Bundesgerichtshof Beschluss, 20. Sept. 2011 - VI ZR 5/11
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der Kläger wurde am 30. August 2006 in der von der Beklagten betriebenen Klinik wegen eines Plattenepithelkarzinoms im Mundraum einem über 14 Stunden dauernden operativen Eingriff unterzogen. Die Operation gliederte sich in verschiedene Abschnitte, über die jeweils gesonderte Operationsberichte und Operationspro- tokolle erstellt wurden. Während der ersten 37 Minuten der Operation wurde eine Tracheotomie vorgenommen. Nach der Operation wurden beim Kläger Drucknekrosen am Rücken, Kopf, Gesäß und rückseitigen Oberschenkel festgestellt. Der Kläger führt diese Veränderungen auf von der Beklagten zu verantwortende Fehler bei der Lagerung im Rahmen der Operation zurück. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
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- Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
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- 1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Annahme gelangt, der Kläger sei ordnungsgemäß auf dem Operationstisch gelagert worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht seiner Überzeugungsbildung die erst mit nachgelassenem Schriftsatz vom 8. November 2010 und damit nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegten Operationsprotokolle über die Neck-Dissection, die Tumorresektion und den mikrochirurgischen Gewebetransfer sowie den Arbeitszeiterfassungsausdruck zugrunde gelegt hat, ohne zuvor die Verhandlung wieder zu eröffnen, um dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und über das Beweisergebnis zu verhandeln (§ 285 ZPO).
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- a) Das Berufungsgericht hat seine Überzeugung von einer ordnungsgemäßen Lagerung des Klägers auf dem Operationstisch auf die Angaben des Zeugen W. und die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 8. November 2010 vorgelegten Urkunden (Operationsprotokolle und Arbeitszeiterfassungsausdruck ) gestützt. Der Zeuge W. hatte angegeben, dass er für den operativen Eingriff eingeteilt und u.a. für die Instrumente und für Verbrauchsmaterial zuständig gewesen sei. Er habe Frühdienst gehabt, so dass er vom Beginn der Operation bis etwa 15.30 Uhr dabei gewesen sei. An die konkrete Art und Weise , wie der Kläger gelagert worden sei, habe er keine Erinnerung. Er könne nur dazu etwas sagen, wie in solchen Fällen standardgemäß verfahren werde. Nachdem der Kläger ausgeführt hatte, dass der Zeuge W. ausweislich der Operationsberichte lediglich dem letzten Teil der Operation - dem mikrochirurgischen Gewebetransfer - beigewohnt habe, hat das Berufungsgericht die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 2010 auf Widersprüche zwischen dem vorgelegten Operationsprotokoll über die Tracheotomie, wonach der Zeuge W. zugegen gewesen sei, und den vier Operationsberichten, wonach der Zeuge W. lediglich während des letzten Teils der Operation anwesend gewesen sei, hingewiesen. Mit nachgelassenem Schriftsatz vom 8. November 2010 hat die Beklagte daraufhin ergänzend vorgetragen und erstmals auch die Operationsprotokolle über die Neck-Dissection, die Tumorresektion und den mikrochirurgischen Gewebetransfer sowie einen Ausdruck der Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Ohne die Verhandlung wiederzueröffnen und ohne dem Kläger Gelegenheit zur Erwiderung zu geben, hat das Berufungsgericht seine Überzeugung von einer ordnungsgemäßen Lagerung des Klägers auf dem Operationstisch u.a. auf die nach Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegten Urkunden gestützt und die Klage abgewiesen.
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- b) Hierdurch hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an ei- nem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern. Das Gericht darf nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (BVerfG NJW 1994, 1210). Räumt das Gericht einer Partei ein Schriftsatzrecht zur Stellungnahme zu einem erst in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweis ein und wird in einem daraufhin eingegangenen Schriftsatz neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff eingeführt , so muss das Gericht die mündliche Verhandlung wiedereröffnen oder in das schriftliche Verfahren übergehen, um dem Gegner rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Musielak/Stadler, ZPO, 8. Aufl., § 156 Rn. 4; Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., § 296a Rn. 4). Dies gilt umso mehr, wenn - wie im vorliegenden Fall - im nachgelassenen Schriftsatz präsente Beweismittel vorgelegt werden, die gemäß § 285 Abs. 1 ZPO zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen sind (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2005 - VI ZR 307/04, BGH-Report 2006, 529).
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- 2. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht den Beweis für eine ordnungsgemäße Lagerung des Klägers auf dem Operationstisch nicht als geführt angesehen hätte, wenn es die mündliche Verhandlung wiedereröffnet und dem Kläger Gelegenheit zur Erwiderung gegeben hätte.
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- 3. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde zu befassen. Für das weitere Verfahren weist der erkennende Senat darauf hin, dass die Behandlungsseite bei Auftreten operationsbedingter Lagerungsschäden wie im Streitfall die Beweislast nicht nur für die technisch richtige Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch und die Beachtung der dabei zum Schutz des Patienten vor etwaigen Lagerungsschäden einzuhaltenden ärztli- chen Regeln, sondern auch dafür trägt, dass die richtige Lagerung vor und während der Operation in standardgemäßem Umfang kontrolliert worden ist (vgl. Senatsurteile vom 24. Januar 1984 - VI ZR 203/82, VersR 1984, 386; vom 24. Januar 1995 - VI ZR 60/94, VersR 1995, 539; OLG Köln, VersR 1991, 695 mit NA-Beschluss des Senats vom 20. November 1990; OLG Oldenburg, VersR 1995, 1194 mit NA-Beschluss des Senats vom 11. Juli 1995).
Stöhr von Pentz
Vorinstanzen:
LG Saarbrücken, Entscheidung vom 26.02.2009 - 16 O 329/07 -
OLG Saarbrücken, Entscheidung vom 01.12.2010 - 1 U 166/09-38- -
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Annotations
(1) Das Gericht kann die Wiedereröffnung einer Verhandlung, die geschlossen war, anordnen.
(2) Das Gericht hat die Wiedereröffnung insbesondere anzuordnen, wenn
- 1.
das Gericht einen entscheidungserheblichen und rügbaren Verfahrensfehler (§ 295), insbesondere eine Verletzung der Hinweis- und Aufklärungspflicht (§ 139) oder eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, feststellt, - 2.
nachträglich Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht werden, die einen Wiederaufnahmegrund (§§ 579, 580) bilden, oder - 3.
zwischen dem Schluss der mündlichen Verhandlung und dem Schluss der Beratung und Abstimmung (§§ 192 bis 197 des Gerichtsverfassungsgesetzes) ein Richter ausgeschieden ist.
Nach Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, können Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht mehr vorgebracht werden. § 139 Abs. 5, §§ 156, 283 bleiben unberührt.
(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.