Bundesgerichtshof Beschluss, 26. Feb. 2020 - AK 3/20

bei uns veröffentlicht am26.02.2020

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
AK 3/20
vom
26. Februar 2020
in dem Ermittlungsverfahren
gegen
wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung
ECLI:DE:BGH:2020:260220BAK3.20.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschuldigten und seines Verteidigers am 26. Februar 2020 gemäß §§ 121, 122 StPO
beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:


I.


1
Der Beschuldigte wurde aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 15. Juli 2019 (OGs 122/19) am 13. August 2019 vorläufig festgenommen und befindet sich seither ununterbrochen in Untersuchungshaft.
2
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe seit Anfang August 2017 verschiedene hauptamtliche Kaderfunktionen für die "Partiya Karkerên Kurdistan" ("Arbeiterpartei Kurdistans", im Folgenden: PKK) und ihre Teilstrukturen in Europa ausgeübt, indem er zunächst bis Anfang August 2018 als Gebietsleiter das PKK-Gebiet M. , dabei ab Anfang Mai 2017 zusätzlich kommissarisch als PKK-Regionsverantwortlicher die PKKRegion B. , ab August 2018 bis zum Frühsommer 2019 dann als Gebietsverantwortlicher das PKK-Gebiet K. geleitet habe. Dadurch habe er sich an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
3
Der Ermittlungsrichter des Oberlandesgerichts München hat mit Beschluss vom 29. Januar 2020 die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren nach § 121 StPO vorgelegt.

II.


4
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
5
1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 15. Juli 2019 vorgeworfenen Straftat dringend verdächtig.
6
a) Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Geschehen auszugehen:
7
aa) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die "Koma Civakên Kurdistan" ("Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan", im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen "konföderalen" Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien, Iran und Irak abzielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
8
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalans ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den "Kongra Gele Kurdistan" (KONGRA GEL, "Volkskongress Kurdistans" ) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
9
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die "Hêzên Parastina Gel" ("Volksverteidigungskräfte", im Folgenden: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen "Selbstverteidigung" einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten und verletzten oder töteten dabei eine Vielzahl von diesen. Sie bekannten sich seit der Aufkündigung eines "Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über 100 Anschlägen.
10
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr war mit der Erklärung bereits der Vorbehalt verbunden, dass man im Fall von Angriffen von dem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch machen und Vergeltung üben werde.
11
Nachdem der "Friedensprozess" im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften , die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die "Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung" (YDGH - Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Selbstverteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG, bei der Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte , aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.
12
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der "Civata Demokratîk a Kurdistan" ("Kurdische Demokratische Gesellschaft", im Folgenden: CDK), die die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDKKongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine "Konföderation der kur- dischen Vereine in Europa" (KON-KURD) im Juli 2013 in "Kongress der kurdisch -demokratischen Gesellschaft in Europa" (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.
13
Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt. Für jede Organisationseinheit wird von der Führung mindestens ein Verantwortlicher eingesetzt; Sektoren und Gebiete werden in der Regel von einem durch die Partei alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und dieser über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.
14
bb) Der in der Türkei geborene Beschuldigte, der kurdischer Volkszugehörigkeit ist, identifiziert sich schon seit Jahren mit den Zielen und ideologischen Vorgaben der PKK. Bereits im Jahr 2010 nahm er an einer Schulungsveranstaltung der PKK teil. Vor diesem Hintergrund kam es zu den folgenden Taten:
15
(1) Zunächst war der Beschuldigte von Anfang August 2017 bis Anfang August 2018 als Gebietsleiter für das PKK-Gebiet M. tätig und mit den insoweit typischen Führungsaufgaben befasst. Ab Anfang Mai 2018 leitete er zusätzlich kommissarisch die PKK-Region B. . Im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten beteiligte er sich im März 2018 an einer Veranstaltung zum kurdischen Newroz-Fest in M. und im Anschluss daran an der Besetzung der dortigen SPD-Zentrale. Im April 2018 trat er als Redner bei einer Kundgebung zum Thema "Freiheit für Öcalan" auf dem M. platz auf, wobei er auch ein Porträt Öcalans zeigte. Auch im Mai 2018 nahm er jedenfalls an zwei Demonstrationen sowie einem Picknick eines PKK-nahen Vereins teil, wobei er teilweise Symbole des kurdischen Widerstandes präsentierte. Hinsichtlich des Verstoßes gegen das Betätigungsverbot für die PKK durch die Verwendung der genannten Kennzeichen und der im Zusammenhang mit der Besetzung der SPD-Zentrale verbundenen Straftaten wurde zwischenzeitlich mit Strafbefehl des Amtsgerichts M. rechtskräftig eine Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15 € gegen den Beschuldigten festgesetzt.
16
(2) Von August 2018 bis zum Sommer 2019 leitete der Beschuldigte dann als PKK-Gebietsverantwortlicher das PKK-Gebiet K. . Auch hierbeteiligte er sich - neben der Übernahme für einen Gebietsleiter typischer Aufgaben - an einer Vielzahl prokurdischer Veranstaltungen. So trat er zwischen dem 22. September 2018 und dem 18. März 2019 sieben Mal als Hauptredner bei Demonstrationen und Kundgebungen auf, die der Solidarität teilweise mit dem inhaftierten Öcalan, teilweise auch der mit anderen PKK-Gefangenen galten. Dabei rief er mehrmals die Kundgebungsteilnehmer dazu auf, sich der Polizei zu widersetzen, und trug damit zur Eskalation der jeweiligen Veranstaltung bei, in deren Umfeld es zu Straftaten wie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Verstöße gegen das Vereinsverbot kam.
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b) Der Beschuldigte ist der ihm vorgeworfenen Taten dringend verdächtig :
18
aa) Hinsichtlich der ausländischen terroristischen Vereinigung PKK folgt der dringende Tatverdacht aus Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden, die in einem bei den Akten befindlichen Strukturordner zusammengetragen worden sind.
19
bb) Der dringende Verdacht der vorstehenden Taten gegen den Beschuldigten , der sich zur Sache bisher nicht eingelassen hat, ergibt sich aus den Behördenzeugnissen der Verfassungsschutzbehörden der Bundesländer Bayern vom 18. Mai 2018 und Hessen vom Dezember 2018, in denen darauf hingewiesen wird, dass der Beschuldigte ab dem jeweils genannten Zeitpunkt als Leiter des Gebietes M. bzw. K. tätig war. Dass er diese Kaderfunktionen tatsächlich wahrnahm, findet Bestätigung in den bisherigen Ergebnissen der polizeilichen Ermittlungen des bayerischen Landeskriminalamtes und des Polizeipräsidiums Nordhessen, die im August 2018 eine gemeinsame Ermittlungsgruppe gebildet haben. Danach wurden in beiden Bundesländern diverse Kontakte zu anderen Personen aus dem Umfeld der örtlichen PKKKreise und die geschilderten Verhaltensweisen des Beschuldigten bei den genannten Veranstaltungen sowie weitere Aktivitäten wie der Transport von Propagandamaterial und dergleichen beobachtet. Insbesondere das Auftreten des Beschuldigten bei zahlreichen Demonstrationen und anderen prokurdischen Veranstaltungen, bei denen er häufig als Verantwortlicher und sogar als Hauptredner auftrat, bestärken den dringenden Verdacht hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Kadertätigkeiten. Aus dem dringenden Verdacht, dass er jeweils als Gebietsleiter auftrat, ist darauf zu schließen, dass er auch die mit dieser Stellung verbundenen Aufgaben wahrnahm. Zudem wird der dringende Verdacht, dass und in welchem Zeitraum der Beschuldigte die im Haftbefehl genannten Tätigkeiten für die PKK ausübte, durch den Inhalt überwachter Telefongespräche bestätigt, die er nach Beendigung seiner Kaderfunktion in K. Ende Mai 2019 mit seiner Lebensgefährtin führte.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten der den dringenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten begründenden Beweismittel und Indizien wird auf die Darle- gungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München Bezug genommen.
21
c) Der Beschuldigte hat sich daher mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
22
Die PKK stellt aufgrund ihrer Verbandsstruktur eine Vereinigung dar, bei der sich der Einzelne entsprechend den intern bestehenden Regeln unter den Gruppenwillen unterordnet. Sie ist angesichts des von ihr in Anspruch genommenen - indes nicht gegebenen - "Selbstverteidigungsrechts" und der durch ihre Unterorganisation HPG verübten Anschläge darauf ausgerichtet, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Für die Anschläge besteht auch kein Rechtfertigungsgrund nach Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht (BGH, Beschlüsse vom 6. Mai 2014 - 3 StR 265/13, NStZ-RR 2014, 274 f.; vom 8. Februar 2018 - AK 3/18, NStZ-RR 2018, 106).
23
An dieser Vereinigung beteiligte sich der Beschuldigte mitgliedschaftlich durch seine Tätigkeiten, die er als Gebietsleiter nacheinander für zwei Gebiete, teilweise gleichzeitig als kommissarischer Regionalleiter in B. , ausübte. Inwieweit durch die Aburteilung einzelner ihrerseits strafbarer Beteiligungshandlungen mit dem Strafbefehl des Amtsgerichts M. vom 15. Juli 2019 möglicherweise ein teilweiser Strafklageverbrauch eingetreten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14, BGHSt 60, 308, 311 ff.; vom 17. Dezember 2015 - StB 15/15, NStZ 2016, 745, 746 f.), bedarf im Rahmen dieser Haftentscheidung keiner abschließenden Klärung.
24
Das Bundesministerium der Justiz hat am 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren und Gebiete der PKK erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).
25
2. Es ist der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gegeben. Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung, auch unter Berücksichtigung eines teilweisen Strafklageverbrauchs, mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Der Beschuldigte ist türkischer Staatsangehöriger. Außerhalb der Kreise kurdischer Aktivisten verfügt er ersichtlich über keine gefestigten sozialen Beziehungen im Inland. Zwar hat er seit einigen Monaten eine Lebensgefährtin, mit der er zum Zeitpunkt seiner Verhaftung zusammenziehen wollte. Doch ist auch diese dem Umkreis seiner politischen Aktivitäten zugehörig. Einer Berufstätigkeit ist der Beschuldigte, der den Ideen und Zielen der PKK seit Jahren verhaftet ist, ersichtlich in der letzten Zeit nicht nachgegangen. Als über einen längeren Zeitraum hauptamtlich als Kader Tätiger verfügt er über zahlreiche Beziehungen innerhalb der PKK, die er unter Ausnutzung der entsprechenden Strukturen zur Flucht und zum Untertauchen zumindest im europäischen Ausland nutzen kann. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass er sich, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird.
26
Die aufgeführten Umstände begründen zudem die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Beschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenfalls auf den Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) gestützt werden kann.
27
Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 Abs. 1 StPO) ist unter den gegebenen Umständen nicht erfolgversprechend.
28
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor. Anlässlich der Festnahme des Beschuldigten am 13. August 2019 wurden sowohl die Wohnung seiner Eltern und Geschwister, in der er im Durchsuchungszeitpunkt wohnte, als auch eine weitere Wohnung, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin beziehen wollte, sowie die Räumlichkeiten seiner Lebensgefährtin, die einer anderen Person aus seinem politischen Umfeld und des kurdischen Zentrums in K. durchsucht. Dabei wurde eine Vielzahl von Datenträgern - u.a. vier Laptops, 13 Mobiltelefone, 19 USB-Sticks und zahlreiche Schriftstücke - sichergestellt, wobei viele Texte in Fremdsprachen erstellt sind. Deren Auswertung , mit der insbesondere das bayerische Landeskriminalamt befasst ist, dauert noch an. Dies begegnet auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Beschuldigte sich seit nunmehr mehr als sechs Monaten in Haft befindet, noch keinen Bedenken. Die Strafverfolgungsbehörden werden indes der in Haftsachen geforderten Beschleunigung der Ermittlungen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12, StV 2013, 640, 642 ff.; 13. Oktober 2016 - 2 BvR 1275/16, juris Rn. 41 ff.; jew. mwN) verstärkt Rechnung tragen müssen. Dies gilt insbesondere aufgrund des Umstands, dass die Auswertung der Mobiltelefone, die ursprünglich von Beamten des Polizeipräsidiums Nordhessen vorgenommen werden sollte, bisher über eine Grobsichtung nicht hinausgekommen ist und die bereits im August sichergestellten Mobiltelefone erst kurz vor der besonderen Haftprüfung zur weiteren Auswertung dem bayerischen Landeskriminalamt übergeben worden sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Abstimmungsschwierigkeiten und Reibungsverluste , die sich daraus ergeben, dass die Polizeibehörden unterschiedlicher Bundesländer mit den Ermittlungen befasst sind, einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO nicht begründen können. Gleichwohl ist das Verfahren im Hinblick auf die große Menge der auszuwertenden Daten bisher noch mit der geforderten Beschleunigung durchgeführt worden. Der Senat geht davon aus, dass die Ermittlungen bereits vor der nächsten Haftprüfung abgeschlossen werden können, so dass noch in der ersten Jahreshälfte 2020 Anklage erhoben werden wird.
29
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht derzeit nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Schäfer Spaniol Anstötz

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(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

(1) In den Fällen des § 121 legt das zuständige Gericht die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor, wenn es die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich hält oder die Staatsanwaltschaft es beantragt.

(2) Vor der Entscheidung sind der Beschuldigte und der Verteidiger zu hören. Das Oberlandesgericht kann über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach mündlicher Verhandlung entscheiden; geschieht dies, so gilt § 118a entsprechend.

(3) Ordnet das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft an, so gilt § 114 Abs. 2 Nr. 4 entsprechend. Für die weitere Haftprüfung (§ 117 Abs. 1) ist das Oberlandesgericht zuständig, bis ein Urteil ergeht, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt. Es kann die Haftprüfung dem Gericht, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist, für die Zeit von jeweils höchstens drei Monaten übertragen. In den Fällen des § 118 Abs. 1 entscheidet das Oberlandesgericht über einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach seinem Ermessen.

(4) Die Prüfung der Voraussetzungen nach § 121 Abs. 1 ist auch im weiteren Verfahren dem Oberlandesgericht vorbehalten. Die Prüfung muß jeweils spätestens nach drei Monaten wiederholt werden.

(5) Das Oberlandesgericht kann den Vollzug des Haftbefehls nach § 116 aussetzen.

(6) Sind in derselben Sache mehrere Beschuldigte in Untersuchungshaft, so kann das Oberlandesgericht über die Fortdauer der Untersuchungshaft auch solcher Beschuldigter entscheiden, für die es nach § 121 und den vorstehenden Vorschriften noch nicht zuständig wäre.

(7) Ist der Bundesgerichtshof zur Entscheidung zuständig, so tritt dieser an die Stelle des Oberlandesgerichts.

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.

(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.

(1) Wer eine Vereinigung (§ 129 Absatz 2) gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,

1.
Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder
2.
Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b
3.
(weggefallen)
zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,

1.
einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 bezeichneten Art, zuzufügen,
2.
Straftaten nach den §§ 303b, 305, 305a oder gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 306c oder 307 Abs. 1 bis 3, des § 308 Abs. 1 bis 4, des § 309 Abs. 1 bis 5, der §§ 313, 314 oder 315 Abs. 1, 3 oder 4, des § 316b Abs. 1 oder 3 oder des § 316c Abs. 1 bis 3 oder des § 317 Abs. 1,
3.
Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen des § 330a Abs. 1 bis 3,
4.
Straftaten nach § 19 Abs. 1 bis 3, § 20 Abs. 1 oder 2, § 20a Abs. 1 bis 3, § 19 Abs. 2 Nr. 2 oder Abs. 3 Nr. 2, § 20 Abs. 1 oder 2 oder § 20a Abs. 1 bis 3, jeweils auch in Verbindung mit § 21, oder nach § 22a Abs. 1 bis 3 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen oder
5.
Straftaten nach § 51 Abs. 1 bis 3 des Waffengesetzes
zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wenn eine der in den Nummern 1 bis 5 bezeichneten Taten bestimmt ist, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen kann.

(3) Sind die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung darauf gerichtet, eine der in Absatz 1 und 2 bezeichneten Straftaten anzudrohen, ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(4) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern, so ist in den Fällen der Absätze 1 und 2 auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

(5) Wer eine in Absatz 1, 2 oder Absatz 3 bezeichnete Vereinigung unterstützt, wird in den Fällen der Absätze 1 und 2 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wer für eine in Absatz 1 oder Absatz 2 bezeichnete Vereinigung um Mitglieder oder Unterstützer wirbt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(6) Das Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, in den Fällen der Absätze 1, 2, 3 und 5 die Strafe nach seinem Ermessen (§ 49 Abs. 2) mildern.

(7) § 129 Absatz 7 gilt entsprechend.

(8) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, aberkennen (§ 45 Abs. 2).

(9) In den Fällen der Absätze 1, 2, 4 und 5 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1).

(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

(1) Die §§ 129 und 129a gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet. In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.

(2) In den Fällen der §§ 129 und 129a, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 1, ist § 74a anzuwenden.

(1) Wer eine Vereinigung (§ 129 Absatz 2) gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,

1.
Mord (§ 211) oder Totschlag (§ 212) oder Völkermord (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder
2.
Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b
3.
(weggefallen)
zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,

1.
einem anderen Menschen schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 bezeichneten Art, zuzufügen,
2.
Straftaten nach den §§ 303b, 305, 305a oder gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 306c oder 307 Abs. 1 bis 3, des § 308 Abs. 1 bis 4, des § 309 Abs. 1 bis 5, der §§ 313, 314 oder 315 Abs. 1, 3 oder 4, des § 316b Abs. 1 oder 3 oder des § 316c Abs. 1 bis 3 oder des § 317 Abs. 1,
3.
Straftaten gegen die Umwelt in den Fällen des § 330a Abs. 1 bis 3,
4.
Straftaten nach § 19 Abs. 1 bis 3, § 20 Abs. 1 oder 2, § 20a Abs. 1 bis 3, § 19 Abs. 2 Nr. 2 oder Abs. 3 Nr. 2, § 20 Abs. 1 oder 2 oder § 20a Abs. 1 bis 3, jeweils auch in Verbindung mit § 21, oder nach § 22a Abs. 1 bis 3 des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen oder
5.
Straftaten nach § 51 Abs. 1 bis 3 des Waffengesetzes
zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wenn eine der in den Nummern 1 bis 5 bezeichneten Taten bestimmt ist, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen kann.

(3) Sind die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung darauf gerichtet, eine der in Absatz 1 und 2 bezeichneten Straftaten anzudrohen, ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen.

(4) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern, so ist in den Fällen der Absätze 1 und 2 auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren zu erkennen.

(5) Wer eine in Absatz 1, 2 oder Absatz 3 bezeichnete Vereinigung unterstützt, wird in den Fällen der Absätze 1 und 2 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in den Fällen des Absatzes 3 mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Wer für eine in Absatz 1 oder Absatz 2 bezeichnete Vereinigung um Mitglieder oder Unterstützer wirbt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(6) Das Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, in den Fällen der Absätze 1, 2, 3 und 5 die Strafe nach seinem Ermessen (§ 49 Abs. 2) mildern.

(7) § 129 Absatz 7 gilt entsprechend.

(8) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, aberkennen (§ 45 Abs. 2).

(9) In den Fällen der Absätze 1, 2, 4 und 5 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1).

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.

(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe zu erkennen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 S t R 2 6 5 / 1 3
vom
6. Mai 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 6. Mai 2014 gemäß
§§ 44, 46 Abs. 1, § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
1. Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ergänzung einer Verfahrensrüge wird zurückgewiesen.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 13. Februar 2013 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

1
Das Oberlandesgericht hat den Angeklagten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision macht der Angeklagte ein Verfahrenshindernis geltend und beanstandet die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Außerdem erstrebt er die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ergänzung einer Verfahrensrüge. Sämtliche Begehren bleiben ohne Erfolg.
2
Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts übernahm der Angeklagte ab Mai 2007 als hauptamtlicher Kader die Aufgabe des Gebietsleiters der "Partiya Karkeren Kurdistan" ("Arbeiterpartei Kurdistans"; im Folgenden: PKK) bzw. deren Europaorganisation "Civaka Demokratik a Kurdistan" ("Kurdische Demokratische Gesellschaft"; im Folgenden: CDK) in Hamburg und von Juni 2007 bis April 2008 zusätzlich die neu eingerichtete Region Hamburg, der die Gebiete Hamburg, Kiel, Bremen und Oldenburg angehörten. Er kontrollierte und koordinierte die Aktivitäten der PKK in diesen Gebieten, indem er etwa Konflikte entschied, die Disziplinargewalt ausübte und die finanziellen Angelegenheiten sowie die Organisation von Demonstrationen, Veranstaltungen und Kadertreffen überwachte. Außerdem fungierte er als Bindeglied zu dem damaligen Deutschlandverantwortlichen der PKK. Im April 2008 begab sich der Angeklagte in den Nordirak und schloss sich dort der PKK-Guerilla in den Bergen des türkisch-irakischen Grenzgebietes an. Im September 2008 kehrte er nach Europa zurück.
3
1. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Ergänzung der Rüge der Verletzung des § 261 StPO durch Verwertung der Erkenntnisse aus der am 12. Oktober 2011 durchgeführten Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten ist unzulässig.
4
Die Revisionsbegründungsfrist (§ 345 Abs. 1 StPO) ist nicht versäumt, da das Rechtsmittel fristgerecht mit der Sachrüge und mehreren - in zulässiger Weise geltend gemachten - Verfahrensrügen begründet worden ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 1951 - 1 StR 5/51, BGHSt 1, 44, 46 f.; vom 3. September 1987 - 1 StR 386/87, BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 1; vom 1. November 1988 - 5 StR 488/88, BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 3). Auch die in Rede stehende Rüge ist nicht verspätet, sondern allein in unvoll- ständiger Weise erhoben worden. Es widerspricht der Systematik des Revisionsverfahrens , in derartigen Fällen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur ergänzenden Begründung der Revisionsrüge zuzulassen, nachdem der Revisionsführer durch die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft von der Formwidrigkeit seiner Verfahrensrüge erfahren hat. Eine besondere Verfahrenslage, bei der ausnahmsweise zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) eine Wiedereinsetzung unerlässlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. September 1993 - 5 StR 162/93, BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 44 Rn. 7 ff.), liegt nicht vor.
5
2. Ein Verfahrenshindernis besteht nicht; die nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Verfolgungsermächtigung liegt vor.
6
Das Bundesministerium der Justiz hat unter dem 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten mit Deutschlandbezug der Europaführung, des Deutschlandverantwortlichen und der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren bzw. Regionen und Gebiete der PKK und CDK erteilt. Mit Schreiben vom 29. April 2013 hat es mitgeteilt, dass diese Ermächtigung nicht zurückgenommen werde. Zudem hat es unter dem 4. Mai 2012 eine Verfolgungsermächtigung für Taten des Angeklagten im Zusammenhang mit dessen Tätigkeit für die PKK und CDK erteilt. Diese Ermächtigungen genügen den an sie zu stellenden Anforderungen.
7
Bezüglich der formellen Einwände der Revision wird auf die Darlegungen in dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 27. September 2012 und der Antragsschrift des Generalbundesanwalts verwiesen.
8
In der Sache bedarf es hier keiner Entscheidung, ob die Ermächtigung nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB inhaltlich jeder gerichtlichen Kontrolle entzogen (vgl. BT-Drucks. 14/8893 S. 9; LK/Krauß, StGB, 12. Aufl., § 129b Rn. 30; NK-StGB/Ostendorf, 4. Aufl., § 129b Rn. 12; Altvater, NStZ 2003, 179, 182; Stein, GA 2005, 433, 457 f.; Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland, 2007, S. 311) oder - ähnlich wie dies für einen von einer hoheitlich handelnden Behörde gestellten Strafantrag vertreten wird (vgl. SKStGB /Rudolphi/Wolter, 39. Lfg., § 77 Rn. 20; Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., § 77 Rn. 17) - jedenfalls in begrenztem Maße auf Willkür überprüfbar ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 8. Mai 2007 - 6 St 1/07, NJW 2007, 2786, 2789; offen gelassen in MK/Schäfer, 2. Aufl., § 129b Rn. 26). Anhaltspunkte, die für eine willkürlich erteilte Verfolgungsermächtigung sprechen könnten, sind nicht zu erkennen. Die Ermächtigung vom 6. September 2011 ist allgemein bis zur Ebene der Gebietsverantwortlichen erteilt. Sie erfasst somit alle für die PKK in herausgehobener Funktion Tätigen, ohne in sachwidriger Weise zwischen einzelnen Mitgliedern zu differenzieren. Hinweise darauf, dass das Bundesministerium die Ermächtigung aus sonstigen Gesichtspunkten in willkürlicher Weise erteilt hat, sind nicht ersichtlich.
9
3. Die Verfahrensrügen dringen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegten Gründen nicht durch.
10
4. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht ergeben. Der ergänzenden Erörterung über die Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts hinaus bedürfen lediglich die folgenden Gesichtspunkte :
11
a) Die Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts ist nach dem im Revisionsrecht geltenden begrenzten Prüfungsmaßstab (BGH, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 StR 269/04, NJW 2005, 2322, 2326) rechtsfehlerfrei. Dies gilt insbesondere auch, soweit das Oberlandesgericht sich davon überzeugt hat, dass die Führung der PKK spätestens ab August 2004 die terroristischen Aktivitäten der Vereinigung gegen zivile Objekte und Personen durch den Deckmantel der vermeintlich eigenständig agierenden "TAK" (Teyrebazen Azadiya Kurdistan = Freiheitsfalken Kurdistan) zu verschleiern suchte und die in der Folgezeit verübten Anschläge, zu denen sich "TAK" bekannte, daher tatsächlich der PKK zuzurechnen sind.
12
b) Für die Straftaten, auf die die Tätigkeit der PKK gerichtet ist, besteht kein Rechtfertigungsgrund.
13
Dies betrifft ohne Weiteres diejenigen Attentate, die unter dem Deckmantel der "TAK" gegen zivile Objekte und Personen durchgeführt wurden. Auch diejenigen Anschläge, die durch die Unterorganisation HPG (Hezen Parastina Gel = Volksverteidigungskräfte) vor allem im Osten der Republik Türkei auf militärische, paramilitärische oder polizeiliche Einrichtungen verübt wurden , sind weder nach nationalem Recht noch gemäß den Regeln des Völkerrechts gerechtfertigt. Dies entspricht der langjährigen, ständigen Rechtsprechung der mit Staatsschutzstrafsachen befassten Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 2012 - AK 1 und 2/12, BGHR StGB § 129b Vereinigung 2; vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 - 3 StR 179/10, BGHSt 56, 28, 29 ff.). Das Revisionsvorbringen bietet keinen Anlass, hiervon abzugehen; auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 2 GG ist nicht angezeigt. Das Oberlandesgericht hat in diesem Zusammenhang zu den von der Verteidigung aufgeworfenen völkerrechtlichen Fragestellungen sowohl in den schriftlichen Urteilsgründen als auch in seinem ausführlich begründeten Hinweisbeschluss vom 28. November 2012 zutreffend dargelegt, dass die der PKK zuzurechnenden Straftaten weder durch Völkervertrags- noch durch Völkergewohnheitsrecht gerechtfertigt sind. Der Senat schließt sich den dortigen Ausführungen einschließlich der umfangreichen Nachweise aus dem völkerrechtlichen Schrifttum vollumfänglich an und bemerkt auf der Grundlage der vom Oberlandesgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen lediglich zusammenfassend bzw. ergänzend:
14
aa) Art. 43 i.V.m. Art. 1 Abs. 4 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte vom 8. Juni 1977 (BGBl. 1990 II, S. 1551; im Folgenden: ZP I) kommt als Rechtfertigungsgrund nicht in Betracht; denn sowohl die formellen als auch die materiellen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit dieser Vorschriften sind nicht erfüllt.
15
Art. 43 ZP I statuiert das sog. Kombattantenprivileg, mithin das Recht der Angehörigen der Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen. Dieses Recht umfasst auch die Tötung von militärischen Gegnern. Es steht allerdings grundsätzlich nur Kämpfern in internationalen Konflikten zu. In diese bezieht Art. 1 Abs. 4 ZP I indes solche bewaffnete Konflikte ein, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regime in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen, wie es in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt ist.
16
(1) Formelle Voraussetzung für die Anwendbarkeit des ZP I als Teil des Völkervertragsrechts wäre, dass sowohl die Republik Türkei als auch die PKK dem Zusatzprotokoll rechtswirksam beigetreten sind. Dies ist jedoch bereits deshalb nicht der Fall, weil die Republik Türkei bis heute eine entsprechende Beitrittserklärung nicht abgegeben hat. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob die PKK überhaupt als "Organ, das ein Volk vertritt" im Sinne des Art. 96 Abs. 3 ZP I angesehen werden kann und sich ihrerseits gemäß dieser Vorschrift durch eine an den Verwahrer gerichtete Erklärung verpflichtet hat, die Genfer Abkommen und das ZP I in Bezug auf den Konflikt mit der Türkischen Republik anzuwenden.
17
(2) Entgegen der Auffassung der Revision ist das ZP I im Rahmen der Anwendung deutschen (Straf-)Rechts auch nicht deshalb anwendbar, weil die Bundesrepublik Deutschland diesem Abkommen beigetreten ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Partei in dem Konflikt zwischen der Republik Türkei und der PKK. Ihr Beitritt zu dem ZP I kann deshalb für diese keine Rechtsfolgen bezüglich der Rechtfertigung von im Rahmen des Konflikts begangenen Straftaten bis hin zu Tötungshandlungen auslösen. Die völkervertragsrechtliche Regelung der Art. 43, Art. 1 Abs. 4 ZP I erlangt vielmehr nur Geltung, wenn die am Konflikt Beteiligten selbst Vertragspartner sind; durch die Ratifizierung des Abkommens durch einen unbeteiligten Staat können diesen keine Rechte und Pflichten aus dem Vertrag auferlegt werden.
18
(3) Hinsichtlich der materiellen Anforderungen des Art. 1 Abs. 4 ZP I kann dahinstehen, ob auf der Grundlage der vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen "bewaffneter Konflikt" und "Volk" erfüllt sind (vgl. hierzu GBA, Verfügung vom 20. Juni 2013 - 3 BJs 7/12-4, NStZ 2013, 644, 645). Der türkisch-kurdische Konflikt stellt jedenfalls keinen Kampf der PKK gegen Kolonialherrschaft, fremde Besetzung oder ein rassistisches Regime dar.
19
Die Republik Türkei hat die überwiegend von Kurden bevölkerten Provinzen nicht zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeutung oder aus anderen Gründen besetzt. Die Zugehörigkeit eines Teils der kurdischen Gebiete zur Republik Türkei ist letztlich ein Ergebnis des 1. Weltkrieges und des damit verbundenen Zusammenbruches des Osmanischen Reiches, nach dem die türkischen Staatsgrenzen neu bestimmt wurden. Die Auffassung der Revision, die Fremdheit türkischer Besetzung liege darin, dass die Entwicklung zu einem kurdischen Staat nach dem ersten Weltkrieg insbesondere durch den Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920, in dem den Kurden unter den dort näher geregelten Voraussetzungen ein Recht auf Selbstbestimmung zugebilligt wurde, nur unterbrochen worden sei, geht fehl. Der Vertrag von Sèvres wurde bereits durch den Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 wieder aufgehoben. Die auf türkischem Hoheitsgebiet liegenden kurdischen Provinzen sind deshalb völkerrechtlich als Teil der Republik Türkei anzusehen; eine "fremde" Besetzung scheidet somit aus.
20
Die Republik Türkei ist schließlich kein rassistisches Regime im Sinne des Art. 1 Abs. 4 ZP I. Dieses Tatbestandsmerkmal ist eng auszulegen; nach der Entstehungsgeschichte des ZP I sollte es insbesondere das früher in Südafrika bestehende Apartheitsregime erfassen. Das Oberlandesgericht hat zwar festgestellt, dass die kurdische Bevölkerungsgruppe und ihre Repräsentanten in der Republik Türkei verschiedenen Repressionen ausgesetzt waren, was u.a. in mehreren Fällen zur Verurteilung der Republik Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führte. Die Voraussetzungen eines rassistischen Regimes im hier relevanten Sinne sind aber nicht schon dann gege- ben, wenn einzelne Bevölkerungsteile diskriminiert werden. Erforderlich ist vielmehr, dass diese vom politischen Prozess vollständig ausgeschlossen werden. Derart weitgehende Maßnahmen seitens der Republik Türkei sind nicht festgestellt.
21
bb) Die der PKK zuzurechnenden Straftaten sind auch nicht nach den Maßgaben des Völkergewohnheitsrechts gerechtfertigt.
22
Die Entstehung eines universell geltenden Völkerrechtssatzes setzt grundsätzlich eine in der Staatengemeinschaft hinreichend verfestigte Praxis und eine entsprechende Rechtsüberzeugung voraus. Zu den in Art. 1 Abs. 4 ZP I niedergelegten Grundsätzen hat sich bisher keine einhellige Staatenpraxis entwickelt. Es fehlt - auch mit Blick auf das von der Verteidigung angeführte Recht auf Selbstbestimmung nach Art. 1 Nr. 2 der UN-Charta (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 12. Oktober 1965 - 3 StR 15/65 - NJW 1966, 310) - an einer von einer ausreichend einhelligen Rechtsüberzeugung getragenen Praxis für ein ius ad bellum etwa nationaler Befreiungsbewegungen; ein kollektives Recht auf bewaffneten Widerstand zugunsten einer Bevölkerungsgruppe gegen die Regierung des eigenen Landes hat sich bisher im Völkergewohnheitsrecht nicht herausgebildet (zur nicht gegebenen Rechtfertigung vorsätzlicher Tötungen wegen menschenrechtswidriger Versagung der Ausreisefreiheit vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 2000 - 5 StR 629/99, NJW 2000, 3079; BVerfG, Beschluss vom 30. November 2000 - 2 BvR 1473/00, NStZ 2001, 187; zu den neueren Entwicklungen des Völkerrechts in einem Bürgerkrieg vgl. Kreß, JZ 2014, 365). Im Übrigen besteht im hier konkret zu beurteilenden Fall gerade keine Überzeugung der Staatengemeinschaft dahin, der bewaffnete Kampf der PKK und ihrer Unterorganisationen und die damit verbundene Begehung von Straftaten sei gerechtfertigt. Die PKK wird vielmehr international weitgehend als terroristische Organisation eingeordnet (vgl. etwa aus dem Bereich der Europäischen Union in neuerer Zeit Beschluss 2014/72/GASP des Rates vom 10. Februar 2014 zur Aktualisierung und Änderung der Liste der Personen, Vereinigungen und Körperschaften , für die die Artikel 2, 3 und 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus gelten, und zur Aufhebung des Beschlusses 2013/395/GASP, Anhang Ziffer 2.16. und 25., ABl. L 40/56; vgl. auch die Nachweise in BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 - 3 StR 179/10, BGHSt 56, 28,

39).


Becker RiBGH Hubert befindet sich Schäfer im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Becker Gericke Spaniol

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
AK 3/18
vom
8. Februar 2018
in dem Strafverfahren
gegen
wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung
ECLI:DE:BGH:2018:080218BAK3.18.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeschuldigten und seines Verteidigers am 8. Februar 2018 gemäß §§ 121, 122 StPO
beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern. Eine etwaige weiter erforderliche Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Celle übertragen.

Gründe:


I.


1
Der Angeschuldigte wurde am 18. Juli 2017 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters beim Oberlandesgericht Celle vom 20. April 2017 (OGs 9/17), neu gefasst mit Beschluss vom 21. Juli 2017, festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.
2
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe zwischen dem 12. März 2014 und dem 30. Juni 2015 unter dem Decknamen "F. " oder "der blonde F. " in S. und anderen Orten in Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Gesamtorganisation eine Führungsfunktion in der "Partiya Karkerên Kurdistan" ("Arbeiterpartei Kurdistans", im Fol- genden: PKK) und ihrer Teilstrukturen in Europa ausgeübt, indem er als hauptamtlicher Kader das PKK-Gebiet S. geleitet habe. Dadurch habe er sich an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB.
3
Unter dem 14. Dezember 2017 hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle wegen des im Haftbefehl aufgeführten Tatvorwurfs Anklage gegen den Angeschuldigten vor dem Oberlandesgericht Celle erhoben.

II.


4
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
5
1. Der Angeschuldigte ist der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland dringend verdächtig.
6
a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:
7
aa) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die "Koma Civakên Kurdistan" ("Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan", im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen "konföderalen" Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien, Iran und Irak abzielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
8
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person von Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den "Kongra Gele Kurdistan" (KONGRA GEL, "Volkskongress Kurdistans") und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
9
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die "Hêzên Parastina Gel" ("Volksverteidigungskräfte", im Folgenden: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen "Selbstverteidigung" einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten und verletzten oder töteten dabei eine Vielzahl von diesen. Sie bekannten sich seit der Aufkündigung eines "Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über 100 Anschlägen.
10
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr war mit der Erklärung bereits der Vorbehalt verbunden, dass man im Fall von Angriffen von dem "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch machen und Vergeltung üben werde.
11
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der "Civata Demokratîk a Kurdistan" ("Kurdische Demokratische Gesellschaft", im Folgenden: CDK), die die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDKKongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD) im Juli 2013 in "Kongress der kurdisch -demokratischen Gesellschaft in Europa" (KCD-E) um. Unter der Bezeichnung KCD-E werden nicht nur die Strukturen des KON-KURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.
12
Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 drei Sektoren ("Süd", "Mitte" und "Nord"), seit 2012 ist der Sektor "Süd" in die Sektoren "Süd 1" und "Süd 2" aufgeteilt. Für jede Organisationseinheit wird von der Führung mindestens ein Verantwortlicher eingesetzt; Sektoren und Gebiete werden in der Regel von einem durch die Partei alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propagan- da. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und dieser über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.
13
bb) Der Angeschuldigte war in der Zeit vom 12. März 2014 bis zum 30. Juni 2015 als Leiter des PKK-Gebiets S. mit den typischen Führungsaufgaben eines PKK-Gebietsleiters befasst und koordinierte die organisatorischen , finanziellen, personellen und propagandistischen Angelegenheiten seines Zuständigkeitsbereichs. Dabei agierte er unter dem parteiinternen Decknamen "F. " oder "der blonde F. ". Er hielt einerseits Kontakt zu dem ihm hierarchisch direkt übergeordneten Leiter des PKK-Sektors "Nord", der ihm Anweisungen erteilte und dem er regelmäßig über die Parteiarbeit in dem von ihm geleiteten Gebiet berichtete. Andererseits nahm er bestimmenden Einfluss auf die Arbeit der ihm in der Parteihierarchie unterstellten PKK-Kader, indem er ihre Arbeit koordinierte, ihnen Anweisungen gab und sich über die Entwicklungen in den von ihnen geleiteten Räumen unterrichten ließ.
14
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich des vorstehenden Sachverhalts ergibt sich aus öffentlichen Verlautbarungen der Organisationen, einer Vielzahl von sichergestellten Unterlagen, der Auswertung zahlreicher Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen und Zeugenaussagen. Wegen der Einzelheiten wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts Celle und in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Celle Bezug genommen.
15
c) Der Angeschuldigte hat sich daher mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
16
Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand stellt die von der PKK initiierte Verbandsstruktur eine Vereinigung dar, bei der sich der Einzelne entsprechend den intern bestehenden Regeln unter den Gruppenwillen unterordnet. Sie ist angesichts des von ihr in Anspruch genommenen - indes nicht gegebenen - "Selbstverteidigungsrechts" und der durch ihre Unterorganisation HPG verübten Anschläge darauf ausgerichtet, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Für die Anschläge besteht auch kein Rechtfertigungsgrund nach Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 3 StR 265/13, NStZ-RR 2014, 274).
17
Das Bundesministerium der Justiz hat am 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren und Gebiete der PKK erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).
18
2. Es ist jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gegeben. Der Angeschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Er lebt von seiner Familie getrennt und bezieht Sozialhilfe. Nach den vorliegenden Erkenntnissen war er auch in Aktionen im europäischen Ausland eingebunden. Er kann zudem aufgrund seiner Kadertätigkeit bei der Beschaffung und Verwendung von Falschpapieren oder der Bereitstellung konspirativer Aufenthaltsorte mit der Hilfe der Organisation rechnen. Vor diesem Hintergrund ist entgegen der Ansicht der Verteidigung zu erwarten, dass er sich, sollte er in Freiheit gelangen , dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird.
19
Zumindest begründen die genannten Umstände die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeschuldigten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung der Vorschrift (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) daneben auf den Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO zu stützen ist.
20
Angesichts dieser Sachlage kann dahinstehen, ob darüber hinaus der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) besteht.
21
Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).
22
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor.
23
Der besondere Umfang und die besondere Schwierigkeit der Ermittlungen haben ein Urteil innerhalb von sechs Monaten seit der Inhaftierung des Angeschuldigten noch nicht zugelassen. Insbesondere war eine umfangreiche Auswertung der bei der Festnahme des Angeschuldigten sichergestellten Mobiltelefone erforderlich, deren Ergebnisse der Generalstaatsanwaltschaft schließlich Ende November 2017 vorlagen. Daraufhin ist unter dem 14. Dezember 2017 Anklage erhoben worden. Die Anklageschrift ist am selben Tag beim Oberlandesgericht Celle eingegangen. Bereits am 15. Dezember 2017 hat der Vorsitzende des beim Oberlandesgericht mit der Sache befassten 4. Strafsenats die Zustellung der Anklage verfügt und gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO eine dem Umfang der Sache angemessene Frist zur Stellungnahme von vier Wochen bestimmt. Zugleich hat er darauf hingewiesen, dass für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens beabsichtigt ist, mit der Hauptverhandlung am 9. März 2018 zu beginnen.
24
In Anbetracht dessen ist das Verfahren bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
25
4. Schließlich steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Becker Tiemann Hoch

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 537/14
vom
9. Juli 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung u.a.
ECLI:DE:BGH:2015:090715B3STR537.14.1

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am 9. Juli 2015 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 27. Januar 2014, soweit es ihn betrifft, mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Fall B.VIII. der Urteilsgründe sowie
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an das Amtsgericht Wipperfürth - Strafrichter - zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freispruch im Übrigen - wegen Körperverletzung (Fall B.VII. 10. der Urteilsgründe) sowie wegen versuchter Körperverletzung in Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (Fall B.VIII. der Urteilsgründe) zu der Gesamt- geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 25 € verurteilt. Die auf die Rüge der Ver- letzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts rief der Angeklagte am 1. Mai 2011 zwischen 3.00 und 4.00 Uhr auf einer Maifeier in R. lauthals "Sieg Heil". Als ihn ein Besucher deswegen zur Rede stellen wollte, wiederholte er den Ausruf und "schlug dem Zeugen mit der flachen Hand die Brille aus dem Gesicht, ohne ihm dabei Schmerzen zuzufügen oder die Brille zu beschädigen". Anschließend entfernte sich der Angeklagte (Fall B.VIII. der Urteilsgründe).
3
Am 25. November 2011 kam es in W. außerhalb eines Schnellrestaurants zu einer Schlägerei, weswegen der Filialleiter die Polizei informierte. Als er bemerkte, dass die Kämpfenden den Ort des Geschehens verließen, hielt er den sich ebenfalls entfernenden Angeklagten, der in die Filiale gekommen war und zu einer der Gruppe der Kämpfenden gehörte, am Arm fest, um einen Zeugen vor Ort zu haben. Der Angeklagte riss sich los und rannte zur Tür. Als der Filialleiter ihm folgte, drehte sich der Angeklagte um, versetzte ihm einen Schlag mit der Faust ins Gesicht und floh anschließend vom Tatort (Fall B.VII. 10. der Urteilsgründe).
4
2. Die Verurteilung wegen Körperverletzung hinsichtlich des unter B.VII. 10. der Urteilsgründe geschilderten Sachverhalts hat Bestand. Soweit die Revision geltend macht, das Landgericht hätte eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr erörtern müssen, ergeben die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen , dass der Faustschlag des sich ohnehin im Gehen befindlichen Angeklagten jedenfalls nicht erforderlich im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB war.
5
3. Demgegenüber wird der Schuldspruch wegen versuchter Körperverletzung hinsichtlich des Geschehens vom 1. Mai 2011 von den Feststellungen nicht getragen. Insofern fehlt es an Ausführungen zur subjektiven Tatseite des Angeklagten. Es mag zwar naheliegen, dass dessen Angriff nicht ausschließlich der Brille, sondern auch der körperlichen Integrität des Geschädigten galt oder dass der Angeklagte jedenfalls die Möglichkeit erkannte, diesen durch sein Vorgehen zu verletzen und dies billigend in Kauf nahm. Dies festzustellen ist indes Sache des Tatrichters. Darüber hinaus verhält sich das Urteil nicht zum Vorstellungsbild des Angeklagten unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung, welches für die Beurteilung maßgeblich ist, ob der Angeklagte gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB von einem etwaigen Versuch strafbefreiend zurückgetreten ist (vgl. zum Rücktrittshorizont BGH, Urteil vom 2. November 1994 - 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 305 f.).
6
Die deshalb gebotene Aufhebung des Urteils umfasst auch das in Tateinheit zur versuchten Körperverletzung stehende, für sich betrachtet rechtsfehlerfrei festgestellte Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (vgl. KK-Gericke, StPO, 7. Aufl., § 353 Rn. 12 mwN). Der Wegfall der Einzelstrafe zieht die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich.
7
Nach Ausscheiden des die Zuständigkeit des Landgerichts begründenden Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 Abs. 1 Var. 2 StGB verweist der Senat das Verfahren im Umfang der Aufhebung an das für das Geschehen in R. örtlich zuständige Amtsgerichts Wipperfürth - Strafrichter - zurück (§ 354 Abs. 3 StPO).
8
4. Darüber hinaus stellt der Senat klar, dass entgegen den Ausführungen in den schriftlichen Urteilsgründen des Landgerichts für einen Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und vom Vorwurf des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (Nr. 1 (12) der Anklage) kein Raum war, und sich dementsprechend der ausgeurteilte Teilfreispruch hierauf nicht erstreckt.
9
Allerdings war die Anklage mit Blick auf das Geschehen vom 1. Mai 2011 von zwei Taten (§ 53 StGB) - dem ersten Ruf "Sieg Heil" auf der einen, dem zweiten Ruf sowie dem Schlag gegen die Brille auf der anderen Seite - ausgegangen. In diesen Fällen ist ein Freispruch auch dann angezeigt, wenn das tatmehrheitlich angeklagte, indes nicht als erwiesen angesehene Geschehen mit dem abgeurteilten Teil eine natürliche Handlungseinheit bilden würde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 260 Rn. 13 mwN). Dies gilt jedoch nicht, wenn - wie vorliegend - das gesamte angeklagte Geschehen abgeurteilt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 20. September 2012 - 3 StR 220/12, NStZ-RR 2013, 6, 7). Denn in diesen Fällen ist für eine weitere materiellrechtliche Tat, die Gegenstand eines Freispruchs sein könnte, kein Raum mehr.
10
Ein Freispruch unterbleibt des Weiteren, wenn nicht wegen aller Taten verurteilt wird, die nach dem Eröffnungsbeschluss in Tateinheit zueinander stehen (BGH, Urteil vom 22. Mai 1984 - 5 StR 270/84, NStZ 1985, 13, 15 f. bei Pfeiffer/Miebach). Deswegen kam ein Freispruch vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, der als in Tateinheit zu der Körperverletzung vom 25. November 2011 stehend angeklagt worden war, nicht in Betracht.
Becker Pfister Mayer Gericke Spaniol

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
StB 15/15
vom
17. Dezember 2015
in dem Strafverfahren
gegen
wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.
hier: sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen die teilweise
Nichteröffnung des Hauptverfahrens
ECLI:DE:BGH:2015:171215BSTB15.15.0

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers sowie des Angeklagten und seiner Verteidiger am 17. Dezember 2015 gemäß § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 2 StPO beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des Generalbundesanwalts gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 20. Oktober 2015 wird verworfen.

Gründe:

1
Der Generalbundesanwalt hat dem Angeklagten mit der zum Oberlandesgericht Düsseldorf erhobenen Anklage vorgeworfen, sich spätestens seit September 2013 als Mitglied an einer ausländischen terroristischen Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB), tateinheitlich hierzu aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet (§ 211 StGB) sowie in weiterer Tateinheit eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben (§ 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StGB). Das Oberlandesgericht hat mit Beschluss vom 20. Oktober 2015 die Anklage teilweise zur Hauptverhandlung zugelassen; hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Gegen die teilweise Nichteröffnung wendet sich der Generalbundesanwalt mit seiner sofortigen Beschwerde.
2
Das nach § 210 Abs. 2, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 2 StPO statthafte Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
3
1. Mit der Anklageschrift wird dem Angeklagten, der deutscher und türkischer Staatsangehöriger ist, folgender Sachverhalt zur Last gelegt:
4
Der Angeklagte, der sich seit 2010 mit islamistischem Gedankengut befasste , entschied sich spätestens Anfang 2013, sich kämpfend am Bürgerkrieg in Syrien zu beteiligen. Zu diesem Zweck reiste er im März 2013 nach Syrien. Spätestens im September 2013 schloss er sich dort der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" an. Er unterwarf sich deren Befehlsgewalt, ließ sich im Umgang mit Schusswaffen ausbilden, verschaffte sich eine Kalaschnikow und legte gegenüber dem Befehlshaber seiner Kampfeinheit den Treueid auf den Anführer des "ISIG" ab. Spätestens ab dem 13. Oktober 2013 nahm er mehrfach an Kampfeinsätzen teil. Außerdem leistete er als Kämpfer Wachdienste. Während seiner Mitwirkung an den bewaffneten Auseinandersetzungen tötete er noch im Alter von 20 Jahren - also vor dem 25. Januar 2014 - an einem nicht näher bekannten Ort in Syrien einen Menschen , getragen von den radikal-islamistischen Vorstellungen des "ISIG", die die körperliche Vernichtung aller Gegner und Andersdenkender zur religiösen Verpflichtung pervertieren. Vom 25. Januar 2014 bis zum 1. Juli 2014 hielt er sich vorübergehend in Deutschland auf, um sich zur Wiederherstellung seiner Kampffähigkeit ärztlich behandeln zu lassen. Danach reiste er erneut nach Syrien, wo er wiederum an Kampfhandlungen des "ISIG" teilnahm.
5
Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wird zur Beweislage hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes ausgeführt, dass die Lebensgefährtin des Angeklagten gegenüber der Polizei angegeben habe, dieser habe ihr erzählt, "ungefähr" 16 Personen bei Kampfeinsätzen getötet zu haben, was sie am Telefon auch ihrer Cousine erzählt habe. Außerdem habe der Angeklagte gegenüber zwei Mitgefangenen angegeben, Menschen bei den Kampfeinsätzen "geköpft" zu haben. Auf Nachfrage eines der Mitgefangenen, ob er Menschen getötet habe, habe er genickt.
6
Hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes wird in der Anklageschrift ergänzend angeführt, es sei zugunsten des Angeklagten nur von einem Mord auszugehen , da mangels näherer Anhaltspunkte die genaue Zahl der getöteten Personen nicht festgestellt werden könne. Dieser stehe zu den beiden anderen Delikten in Tateinheit.
7
2. Zutreffend geht das Oberlandesgericht davon aus, dass die Anklage wegen Mordes ihrer Umgrenzungsfunktion nicht gerecht wird. Auf die Frage, ob ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, kommt es deshalb nicht an.
8
Die Anklage hat die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll; sonst ist die Anklage unwirksam (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 25. Januar 1995 - 3 StR 448/94, BGHSt 40, 390, 391 f.).
9
Diesen Anforderungen genügt die Anklageschrift hinsichtlich des Vorwurfs des Mordes nicht. Das dem Angeklagten angelastete Tötungsdelikt ist weder im Anklagesatz noch im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen hinreichend umschrieben. Die Anklage enthält zwar eine ungefähre zeitliche Einordnung der Tat zwischen dem 13. Oktober 2013 und dem 25. Januar 2014 und nennt als Tatort geographisch das Land "Syrien". Über diese wenig konkreten Angaben hinaus finden sich in der Anklage jedoch keinerleikonkretisierenden Merkmale hinsichtlich des dem Angeklagten vorgeworfenen Tötungsdelikts. Weder die Person des Opfers noch die Art und die Umstände der Tötung werden mitgeteilt. Damit enthält der Anklagesatz - auch zusammen mit den Ausführungen im wesentlichen Ermittlungsergebnis - keine individualisierenden Merkmale, mit denen sich das angeklagte Delikt von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lässt. Ergänzend wird auf die zutreffenden Gründe der Entscheidung des Oberlandesgerichts verwiesen.
10
3. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts war es dem Oberlandesgericht vorliegend auch rechtlich nicht verwehrt, die Eröffnung des Hauptverfahrens teilweise abzulehnen.
11
a) Das Oberlandesgericht hat die nur teilweise Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 207 Abs. 2 Nr. 1 StPO auf der Grundlage bisheriger Rechtsprechung des Senats als zulässig angesehen, weil es sich bei dem Mord im Verhältnis zu den anderen dem Angeklagten angelasteten Delikten um eine andere Tat im prozessualen Sinne des § 264 Abs. 1 StPO handele. Nach dieser Rechtsprechung standen sonstige Straftaten, die sich gleichzeitig als mitgliedschaftliche Beteiligungsakte an einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung darstellten, materiell-rechtlich zwar in Tateinheit mit dem Verstoß gegen § 129 Abs. 1 oder § 129a Abs. 1 bzw. Abs. 2 (gegebenenfalls i.V.m. § 129b Satz 1) StGB, bildeten aber - in Abweichung von sonst geltenden Grundsätzen - jedenfalls mit Blick auf einen möglichen Strafklageverbrauch dann keine einheitliche prozessuale Tat mit dem Organisationsdelikt, wenn sie gemessen an ihrer Strafandrohung schwerer wogen als dieses (BGH, Urteil vom 11. Juni 1980 - 3 StR 9/80, BGHSt 29, 288). Das Oberlandesgericht ist davon ausgegangen , dass der Begriff der prozessualen Tat im Hinblick auf die vorliegend in Frage stehende Kognitionspflicht des Gerichts nicht anders als beim Strafklageverbrauch verstanden werden kann.
12
b) Eines näheren Eingehens hierauf bedarf es nicht. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts erweist sich jedenfalls auf Grundlage der neueren Rechtsprechung des Senats im Ergebnis als zutreffend; denn der Senat hat seine bisherige Rechtsprechung, wonach alle mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte an einer kriminellen (oder terroristischen) Vereinigung zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit zusammengefasst werden, aufgegeben (BGH, Beschluss vom 9. Juli 2015 - 3 StR 537/14 juris). Vielmehr unterbleibt eine tateinheitliche Verknüpfung solcher Handlungen, die zwar der Zwecksetzung der Vereinigung oder sonst deren Interessen dienen, aber auch den Tatbestand einer anderen Strafvorschrift erfüllen. Diese stehen dann für sich genommen gemäß § 52 Abs. 1 Alt. 1 StGB materiell-rechtlich zwar in Tateinheit mit der jeweils gleichzeitig verwirklichten mitgliedschaftlichen Beteiligung im Sinne des § 129 Abs. 1, § 129a Abs. 1 oder Abs. 2 oder § 129b Abs. 1 StGB, jedoch - soweit sich nach allgemeinen Grundsätzen nichts anderes ergibt - sowohl untereinander als auch zu der Gesamtheit der sonstigen mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte in Tatmehrheit. Denn die Verletzung eines Individualrechtsguts durch eine Beteiligungshandlung, die ihrerseits einen Straftatbestand erfüllt, kann gegenüber dessen bloßer Gefährdung, der § 129 Abs. 1, § 129a Abs. 1, Abs. 2, § 129b Satz 1 StGB (auch) entgegenwirken wollen, nicht untergeordnet sein (s. näher BGH aaO).
13
Dies gilt auch vorliegend. Das angeklagte Tötungsdelikt steht zwar für sich in Tateinheit mit der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, zur sonstigen Erfüllung des Tatbestandes des § 129b, § 129a Abs. 1 Var. 2 StGB besteht aber Tatmehrheit. Damit beansprucht der Grundsatz Gültigkeit, dass sachlich-rechtlich selbständige Taten auch prozessual selbständig sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 264 Rn. 2, 6 mwN). Für das angeklagte Tötungsdelikt bedeutet dies, dass es sich als eine einzelne von mehreren angeklagten Taten darstellt, so dass nach § 207 Abs. 2 Nr. 1 StGB eine Teilablehnung der Eröffnung zulässig war. Es unterlag damit auch nicht der Kognitionspflicht des Oberlandesgerichts zu prüfen, ob sich aus dem angeklagten Sachverhalt möglicherweise Hinweise auf nach dem 25. Januar 2014 begangene weitere Tötungshandlungen ergaben, da solche Delikte nach dem oben Dargelegten als eigenständige prozessuale Taten zu werten wären, die von der Anklage nicht umfasst wären. Diese rechtsfehlerhafte Prüfung hat allerdings in der Entscheidung keinen Niederschlag gefunden.
Becker Hubert Schäfer Mayer Spaniol

(1) Die §§ 129 und 129a gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet. In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.

(2) In den Fällen der §§ 129 und 129a, jeweils auch in Verbindung mit Absatz 1, ist § 74a anzuwenden.

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Der Richter setzt den Vollzug eines Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, aus, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann. In Betracht kommen namentlich

1.
die Anweisung, sich zu bestimmten Zeiten bei dem Richter, der Strafverfolgungsbehörde oder einer von ihnen bestimmten Dienststelle zu melden,
2.
die Anweisung, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich nicht ohne Erlaubnis des Richters oder der Strafverfolgungsbehörde zu verlassen,
3.
die Anweisung, die Wohnung nur unter Aufsicht einer bestimmten Person zu verlassen,
4.
die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen anderen.

(2) Der Richter kann auch den Vollzug eines Haftbefehls, der wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist, aussetzen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, daß sie die Verdunkelungsgefahr erheblich vermindern werden. In Betracht kommt namentlich die Anweisung, mit Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen keine Verbindung aufzunehmen.

(3) Der Richter kann den Vollzug eines Haftbefehls, der nach § 112a erlassen worden ist, aussetzen, wenn die Erwartung hinreichend begründet ist, daß der Beschuldigte bestimmte Anweisungen befolgen und daß dadurch der Zweck der Haft erreicht wird.

(4) Der Richter ordnet in den Fällen der Absätze 1 bis 3 den Vollzug des Haftbefehls an, wenn

1.
der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt,
2.
der Beschuldigte Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladung ohne genügende Entschuldigung ausbleibt oder sich auf andere Weise zeigt, daß das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war, oder
3.
neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. August 2012 - 4b Ws 42/12 - und der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 25. Juni 2012 - 4 KLs 211 Js 28184/12 Hw. - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwie-sen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweili-gen Anordnung.

...

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung der gegen ihn angeordneten Untersuchungshaft.

I.

2

1. Das Amtsgericht Stuttgart erließ am 20. Dezember 2011 gegen den im Februar 1992 geborenen Beschwerdeführer einen Haftbefehl. Danach war dieser dringend verdächtig, in zwei versuchten und drei vollendeten Fällen gewerbsmäßige Betrugstaten begangen und dabei als Mitglied einer Bande gehandelt zu haben, die sich zur fortgesetzten Begehung von Betrugstaten verbunden habe. Der Beschwerdeführer habe bei den vollendeten Taten Beträge von 500 €, 1000 € und 1.500 € erlangt und ferner versucht je einmal 500 € und 1.000 € zu erbeuten.

3

Der Beschwerdeführer wurde am 29. Dezember 2011 in Haft genommen.

4

2. Am 4. April 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart Anklage gegen den nicht vorbestraften Beschwerdeführer und fünf weitere Angeschuldigte. Sie listete in drei Komplexen insgesamt 28 Taten aus den Bereichen der Betäubungs- und Arzneimitteldelikte und der Spielautomatenmanipulation sowie Taten im Zusammenhang mit Erpressungen und Körperverletzungen auf. Dem Beschwerdeführer wurden, im Wesentlichen entsprechend den Vorwürfen aus dem Haftbefehl, fünf banden- und gewerbsmäßige Betrugstaten aus dem Komplex der Spielautomatenmanipulation, davon in einem Fall als Versuch, zur Last gelegt.

5

3. Am 16. April 2012 wies die Strafkammervorsitzende die Verteidiger darauf hin, dass vorbehaltlich der Eröffnung des Hauptverfahrens der Hauptverhandlungsbeginn für den 25. Mai 2012 geplant sei. Weitere Termine sollten am 12., 14., 19., 20., 22., 25. und 28. Juni 2012, am 4., 5. und 10. Juli 2012 sowie anschließend ganztägig jeweils Dienstag und Donnerstag stattfinden.

6

4. Mit Schriftsatz vom 2. Mai 2012 beantragte der Bevollmächtigte, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer abzutrennen und vor dem Jugendrichter oder Jugendschöffengericht zu eröffnen. Eine gemeinsame Verhandlung gegen alle in der Anklageschrift genannten Angeschuldigten sei mit dem im Jugendstrafrecht vorherrschenden Prinzip des Erziehungsgedankens nicht in Einklang zu bringen; es handele sich zudem weit überwiegend um Straftaten, die den Beschwerdeführer nicht beträfen.

7

5. Mit Beschluss vom 10. Mai 2012 eröffnete die Strafkammer das Hauptverfahren, ließ die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Aufrechterhaltung der gegen alle sechs Angeklagten vollzogenen Untersuchungshaft an.

8

Die Hauptverhandlung sollte - wie angekündigt - am 25. Mai 2012 beginnen. Für die Zeit bis zum 2. August 2012 wurden 13 Folgetermine anberaumt; ab dem 30. August sollte jeweils am Dienstag und Donnerstag verhandelt werden.

9

6. Nachdem zum Prozessauftakt am 25. Mai 2012 die Anklage verlesen worden war und im Folgetermin zwei Mitangeklagte Angaben zur Sache gemacht hatten, gab der Beschwerdeführer am dritten Verhandlungstag über seinen Bevollmächtigten eine Erklärung zur Sache ab. Es wurden drei vollendete Tathandlungen eingeräumt, die weiteren Anklagepunkte sowie eine bandenmäßige Begehung hingegen in Abrede gestellt.

10

7. Am 29. Mai 2012 erhielt das Landgericht einen unter dem 4. Mai 2012 erstellten Bericht der Jugendgerichtshilfe über den Beschwerdeführer. Darin wurde die Anwendung von Jugendstrafrecht empfohlen. Der Beschwerdeführer wohne gemeinsam mit anderen Geschwistern noch bei seinen Eltern, die ihn auch im Umgang mit Behörden unterstützten. Es habe noch keine Verselbständigung und Ablösung vom Elternhaus stattgefunden. Sein Auftreten zeige, dass er nach seiner Entwicklung einem Erwachsenen noch nicht gleichgesetzt werden könne.

11

8. Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2012 beantragte der Bevollmächtigte, den Haftbefehl aufzuheben. Nach den Ausführungen im Bericht der Jugendgerichtshilfe könne keine Fluchtgefahr angenommen werden.

12

9. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 25. Juni 2012 hielt die Strafkammer den Haftbefehl aufrecht und lehnte den Abtrennungsantrag ab. Es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr. Auch wenn der Beschwerdeführer bislang nicht vorbestraft sei, habe er wegen der zur Last gelegten Taten bei vorläufiger Bewertung mit einer empfindlichen, möglicherweise zu vollstreckenden Jugend- oder Freiheitsstrafe zu rechnen. Mildere Maßnahmen im Sinne von § 116 Abs. 1 StPO kämen nicht in Betracht. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft sei auch nicht unter Berücksichtigung der besonderen Belastungen für einen Heranwachsenden unverhältnismäßig. Der Beschwerdeführer befinde sich zwar seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft, die Kammer habe aber die Haftbedingungen gelockert, so dass für den Beschwerdeführer nunmehr die Gelegenheit bestehe, die begonnene Ausbildung fortzuführen und an den Abschlussprüfungen teilzunehmen.

13

Im Interesse der Wahrheitsfindung, der Prozessökonomie und der Beschleunigung sei es geboten, die Tatvorwürfe in einem einheitlichen Verfahren aufzuklären. Es sei nicht ersichtlich, dass eine weitere gemeinsame Verhandlung eine erziehungsschädliche Wirkung haben könnte.

14

10. Am 23. Juli 2012 bestimmte die Vorsitzende für die Zeit vom 3. September bis zum 29. November 2012 weitere 13 Termine. Im Anschluss sollte jeden Dienstag und Donnerstag verhandelt werden.

15

11. Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2012 legte der Bevollmächtigte Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung ein. Die bisherige Beweisaufnahme habe das Bestehen einer Bande nicht belegen können. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Bei dem heranwachsenden Beschwerdeführer komme mit hoher Wahrscheinlichkeit Jugendstrafrecht zur Anwendung. Der das Jugendrecht beherrschende Erziehungsgedanke dürfe nicht hinter prozessökonomischen Gesichtspunkten zurücktreten.

16

Nach Erhalt der weiteren Terminplanung vom 23. Juli 2012 ergänzte der Bevollmächtigte am 27. Juli 2012 das Beschwerdevorbringen und rügte eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes. Den Beschwerdeführer betreffe nur ein kleiner Teil der angeklagten Taten samt der dazugehörigen Beweisaufnahme. Nach der weiteren Planung komme es zwischen Anfang September und Ende November nur zu einer Verhandlung pro Woche, was nicht nur dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts, sondern auch dem Beschleunigungsgebot widerspreche.

17

Mit einem Schriftsatz vom selben Tag wurde das Landgericht um Mitteilung gebeten, an welchen Tagen im Zeitraum von September bis November die Strafkammer Hauptverhandlungstermine in anderen Verfahren festgesetzt habe und ob es sich dabei um Haftsachen handele.

18

12. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart beantragte unter dem 30. Juli 2012, die Beschwerde zu verwerfen.

19

13. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 1. August 2012 wies das Oberlandesgericht Stuttgart die Haftbeschwerde zurück. Es bestehe Fluchtgefahr. Der Beschwerdeführer habe mit einer empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen. Trotz der Ausführungen im Bericht der Jugendgerichtshilfe halte es der Senat für überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Haftentlassung dem weiteren Verfahren entziehen werde. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei auch verhältnismäßig. Dabei verkenne der Senat nicht, dass sich das Freiheitsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößere und der Vollzug für den erst 20-jährigen und in Berufsausbildung befindlichen Beschwerdeführer besondere Belastungen mit sich bringe. Dieser sei zwar seit dem 29. Dezember 2011 in Haft, was aber in Ansehung der beschleunigten Handhabung durch die Kammer - so habe die Hauptverhandlung bereits sieben Wochen nach Eingang der Anklage begonnen - weiterhin zumutbar sei.

20

Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liege nicht vor. Die Kammer habe seit Verhandlungsbeginn bereits 14 Termine durchgeführt und beabsichtige nunmehr nach § 229 Abs. 2 StPO aus nachvollziehbaren Gründen eine einmonatige Unterbrechung. Die ab dem 3. September geplante Terminierung mit 13 Terminen bis zum 29. November lasse keine unzureichende Beschleunigung besorgen, da sich eine isolierte Betrachtung bestimmter Verhandlungszeiträume verbiete. Es komme daher nicht darauf an, ob und gegebenenfalls mit welchem Inhalt die Strafkammer die Anfrage des Bevollmächtigten zu sonstigen Verhandlungen beantworte.

21

Diese Entscheidung ging am 13. August 2012 beim Bevollmächtigten ein.

22

14. Bis zum 14. Hauptverhandlungstag am 2. August 2012 erstreckte sich bei der Hälfte der Termine die Sitzungsdauer auf eine bis maximal vier Stunden. In der Zeit vom 3. August bis zum 3. September 2012 wurde die Hauptverhandlung nach § 229 Abs. 2 StPO für einen Monat unterbrochen, um den Berufsrichtern und den Schöffen einen Urlaub zu ermöglichen.

23

15. Am 9. August 2012 erhielt der Bevollmächtigte die erbetene Aufstellung zu den weiteren Verhandlungen der Strafkammer übersandt. Danach sollte an zwei Tagen im Oktober in einer anderen Nichthaftsache verhandelt werden. Im November konnte an vier Tagen keine Terminierung erfolgen, weil die auch einer anderen Strafkammer zugewiesene Beisitzerin dort an einer Hauptverhandlung in einer Haftsache teilnehmen sollte.

24

16. Unter dem 15. August 2012 wies der Bevollmächtigte im Wege der Gegenvorstellung den Strafsenat unter Bezugnahme auf die Auskunft der Strafkammer darauf hin, dass trotz 32 freier Arbeitstage zwischen September und November in 26 Wochen lediglich an 27 Tagen und davon an mehreren Tagen nur halbtags verhandelt werden sollte.

25

17. Das Oberlandesgericht wies die Gegenvorstellung am 17. August 2012 als unzulässig zurück. Die verhandlungsfreien Tage könnten keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründen, da ein Spruchkörper auch außerhalb von Hauptverhandlungen umfangreiche Arbeiten zu erledigen habe.

26

18. Am 13. September 2012 bestimmte die Strafkammervorsitzende für den Monat November drei weitere Sitzungstermine.

27

19. Nachdem das Landgericht den Beschwerdeführer und dessen Bevollmächtigten am 25. September 2012 zu den möglichen Modalitäten einer Haftverschonung angehört hatte, beschloss es am 2. Oktober 2012, den Haftbefehl gegen Auflagen und Weisungen außer Vollzug zu setzen. Es bestehe weiterhin Fluchtgefahr, da der Beschwerdeführer mit einer Verurteilung zu einer fühlbaren Jugend- oder Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen habe. Angesichts der bisherigen erheblichen Dauer der Untersuchungshaft sowie der Straferwartung und unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit könne der Fluchtgefahr aber durch Weisungen und Auflagen begegnet werden.

II.

28

Mit seiner am 13. September 2012 eingegangenen Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

29

Die Anordnung der Untersuchungshaft verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, insbesondere unter Beachtung des Beschleunigungsgebots. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könne allein die Schwere der Tat und die daraus folgende Straferwartung bei erheblichen Verfahrensverzögerungen eine ohnehin schon lang andauernde Untersuchungshaft nicht rechtfertigen. Bei dem hier nicht besonders schwerwiegenden Tatvorwurf gegen einen Heranwachsenden, bei dem voraussichtlich Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen werde, müsse die Abwägung zu Gunsten des Beschwerdeführers ausfallen.

30

Die Strafkammer erfülle nicht die Anforderungen, die das Beschleunigungsgebot in umfangreichen Verfahren an eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Verhandlungstag pro Woche stelle. Von Beginn der Hauptverhandlung seien bis zum letzten bislang festgesetzten Termin in 26 Wochen lediglich 27 Verhandlungstage anberaumt worden; dies entspreche einem wöchentlichen Durchschnitt von 1,04 Sitzungstagen. Von den bis zum 11. September 2012 durchgeführten Verhandlungen seien sieben nur von halbtägiger oder stundenweiser Dauer gewesen. Die angegriffenen Entscheidungen verhielten sich auch nicht zu der Frage, ob das Landgericht zur Beschleunigung des Verfahrens alles Zumutbare unternommen habe. Es sei mangels entgegenstehender Erkenntnisse davon auszugehen, dass die Kammer an mindestens zwei Tagen pro Woche hätte verhandeln können.

31

Es fehle auch an der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsinteresse des Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. Insbesondere fehle jede Abwägung zwischen der Dauer der Untersuchungshaft und der zu erwartenden Rechtsfolge. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer Heranwachsender und bislang nicht vorbestraft sei. Gerade das Fehlen von Vorstrafen sei bei erstmaliger Verhängung von Jugendstrafe ein deutliches Indiz für eine Strafaussetzung zur Bewährung oder jedenfalls eine Reststrafenaussetzung. Hierzu verhielten sich die angegriffenen Entscheidungen nicht, weshalb es auch an der für Haftfortdauerentscheidungen notwendigen Begründungstiefe fehle.

III.

32

1. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

33

2. Die Strafkammervorsitzende teilte unter dem 19. Oktober 2012 mit, das Gericht habe seit dem Prozessauftakt an 20 Sitzungstagen verhandelt. Bis zum 29. November 2012 seien acht weitere Termine anberaumt. Eine mit einem Arbeitskraftanteil von 0,5 teilzeitbeschäftigte Beisitzerin sei aufgrund eines Präsidiumsbeschlusses des Landgerichts Stuttgart seit dem 1. August 2012 nur noch mit einem Anteil von 0,2 der Strafkammer und im Übrigen einer anderen Schwurgerichtskammer zugewiesen. Ferner habe die Kammer als Schwurgericht parallel zum streitgegenständlichen Verfahren weitere vier Haftverfahren, teilweise mit bis zu vier Angeklagten, an 18 Verhandlungstagen sowie an weiteren Sitzungstagen Berufungen verhandelt.

34

3. Der Beschwerdeführer teilte mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2012 mit, im Oktober sei an den drei Sitzungstagen jeweils halbtags verhandelt worden.

35

4. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

B.

36

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. August 2012 und des Landgerichts Stuttgart vom 25. Juni 2012 wendet, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Ent-scheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits ent-schieden.

37

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer nach der Entscheidung der Strafkammer vom 2. Oktober 2012 derzeit vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont ist (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 - 2 BvR 1164/12 -, juris).

38

Die gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 20. Dezember 2011 gerichtete Verfassungsbeschwerde nimmt die Kammer nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

I.

39

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <371>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 <347> sowie BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>; BVerfGK 15, 474 <479>).

40

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (BVerfGE 20, 45 <49 f.>). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 15, 474 <480>; 17, 517 <522>).

41

Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. BVerfGE 46, 194 <195>) verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig (vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; 7, 140 <157>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris Rn. 52). Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfGK 17, 517 <523>).

42

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 f.>). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrem Gewicht verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>). Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich (vgl. BVerfGK 7, 421 <428>), die es dem Bundesverfassungsgericht ermöglicht, eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen zu prüfen (vgl. BVerfGK 17, 517 <524>).

43

Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens, die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB - das hypothetische Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe (vgl. BVerfGK 8, 1 <5>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12 -, juris Rn. 25).

44

Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprü-fung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>).

II.

45

Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen werden die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Landge-richts Stuttgart vom 25. Juni 2012 und des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. August 2012 nicht gerecht.

46

Die Entscheidungen lassen nicht erkennen, dass die Gerichte bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates die Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts ausreichend berücksichtigt haben. Insoweit weisen beide Entscheidungen nicht die für eine Haftfortdauerentscheidung erforderliche Begründungstiefe auf.

47

1. Das Landgericht geht bei seiner Entscheidung zwar davon aus, dass die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten zur "Verhängung einer empfindlichen, möglicherweise zu vollstreckenden Jugend- oder Freiheitsstrafe" führen können. Die Kammer lässt jedoch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens außer Betracht und nimmt insbesondere unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB (zum Halbstrafen- oder 2/3 Termin) oder nach § 88 JGG (nach sechs Monaten oder bei mehr als einem Jahr Jugendstrafe nach einem Drittel) nicht das hypothetische Ende einer möglicherweise zu verhängenden Freiheits- oder Jugendstrafe in den Blick. Für eine solche Betrachtung bestand aber insbesondere deshalb gesteigerter Anlass, weil der Beschwerdeführer bislang nicht vorbestraft und soweit ersichtlich erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme betroffen sein würde sowie nach dem Bericht der Jugendgerichtshilfe vom 4. Mai 2012 für den Fall einer Verurteilung die Anwendung von Jugendstrafrecht empfohlen wird.

48

Das Oberlandesgericht legt seinen Ausführungen lediglich die Annahme zugrunde, der Beschwerdeführer habe mit einer "empfindlichen Gesamtfreiheitsstrafe" zu rechnen ohne zu berücksichtigen, die Strafkammer als urteilender Spruchkörper auch die Verhängung einer Jugendstrafe in Betracht zieht. Der Strafsenat berücksichtigt im Weiteren zwar die bis zu seiner Entscheidung seit annähernd sieben Monaten vollzogene Freiheitsentziehung, ohne aber - wie es geboten gewesen wäre - weitergehend eine Abwägung vorzunehmen, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft angesichts des hypothetischen Endes der Freiheitsentziehung noch verhältnismäßig erscheint.

49

2. Das Landgericht hat sich nicht mit den aus dem Beschleunigungsgebot folgenden Anforderungen befasst, was in Anbetracht der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung erst seit wenigen Wochen dauernden Verhandlung grundsätzlich nicht zu beanstanden ist. Selbst der Beschwerdeführer hatte seinen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls zunächst auf andere Umstände gestützt.

50

Demgegenüber hat sich das Oberlandesgericht zwar mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen auseinander gesetzt, sich in diesem Zusammenhang aber auf die Feststellung beschränkt, dass die Strafkammer seit dem Beginn der Hauptverhandlung am 25. Mai 2012 14 Termine durchgeführt, für August eine einmonatige Unterbrechung angeordnet und bis zum 29. November 2012 weitere 13 Sitzungstage anberaumt habe. Dies lasse keine unzureichende Beschleunigung der Sache besorgen.

51

Bei dieser Bewertung berücksichtigt der Strafsenat nicht alle relevanten Umstände des Einzelfalls. Die Strafkammer hat nach der Mitteilung ihrer Vorsitzenden bis zur am 2. August 2012 erfolgten einmonatigen Unterbrechung im Zeitraum von zehn Wochen an 14 Terminstagen verhandelt. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts waren für die Zeit nach der am 3. September 2012 endenden Pause bis zum 29. November 2012 weitere 13 Sitzungstage geplant. Dies entsprach bei einem Zeitraum von 27 Wochen und 27 Terminen einer Verhandlungsdichte von (nur) 1,00 Terminstagen pro Woche außerhalb der Unterbrechungszeit. Wenn die vierwöchige Unterbrechungszeit wegen Urlaubs unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris Rn. 53), liegt die Verhandlungsdichte bei 1,17 Sitzungen pro Woche.

52

Mit der Anberaumung von (knapp) mehr als durchschnittlich einem Sitzungstag pro Woche allein ist der verfassungsrechtlichen Pflicht zur beschleunigten Durchführung einer Hauptverhandlung indes noch nicht genügt. Das Oberlandesgericht geht nicht darauf ein, dass an einer nennenswerten Zahl von Sitzungstagen nur stundenweise oder halbtags verhandelt worden ist, ohne dass ersichtlich würde, weshalb die Strafkammer von ihrer ursprünglichen Absicht, an zwei (vollen) Tagen in der Woche zu verhandeln, Abstand genommen hat oder nehmen musste. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen kann auch dadurch verletzt werden, dass an den jeweiligen Sitzungstagen nur kurze, den Sitzungstag nicht ausschöpfende Zeit verhandelt und das Verfahren dadurch nicht entscheidend gefördert wird (vgl. BVerfGK 7, 21 <46 f.>; OLG Koblenz, Beschluss vom 26. August 2010 - 2 Ws 383/10 -, juris, Rn. 16, 23; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. August 2011 - III 1 Ws 260/11 -, juris, Rn. 6).

53

Das Oberlandesgericht hätte in diesem Zusammenhang insbesondere prüfen müssen, ob die Strafkammer ihrer Aufgabe einer vorausschauenden straffen Hauptverhandlungsplanung bei - wie hier - umfangreichen Verfahren hinreichend nachgekommen ist (vgl. BVerfGK 7, 21 <46>; 7, 140 <158>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris Rn. 54). Dazu hätte angesichts der gegebenen Terminfrequenz besonderer Anlass bestanden.

III.

54

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG durch das Oberlandesgericht wie auch durch das Landgericht festzustellen.

55

In Anbetracht der Eilbedürftigkeit der Haftsache ist es angezeigt, nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BverfGG nur den Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Es liegt im Interesse des Beschwerdeführers, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BverfGE 84, 1 <5>; 94, 372 <400>). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 25. Juni 2012 herbeizuführen.

56

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BverfGG. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbe-schwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BverfGE 86, 90 <122>).

IV.

57

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Tenor

1. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. Mai 2016 - 1 Ws 56/16 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft durch eine Beschwerdeentscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts.

I.

2

Das Zollfahndungsamt Frankfurt am Main leitete gegen den Beschwerdeführer mit Verfügung vom 22. Februar 2013 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Tabaksteuerhinterziehung ein.

3

Der Beschwerdeführer wurde am 27. November 2014 wegen des Verdachts der bandenmäßigen Tabaksteuerhinterziehung aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 18. November 2014 festgenommen. Er befand sich, zuletzt auf Grundlage des Beschlusses der 5. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 5. November 2015, bis zum 22. Juli 2016 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Cottbus-Dissenchen.

4

Am 9. September 2015 erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) Anklage gegen den Beschwerdeführer. Ihm wurde darin vorgeworfen, sich mit fünf weiteren Angeklagten zu einer Bande zusammengeschlossen zu haben, welche in 33 Fällen arbeitsteilig und in wechselnder Besetzung in Italien produzierte Zigaretten in ein Lager nach Nauen in Deutschland geschmuggelt und sie anschließend dem illegalen Wirtschaftskreislauf zugeführt habe. Dabei sei ein Steuerschaden in Höhe von 58.463.622,32 Euro entstanden.

5

Am 5. November 2015 eröffnete das Landgericht Potsdam - Wirtschaftsstrafkammer - das Hauptverfahren und bestimmte deren Beginn auf den 27. November 2015.

6

Ungeachtet einer von dem Vorsitzenden der zuständigen 5. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam am 6. Oktober 2015 erstatteten Überlastungsanzeige begann am 27. November 2015 die Hauptverhandlung. Diese musste nach dem sechsten Verhandlungstag, der am 8. Januar 2016 stattgefunden hatte, gemäß § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO am 26. Januar 2016 ausgesetzt werden, weil die Höchstdauer der zulässigen Unterbrechung von drei Wochen nicht eingehalten werden konnte. Dem lag zugrunde, dass die für den 14. und 15. Januar 2016 angesetzten Verhandlungstage wegen Erkrankung eines beisitzenden Richters der Strafkammer aufgehoben werden mussten und die darauffolgenden Verhandlungstage aufgrund eines Sportunfalls des Vorsitzenden der Strafkammer ebenfalls nicht stattfinden konnten.

7

Am 8. Februar 2016 terminierte der stellvertretende Kammervorsitzende unter erstmaliger Anordnung der Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters und eines Ergänzungsschöffen die Fortführung der Hauptverhandlung auf den 26. Februar 2016.

8

Mit Verfügung vom 24. Februar 2016 mussten die Verfahrensbeteiligten jedoch vor Beginn der Hauptverhandlung aufgrund Erkrankung des Berichterstatters wieder abgeladen werden.

9

Bis dahin stand auch kein Ergänzungsrichter für das Verfahren zur Verfügung. In einem Vermerk des stellvertretenden Kammervorsitzenden vom 25. Februar 2016 heißt es dazu: "Darüber hinaus gestaltete sich die Suche nach einem Vertreter für den erkrankten VRiLG […]und einem Ergänzungsrichter sehr schwierig, da sich sämtliche Strafrichter und die überwiegende Zahl der Zivilrichter für verhindert erklärt haben. Eine diesbezügliche Mitteilung des Präsidenten des LG, der über die Terminsaufhebung für den morgigen Freitag informiert ist, liegt mir auch jetzt nicht vor, so dass derzeit noch nicht einmal die Gerichtsbesetzung mitgeteilt werden kann."

10

Die Hauptverhandlung begann am 10. März 2016 ein zweites Mal. Allerdings musste der stellvertretende Kammervorsitzende zu Beginn der Hauptverhandlung mitteilen, dass der zwischenzeitlich bestellte Ergänzungsrichter erkrankt sei. Das Verfahren wurde daraufhin zum zweiten Mal ausgesetzt.

11

Noch in der Hauptverhandlung vom 10. März 2016 waren die Verfahrensbeteiligten zu einem neuen Termin auf den 17. März 2016 geladen worden. In der Hauptverhandlung vom 17. März 2016 beantragte der Verteidiger des Beschwerdeführers eine Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 222a Abs. 2 StPO, um die Ordnungsmäßigkeit der Gerichtsbesetzung überprüfen zu können. Darüber hinaus stellte einer der Mitangeklagten, wie auch schon beim ersten Beginn der Hauptverhandlung, einen Befangenheitsantrag gegen den stellvertretenden Kammervorsitzenden, dem sich der Beschwerdeführer anschloss. Im Hinblick darauf wurde die Hauptverhandlung im Anschluss an die Verlesung der Anklageschrift unterbrochen und der auf den 18. März 2016 anberaumte Hauptverhandlungstermin aufgehoben.

12

Mit Beschluss vom 14. März 2016 ordnete das Brandenburgische Oberlandesgericht erneut Haftfortdauer an. Bereits zuvor hatte das Brandenburgische Oberlandesgericht mit Beschlüssen vom 16. Juni 2015 und vom 1. Oktober 2015 Haftfortdauer angeordnet.

13

Die Hauptverhandlung wurde am 31. März 2016 fortgesetzt. Im Termin am 31. März 2016 rügte der Verteidiger des Beschwerdeführers die fehlerhafte Besetzung des Gerichts. Dem lag zugrunde, dass der stellvertretende Vorsitzende mit Verfügung vom 11. März 2016 einen Hauptschöffen an den Hauptverhandlungstagen vom 17. und 18. März 2016 von der Dienstleistung entbunden hatte, obwohl dieser lediglich angezeigt hatte, vom 4. bis 8. April sowie am 22. April 2016 an der Dienstleistung gehindert zu sein.

14

Im Hinblick darauf stellte das Gericht mit Beschluss vom 6. April 2016 fest, dass es aus den Gründen der erhobenen Rüge fehlerhaft besetzt sei.

15

Die Hauptverhandlung wurde daraufhin zum dritten Mal ausgesetzt.

16

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14. April 2016 beantragte der Beschwerdeführer, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise, ihn gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen. Mit Beschluss vom 19. April 2016 half das Landgericht Potsdam der Haftbeschwerde nicht ab.

17

Die Hauptverhandlung begann am 29. April 2016 erneut.

18

Zu Beginn der Hauptverhandlung teilte der wieder in den Dienst zurückgekehrte Vorsitzende Richter der Strafkammer den Verfahrensbeteiligten mit, dass sich die mitgeteilte Gerichtsbesetzung wegen Erkrankung einer Hauptschöffin geändert habe.

19

Der Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte daraufhin zur Überprüfung der Ordnungsgemäßheit der Besetzung die Unterbrechung der Hauptverhandlung gemäß § 222a Abs. 2 StPO.

20

Der Vorsitzende ordnete im Hinblick darauf nach Verlesung der Anklageschrift die Unterbrechung der Hauptverhandlung an, welche am 11. Mai 2016 fortgesetzt wurde.

21

Zu Beginn der Hauptverhandlung am 11. Mai 2016 erhob der Verteidiger des Beschwerdeführers abermals eine Besetzungsrüge. Für eine aus gesundheitlichen Gründen von der Hauptschöffenliste gestrichene Hauptschöffin hatte der Vorsitzende eine Hilfsschöffin aus der Hilfsschöffenliste herangezogen. Bei richtiger Rechtsanwendung hätte jedoch gemäß § 48 Abs. 2 GVG die bereits geladene Ergänzungsschöffin als Hauptschöffin in die Kammer einrücken müssen.

22

Zur Prüfung der Besetzungsrüge wurde die Hauptverhandlung erneut unterbrochen. Bei ihrer Fortsetzung am 12. Mai 2016 verkündete der Vorsitzende zu Beginn den Beschluss der Strafkammer vom selben Tage, wonach das Gericht aus den in der Rüge genannten Gründen mit der Hauptschöffin nicht vorschriftsmäßig besetzt sei. Als Folge wurde die Hauptverhandlung zum vierten Male ausgesetzt.

23

Mit hier angefochtenem Beschluss vom 23. Mai 2016 verwarf das Brandenburgische Oberlandesgericht die Haftbeschwerde als unbegründet. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stehe auch angesichts der langen Verfahrensdauer von fast einem Jahr und sechs Monaten zur Bedeutung der Sache, die auch in dem hohen Gesamtsteuerschaden von über 58 Millionen Euro zum Ausdruck komme, nicht außer Verhältnis. Dem in Haftsachen im besonderen Maße geltenden Beschleunigungsgebot sei Genüge getan. Hierbei sei zunächst der extrem große Aktenumfang zu berücksichtigen, in den sich Staatsanwaltschaft, Gericht und Verteidiger hätten einarbeiten müssen. Das Beschleunigungsgebot habe bereits im Ermittlungsverfahren hinreichend Beachtung gefunden. Auch seitens der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Potsdam sei das Verfahren nach Eingang der Anklageschrift ohne Verzögerung bearbeitet worden. Der Verteidigung sei zwar darin beizupflichten, dass mehrfache Terminsaufhebungen und Aussetzungsentscheidungen ihre Ursache in der Sphäre der Justiz hätten, jedoch führe nicht jede Terminsaufhebung oder Aussetzung zugleich zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot. So stelle beispielsweise der unfall- und damit krankheitsbedingte längerfristige Ausfall des Kammervorsitzenden ein für alle Beteiligten unvorhersehbares Ereignis dar. Die durch die Aussetzung der Hauptverhandlung bedingte Verfahrensverzögerung habe die Wirtschaftsstrafkammer teilweise durch eine zügige Anberaumung des Neubeginns der Hauptverhandlung unter Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters sowie eines Ergänzungsschöffen kompensiert. Der krankheitsbedingte Ausfall des berichterstattenden Richters stelle ebenfalls ein für alle Beteiligten unvorhersehbares Ereignis dar. Die Verlegung des Neubeginns der Hauptverhandlung auf den nächstmöglichen Termin, der wegen Verhinderung der Verteidigung eines Mitangeklagten erst auf den 10. März 2016 bestimmt werden konnte, sei als überaus zügig anzusehen. Dass der für diesen Termin vorgesehene Ergänzungsrichter wenige Tage zuvor erkrankt sei und sich kurzfristig kein weiterer Ergänzungsrichter habe finden lassen, stelle ebenfalls noch kein gerichtsorganisatorisches Versäumnis dar, das einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot begründen könnte. Die Anberaumung des Beginns der Hauptverhandlung auf den 17. März 2016 dokumentiere vielmehr das Bemühen der Kammer, das Verfahren weiterhin zügig durchzuführen. Die Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Beschlüsse der Wirtschaftsstrafkammer vom 6. April 2016 und vom 12. Mai 2016 infolge fehlerhafter Schöffenbesetzung habe zwar zu einer Verfahrensverzögerung von zweieinhalb Monaten geführt. Diese Verzögerung sei jedoch durch eine - angesichts der am Verfahren beteiligten neun Verteidiger, vier Richter und drei Schöffen - überaus zügige Neuterminierung minimiert worden. Noch am Tag des letzten Aussetzungsbeschlusses habe der Kammervorsitzende einen neuen Termin zur Hauptverhandlung für den 2. Juni 2016 anberaumt und die Fortsetzungstermine für den Zeitraum bis zum 22. August 2016 bestimmt. All dies zeige, dass die Strafkammer auf Krankheitsfälle und fehlerhafte Gerichtsbesetzung überaus schnell reagiert habe; sowohl durch die zügige Neuterminierung als auch durch die enge Verhandlungsdichte habe die Wirtschaftsstrafkammer die eingetretene Verzögerung zumindest teilweise kompensiert. Eine Untätigkeit oder Verfahrensverzögerung sei ihr nicht vorzuwerfen. Die fehlerhafte Besetzung des Gerichts führe zu einem Rechtsfehler, der nicht identisch sei mit einem Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz. Die Wirtschaftsstrafkammer werde indes die eingetretene Verfahrensverzögerung im Falle eines Schuldspruchs gegebenenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigen müssen. Im Falle einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung werde sie eine Kompensation nach der Vollstreckungslösung zu erwägen haben.

24

Die Hauptverhandlung begann am 2. Juni 2016 erneut. Seitdem ist am 2., 9., 10., 15., 16., 22., 23. und 30. Juni 2016, am 1., 7., 14., 21. und 22. Juli, am 22. und 23. August 2016 sowie am 15., 16., 20., 23., 27. und 30. September 2016 verhandelt worden. Für den 4., 7., 11. und 14. Oktober 2016 und den 14. November 2016 sind weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt worden.

25

Mit Beschluss vom 21. Juli 2016 hat die 5. Strafkammer des Landgerichts Potsdam den Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 18. November 2014 in der Fassung des Beschlusses des Landgerichts Potsdam vom 5. November 2015 gegen Hinterlegung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000 Euro und Abgabe sämtlicher inländischen und ausländischen Identitätspapiere außer Vollzug gesetzt. Der Beschwerdeführer hat diese Bedingungen am 22. Juli 2016 erfüllt und wurde am selben Tag unter anderem mit der Auflage aus der Untersuchungshaft entlassen, das Gebiet der Länder Berlin und Brandenburg nicht ohne vorherige Genehmigung des Landgerichts Potsdam zu verlassen und sich in denjenigen Wochen, in denen keine Hauptverhandlungstage anberaumt seien, zweimal wöchentlich bei der für seinen Wohnort zuständigen Dienststelle zu melden.

26

Die Hauptakte besteht aus 54 Bänden mit insgesamt über 11.000 Seiten, Sonderbänden mit insgesamt über 24.000 Seiten sowie zehn Ergänzungsbänden mit über 2.500 Seiten. Darüber hinaus sind Parallelverfahren relevant, die gegen 17 mutmaßliche Abnehmer und Vertreiber der geschmuggelten Zigaretten geführt werden und weitere 38 Bände Hauptakten mit insgesamt über 7.000 Seiten umfassen.

II.

27

Mit seiner am 20. Juni 2016 gegen den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. Mai 2016 erhobenen Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Das Brandenburgische Oberlandesgericht habe seine Haftbeschwerde verworfen, obwohl der damit einhergehende weitere Vollzug der Untersuchungshaft aufgrund gravierender rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen gegen das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot verstoße.

28

Eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen resultiere zunächst daraus, dass bei Terminierung der Hauptverhandlung auf den 27. November 2015 unterlassen worden sei, die Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters anzuordnen. Der Beschwerdeführer habe aufgrund dessen Untersuchungshaft vom 27. November 2015 bis zum 17. März 2016 verbringen müssen, ohne dass eine für das Verfahren relevante Hauptverhandlung stattgefunden habe. Diese Verfahrensverzögerung sei rechtsstaatswidrig und vermeidbar. Aufgrund der bisherigen Untersuchungshaft, der Anzahl der Hauptverhandlungstage und des Aktenumfanges sei die Hinzuziehung eines Ergänzungsrichters gemäß § 192 Abs. 2 GVG offensichtlich erforderlich und geboten gewesen. Das Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg wäre verpflichtet gewesen, für die ausreichende personelle Ausstattung des Landgerichts Potsdam Sorge zu tragen. Die infolge der mangelhaften personellen Ausstattung eingetretene Verzögerung verletze das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot.

29

Auch die weiteren Verzögerungen seien durch die falsche Besetzung des Gerichts bei der Hauptverhandlung am 6. April 2016 als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zu werten. Auch diese Ursache liege ausschließlich in der Sphäre der Justiz. Gleiches gelte für den Besetzungsfehler, der zur Aussetzung der am 12. Mai 2016 begangenen Hauptverhandlung geführt habe.

30

Die im Hauptverfahren eingetretenen Verfahrensverzögerungen seien bereits jeweils für sich betrachtet, jedenfalls aber in ihrer Gesamtheit, in gravierender Weise geeignet, gegen das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu verstoßen. Damit sei der weitere Vollzug der Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer unverhältnismäßig geworden. Dies habe das Oberlandesgericht verkannt.

31

Das Oberlandesgericht habe in den Gründen des angegriffen Beschlusses zudem selbst anerkannt, dass es zu relevanten Verfahrensverzögerung gekommen sei, deren Rechtsstaatswidrigkeit nicht ausgeschlossen werden könne. Allerdings gehe das Oberlandesgericht zugleich davon aus, dass die festgestellten Verzögerungen des Verfahrens keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot darstellten, sondern diesem hinreichend Rechnung getragen worden sei. Diese Ausführungen seien in sich widersprüchlich. Das Gericht könne dem Beschwerdeführer nicht eine Kompensation für mögliche rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Aussicht stellen, gleichzeitig aber konstatieren, dem Beschleunigungsgebot sei in jedem Fall Genüge getan.

32

Mit Schriftsatz vom 29. Juli 2016 hat der Beschwerdeführer im Anschluss an die Außervollzugsetzung des Haftbefehls den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie die Anträge aus der Verfassungsbeschwerde insoweit für erledigt erklärt, als beantragt worden ist, anzuordnen, ihn unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Verfassungsbeschwerde aufrechterhalten.

III.

33

1. Nach Auffassung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof werden die Ausführungen in der angegriffenen Entscheidung unter Berücksichtigung der hier geforderten Begründungstiefe den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vollständig gerecht. Die Entscheidung lasse besorgen, dass das Gericht bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Beschwerdeführers und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates die Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die Entscheidung weise nicht die für eine Haftfortdauerentscheidung erforderliche Begründungstiefe auf. Denn die Begründung lasse eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses nicht in dem von Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG geforderten Maße zu. Es lasse sich schon nicht sicher feststellen, ob der Entscheidung der zutreffende Maßstab zugrunde gelegt worden sei.

34

2. Das Ministerium der Justiz und für Europa und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg hat, soweit der Beschwerdeführer eine mangelnde personelle Ausstattung des Landgerichts Potsdam und eine Verletzung der Justizgewährungspflicht gerügt hat, darauf hingewiesen, dass die Personalausstattung unter Zugrundelegung des bundesweit einheitlich angewandten Berechnungssystems dem Personalbedarf Rechnung trage. Es sei nicht möglich und auch durch den Justizgewährleistungsanspruch nicht geboten, richterliche Arbeitskraft in solchem Umfang in Reserve zu halten, dass jeder unvorhergesehene krankheitsbedingte Ausfall sofort ausgeglichen werden könne. Im Übrigen hat das Ministerium von einer Stellungnahme abgesehen.

35

3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens in elektronischer Form vorgelegen.

B.

36

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

37

Das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers ist nicht dadurch entfallen, dass der Haftbefehl nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde außer Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 1995 - 2 BvR 2846/93 -, juris, Rn. 14). Trotz der Außervollzugsetzung ist der Fortbestand des Haftbefehls insbesondere unter Berücksichtigung der erteilten freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor mit einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers verbunden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2000 - 2 BvR 1706/00 -, juris, Rn. 12).

II.

38

Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. Mai 2016 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, weil er den an eine Haftfortdauerentscheidung zu stellenden Anforderungen zur verfassungsrechtlich gebotenen Begründungstiefe nicht genügt.

39

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

40

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen.

41

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <370 f.>), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 <347> sowie BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>; BVerfGK 15, 474 <479>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 32).

42

Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 15, 474 <480>; 17, 517 <522>; 19, 428 <433>).

43

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfGK 15, 474, <480>; 17, 517, <523>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 - 2 BvR 1164/12 -, juris, Rn. 42 und vom 17. Januar 2013 - 2 BvR 2098/12 -, juris, Rn. 41).

44

Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfGK 7, 140 <155>).

45

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein (vgl. BVerfGE 36, 264 <273 ff.>). Vielmehr kann sie selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (BVerfGE 36, 264 <273 ff.>). Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>).

46

Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 37). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn. 45 und der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 -, juris, Rn. 36).

47

Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>), unterliegen Haftfortdauerentscheidungen insofern einer erhöhten Begründungstiefe (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 f.>; BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 38). In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 38). Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 u.a. -, juris, Rn. 39).

48

Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl. Sie sind darüber hinaus auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl (§ 116 StPO) von Bedeutung (vgl. BVerfGE 53, 152 <159>; BVerfGK 6, 384 <391>). Beschränkungen, denen der Beschuldigte durch Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO ausgesetzt ist, dürfen nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist (vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 6. Juli 2004 - 2 Ws 301/04 -, StV 2005, S. 396 <397>). Denn auch dann, wenn Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, kann allein schon die Existenz eines Haftbefehls für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen, weil sich mit ihm regelmäßig die Furcht vor einem (erneuten) Vollzug verbindet (vgl. BVerfGE 53, 152 <161>; BVerfGK 6, 384 <391>).

III.

49

Diesen Maßstäben genügt die angegriffene Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts nicht. Sie enthält keine in jeder Hinsicht verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.

50

1. Soweit das Oberlandesgericht allerdings angenommen hat, dass während des Ermittlungsverfahrens und des Zwischenverfahrens das Beschleunigungsgebot hinreichend Beachtung gefunden habe, ist die Entscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Durchgreifende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot sind - wovon das Oberlandesgericht zutreffend ausgegangen ist - angesichts des erkennbaren Umfangs und der Komplexität des zu klärenden Sachverhalts nicht ersichtlich.

51

2. Ein Verfassungsverstoß ist auch nicht darin zu erkennen, dass die angegriffene Entscheidung die unterbliebene Bestellung eines Ergänzungsrichters vor Beginn der Hauptverhandlung im November 2015 als noch nicht zurechenbare Verzögerung des Verfahrens gewertet hat. Das Landgericht musste sich zu diesem Zeitpunkt zur Bestellung eines Ergänzungsrichters (noch) nicht gedrängt sehen. Der spätere Verlauf des Verfahrens, der die mehrfache Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich machte, war zu diesem Zeitpunkt für das Landgericht nicht absehbar.

52

3. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum krankheitsbedingten Ausfall des Kammervorsitzenden und des berichterstattenden Richters lassen einen Verfassungsverstoß ebenfalls nicht erkennen. Krankheitsbedingte Ausfälle stellen unvorhersehbare Ereignisse dar, die nicht in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fallen. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen gebietet in solchen Fällen indes, dass das Tatgericht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreift, um einen zügigen Fortgang der Hauptverhandlung zu gewährleisten. Die Gründe der angegriffenen Entscheidung lassen erkennen, dass sich das Oberlandesgericht mit diesem Gesichtspunkt in der gebotenen Tiefe auseinandergesetzt hat. Indem es dargelegt hat, dass das Landgericht auf die mit den krankheitsbedingten Ausfällen einhergehenden unvermeidbaren Verzögerungen jeweils mit zügiger Neuterminierung reagiert hat, ist es zu einem verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt.

53

4. Die Würdigung der jeweiligen Besetzungsfehler hält der verfassungsrechtlichen Kontrolle hingegen nicht stand. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts erreichen die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe insoweit nicht; sie machen bereits den Maßstab, welcher der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer zugrunde gelegt worden ist, nicht deutlich.

54

Zunächst geht das Oberlandesgericht davon aus, die durch die Besetzungsfehler eingetretene Verfahrensverzögerung von zweieinhalb Monaten sei durch die rasche Neuterminierung der Strafkammer "minimiert" worden. An anderer Stelle wird ohne nähere Erläuterung ausgeführt, die Verzögerung sei auch durch die nachfolgende enge Verhandlungsdichte "zumindest teilweise kompensiert" worden. Dies legt den Schluss nahe, dass das Oberlandesgericht von vermeidbaren und damit für das Beschleunigungsgebot in Haftsachen relevanten Verfahrensverzögerungen ausgegangen ist, die nachfolgend nicht, jedenfalls nicht vollständig ausgeglichen worden sind.

55

Demgegenüber stellt das Oberlandesgericht im Anschluss daran fest, eine Untätigkeit oder Verfahrensverzögerung sei der Kammer nicht vorzuwerfen, denn die bei der Besetzung begangenen Rechtsfehler seien "nicht identisch mit einem Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz".

56

Dieser Widerspruch wird dadurch verstärkt, dass das Oberlandesgericht zum Abschluss seiner rechtlichen Würdigung ausführt, die Wirtschaftsstrafkammer werde die eingetretene Verfahrensverzögerung im Falle eines Schuldspruchs "gegebenenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigen" und im Falle einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung "eine Kompensation nach der Vollstreckungslösung erwägen müssen".

57

Angesichts dessen lassen die Gründe der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend erkennen, welchen Maßstab das Oberlandesgericht der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer zugrunde gelegt hat. Es bleibt unklar, ob das Oberlandesgericht bei seiner Wertung von einer verfassungsrechtlich relevanten, im Ergebnis nur teilweise kompensierten Verfahrensverzögerung, von einer nicht zurechenbaren Verfahrensverzögerung oder sogar von einer insgesamt rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung ausgegangen ist.

58

Diese Abgrenzung durfte das Oberlandesgericht nicht offen lassen. Vor dem Hintergrund, dass sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits seit 18 Monaten in Untersuchungshaft befunden hat und der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder zu dem Erlass des Urteils nur in ganz besonderen Ausnahmefällen gerechtfertigt sein kann (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, juris, Rn. 45 und der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 -, juris, Rn. 36), unterlag die angegriffene Entscheidung einer erhöhten Begründungstiefe, die in sich schlüssige und widerspruchsfreie Ausführungen zum zugrunde gelegten Prüfungsmaßstab gebietet. Diesen Anforderungen hat das Oberlandesgericht ersichtlich nicht genügt.

IV.

59

Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass der angegriffene Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 23. Mai 2016 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt. Der angegriffene Beschluss ist unter Zurückverweisung der Sache aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Oberlandesgericht wird - nachdem der Haftbefehl inzwischen außer Vollzug gesetzt worden ist - unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen erneut zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen der Untersuchungshaft noch vorliegen. Andernfalls wird es den Haftbefehl aufzuheben haben.

V.

60

Mit der Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

VI.

61

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Da die Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen erfolgreich ist und sie auch, soweit sie der Beschwerdeführer für erledigt erklärt hat, offensichtlich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, erscheint es angemessen, dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen in vollem Umfang zu erstatten.

VII.

62

Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren ist unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Umstände nach billigem Ermessen zu bestimmen und beträgt mindestens 5.000 Euro. Er liegt höher, wenn der Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer stattgegeben wird. Im Hinblick auf die objektive Bedeutung der Sache ist ein Gegenstandswert von 10.000 Euro angemessen.


63

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Solange kein Urteil ergangen ist, das auf Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung erkennt, darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 ist der Haftbefehl nach Ablauf der sechs Monate aufzuheben, wenn nicht der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt wird oder das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft anordnet.

(3) Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der in Absatz 2 bezeichneten Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf bis zu dessen Entscheidung. Hat die Hauptverhandlung begonnen, bevor die Frist abgelaufen ist, so ruht der Fristenlauf auch bis zur Verkündung des Urteils. Wird die Hauptverhandlung ausgesetzt und werden die Akten unverzüglich nach der Aussetzung dem Oberlandesgericht vorgelegt, so ruht der Fristenlauf ebenfalls bis zu dessen Entscheidung.

(4) In den Sachen, in denen eine Strafkammer nach § 74a des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, entscheidet das nach § 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständige Oberlandesgericht. In den Sachen, in denen ein Oberlandesgericht nach den §§ 120 oder 120b des Gerichtsverfassungsgesetzes zuständig ist, tritt an dessen Stelle der Bundesgerichtshof.

(1) Der Haftbefehl ist aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen oder sich ergibt, daß die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis stehen würde. Er ist namentlich aufzuheben, wenn der Beschuldigte freigesprochen oder die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt oder das Verfahren nicht bloß vorläufig eingestellt wird.

(2) Durch die Einlegung eines Rechtsmittels darf die Freilassung des Beschuldigten nicht aufgehalten werden.

(3) Der Haftbefehl ist auch aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es vor Erhebung der öffentlichen Klage beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag kann die Staatsanwaltschaft die Freilassung des Beschuldigten anordnen.