmächtigung durch die Beklagte zu 1 unwirksam. Die von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin erklärte Kündigung vom 13. April 2011 sei unwirksam, weil ihr eine Vollmacht nicht beigelegen habe und die Kündigung aus diesem Grund von der Prozessbevollmächtigten der Beklagten unverzüglich zurückgewiesen worden sei. Die Kündigung vom 20. Oktober 2011 sei unwirksam, weil sie nicht gegenüber beiden Mietern erklärt worden sei. Sie sei nämlich ausschließlich an die Prozessbevollmächtigte der Beklagten zu 1 gerichtet gewesen, die den Beklagten zu 2 nicht vertreten habe.
- 5
- Die Kündigung vom 1. Februar 2012 könne als neues Angriffsmittel nach §§ 529, 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigt werden, weil der Klägerin insoweit Nachlässigkeit zur Last falle. Es sei eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass es auf diese einfachen formalen Gesichtspunkte der Kündigung gegenüber mehreren Mietern ankomme, so dass die Klägerin ohne weiteres eine formal ordnungsgemäße Kündigung während des erstinstanzlichen Verfahrens hätte aussprechen können.
III.
- 6
- Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere ist der Beschwerdewert nach § 544 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO erreicht. Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, wobei der Senat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch macht.
- 7
- Die angefochtene Entscheidung verletzt in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), indem sie die Kündigung der Klägerin vom 1. Februar 2012 in offensichtlich verfahrensfehlerhafter Weise unberücksichtigt lässt.
- 8
- Das Berufungsgericht meint, dass es sich bei der Kündigung vom 1. Februar 2012 um ein neues Angriffs- und Verteidigungsmittel im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO handele. Damit verkennt es, dass die Klägerin mit dieser Kündigung einen neuen Streitgegenstand in den Prozess eingeführt hat, nämlich ein Räumungsbegehren, das auf diese erneute Kündigung gestützt ist. Die darin liegende Klageänderung beurteilt sich nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO, sondern nach § 533 ZPO.
- 9
- Die Voraussetzungen der letztgenannten Vorschrift liegen aber - offensichtlich - vor, weil die Klageänderung sachdienlich und auf Tatsachen gestützt ist, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin zugrunde zu legen hat.
- 10
- Die Parteien haben in ihren Schriftsätzen von Beginn des Rechtsstreits an um die (materielle) Berechtigung der Klägerin zur Kündigung wegen Zahlungsverzugs gestritten, insbesondere darum, ob die Beklagten, die unstreitig seit Januar 2011 keine Miete mehr gezahlt haben, insoweit in Zahlungsverzug geraten sind oder ob die Miete wegen der von ihnen gerügten Mängel gemindert ist und ihnen im Übrigen ein Zurückbehaltungsrecht zusteht; zu diesen Streitpunkten haben beide Parteien bereits erstinstanzlich umfangreich vorgetragen.
- 11
- Zu den Tatsachen, auf die gemäß § 533 Nr. 2 ZPO eine Klageänderung gestützt werden kann, weil sie das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat, gehören nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch solche, die bereits in erster Instanz vorgetragen waren, von dem erstinstanzlichen Gericht aber als unerheblich beurteilt worden sind und deshalb im Urteilstatbestand keine Erwähnung gefunden haben. Kommt es aus der allein maßgeblichen objektiven Sicht des Berufungsgerichts aufgrund der Klageänderung auf diese Tatsachen an, bestehen erhebliche Zweifel an der Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen, die das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 ZPO zu eigenen Feststellungen berechtigen und verpflichten (BGH, Urteile vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 309 f.; vom 27. September 2006 - VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414 Rn. 16; vom 22. Mai 2012 - II ZR 35/10, WM 2012, 1692 Rn. 29; vom 4. Juli 2012 - VIII ZR 109/11, NJW 2012, 2663 Rn. 16). So liegt es hier bezüglich des Streits der Parteien über die miteinander zusammenhängenden Fragen der Mietminderung, des Zurückbehaltungsrechts und des Zahlungsverzuges. Jedenfalls mit der neuerlichen Kündigung vom 1. Februar 2012 hat die Klägerin gegenüber beiden Beklagten eine formell ordnungsgemäße Kündigung ausgesprochen, so dass es nunmehr auf die materiellen Kündigungsgründe und in diesem Zusammenhang auf die von den Beklagten schon erstinstanzlich behaupteten Mietmängel ankommt. Hieraus ergibt sich zugleich die Sachdienlichkeit der Klageänderung, denn die Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 1. Februar 2012 ist geeignet, den gesamten Streitstoff der Parteien zu erledigen. Ball Dr. Milger Dr. Achilles Dr. Schneider Dr. Fetzer
AG Mülheim an der Ruhr, Entscheidung vom 22.12.2011 - 23 C 1522/11 -
LG Duisburg, Entscheidung vom 17.04.2012 - 13 S 27/12 -
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(1) Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen:
- 1.
die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; - 2.
neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.
(2) Auf einen Mangel des Verfahrens, der nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist, wird das angefochtene Urteil nur geprüft, wenn dieser nach § 520 Abs. 3 geltend gemacht worden ist. Im Übrigen ist das Berufungsgericht an die geltend gemachten Berufungsgründe nicht gebunden.
(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.
(2) Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie
- 1.
einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist, - 2.
infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurden oder - 3.
im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht.
(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen.
(2) Das Berufungsgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(3) Das Revisionsgericht hat jedoch in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist.
(4) Kommt im Fall des Absatzes 3 für die in der Sache selbst zu erlassende Entscheidung die Anwendbarkeit von Gesetzen, auf deren Verletzung die Revision nach § 545 nicht gestützt werden kann, in Frage, so kann die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.
(2) Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie
- 1.
einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist, - 2.
infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurden oder - 3.
im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht.
Klageänderung, Aufrechnungserklärung und Widerklage sind nur zulässig, wenn
- 1.
der Gegner einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält und - 2.
diese auf Tatsachen gestützt werden können, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 zugrunde zu legen hat.
(1) Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zugrunde zu legen:
- 1.
die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; - 2.
neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.
(2) Auf einen Mangel des Verfahrens, der nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist, wird das angefochtene Urteil nur geprüft, wenn dieser nach § 520 Abs. 3 geltend gemacht worden ist. Im Übrigen ist das Berufungsgericht an die geltend gemachten Berufungsgründe nicht gebunden.