Bundesgerichtshof Beschluss, 19. Okt. 2011 - 1 StR 476/11

published on 19/10/2011 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 19. Okt. 2011 - 1 StR 476/11
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 476/11
vom
19. Oktober 2011
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Oktober 2011 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Traunstein vom 14. April 2011 wird als unbegründet verworfen,
da die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil
des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
den Nebenklägern im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.
Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:
Die Rüge eines Verstoßes gegen § 136 StPO ist unbegründet. Nach pflichtgemäßer
Beurteilung der Strafverfolgungsbehörde muss erst dann von der Zeugen
- zur Beschuldigtenvernehmung übergegangen werden, wenn sich der Verdacht
so verdichtet hat, dass die als Zeuge belehrte Person ernstlich als Täter
der untersuchten Straftat in Betracht kommt. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums
sind - gerade bei Tötungsdelikten - erst dann überschritten, wenn
trotz starken Tatverdachts nicht von der Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung
übergegangen wird (BGHSt 37, 48, 51 f.; BGH, Beschluss vom 10. September
2004 - 1 StR 304/04, NStZ-RR 2004, 368) und auf diese Weise die Beschuldigtenrechte
umgangen werden (BGH, Urteil vom 21. Juli 1994 - 1 StR 83/94,
BGHR StPO § 136 Belehrung 6). Auch kann der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörde
- zumal bei Tötungsdelikten - erst bei einem konkreten und
ernsthaften Tatverdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten
verpflichtet ist, für ihn auch eine schützende Funktion haben. Denn der Ver-
nommene wird hierdurch nicht vorschnell mit einem Ermittlungsverfahren überzogen
, das erhebliche nachteilige Konsequenzen für ihn haben kann (BGHSt
51, 367, 372).
Gegen den bis dahin unbescholtenen Angeklagten, einen zur Tatzeit 48 Jahre
alten, seit 1978 in Deutschland lebenden und seit 1981 bei der Stadt München
angestellten türkischen Staatsangehörigen, drängte sich allein aus dem Umstand
, dass er mit dem Getöteten, welcher auch in München lebte und wie er
Mitglied eines türkischen Volksvereins war, kurz vor dessen Erschießung als
Letzter telefoniert und ihn anschließend in seinem Pkw mitgenommen hatte,
solange kein so starker Tatverdacht auf, als nicht ein Tatmotiv für die Ermittlungsbeamten
offen erkennbar wurde oder mögliche Fremdeinwirkungen negativ
abgeklärt waren. Hinzu kommt, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der
ersten Ermittlungen am 14. März 2010 ein Alibi für die Tatzeit nachweisen
konnte, welches zwar falsch war, was sich aber erst am 19. März 2010 herausstellte.
Außerdem wäre bei einem konkreten Tatverdacht zumindest eines Totschlags
, wie es in solchen Fällen üblich ist, der Angeklagte sogleich am
14. März 2010 und nicht erst am 19. März 2010 festgenommen worden. Vielmehr
ergab sich dieser Tatverdacht erst mit dem Widerruf der Aussage des
Alibigebers und der damit zusammenhängenden Feststellung, dass der Angeklagte
in der Nacht zum 14. März 2010, kurze Zeit nach der Tötung des Opfers,
die Reifen seines Wagens wechselte und diese bis heute unauffindbar verschwinden
ließ. Im Übrigen hat offenbar auch Rechtsanwalt S. , welcher
am späten Nachmittag des 14. März 2010 noch während der Vernehmung des
Angeklagten erschien und in der Folge mit ihm sprach, keine Veranlassung gesehen
, ihn als Beschuldigten zu betrachten, und erklärt, dass seine Anwesenheit
bei der Fortsetzung der Vernehmung nicht erforderlich sei. Daher konnte
der Angeklagte am 14. März 2010, nachdem keine konkreten Beweisanzeichen
gegen ihn festgestellt werden konnten, noch als Zeuge vernommen werden.
Es kann daher dahingestellt bleiben, ob vorliegend bei anderer Beurteilung der
Angeklagte sich auf ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Ergebnisse des
Sachverständigengutachtens über das Vorhandensein von Schmauchspuren
an der vom Angeklagten freiwillig herausgegebenen, am Tattag getragenen
Kleidung berufen könnte, wenn er zuvor, ohne einen Widerspruch dagegen
geltend zu machen, die Vernehmung des Polizeibeamten in der Hauptverhandlung
hingenommen hatte, welcher die Kleidungsstücke am Abend des 14. März
2010 in der Wohnung des Angeklagten sicherstellte und hierüber berichtete.
Nack Rothfuß Elf
Graf Sander
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18/03/2021 17:47

Der Widerspruch des Beschuldigten ist grundsätzlich konstituierend für die gerichtliche Annahme eines Beweisverwertungsverbotes. Ein solcher muss rechtzeitig, d. h. bis zur Beendigung der Beweiserhebung nach § 257 StPO erfolgen. Sodann können die Beweise keinen Eingang in die Entscheidungsfindung des Gerichtes finden und werden „bedeutungslos“. Dies gilt aber grundsätzlich nicht für das Ermittlungs- und Zwischenverfahren – hier hat das Gericht Beweisverwertungsverbote von Amts wegen zu prüfen. Belastende Aussagen des Zeugen i. R. d. Zeugenvernehmung, die seine Beschuldigtenstellung begründen, dürfen noch verwertet werden. Wird der Beschuldigte nicht unmittelbar danach belehrt, so unterliegen die weiteren Aussagen einem Beweisverwertungsverbot – Dirk Streifler, Streifler & Kollegen, Rechtsanwalt für Strafrecht
15/03/2021 18:05

Der Widerspruch des Beschuldigten ist grundsätzlich konstituierend für die gerichtliche Annahme eines Beweisverwertungsverbotes. Ein solcher muss rechtzeitig, d. h. bis zur Beendigung der Beweiserhebung nach § 257 StPO erfolgen. Sodann können die Beweise keinen Eingang in die Entscheidungsfindung des Gerichtes finden und werden „bedeutungslos“. Dies gilt aber grundsätzlich nicht für das Ermittlungs- und Zwischenverfahren – hier hat das Gericht Beweisverwertungsverbote von Amts wegen zu prüfen. Belastende Aussagen des Zeugen i. R. d. Zeugenvernehmung, die seine Beschuldigtenstellung begründen, dürfen noch verwertet werden. Wird der Beschuldigte nicht unmittelbar danach belehrt, so unterliegen die weiteren Aussagen einem Beweisverwertungsverbot – Dirk Streifler, Streifler & Kollegen, Rechtsanwalt für Strafrecht
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern
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published on 19/10/2011 00:00

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 476/11 vom 19. Oktober 2011 in der Strafsache gegen wegen Mordes Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Oktober 2011 beschlossen : Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Traun
published on 15/09/2004 00:00

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published on 19/10/2011 00:00

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published on 06/06/2019 00:00

Nachschlagewerk: ja BGHSt: ja Veröffentlichung: ja ___________________________________ StPO § 136 Abs. 1, § 163a Abs. 4 VStGB § 1 Satz 1, § 7 Abs. 1 Nr. 5 StGB § 27 Abs. 1, § 52 Abs. 1, §§ 223 ff. 1. Im Ermittlungsverfahren sind Beweisverw
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.

(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.

(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.

(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
§ 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

(5) § 58b gilt entsprechend.