Bundesgerichtshof Beschluss, 21. Mai 2013 - 2 StR 29/13

bei uns veröffentlicht am21.05.2013

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 29/13
vom
21. Mai 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 21. Mai 2013 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 24. August 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Ferner hat es ein sichergestelltes Messer eingezogen. Die auf den Maßregelausspruch nach § 63 StGB beschränkte, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg und führt zur Aufhebung des gesamten Urteils.
2
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte in Gegenwart der Zeugin H. deren Lebensgefährten erstochen. Das Gericht hat die Tat als Mord (§ 211 StGB) bewertet und ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aufgrund erheblicher Al- koholisierung im Zusammenwirken mit der infolge langjährigen Alkoholmissbrauchs eingetretenen Persönlichkeitsveränderung gemäß § 21 StGB erheblich vermindert war. Da nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Angeklagte ein der Tat unmittelbar vorangegangenes Gespräch zwischen der Zeugin H. und ihrem Lebensgefährten fälschlicherweise als gegen sich gerichtet gedeutet hat und in ihm hierdurch ein aggressiver Impuls ausgelöst wurde, durch den er zu der Tötung hingerissen wurde, hat das Gericht - auch mit Blick auf ein unter normalen Umständen nicht erkennbares Tatmotiv - nicht ausschließen können, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit auch aufgehoben im Sinne des § 20 StGB war. Es hat daher den Angeklagten freigesprochen und auf Grundlage der festgestellten verminderten Steuerungsfähigkeit seine Unterbringung gemäß § 63 StGB angeordnet.
3
2. Der Maßregelauspruch war aufzuheben. Die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB setzt die Begehung einer rechtswidrigen Tat voraus. Diese hat das Landgericht nicht rechtsfehlerfrei festgestellt, denn es hat einen die Anlasstat betreffenden Beweisantrag unter Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt.
4
a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
5
Der die Tat bestreitende Angeklagte hat in der Hauptverhandlung den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache gestellt, dass die Blutanhaftungen an einem am Tatort sichergestellten Papierfetzen von der Zeugin H. stammten, dass es sich dabei um ein Vollprofil der DNA der Zeugin handelte und dass Mischspuren bzw. Teilprofile Dritter nicht vorhanden waren. Das Landgericht hat den Antrag ohne weitere Begründung "wegen Bedeutungslosigkeit" abgelehnt.
6
b) Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihr aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst. Geht es wie hier letztlich um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin, bedarf es der Darlegung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst ließe. Die Anforderungen an die Begründung entsprechen grundsätzlich den Darlegungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 4 StR 251/06, NStZ-RR 2007, 84, 85 mwN; Beschluss vom 27. März 2012 - 3 StR 47/12).
7
Daran fehlt es hier. Die unter Beweis gestellte Tatsache hätte die Schlussfolgerung zugelassen, dass die Zeugin H. während ihres Aufenthalts in der Wohnung des Angeklagten von ihrem Lebensgefährten körperlich misshandelt wurde und daher ein Tatmotiv hatte. Das Landgericht hat in seinem Beschluss indes weder mitgeteilt, dass es diesen möglichen Schluss nicht ziehen wollte, noch hat es seine Entscheidung mit konkreten Erwägungen begründet. Die Bedeutungslosigkeit lag auch nicht auf der Hand, was eine fallbezogene Begründung ausnahmsweise entbehrlich hätte machen können (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2009 - 2 StR 363/09, StV 2010, 557; Beschluss vom 27. März 2012 - 3 StR 47/12 mwN).
8
c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht der Maßregelausspruch, denn der Senat vermag nicht auszuschließen, dass die Strafkammer bei gesetzeskonformer Behandlung des Beweisantrags eine für die Anordnung der Unterbringung erforderliche rechtswidrige Tat nicht hätte feststellen können.
9
3. Die Aufhebung des Maßregelausspruchs hat aufgrund des bestehenden inneren Zusammenhangs auch die Aufhebung des Freispruchs zur Folge.
10
a) Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht dem nicht entgegen. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dadurch soll vermieden werden, dass die erfolgreiche Revision eines Angeklagten gegen die alleinige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dazu führt, dass eine Tat, die wegen angenommener Schuldunfähigkeit nicht zu einer Bestrafung geführt hat, ohne strafrechtliche Sanktion bleibt, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat schuldfähig war (vgl. BT-Drucks. 16/1344, S. 17; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - 4 StR 494/12, StraFo 2013, 165 mwN).
11
Letzteres kann vorliegend nicht ausgeschlossen werden, denn die Annahme des Landgerichts, die Schuldfähigkeit des Angeklagten sei zur Tatzeit nicht ausschließbar aufgehoben, gründet maßgeblich auf den Feststellungen zur Anlasstat. Sollte das neue Tatgericht insbesondere zu dem Geschehen unmittelbar vor der Tat veränderte Feststellungen treffen, könnte dies auch eine veränderte Bewertung zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten nach sich ziehen.
12
b) Die Beschränkung der Revision des Angeklagten auf die Maßregelanordnung ist unwirksam, weil sowohl die Unterbringung nach § 63 StGB als auch der auf § 20 StGB gründende Freispruch von den Feststellungen der Strafkammer zur Anlasstat abhängen und deshalb zwischen beiden Entschei- dungen aus sachlich-rechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Da nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nunmehr eine Bestrafung des Angeklagten möglich ist, wenn sich aufgrund veränderter Feststellungen zur Anlasstat seine Schuldfähigkeit herausstellen sollte, lässt sich die Wirksamkeit einer isolierten Anfechtung der Maßregelanordnung nicht mehr mit der Erwägung rechtfertigen, dass aufgrund des Verbots der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) unabhängig von der Bewertung der Schuldfrage in jedem Fall wieder auf Freispruch erkannt werden müsste (BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12). Dies wäre nur dann der Fall, wenn die den Freispruch tragende Schuldunfähigkeit des Angeklagten unabhängig von der konkret festgestellten Tat feststünde (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 - 5 StR 199/11).
Fischer Appl Berger Eschelbach Ott

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Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafprozeßordnung - StPO | § 244 Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen


(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme. (2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

Strafgesetzbuch - StGB | § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus


Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und

Strafprozeßordnung - StPO | § 358 Bindung des Tatgerichts; Verbot der Schlechterstellung


(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen. (2) Das angefochtene Urte

Strafgesetzbuch - StGB | § 211 Mord


(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitt

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Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken,
einen Menschen tötet.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.

(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn

1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist,
2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist,
3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist,
4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist,
5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder
6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.

(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.

(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 251/06
vom
19. Oktober 2006
in der Strafsache
gegen
wegen schweren Raubes u. a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 19. Oktober 2006 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 23. Februar 2006 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
2
Die Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
3
Der Verteidiger des Angeklagten hat in der Hauptverhandlung unter anderem die Vernehmung des Zeugen Mustafa Z. beantragt zum Beweis der Tatsache, dass dieser auf die Mitteilung des Zeugen R. , er sei von dem Angeklagten überfallen worden, entgegen der Bekundung des R. nicht geäußert habe, der Angeklagte sei sein Cousin. Diesen Beweisantrag hat das Landgericht mit der Begründung zurückgewiesen, die genannte Beweistatsache sei für die Entscheidung ohne Bedeutung, da es sich um eine Indiztatsache handele, die nur mögliche, nicht zwingende Schlüsse zulasse.
4
Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihr keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst (vgl. BGHSt 2, 184, 186; BGH NStZ 1981, 401; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 15 m. w. N.). Geht es - wie hier - um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, bedarf es daher der Begründung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst lassen würde (vgl. Meyer-Goßner StPO 49. Aufl. § 244 Rdn. 43 a m. w. N.). Die erforderliche Begründung entspricht grundsätzlich den Begründungserfordernissen bei der Würdigung von durch Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen.
5
Diesen Voraussetzungen genügt der Beschluss des Landgerichts nicht. Die tatsächliche Bedeutungslosigkeit liegt hier auch nicht auf der Hand, so dass sich die Rüge deswegen als unbegründet erweisen würde (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 12). Die Verurteilung des Angeklagten, der von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hat, beruht allein auf den Bekundungen des Zeugen R. . Dessen Glaubwürdigkeit bedurfte daher besonders sorgfältiger Überprüfung, ebenso die Frage, ob seine Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit am Tattag beeinträchtigt war. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bei dem Zeugen etwa zwei Jahre vor dem angeklagten Tatgeschehen eine paranoid-halluzinatorische Psychose diagnostiziert worden war. Wegen dieser Erkrankung wurde er fünf Monate in einer psychiatrischen Klinik stationär behandelt und danach unter Betreuung gestellt. In der Folgezeit ließ er sich zwar regelmäßig ambulant in der Klinik behandeln und mit einem Depotmedikament versorgen, setzte aber daneben seinen Cannabismissbrauch fort.
6
Vor diesem Hintergrund erweist sich die floskelhafte Ablehnung des Beweisantrages wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache als rechtsfehlerhaft. Es ist nicht auszuschließen, dass die Verurteilung des Angeklagten auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrages beruht. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben.
7
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
8
Zur Feststellung der Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit des Angeklagten wird sich in erster Linie die Vernehmung der Ärztin, die ihn im fraglichen Zeitraum in der Westfälischen Klinik für Psychiatrie ambulant behandelt hat, als sachverständige Zeugin anbieten.
9
Sollte die neu entscheidende Strafkammer wieder zu einer Verurteilung kommen, so wird sie im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung die Voraussetzungen des § 250 Abs. 3 StGB zu prüfen haben. Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanović Sost-Scheible

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 47/12
vom
27. März 2012
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf dessen Antrag - am
27. März 2012 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 23. August 2011 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte im Fall II. 1 der Urteilsgründe wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten , mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit einer Verfahrensbeanstandung den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II. 1 der Urteilsgründe hat keinen Bestand, weil das Landgericht einen diese Tat betreffenden Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins unter Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt hat.
3
a) Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
4
Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung den Antrag gestellt, zum Beweis der Tatsache, dass die Geschädigte D. in der Tatnacht nicht wie von ihr behauptet in sein Zimmer habe gelangen können, die Tatörtlichkeit in Augenschein zu nehmen. Diesen Antrag hat das Landgericht wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beweistatsache beeinflusse selbst im Falle ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse darauf zulasse, ob der Angeklagte die Geschädigte sexuell missbraucht habe.
5
b) Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
6
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsache abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihr aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen keine Bedeutung für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch beimisst. Geht es wie hier um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin, bedarf es der Begründung, warum die zu beweisende Tatsache das Gericht auch im Falle ihres Nachweises unbeeinflusst ließe. Die Anforderungen an die Begründung entsprechen grundsätzlich den Darlegungserfordernissen bei der Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 4 StR 251/06, NStZ-RR 2007, 84, 85 mwN).
7
Dem genügt der Beschluss des Landgerichts nicht. Er teilt weder mit, dass das Landgericht den von ihm als möglich bezeichneten Schluss nicht ziehen wolle, noch begründet er diese Entscheidung mit konkreten Erwägungen. Die Bedeutungslosigkeit lag nicht auf der Hand (vgl. BGH, Urteil vom 15. Mai 1990 - 5 StR 594/89, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 12), so dass eine fallbezogene Begründung auch nicht unter diesem Aspekt entbehrlich war.
8
c) Auf diesem Verfahrensfehler beruht der Schuldspruch im Fall II. 1 der Urteilsgründe, denn der Senat vermag nicht auszuschließen, dass das Urteil insoweit bei gesetzeskonformer Behandlung des Beweisantrags anders ausgefallen wäre. Der genannte Schuldspruch unterliegt daher samt den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) der Aufhebung. Sie erfasst die Einsatzstrafe sowie die Gesamtstrafe, die beide erneut zugemessen werden müssen.
9
2. Im Übrigen ist die Revision des Angeklagten unbegründet. Ergänzend zu der Begründung der Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
10
a) Die Verfahrensrüge gemäß § 338 Nr. 3 StPO betreffend das Ablehnungsgesuch des Angeklagten vom 26. Juli 2011 ist bereits unzulässig. Sie entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, die ohne Rücksicht darauf einzuhalten sind, dass über die Begründetheit der Rüge nach Beschwerdegrundsätzen zu entscheiden ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 338 Rn. 29 mwN). Der Angeklagte hat den Beschluss des Landgerichts , mit dem es das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen hat, nicht vollständig mitgeteilt.
11
b) Eine Verletzung des § 241a StPO kann der Angeklagte mit der Revision nicht geltend machen, weil er gegen die Zurückweisung der Frage durch den Vorsitzenden nach § 241a Abs. 3, § 241 Abs. 2 StPO nicht auf Entscheidung der Kammer nach § 238 Abs. 2 StPO angetragen hat (BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 1 StR 424/04, BGHR StPO § 240 Abs. 2 Gelegenheit 2; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 241a Rn. 7, § 241 Rn. 23).
12
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
13
Zwar müssen bei der Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen kindlicher Zeugen auf Realkennzeichen und auf einen Erlebnishintergrund nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistischen Erklärungsmöglichkeiten an Hand von Alternativhypothesen berücksichtigt werden und sind im Urteil allein die wesentlichen Aspekte darzulegen (BGH, Urteil vom 23. August 2007 - 3 StR 301/07, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Beweisergebnis 12). Aufgrund der Hinweise in den Urteils- gründen auf einen schweren sexuellen Missbrauch der Geschädigten durch einen Dritten wenige Wochen nach der Tat, aber vor deren Aufdeckung wird der neue Tatrichter indessen Anlass haben, sich unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen auch mit der Hypothese einer Übertragung eines Parallelerlebnisses durch die Geschädigte auseinanderzusetzen. Becker Pfister Schäfer Mayer Menges

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 494/12
vom
19. Dezember 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Raubes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 19. Dezember 2012 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 24. Juli 2012 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte im Fall II. 3 der Urteilsgründe wegen Raubes verurteilt worden ist,
b) im gesamten Rechtsfolgenausspruch. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Raub (Fall II. 6 der Urteilsgründe), in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Diebstahl (Fall II. 1 der Urteilsgründe), in einem weiteren Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Fall II. 2 der Urteilsgründe), wegen Raubes in drei Fällen (Fälle II. 3, 4 und 7 der Urteils- gründe) und wegen versuchter Nötigung in zwei Fällen (Fälle II. 5 und 8 der Urteilsgründe) schuldig gesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Von der Verhängung einer Jugendstrafe hat es nach § 5 Abs. 3 JGG abgesehen. Mit seiner hiergegen eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sein Rechtsmittel hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.


2
Nach den Feststellungen hatte der bei den jeweiligen Taten 17 Jahre alte Angeklagte den Wunsch, sich Designerkleidung kaufen zu können, um nicht hinter seinen Freunden zurückstehen zu müssen. Da er nicht über die hierfür erforderlichen Geldmittel verfügte, entschloss er sich, Frauen, die in den späten Nachmittags- oder Abendstunden allein unterwegs waren, bis zu ihren Wohnungen zu verfolgen und dort zu überfallen, um Bargeld oder sonstige Wertgegenstände an sich zu bringen. Von einem Überfall der Frauen in ihren Wohnungen versprach er sich größere Beute, weil er dort über die in den Handtaschen mitgeführten Bargeldbeträge und Wertsachen hinaus weiteres Bargeld und weitere Wertgegenstände vermutete. In Ausführung dieses Entschlusses verfolgte und überfiel der Angeklagte in der Zeit vom 25. September 2011 bis zum 28. Dezember 2011 acht Frauen. Im ersten Fall versuchte der Angeklagte aufgrund eines spontan gefassten Entschlusses die 39 Jahre alte P. G. , der er zuvor bis in ihre Wohnung gefolgt war, gewaltsam zurDuldung des vaginalen Geschlechtsverkehrs zu zwingen. Nachdem er mit seinem Vorhaben gescheitert war, ejakulierte er auf ihren nackten Körper und entwendete 100 Euro (Fall II. 1 der Urteilsgründe). Im zweiten Fall griff der Angeklagte die Verlagskauffrau S. B. im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses an und nahm sie in einen Würgegriff. Dabei betastete er sein Opfer über der Kleidung an den Brüsten und im Schambereich. Durch den Angriff erlitt S. B. eine blutende Wunde im Nasenbereich (Fall II. 2 der Urteilsgründe). Im dritten Fall versuchte der Angeklagte die zuvor von ihm verfolgte 59 Jahre alte Kunstlehrerin B. K. in ihre Wohnung zu drücken, als sie deren Tür aufschließen wollte. Bei dem anschließenden Gerangel im Treppenhaus entriss der Angeklagte B. K. „mit Gewalt“ deren Tasche, in der er Bargeld vermutete und flüchtete. In der Tasche befanden sich eine Blockflöte, BallerinaSchuhe , ein Ringbuch, Textmarker und eine Schachtel mit Aufklebern. Vier Tage nach diesem Vorfall entriss der Angeklagte der 73 Jahre alten Rentnerin I. Ka. deren Einkaufstasche, nachdem er sie bis in das Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses verfolgt hatte. In der Tasche befanden sich Bargeld, ein Handy und diverse Ausweise (Fall II. 4 der Urteilsgründe). Weitere vier Tage später verschaffte sich der Angeklagte unter einem Vorwand Zutritt zur Wohnung der 84 Jahre alten Pensionärin M. U. . Aufgrund eines spontanen Entschlusses riss er M. U. die Kleidung vom Körper und warf sie auf ihr Bett. Anschließend setzte er sich mit erigiertem Penis rittlings auf sie und versuchte mit ihr gewaltsam den vaginalen Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Nachdem ihm dies nicht gelungen war, weil M. U. zwei künstliche Hüftgelenke hatte und deshalb ihre Beine nicht spreizen konnte, verlangte der Angeklagte erfolglos die Ausübung des Handverkehrs. Schließlich entwendete er aus der Wohnung 75 Euro, wobei er die Angst seines Opfers vor weiteren Gewalttätigkeiten für sich ausnutzte (Fall II. 6 der Urteilsgründe). Nachdem der Angeklagte am 4. Dezember 2012 bei der Verfolgung einer älteren Frau von Polizeibeamten gestellt, erkennungsdienstlich behandelt und als Beschuldigter vernommen worden war, stieß er am 20. Dezember 2012 die zuvor von ihm verfolgte 68 Jahre alte Rentnerin M.
Sch. in den Flur ihrer Wohnung, als sie deren Tür öffnete. Anschließend entriss er ihr die Handtasche, in der sich 290 Euro, eine Kreditkarte und ein Mobiltelefon befanden (Fall II. 7 der Urteilsgründe). In zwei weiteren Fällen scheiterte der Angeklagte bei dem Versuch, gewaltsam in die Wohnungen zuvor verfolgter Frauen einzudringen (Fälle II. 5 und 8 der Urteilsgründe).

II.


3
Die Verurteilung wegen vollendeten Raubes (§ 249 Abs. 1 StGB) im Fall II. 3 der Urteilsgründe wird von den Feststellungen nicht getragen.
4
Ein vollendeter Raub gemäß § 249 Abs. 1 StGB läge nur dann vor, wenn sich der Angeklagte die seinem Opfer entrissene Tasche und die darin befindlichen Sachen zueignen wollte. Nimmt der Täter – wie hier der Angeklagte – ein Behältnis nur deshalb an sich, weil er darin Bargeld vermutet, das er für sich behalten will, eignet er sich das Behältnis nicht zu (BGH, Beschluss vom 17. November 2009 – 3 StR 425/09, NStZ-RR 2010, 75; Beschluss vom 8. September 2009 – 4 StR 354/09, NStZ-RR 2010, 48; Urteil vom 14. Juni 2006 – 2 StR 65/06, NStZ 2006, 686, 687; Beschluss vom 31. Oktober 1986 – 3 StR 470/86, StV 1987, 245). Befinden sich in dem Behältnis anstatt des erwarteten Bargeldes andere Gegenstände, die der Täter aufgrund eines neuen Entschlusses für sich behält, liegt darin lediglich eine Unterschlagung (§ 246 StGB), die neben den auch weiterhin nur versuchten Raub tritt (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 242 Rn. 41b). Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass noch weitere zur Annahme eines vollendeten Raubes oder einer Unterschlagung führende Feststellungen getroffen werden können, hat der Senat den Schuldspruch im Fall II. 3 der Urteilsgründe nicht auf versuchten Raub abgeändert , sondern insgesamt aufgehoben.

III.


5
Der Rechtsfolgenausspruch hat keinen Bestand, weil das Landgericht die Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht rechtsfehlerfrei dargelegt hat. Dadurch verliert auch die auf § 5 Abs. 3 JGG gestützte Entscheidung zum Absehen von der Verhängung einer Jugendstrafe ihre Grundlage.
6
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2012 – 4 StR 348/12, Tz. 6; Beschluss vom 25. September 2003 – 4 StR 316/03, NStZ-RR 2004, 38; Beschluss vom 8. April 2003 – 3 StR 79/03, NStZ-RR 2003, 232). Davon ist das Landgericht zwar ausgegangen. Seine Erwägungen zum Vorliegen einer anderen schweren seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB und einer daraus resultierenden erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) weisen jedoch durchgreifende Rechtsfehler auf.
7
a) Der vom Landgericht angehörte psychiatrische Sachverständige hat ausgeführt, bei dem durchschnittlich intelligenten und nicht an einer krankhaften seelischen Störung leidenden Angeklagten liege eine schizoide Persönlich- keitsstörung mit Krankheitswert (ICD-10 F 60.1) vor. Diese Störung äußere sich bei den Betroffenen in massiven Auffälligkeiten in der Emotionalität und im zwischenmenschlichen Kontakt. Der Angeklagte erfülle wesentliche Kriterien die- ses Krankheitsbildes, weil er „Anteile“ von Distanziertheit, emotionaler Kühle und flacher Affektivität aufweise und nur über geringe empathische Fähigkeiten verfüge. Bei ihm bestehe ein Mangel, warme oder zärtliche Gefühle, aber auch Ärger gegenüber anderen zu zeigen, wenn er sich nicht unter einen entsprechenden emotionalen Druck gesetzt fühle (UA 25). Auch könne es zu „raptus- artigen“ Impulsdurchbrüchen kommen, wie sich insbesondere bei den Taten zum Nachteil der Geschädigten G. und U. (Fälle II. 1 und 6 der Urteilsgründe ) gezeigt habe. Bei dem Angeklagten handele es sich um einen distanzierten und in sich gekehrten Menschen, dem diese Seite seiner Persönlichkeit krankheitsbedingt nicht bewusst sei (UA 26). Bei ihm müsse deshalb von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB ausgegangen werden, die in den jeweiligen Tatsituationen zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit bei gleichzeitig vorhandener Einsichtsfähigkeit geführt habe (§ 21 StGB). Dem hat sich das Landgericht angeschlossen (UA 28).
8
b) Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht mit dem Sachverständigen rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, dass die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert gemäß ICD-10 F 60.1 ohne weitere wertende Erwägungen zur Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit gemäß § 20 StGB führt. Zudem fehlt es an der erforderlichen tatbezogenen Beurteilung der durch die festgestellte Störung hervorgerufenen Verminderung der Steuerungsfähigkeit.
9
aa) Die in den gebräuchlichen Klassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 zusammengefassten diagnostischen Kategorien sind keine psychiatrischen Äquivalente zu den Eingangsmerkmalen des § 20 StGB. Sie erfassen lediglich die klinischen Attribute des Zustandsbildes des Betroffenen und sind eine Richtlinie zur Unterstützung des daran anknüpfenden – dem Sachverständigen obliegenden – klinischen Urteils (Saß/Wittichen/Zaudich/Houben, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR, 2003, S. 980 ff.). Auch wenn sich die gelisteten Kategorien bestimmten gesetzlichen Merkmalen zuordnen lassen (vgl. Rasch, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl., S. 52 ff.), sagt daher die Vergabe einer entsprechenden Diagnose durch den psychiatrischen Sachverständigen noch nichts über die forensische Bewertung des psychischen Zustands des Betroffenen aus (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Januar 2005 – 4 StR 532/04, NStZ-RR 2005, 137, 138; Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52; Beschluss vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99, BGHR StGB § 63 Zustand 34; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 127; Maatz, FPPK 2007, 147, 149; Winkler/Förster, NStZ 1999, 126, 127; Kröber/Dannhorn, NStZ 1998, 80, 81; Scholz/Schmidt, Schuldfähigkeit bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit , S. 13). Ihr kann lediglich entnommen werden, dass es sich um eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung handelt, mit der sich der Tatrichter bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung im Hinblick auf ihren Schweregrad und ihre Tatrelevanz auseinandersetzen muss (BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 54; Beschluss vom 19. März 1992 – 4 StR 43/92, NStZ 1992, 380; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß, NStZ 2005, 57, 58).
10
Ob eine von dem Sachverständigen diagnostizierte schizoide Persönlichkeitsstörung gemäß ICD-10 F 60.1 und DSM-IV 301.20 die Voraussetzun- gen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB erfüllt, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter wertend zu entscheiden hat (BGH, Urteil vom 14. April 1999 – 3 StR 45/99, NStZ 1999, 395). Dabei kommt es maßgebend auf den Ausprägungsgrad der Störung und ihren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Betroffenen an. Hierfür ist die Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit (etwa hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen und dritter Personen, der emotionalen Reaktionen, der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Impulskontrolle) durch die festgestellten Verhaltensmuster zu untersuchen und mit den Folgen von psychotischen oder ähnlichen pathologischen Zuständen zu vergleichen, die als krankhafte seelische Störung anerkannt sind (BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 f.; vgl. Beschluss vom 18. Januar 2005 – 4 StR 532/04, NStZ-RR 2005, 137, 138; Beschluss vom 21. September 2004 – 3 StR 333/04, NStZ 2005, 326, 327; Beschluss vom 26. Juli 2000 – 2 StR 278/00, BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 35; Beschluss vom 14. Juli 1999 – 3 StR 160/99, BGHR StGB § 63 Zustand 34; Scholz/Schmidt, Schuldfähigkeit bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit, S. 44). In diesem Zusammenhang ist es von wesentlicher Bedeutung, ob es infolge der die Persönlichkeitsstörung begründenden Verhaltens- und Erlebnisbesonderheiten auch im Alltag außerhalb der angeklagten Delikte zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn sich das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als „schwere andere seelische Abartigkeit“ angesehen werden (BGH,Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52 f.).
11
Eine diesen Vorgaben entsprechende Bewertung der „Schwere“ der an- genommenen schizoiden Persönlichkeitsstörung hat das Landgericht nicht erkennbar vorgenommen. Die von dem Sachverständigen übernommene und auf eine Äquivalenz mit krankhaften seelischen Störungen hindeutende formelhafte Wendung „mit Krankheitswert“ ist ohne Aussagekraft (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 20 Rn. 38), weil die zugrunde liegenden Wertungen nicht offengelegt werden. Sie kann die an dieser Stelle erforderliche umfassende Darlegung daher nicht ersetzen. Soweit davon die Rede ist, dass die Persönlichkeit des Angeklagten „Anteile“ von Distanziertheit, emotionaler Kühle und flacher Affektivität aufweise und er nur über geringe empathische Fähigkeiten verfüge, fehlt es an der gebotenen Darstellung der hiermit verbundenen Auswirkungen auf das alltägliche Leben und den Werdegang des Angeklagten. Gleiches gilt für die pauschale Beschreibung des Angeklagten als distanzierten und in sich gekehrten Menschen. Ob es infolge der festgestellten Auffälligkeiten bei dem Angeklagten zu zeitlich stabilen und gewichtigen Beeinträchtigungen der sozialen Kompetenz gekommen ist, kann den Urteilsgründen auch im Übrigen nicht entnommen werden. Die getroffenen Feststellungen zur Person des Angeklagten (Schulbesuch, gute Einbindung in eine große Familie mit übernommener Vorbildfunktion für jüngere Geschwister, eine geringfügige Vorahndung wegen Diebstahls, intensiver Mannschaftssport, Freundeskreis etc.) geben keine Hinweise auf eine gravierende Einschränkung der sozialen Anpassungsfähigkeit.
12
bb) Auch die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei der Tat infolge der festgestellten „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, hat der Tatrichter ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen wertend zu beantworten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2009 – 2 StR 383/09, NStZ-RR 2010, 73, 74; Urteil vom 21. Januar 2004 – 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53; Urteil vom 26. April 1955 – 5 StR 86/55, BGHSt 8, 113, 124; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 21 Rn. 7 mwN) und in den Urteilsgründen darzulegen. Wird die Annahme einer anderen schweren seelischen Abartigkeit aus dem Vorliegen einer schizoiden Persönlichkeitsstörung hergeleitet, bedarf es dabei einer erkennbaren Abgrenzung gegenüber Verhaltensweisen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne dass sie die Schuldfähigkeit „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB berühren (BGH, Beschluss vom 25. September 2003 – 4 StR 316/03, NStZ-RR 2004, 38, 39). Auch insoweit fehlt es an ausreichenden Darlegungen. Nach den Feststellungen beging der Angeklagte sämtliche Taten, um sich Geld für den Kauf von Designerbekleidung zu verschaffen. Warum sich in dieser Tatmotivation die geschilderten Auffälligkeiten widerspiegeln, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.
13
2. Die Aufhebung des Maßregelausspruchs hat aufgrund des bestehenden inneren Zusammenhangs (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1997 – 4 StR 581/97, StV 1998, 342, 343) auch die Aufhebung der Entscheidung nach § 5 Abs. 3 JGG zur Folge.
14
Der Umstand, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht dem nicht entgegen. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB allein auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben, hindert das Schlechterstellungsverbot den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dies gilt nach § 2 Abs. 2 JGG auch im Jugendverfahren (Diemer/Schatz/Sonnen,JGG, 6. Aufl., § 55 Rn. 50). Hat der erste Tatrichter wegen der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 5 Abs. 3 JGG von der Verhängung einer Jugendstrafe abgesehen, ist dem neuen Tatrichter die Verhängung einer an die Stelle der Unterbringungsanordnung tretenden Jugendstrafe aber nur dann möglich, wenn auf die Revision des Angeklagten mit dem rechtsfehlerhaften Maßregelausspruch auch die Entscheidung nach § 5 Abs. 3 JGG in Wegfall kommt. Die Rechtslage unterscheidet sich hier nicht durchgreifend von den bereits mehrfach entschiedenen Fällen, in denen auf die erfolgreiche Revision eines wegen Schuldunfähigkeit freigesprochenen, aber nach § 63 StGB untergebrachten Angeklagten auch der Freispruch aufzuheben ist, um dem neuen Tatrichter die durch § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO eröffnete Möglichkeit einer Bestrafung zu erhalten, wenn sich nunmehr die Schuldfähigkeit des Angeklagten herausstellen sollte (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2012 – 4 StR 348/12, Tz. 13; Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; Beschluss vom 14. September 2010 – 5 StR 229/10, Tz. 11; Beschluss vom 27. Oktober 2009 – 3 StR 369/09, Tz. 9). Der Umstand, dass der Gesetzgeber bei der Einführung des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nur die letztgenannte Fallkonstellation vor Augen hatte (vgl. BT-Drs. 16/1344, S. 17; Schneider, NStZ 2008, 68, 73), stellt eine Anwendung dieser Vorschrift nicht in Frage. Erklärtes Ziel der Regelung des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO ist es, die nicht hinnehmbare Konsequenz zu vermeiden, dass eine Straftat nur deshalb ohne strafrechtliche Sanktion bleibt, weil nach dem durch eine erfolgreiche Revision des Angeklagten bewirkten Wegfall der alleinigen Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die Art der Rechtsfolgen aufgrund des Verschlechterungsverbots (§ 358 Abs. 1 Satz 1 StPO) nicht mehr zum Nachteil des Angeklagten verändert werden darf (vgl. BT-Drs. 16/1344, S. 17). Dem entspricht auch der hier zu entscheidende Fall.
RiBGH Dr. Mutzbauer ist Roggenbuck Franke urlaubsabwesend und daher an der Unterschrift gehindert. Roggenbuck
Quentin Reiter

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 348/12
vom
26. September 2012
in der Strafsache
gegen
wegen Diebstahls u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 26. Septemer 2012 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 31. Mai 2012 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Ferner wurden Maßregeln nach den §§ 69, 69a StGB getroffen. Die auf den Maßregelausspruch nach § 63 StGB beschränkte Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des gesamten Urteils.

I.


2
Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte an einer im Jahr 2007 manifest gewordenen paranoid-halluzinatorischen Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Zudem besteht bei ihm ein schädlicher Gebrauch von Alkohol.
3
Am Nachmittag des 6. November 2011 gegen 16.50 Uhr riss der Angeklagte auf dem Parkplatz eines Supermarktes die Fahrertür eines dort abgestellten Pkw BMW 330 CICP auf und sagte zu dem in seinem Fahrzeug sitzenden Zeugen F. und dessen Freundin, der Zeugin M. , in bestimmtem Ton: „Aussteigen“. Da der Angeklagte beide Hände in den Taschen seiner Jacke stecken hatte, befürchteten die Zeugen, dass er eine Waffe bei sich führe und verließen das Fahrzeug. Der erheblich alkoholisierte Angeklagte nahm auf dem Fahrersitz Platz und fuhr davon. Den Pkw des Zeugen F. wollte er für sich behalten, weil es sein „Traumauto“ war. Aufgrund der sofort eingeleiteten Fahndung wurde das entwendete Fahrzeug mit dem Angeklagten am Steuer schon nach kurzer Zeit von zwei Polizeistreifen auf einer öffentlichen Straße entdeckt. Während der anschließenden Verfolgungsfahrt missachtete der Angeklagte wiederholt Anhalteaufforderungen der ihm mit Blaulicht und Martinshorn nachfahrenden Polizeibeamten und vereitelte mehrere Überholversuche, indem er mit dem von ihm gesteuerten Pkw nach links oder rechts zog. Nachdem es dem Polizeibeamten S. doch gelungen war, sich mit seinem Fahrzeug vor den Angeklagten zu setzen, unternahm dieser nun seinerseits mehrere erfolglose Überholmanöver. Schließlich musste er auf einem Gehweg anhalten. Der Aufforderung zum Aussteigen kam der Angeklagte erst nach einem Warnschuss nach. Eine ihm um 18.35 Uhr entnommene Blutprobe wies eine Blutalkoholkonzentration von 1,51 Promille auf.
4
Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als Diebstahl (§ 242 StGB) in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 StGB) und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB) gewertet. Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit und der Einschätzung der Gefährlichkeitsprognose hat sich das Landgericht dem angehörten Sachverständigen angeschlossen. Danach „scheine“ bei dem Angeklagten neben dem Alko- holkonsum ein psychotisches Erleben mit Fremdbeeinflussungsgedanken („mein Vater ist Luzifer und mein Vater hat gesagt, ich solle das Auto entwenden“ ) im Rahmen seiner schizophrenen Erkrankung im Vordergrund gestanden zu haben. Die Intensität der Beeinträchtigung sei zu den Tatzeitpunkten so ausgeprägt gewesen, dass eine erheblich eingeschränkte Handlungs- und Steuerungsfähigkeit angenommen werden müsse. Eine vollständig aufgehobene Einsichts- und Steuerungsfähigkeit könne nicht ausgeschlossen werden, wenn man davon ausgehe, dass die dokumentierten Fremdbeeinflussungserlebnisse wirksam gewesen seien (UA 8). Die Prognose des Angeklagten müsse als ungünstig bezeichnet werden, weil seine Krankheitseinsicht und seine Therapiewilligkeit erheblichen Schwankungen unterworfen seien. Bei einer sofortigen Entlassung sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Angeklagte seine Medikamente erneut absetzt und dadurch in psychotische Zustände gerät, in denen er – möglicherweise in suizidaler Absicht – Straftaten der vorliegenden Art begehen könnte. Das Landgericht geht davon aus, dass die Anlassdelikte „von erheblichem Gewicht“ waren. Insbesondere sei der Dieb- stahl in seiner Begehungsform einem Raub angenähert gewesen (UA 9).

II.


5
Die Voraussetzungen des § 63 StGB werden durch die Urteilsfeststellungen nicht belegt.
6
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2009 – 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198; Beschluss vom 8. April 2003 – 3 StR 79/03, NStZ-RR 2003, 232).
7
Die Diagnose einer paranoid-halluzinatorischen Psychose führt nicht zwangsläufig zu der Feststellung einer generellen oder über längere Zeiträume andauernden gesicherten Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit. Es ist daher stets im Einzelnen darzulegen, wie sich die Erkrankung in der konkreten Tatsituation auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf sie zurückzuführen sind (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; Beschluss vom 2. Oktober 2007 – 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39; Beschluss vom 3. Juli 1991 – 3 StR 69/91, NStZ 1991, 527, 528).
8
Das landgerichtliche Urteil enthält hierzu keine ausreichenden Feststellungen. Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, dass bei dem Angeklagten ein auf seiner Schizophrenie beruhendes psychotisches Erleben mit Fremdbeeinflussungsgedanken im Vordergrund gestanden habe, werden die diese Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen nicht wiedergegeben, sodass eine Überprüfung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; Beschluss vom 14. September 2010 – 5 StR 229/10, Rn. 8). Das in diesem Zusammenhang mitgeteilte Wahnerleben („mein Vater ist Luzifer und mein Vater hat gesagt, ich solle das Auto entwenden“) ist mit dem festgestellten Motiv für den Diebstahl des Pkw („Traumauto“) unvereinbar. Da dieser Beweggrund offenkundig nicht in einem Zusammenhang mit der Grunderkrankung des Angeklagten steht, sind die Feststellungen des Landgerichts an dieser Stelle mehrdeutig. Konkrete Ausführungen zu der Frage, wie sich die psychische Erkrankung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten während der anschließenden Trunkenheitsfahrt und der Polizeiflucht ausgewirkt hat, fehlen ganz. Schließlich war es auch rechtsfehlerhaft, dass das Landgericht mit dem Sachverständigen eine gleichzeitige Aufhebung der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit für möglich gehalten hat (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; Beschluss vom 14. September 2010 – 5 StR 229/10, Rn. 8; Beschluss vom 9. September 1986 – 4 StR 470/86, BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 1).
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2. Auch die Gefährlichkeitsprognose begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (BGH, Urteil vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZRR 2011, 240, 241; Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202). Ob eine zu erwartende Straftat zu einer schweren Störung des Rechtsfriedens führt, muss anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden werden (BGH, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202; Beschluss vom 26. April 2001 – 4 StR 538/00, StV 2002, 477 f.). Sind die zu erwartenden Delikte nicht wenigstens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen, ist die Annahme einer schweren Störung des Rechtsfriedens nur in Ausnahmefällen begründbar (BGH, Urteil vom 2. März 2011 – 2 StR 550/10, NStZ-RR 2011, 240, 241; Beschluss vom 18. März 2008 – 4 StR 6/08; Beschluss vom 18. Februar 1992 – 4 StR 27/92, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 16; Beschluss vom 28. Juni 2005 – 4 StR 223/05, NStZ-RR 2005, 303, 304). Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (BGH, Urteil vom 17. August 1977 – 2 StR 300/77, BGHSt 27, 246, 248 f.; Urteil vom 17. November 1999 – 2 StR 453/99, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27). An die Darlegungen sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (BGH, Beschluss vom 4. Juli 2012 – 4 StR 224/12, Rn. 8; Beschluss vom 8. November 2006 – 2 StR 465/06, NStZ-RR 2007, 73, 74).
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Diesen Maßstäben werden die Erwägungen des Landgerichts nicht gerecht. Das Landgericht hat keine die Biographie des Angeklagten und seine Krankheitsgeschichte in den Blick nehmende Gesamtwürdigung vorgenommen. In diesem Zusammenhang hätte erörtert werden müssen, dass der Angeklagte bereits seit dem Jahr 2007 manifest erkrankt ist, ohne strafrechtlich in Erscheinung getreten zu sein. Dass ein Täter trotz bestehenden Defekts über Jahre hinweg keine Straftaten begangen hat, ist ein Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten (BGH, Beschluss vom 11. März 2009 – 2 StR 42/09, NStZ-RR 2009, 198, 199). Die Wertung des Landgerichts, wonach sämtliche Anlassdelikte von einem erheblichen Gewicht waren, wird durch die festgestellten Tatumstände nicht belegt. Eine vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 Abs. 1 StGB kann nicht ohne weiteres der mittleren Kriminalität zugeordnet werden (vgl. MK-StGB/van Gemmeren, 2. Aufl., § 63 Rn. 55). Sie ist erst bei einer zu erwartenden besonderen Häufung oder bei außergewöhnlichen – hier nicht festgestellten – Tatumständen erheblich. Der festgestellte Widerstand hat zu keiner Zeit zu einer Gefährdung der eingesetzten Polizeibeamten geführt und war daher ebenfalls nicht als eine schwere Störung des Rechtsfriedens anzusehen.

III.


12
Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
13
1. Der Umstand, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht der Aufhebung des Freispruchs nicht entgegen. Wird die Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB auf eine Revision des Angeklagten hin aufgehoben , hindert das Schlechterstellungsverbot des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO den neuen Tatrichter nicht daran, an Stelle einer Unterbringung nunmehr eine Strafe zu verhängen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Dadurch soll vermieden werden, dass die erfolgreiche Revision eines Angeklagten gegen die alleinige Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus dazu führt, dass eine Tat, die wegen angenommener Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB nicht zu einer Bestrafung geführt hat, ohne strafrechtliche Sanktion bleibt, wenn sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat schuldfähig war (BT-Drs. 16/1344, S. 17). Dieses gesetzgeberische Ziel kann nur erreicht werden, wenn das Revisionsgericht in diesen Fällen nicht nur die auf rechtsfehlerhaften Feststellungen zur Schuldfähigkeit beruhende Maßregelanordnung, sondern auch den hierauf gestützten Freispruch aufhebt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307; Beschluss vom 14. September 2010 – 5 StR 229/10, Rn. 11; Beschluss vom 27. Oktober 2009 – 3 StR 369/09, Rn. 9).
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2. Die Beschränkung der Revision des Angeklagten auf die Maßregelanordnung ist unwirksam, weil die Unterbringung nach § 63 StGB und der auf § 20 StGB gestützte Freispruch gleichermaßen von der Bewertung der Schuldfähigkeit abhängen und deshalb zwischen beiden Entscheidungen aus sachlichrechtlichen Gründen ein untrennbarer Zusammenhang besteht. Da nach § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO nunmehr eine Bestrafung des Angeklagten möglich ist, wenn sich seine Schuldfähigkeit herausstellen sollte, lässt sich die Wirksamkeit einer isolierten Anfechtung der Maßregelanordnung nicht mehr mit der Erwägung rechtfertigen, dass aufgrund des Verbots der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) unabhängig von der Bewertung der Schuldfrage in jedem Fall wieder auf Freispruch erkannt werden müsste (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 1953 – 3 StR 620/53, BGHSt 5, 267, 268). Der Senat braucht an dieser Stelle nicht zu entscheiden, ob § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO eine isolierte Anfechtung der Anordnung einer Unterbringung nach § 63 StGB auch dann hindert, wenn die den Freispruch tragende Schuldunfähigkeit des Angeklagten feststeht und nur die der Maßregelanordnung zugrunde liegende Gefährlichkeitsprognose zu überprüfen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. April 1963 – 5 StR 13/63, NJW 1963, 1414, 1415).
Mutzbauer Cierniak Franke
Quentin Reiter
5 StR 199/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 8. Juni 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Juni 2011

beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 31. Januar 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Dresden zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
Im Wiederaufnahmeverfahren hat das Landgericht Chemnitz das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 24. Juni 1994, durch das der Angeklagte wegen Mordes in zwei Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden war, aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen; zugleich hat es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge im Umfang der Aufhebung Erfolg; im Übrigen – die Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten betreffend – ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
2
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen :
3
Am 25. August 1993 erschoss der aus Vietnam stammende Angeklagte in der Wohnung eines Landsmannes zwei weitere Vietnamesen mit einer kurz zuvor erworbenen Pistole. Er feuerte aus unmittelbarer Nähe und in schneller Folge mehrfach auf die beiden von dem Angriff völlig überraschten Opfer. Beide verstarben noch am Tatort. Einen Tag später stellte sich der Angeklagte der Polizei.
4
Die Schwurgerichtskammer gelangt zu der Überzeugung, dass der Angeklagte die Taten aufgrund einer durch eine schizophrene Psychose hervorgerufenen Wahnvorstellung beging. Sein angegebenes Tatmotiv, die Getöteten hätten ein Schutzgeld von ihm erpressen wollen, beruhe auf einer wahnhaften Verkennung der Wirklichkeit; der Angeklagte habe sich auch in der Wohnung von den später Getöteten bedroht gefühlt. Sachverständig beraten kommt das Landgericht zu dem Ergebnis, dass beim Angeklagten eine paranoide Psychose vorlag, die „tat- und tatzeitbezogen nicht nur zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten, sondern im Wege der Nichtausschließbarkeit“ (UA S. 20) auch zu einer Aufhebung seiner Schuldfähigkeit im Tatzeitraum führte, und gelangt daher zu einem Freispruch des Angeklagten. Auf der Grundlage der Gutachten zweier psychiatrischer Sachverständiger sowie der Aussagen zweier sachverständiger Zeugen bejaht sie indes seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit, die eine Unterbringung gemäß § 63 StGB erfordere.
5
2. Soweit das Landgericht beweiswürdigend eine nicht ausschließbare völlige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit, möglicherweise sogar schon der Einsichtsfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB), jedenfalls aber eine erhebliche Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) annimmt, ist dies frei von Rechtsfehlern. Auch eingedenk des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO bleibt daher der Freispruch des Angeklagten mit den zugehörigen Feststellungen bestehen.
6
3. Indes war der Maßregelausspruch aufzuheben. Die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bedarf einer besonders sorgfältigen Begründung , weil sie eine schwerwiegende und gegebenenfalls langfristig in das Leben des Betroffenen eingreifende Maßnahme darstellt. Dies gilt ungeachtet des Gewichts der Anlasstaten auch im vorliegenden Fall, in dem der Betroffene wegen der von ihm im nicht ausschließbaren Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Tat bereits seit 17 Jahren inhaftiert ist. Den danach zu stellenden Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.
7
Das Landgericht hat seine Überzeugung von der zukünftigen Gefährlichkeit des Beschuldigten nicht hinreichend begründet. Wegen des immensen zeitlichen Abstands zu den Anlasstaten reicht hierfür der Charakter der Anlasstaten ausnahmsweise nicht aus. Das Landgericht hat sich darauf beschränkt , die Gefährlichkeitsbeurteilungen der beiden psychiatrischen Sachverständigen und der beiden sachverständigen Zeugen wiederzugeben, die seinen Schluss des Landgerichts zwar übereinstimmend stützen. Erforderlich wäre, die wesentlichen Anknüpfungs- und Befundtatsachen der Sachverständigenbewertung im Urteil so wiederzugeben, wie dies zum Verständnis der gutachtlichen Äußerungen und zur Beurteilung ihrer Schlüssigkeit erforderlich wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2008 – 5 StR 397/08; Urteil vom 19. Februar 2008 – 5 StR 599/07; BGH, Urteil vom 15. Januar 2003 – 5 StR 223/02, NStZ 2003, 307 f., Beschluss vom 8. April 2003 – 3 StR 79/03, NStZ-RR 2003, 232, jeweils mwN).
8
Die Schlussfolgerungen der Sachverständigen und sachverständigen Zeugen werden aus der Schilderung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten und insbesondere seines Verhaltens während der Haft nicht belegt. Dem Urteil ist lediglich Folgendes zu entnehmen: Während sein Vorleben vor der Tat, abgesehen von ehelichen Problemen, weitgehend unauffäl- lig war, fiel er zu Beginn seiner Haftzeit durch Verstöße gegen die Hausordnung auf, denen jedoch damals keine psychotische Bedeutung beigemessen wurde. Ab 1996 zeigten sich „zunehmend Verhaltensauffälligkeiten“, weshalb er sich wiederholt in psychiatrischer Behandlung befand. In diesem Zusammenhang werden nur vom Angeklagten berichtete Körperbeeinflussungsphänomene geschildert. Nachdem er sich deswegen in der Zeit von August 1997 bis Januar 1998 im Haftkrankenhaus befunden hatte, in dem ein schizoaffektives Syndrom diagnostiziert wurde, trat zunächst eine Beruhigung der Symptomatik ein. Im Jahr 2001 kam es zu erneuten Symptomen der psychiatrischen Erkrankung. Ab dem Jahr 2008 führte sich der Angeklagte weitgehend unauffällig.
9
Abgesehen von den anfänglichen Verstößen gegen die Hausordnung, denen für die Gefährlichkeitsprognose jedenfalls kein auf der Hand liegendes Gewicht zukommt, werden keine konkreten Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten geschildert. Insbesondere finden sich keine Hinweise, auf aggressives oder gewalttätiges Verhalten des Angeklagten im Strafvollzug. Über den Zeitraum zwischen 2001 und 2008 macht das Urteil keinerlei konkrete Angaben. Inwieweit der Angeklagte eine psychiatrische Behandlung erfuhr, ist nur in unzureichendem Maße ersichtlich. Das Urteil macht auch keine Ausführungen dazu, ob dem Angeklagten Vollzugslockerungen gewährt wurden und wie diese gegebenenfalls verlaufen sind. Angesichts dieser Darlegungsmängel vermag der Senat die Gefahrenprognose des Landgerichts nicht nachzuvollziehen.
10
4. Der Maßregelausspruch ist daher mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben. Von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind die Feststellungen zum Geschehensablauf der rechtswidrigen Taten, die bestehen bleiben. Sie können durch ihnen nicht widersprechende Feststellungen ergänzt werden. das Landgericht entfällt der Ausspruch über den Ausschluss der Entschädigung ; über die Verpflichtung zur Entschädigung ist in der verfahrensabschließenden Entscheidung zu befinden (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StrEG).
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