Arbeitsgericht Herne Urteil, 14. Okt. 2015 - 6 Ca 1789/15

ECLI:ECLI:DE:ARBGHER:2015:1014.6CA1789.15.00
bei uns veröffentlicht am14.10.2015

Tenor

  • 1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die außerordentliche fristlose noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 19.05.2015 aufgelöst worden ist.

  • 2. Die Beklagt wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Webentwickler weiter zu beschäftigen.

  • 3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

  • 4. Der Streitwert wird auf 12.830,80 € festgesetzt.


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Zivilprozessordnung - ZPO | § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht


(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung um

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 242 Leistung nach Treu und Glauben


Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 2


(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unver

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 133 Auslegung einer Willenserklärung


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Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 157 Auslegung von Verträgen


Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Kündigungsschutzgesetz - KSchG | § 1 Sozial ungerechtfertigte Kündigungen


(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt is

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 611 Vertragstypische Pflichten beim Dienstvertrag


(1) Durch den Dienstvertrag wird derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet. (2) Gegenstand des Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein.

Betriebsverfassungsgesetz


§ 21a idF d. Art. 1 Nr. 51 G v. 23.7.2001 I 1852 dient der Umsetzung des Artikels 6 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 626 Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund


(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unte

Strafgesetzbuch - StGB | § 263 Betrug


(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 323 Rücktritt wegen nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachter Leistung


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Arbeitsgerichtsgesetz - ArbGG | § 61 Inhalt des Urteils


(1) Den Wert des Streitgegenstands setzt das Arbeitsgericht im Urteil fest. (2) Spricht das Urteil die Verpflichtung zur Vornahme einer Handlung aus, so ist der Beklagte auf Antrag des Klägers zugleich für den Fall, daß die Handlung nicht binnen

Kündigungsschutzgesetz - KSchG | § 4 Anrufung des Arbeitsgerichts


Will ein Arbeitnehmer geltend machen, dass eine Kündigung sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist, so muss er innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung er

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 314 Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund


(1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung

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Bundesarbeitsgericht Urteil, 20. März 2014 - 2 AZR 1037/12

bei uns veröffentlicht am 20.03.2014

Tenor 1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 19. März 2012 - 2 Sa 1105/11 - aufgehoben.

Bundesarbeitsgericht Urteil, 19. Apr. 2012 - 2 AZR 156/11

bei uns veröffentlicht am 19.04.2012

Tenor Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 11. November 2010 - 3 Sa 40/10 - aufgehoben.

Bundesarbeitsgericht Urteil, 07. Juli 2011 - 2 AZR 355/10

bei uns veröffentlicht am 07.07.2011

Tenor Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 3. Dezember 2009 - 5 Sa 739/09 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
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Landesarbeitsgericht Hamm Urteil, 17. Juni 2016 - 16 Sa 1711/15

bei uns veröffentlicht am 17.06.2016

Tenor Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 14.10.2015 – Az. 6 Ca 1789/15 – wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird zugelassen. 1Tatbestand 2Die Parteien stre

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(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen.

Will ein Arbeitnehmer geltend machen, dass eine Kündigung sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist, so muss er innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung Klage beim Arbeitsgericht auf Feststellung erheben, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist. Im Falle des § 2 ist die Klage auf Feststellung zu erheben, daß die Änderung der Arbeitsbedingungen sozial ungerechtfertigt oder aus anderen Gründen rechtsunwirksam ist. Hat der Arbeitnehmer Einspruch beim Betriebsrat eingelegt (§ 3), so soll er der Klage die Stellungnahme des Betriebsrats beifügen. Soweit die Kündigung der Zustimmung einer Behörde bedarf, läuft die Frist zur Anrufung des Arbeitsgerichts erst von der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den Arbeitnehmer ab.

(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 3. Dezember 2009 - 5 Sa 739/09 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.

2

Der im Jahr 1957 geborene Kläger ist verheiratet und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet. Er war seit dem 1. Oktober 1979 als Rettungsassistent bei dem Beklagten beschäftigt. Sein Bruttomonatsentgelt betrug zuletzt 3.110,66 Euro. Er ist mit einem Grad von 70 schwerbehindert.

3

Aufgrund seiner Schwerbehinderung war der Kläger längere Zeit arbeitsunfähig. Seit September 2006 führten die Parteien Gespräche über die Möglichkeit, ihn in anderer Weise einzusetzen. Dabei kam es am 4. Januar 2008 zu einem Gespräch zwischen dem Kläger und dem Personalleiter. Dessen genauer Verlauf ist streitig. Etwa neun Monate später - am 1. Oktober 2008 - sandte der Kläger an den Beklagten zu Händen des Personalleiters ein Schreiben, in dem es hieß:

        

„ … Des weiteren möchte ich nun noch einmal auf unser oben genanntes Personalgespräch eingehen, insbesondere auf die von Ihnen getätigte Aussage: ‚Wir wollen nur gesunde und voll einsetzbare Mitarbeiter.’ Diese Aussage ist in meinen Augen vergleichbar mit Ansichten und Verfahrensweisen aus dem Dritten Reich und gehört eigentlich auf die Titelseiten der Tageszeitungen sowie in weiteren Medien!“

4

Mit Schreiben vom 1. Oktober 2008 hörte der Beklagte die Mitarbeitervertretung zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an. Mit Schreiben vom 13. Oktober 2008 beantragte er beim Integrationsamt die Zustimmung zu einer solchen Kündigung. Am 28. Oktober 2008 stimmte das Integrationsamt einer außerordentlichen Kündigung des Klägers zu. Es teilte dies dem Beklagten mündlich noch am selben Tage sowie mit Schreiben vom selben Tage auch schriftlich mit.

5

Mit Schreiben vom 28. Oktober 2008, dem Kläger einen Tag später zugegangen, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos.

6

Der Kläger wies die Kündigung mit Schreiben vom 4. November 2008 mangels Vollmacht zurück. Zudem hat er rechtzeitig Klage erhoben und die Auffassung vertreten, ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung sei nicht gegeben. Im Übrigen sei der Unterzeichner des Kündigungsschreibens zum Ausspruch der Kündigung nicht berechtigt gewesen.

7

Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse - beantragt

        

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 28. Oktober 2008 nicht beendet worden ist.

8

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Ansicht vertreten, das Schreiben des Klägers vom 1. Oktober 2008 stelle eine grobe Beleidigung dar. Die darin behauptete Äußerung des Personalleiters habe dieser außerdem nicht von sich gegeben.

9

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt der Beklagte sein Begehren weiter, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

10

Die Revision ist unbegründet. Für die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 28. Oktober 2008 fehlt es an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB(I.). Die unwirksame außerordentliche Kündigung kann nicht nach § 140 BGB in eine ordentliche Kündigung umgedeutet werden(II.). Keiner Entscheidung bedarf, ob die Kündigung zudem nach § 174 Satz 1 BGB unwirksam ist.

11

I. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, für die Kündigung des Beklagten vom 28. Oktober 2008 fehle es an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

12

1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 16, AP BGB § 626 Nr. 229 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 32; 26. März 2009 - 2 AZR 953/07 - Rn. 21 mwN, AP BGB § 626 Nr. 220).

13

2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, die Äußerungen des Klägers im Schreiben vom 1. Oktober 2008 seien „an sich“ als wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB geeignet, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

14

a) Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers, seiner Vertreter und Repräsentanten oder von Arbeitskollegen stellen einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine vertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme dar (§ 241 Abs. 2 BGB) und sind „an sich“ geeignet, eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen (BAG 24. November 2005 - 2 AZR 584/04 - zu B I 2 a der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 198 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 13; 24. Juni 2004 - 2 AZR 63/03 - AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 49 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65; KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 117; Däubler in Kittner/Däubler/Zwanziger KSchR 8. Aufl. Art. 5 GG Rn. 10; APS/Dörner Kündigungsrecht 3. Aufl. § 626 BGB Rn. 226; Preis in Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 10. Aufl. Rn. 648; HaKo/Fiebig 3. Aufl. § 1 Rn. 416). Die Gleichsetzung noch so umstrittener betrieblicher Vorgänge mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem und ein Vergleich von Handlungen des Arbeitgebers oder der für ihn handelnden Menschen mit den vom Nationalsozialismus geförderten Verbrechen bzw. den Menschen, die diese Verbrechen begingen, kann eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen Personen darstellen. Darin liegt zugleich eine Verharmlosung des in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Unrechts und eine Verhöhnung seiner Opfer (BAG 24. November 2005 - 2 AZR 584/04 - zu B I der Gründe, aaO; 9. August 1990 - 2 AZR 623/89 - RzK I 5i 63).

15

b) Ob der Sinn einer Meinungsäußerung vom Berufungsgericht zutreffend erfasst worden ist, ist vom Revisionsgericht uneingeschränkt zu überprüfen (BAG 24. November 2005 - 2 AZR 584/04 - zu B I 1 der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 198 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 13 ). Hierbei ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten(BAG 24. November 2005 - 2 AZR 584/04 - zu B I 2 b der Gründe, aaO ). Für die Ermittlung des Aussagegehalts einer schriftlichen Äußerung ist darauf abzustellen, wie sie vom Empfänger verstanden werden muss. Dabei ist eine isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils regelmäßig nicht zulässig. Vielmehr sind auch der sprachliche Kontext und die sonstigen erkennbaren Begleitumstände zu berücksichtigen (vgl. BGH 30. Mai 2000 - VI ZR 276/99 - zu II 3 der Gründe, NJW 2000, 3421 ).

16

c) Das Landesarbeitsgericht hat dem Schreiben vom 1. Oktober 2008 die Aussage entnommen, der Kläger vergleiche die - streitige - Bemerkung des damaligen Personalleiters mit Vorgehensweisen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Es hat angenommen, diese Erklärung könne nicht mehr als eine lediglich überspitzte oder polemische Kritik gewertet werden. Sie sei daher nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.

17

aa) Allerdings macht auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik eine Erklärung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, die diese jenseits polemischer und überspitzter Kritik in erster Linie herabsetzen soll (vgl. BVerfG 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476/91 ua. - zu C III 2 der Gründe, BVerfGE 93, 266; BGH 30. Mai 2000 - VI ZR 276/99 - zu II 4 a der Gründe, NJW 2000, 3421 ).

18

bb) So liegt der Fall hier. Zwar hat der Kläger an einer - streitigen - Bemerkung des Personalleiters in einem konkreten Gespräch Kritik geübt. Aus dessen Sicht als des Empfängers des Schreibens konnte der Vergleich mit Ansichten und Verfahrensweisen im Dritten Reich aber nicht mehr einer sachlichen Auseinandersetzung, sondern nur einer persönlichen Herabwürdigung dienen. Der Kläger hatte das Schreiben erst Monate nach dem fraglichen Gespräch und zudem unter Hinweis auf eine mögliche Veröffentlichung der betreffenden Bemerkung an den Personalleiter geschickt.

19

3. Das Landesarbeitsgericht ist ferner ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, die fristlose Kündigung sei bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falls und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht gerechtfertigt.

20

a) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 34, AP BGB § 626 Nr. 229 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 32). Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 34, aaO; 28. Januar 2010 - 2 AZR 1008/08 - Rn. 26 mwN, AP BGB § 626 Nr. 227 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 30).

21

b) Die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf dürfen bei der Interessenabwägung im Rahmen der Prüfung des wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB berücksichtigt werden. Dies verstößt nicht gegen das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts (vgl. dazu EuGH 19. Januar 2010 - C-555/07 - [Kücükdeveci] Rn. 48, Slg. 2010, I-365; 5. Oktober 2004 - C-397/01 bis C-403/01 - [Pfeiffer ua.] Rn. 114, Slg. 2004, I-8835). Entgegen der Auffassung des Beklagten liegt darin keine unzulässige Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer wegen des Alters iSv. Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG, ABl. L 303, S. 16; vgl. auch Art. 21 Abs. 1 EU-GRCharta). Dies kann der Senat selbst beurteilen. Einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nicht. Es stellen sich keine noch nicht geklärten Fragen der Auslegung von Unionsrecht.

22

aa) Werden die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf im Rahmen der Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB berücksichtigt, handelt es sich bei ihnen um Entlassungsbedingungen iSv. Art. 3 Abs. 1 Buchst. c RL 2000/78/EG.

23

bb) Diese knüpfen nicht iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a RL 2000/78/EG unmittelbar benachteiligend an das in Art. 1 RL 2000/78/EG genannte Merkmal „Alter“ an. Zwischen der Dauer der Betriebszugehörigkeit und dem Alter besteht kein zwingender Zusammenhang, ein jüngerer Arbeitnehmer kann länger beschäftigt sein als ein älterer (vgl. Kamanabrou RdA 2007, 199, 206; v. Medem Kündigungsschutz und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 2008 S. 499).

24

cc) Es liegt auch keine mittelbare Diskriminierung wegen des Alters iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG vor.

25

(1) Dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren stellen nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG eine mittelbare Diskriminierung dar, wenn sie geeignet sind, Personen wegen eines in Art. 1 RL 2000/78/EG genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise zu benachteiligen, es sei denn - so Unterabs. i der Regelung -, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

26

(2) Es kann dahinstehen, ob bei einer verhaltensbedingten Kündigung die Berücksichtigung der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreien Verlaufs bei der Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB überhaupt geeignet ist, jüngere Arbeitnehmer gegenüber älteren in diesem Sinne in besonderer Weise zu benachteiligen. Selbst wenn eine solche mittelbare Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer vorläge, wäre sie durch ein legitimes Ziel und verhältnismäßige Mittel zu seiner Durchsetzung iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG gerechtfertigt. Eine mittelbare Diskriminierung ist damit schon tatbestandlich nicht gegeben (so im Ergebnis auch v. Medem aaO S. 595; Thüsing/Laux/Lembke/Jacobs/Wege KSchG 2. Aufl. § 626 BGB Rn. 48; aA Schrader/Straube ArbR 2009, 7, 9). Auf mögliche Rechtfertigungsgründe nach Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG kommt es nicht an.

27

(a) Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG unterscheidet zwischen Diskriminierungen, die unmittelbar auf den in Art. 1 RL 2000/78/EG angeführten Merkmalen beruhen, und mittelbaren Diskriminierungen. Während eine unmittelbar auf dem Merkmal des Alters beruhende Ungleichbehandlung nur nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG gerechtfertigt werden kann, stellen diejenigen Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, die mittelbare Diskriminierungen bewirken können, nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG schon keine Diskriminierung dar, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind (EuGH 5. März 2009 - C-388/07 - [Age Concern England] Rn. 59, Slg. 2009, I-1569; vgl. auch BAG 18. August 2009 - 1 ABR 47/08 - Rn. 31, BAGE 131, 342; Kamanabrou RdA 2007, 199, 206). Bewirken die Vorschriften, Kriterien oder Verfahren wegen des Vorliegens eines sachlichen Rechtfertigungsgrundes nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2000/78/EG schon keine Diskriminierung, bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG(EuGH 5. März 2009 - C-388/07 - [Age Concern England] Rn. 66, aaO). Das rechtmäßige Ziel, das eine mittelbare Diskriminierung ausschließt, muss demnach nicht zugleich ein legitimes Ziel iSd. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung sein. Es schließt andere von der Rechtsordnung anerkannte Gründe für die Verwendung des neutralen Kriteriums ein ( BAG 18. August 2009 - 1 ABR 47/08 - aaO). Die Richtlinie ist insofern klar verständlich und bedarf keiner weiteren Auslegung. Dem steht das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 26. September 2000 (- C-322/98 - [Kachelmann], Slg. 2000, I-7505) nicht entgegen. Darin prüft der Gerichtshof zwar die objektive Rechtfertigung einer Frauen mittelbar benachteiligenden Maßnahme des nationalen Gesetzgebers durch ein legitimes sozialpolitisches Ziel. Dem ist aber nicht zu entnehmen, zur Rechtfertigung einer mittelbaren Diskriminierung durch eine Rechtsnorm oder durch ihre Auslegung von Seiten der Gerichte komme auch unter Geltung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG nur die Berücksichtigung eines sozialpolitischen, nicht eines anderen rechtmäßigen Ziels in Betracht (aA wohl ErfK/Schlachter 11. Aufl. § 3 AGG Rn. 9). Das Urteil betraf die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der am 14. August 2009 außer Kraft getretenen Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 (RL 76/207/EWG, ABl. L 39, S. 40). Diese enthielt keine Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78/EG entsprechende Definition der mittelbaren Diskriminierung.

28

(b) Die Kriterien der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreien Verlaufs verfolgen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB ein iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG rechtmäßiges Ziel. Es besteht in der Herstellung eines angemessenen Ausgleichs zwischen dem jeweils nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers und dem Beendigungsinteresse des Arbeitgebers. Beide Gesichtspunkte sind für die erforderliche Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls unter der Fragestellung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers zumindest bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar ist, von objektiver Bedeutung.

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(c) Die Berücksichtigung der beiden Gesichtspunkte bei der Interessenabwägung nach § 626 Abs. 1 BGB ist als Mittel zur Erreichung des Ziels eines adäquaten, befriedigenden Grundrechte-Ausgleichs erforderlich und angemessen iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG.

30

(aa) Die Berücksichtigung einer längeren unbeanstandeten Beschäftigungsdauer ist erforderlich, um dem von § 626 Abs. 1 BGB vorgegebenen Prinzip der Einzelfallprüfung Rechnung zu tragen. Ohne dieses Kriterium bliebe ein maßgeblicher Umstand für die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung unberücksichtigt. Diese hängt auch bei erheblichen Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers ua. davon ab, ob es sich um einen erstmaligen Pflichtverstoß nach einer langjährigen beanstandungsfreien Beschäftigung handelt oder ob der Verstoß bereits nach kurzer Beschäftigungsdauer oder nach zwar längerwährender, aber nicht unbeanstandeter Betriebszugehörigkeit auftrat. Ob ggf. das beeinträchtigte Vertrauensverhältnis wiederhergestellt werden kann, hängt bei objektiver Betrachtung auch davon ab, ob sich das in den Arbeitnehmer gesetzte Vertrauen bereits eine längere Zeit bewährt hatte (vgl. BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 47, AP BGB § 626 Nr. 229 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 32). Ein Pflichtverstoß kann weniger schwer wiegen, wenn es sich um das erstmalige Versagen nach einer längeren Zeit beanstandungsfrei erwiesener Betriebstreue handelt.

31

(bb) Das Kriterium der Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreien Verlaufs ist auch angemessen iSv. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. i RL 2000/78/EG. Es ist nur eines von mehreren Abwägungskriterien im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung. Es wirkt damit nicht absolut, sondern nur relativ zugunsten des gekündigten Arbeitnehmers. Dadurch ist gewährleistet, dass es nur in dem für einen billigen Ausgleich der Interessen erforderlichen Maß das Ergebnis ihrer Abwägung beeinflusst. Selbst eine langjährige beanstandungsfreie Tätigkeit gibt nicht etwa notwendig den Ausschlag zu Gunsten des Arbeitnehmers. Die Pflichtverletzung kann so schwer wiegen, dass eine Wiederherstellung des Vertrauens auch nach einer solchen Zeit ausgeschlossen erscheint (vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 - Rn. 23; 16. Dezember 2010 - 2 AZR 485/08 - Rn. 27, AP BGB § 626 Nr. 232 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 33). Dementsprechend belastet eine Berücksichtigung der Dauer des Arbeitsverhältnisses und seines ungestörten Verlaufs jüngere Arbeitnehmer nicht unangemessen. Zu ihren Gunsten können andere Einzelfallumstände den Ausschlag bei der Interessenabwägung geben. Im Übrigen hat es jeder Arbeitnehmer, auch der mit erst kürzerer Betriebszugehörigkeit, in der Hand, sich keine Pflichtverstöße zuschulden kommen zu lassen, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen.

32

c) Danach hält die Interessenabwägung durch das Landesarbeitsgericht einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

33

aa) Dieses hat zugunsten des Klägers darauf abgestellt, dass es sich bei seiner Pflichtverletzung um eine erstmalige Verfehlung dieser Art nach 29 Jahren Betriebszugehörigkeit gehandelt habe. Auch habe der Kläger den Beklagten und dessen Arbeitsmethoden nicht etwa generell mit dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus verglichen. Überdies sei eine Wiederholungsgefahr nicht feststellbar.

34

bb) Dies lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Zwar wiegt auch die Gleichsetzung einer einzelnen Äußerung eines Repräsentanten des Beklagten mit Vorgehensweisen während des Nationalsozialismus schwer. Das Ausmaß der Pflichtwidrigkeit ist aber geringer, als wenn der gesamte Betrieb des Beklagten mit solchen Verfahrensweisen verglichen worden wäre. Dass das Landesarbeitsgericht unter diesen Umständen das Interesse des Klägers an einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses höher gewichtet hat als das Beendigungsinteresse des Beklagten, hält sich im Rahmen seines Beurteilungsspielraums.

35

cc) Ob das Lebensalter des Klägers sowie weitere Umstände zu seinen Gunsten bei der Interessenabwägung hätten berücksichtigt werden dürfen, bedarf keiner Entscheidung. Das Landesarbeitsgericht hat hierauf nicht ausschlaggebend abgestellt.

36

II. Eine Umdeutung der unwirksamen außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche Kündigung nach § 140 BGB ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, zumindest aus formalen Gründen nicht möglich. Es fehlt an der auch für eine ordentliche Kündigung erforderlichen vorherigen Zustimmung des Integrationsamts nach § 85 SGB IX. Dieses hat lediglich der außerordentlichen Kündigung zugestimmt. Darin ist weder eine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung konkludent enthalten, noch kann seine Entscheidung nach § 43 Abs. 1 SGB X in eine Zustimmung zur ordentlichen Kündigung umgedeutet werden(vgl. zu §§ 18, 19 und 21 SchwbG: BAG 16. Oktober 1991 - 2 AZR 197/91 - zu III 3 der Gründe, RzK I 6b 12).

37

III. Als unterlegene Partei hat der Beklagte gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

        

    Kreft    

        

    Berger    

        

    Rachor    

        

        

        

    Jan Eulen    

        

    Sieg    

                 

(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung von Urkundenfälschung oder Betrug verbunden hat,
2.
einen Vermögensverlust großen Ausmaßes herbeiführt oder in der Absicht handelt, durch die fortgesetzte Begehung von Betrug eine große Zahl von Menschen in die Gefahr des Verlustes von Vermögenswerten zu bringen,
3.
eine andere Person in wirtschaftliche Not bringt,
4.
seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger oder Europäischer Amtsträger mißbraucht oder
5.
einen Versicherungsfall vortäuscht, nachdem er oder ein anderer zu diesem Zweck eine Sache von bedeutendem Wert in Brand gesetzt oder durch eine Brandlegung ganz oder teilweise zerstört oder ein Schiff zum Sinken oder Stranden gebracht hat.

(4) § 243 Abs. 2 sowie die §§ 247 und 248a gelten entsprechend.

(5) Mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren wird bestraft, wer den Betrug als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach den §§ 263 bis 264 oder 267 bis 269 verbunden hat, gewerbsmäßig begeht.

(6) Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1).

(7) (weggefallen)

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 19. März 2012 - 2 Sa 1105/11 - aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

2

Der 1958 geborene Kläger war seit September 1981 bei der beklagten Rundfunkanstalt beschäftigt, zuletzt als Techniker im IT-Service. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Manteltarifvertrag war das Arbeitsverhältnis - es sei denn wegen Leistungsminderung - nur noch außerordentlich kündbar.

3

Im Juli und November 2010 wurden Räume der Beklagten durchsucht. Nach dem Vorbringen der Beklagten hatte es eine anonyme Anzeige gegeben, derzufolge mehrere ihrer Mitarbeiter, ua. der Kläger, bei Ausschreibungen über Telekommunikations- und Datennetzleistungen in Absprache mit einer beauftragten Firma die Leistungsverzeichnisse manipuliert hatten. Am 7. Dezember 2010 lag der Beklagten ein Bericht ihrer Innenrevision über die Leistungsabrufe der betreffenden Firma vor. Danach hat der Kläger von dieser ua. einen Barbetrag in Höhe von 200,00 Euro erhalten. Eine Schließanlage, die er von der Firma schon zuvor erhalten und bei sich eingebaut hatte, hatte der Kläger an die Beklagte zurückgegeben.

4

Mit Schreiben vom 8. Dezember 2010 lud die Beklagte den Kläger zu einer Anhörung für den 13. Dezember 2010 in ihre Geschäftsräume ein. Der Kläger war seit dem 26. Juli 2010 erkrankt. Er teilte mit E-Mail vom 12. Dezember 2010 mit, er könne den Termin wegen einer Rehabilitationsmaßnahme nicht wahrnehmen. Er bat darum, ihn schriftlich anzuhören und die Fragen seinem Prozessbevollmächtigten zu schicken. Die Beklagte sandte daraufhin am 14. Dezember 2010 sowohl an den Kläger als auch an dessen Prozessbevollmächtigten einen zehn Seiten langen Fragenkatalog, der sich auf 13 einzelne Fragenbereiche bezog. Sie setzte dem Kläger eine Frist zur Beantwortung bis zum 17. Dezember 2010, 12:00 Uhr.

5

Mit Schreiben vom 15. Dezember 2010 - welches nach Angaben der Beklagten am 20. Dezember 2010 bei ihr einging -, teilten die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit, dieser befinde sich noch bis zum 11. Januar 2011 in der Rehabilitationsmaßnahme. Es sei deshalb „kaum möglich“, innerhalb der gesetzten Frist zu den Fragen Stellung zu nehmen. Es sei eine zeitaufwendige Besprechung mit dem Kläger erforderlich. Diese könne wegen der noch laufenden Rehabilitationsmaßnahme erst im Laufe des Monats Januar 2011 erfolgen. Eine Stellungnahme sei nach Ablauf der Maßnahme zu erwarten. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2010, welches bei der Beklagten tags darauf einging, nahmen die Prozessbevollmächtigten auf ihr Schreiben vom 15. Dezember 2010 Bezug und rügten, die Zusendung des Fragenkataloges habe zu einem gesundheitlichen Rückschlag des Klägers geführt. Tatsächlich litt der Kläger an einer psychischen Erkrankung. Ob dies der Beklagten bekannt war, ist nicht festgestellt.

6

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2010 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Personalrat zu einer beabsichtigten Verdachts- und Tatkündigung an. Der Personalrat widersprach mit Schreiben vom 22. Dezember 2010 mit der Begründung, der Kläger sei nicht ausreichend angehört worden.

7

Mit Schreiben vom 27. Dezember 2010 kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis fristlos.

8

Dagegen hat der Kläger rechtzeitig die vorliegende Kündigungsschutzklage erhoben. Er hat gemeint, es fehle an einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB. Außerdem habe die Beklagte die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt. Von dem Kündigungsschreiben habe er erst am 30. Dezember 2010 Kenntnis erlangt. Für eine auf den Verdacht einer Pflichtverletzung gestützte Kündigung fehle es an seiner ordnungsgemäßen Anhörung.

9

Der Kläger hat beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 27. Dezember 2010 nicht aufgelöst worden ist.

10

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei wirksam. Der Kläger habe an Straftaten zu ihren Lasten mitgewirkt. Er habe bei der Erstellung der Ausschreibungsunterlagen für den Rahmenvertrag mit der beauftragten Firma bewusst fehlerhafte Mengenangaben zugrunde gelegt. Dies habe dazu geführt, dass diese die Ausschreibung gewonnen habe. Dadurch sei ihr - der Beklagten - ein wirtschaftlicher Nachteil entstanden. Die beauftragte Firma sei in demjenigen Leistungsbereich besonders teuer gewesen, in welchem der Kläger eine zu geringe Auftragsanzahl prognostiziert habe. Zudem habe der Kläger zu Gunsten der Firma Aufmaße mit einem unzutreffend hohen Leistungsumfang bestätigt. Insgesamt sei ihr durch sein Verhalten ein Schaden von wenigstens 19.000,00 Euro entstanden. Sie habe alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um den Sachverhalt aufzuklären. Der Kläger habe den Fragenkatalog beantworten können. Er sei äußerungsfähig gewesen. Das Kündigungsschreiben sei noch am 27. Dezember 2010 um 15:15 Uhr in seinen Briefkasten eingeworfen worden.

11

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren weiter, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision ist begründet. Mit der gegebenen Begründung durfte das Landesarbeitsgericht die Kündigung vom 27. Dezember 2010 nicht als unwirksam ansehen. Ob sie wirksam ist, steht noch nicht fest.

13

I. Die Kündigung wegen vom Kläger tatsächlich begangener Pflichtverletzungen ist auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht deshalb unwirksam, weil die Beklagte die zweiwöchige Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten hätte. Die Frist hat entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht spätestens am Tag nach dem 7. Dezember 2010 zu laufen begonnen.

14

1. Gemäß § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt nach Abs. 2 Satz 2 der Norm mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald er eine zuverlässige und möglichst vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen eine Kündigung sprechenden Umstände ( BAG 21. Februar 2013 - 2 AZR 433/12 - Rn. 27; 27. Januar 2011 -  2 AZR 825/09  - Rn. 15 , BAGE 137, 54). Der Kündigungsberechtigte, der bislang nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Betroffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen begänne( BAG 21. Februar 2013 - 2 AZR 433/12 - aaO; 25. November 2010 - 2 AZR 171/09  - Rn. 15). Dies gilt allerdings nur solange, wie er aus verständigen Gründen mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuverlässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts verschaffen sollen (BAG 31. März 1993 - 2 AZR 492/92 - zu II 1 der Gründe, BAGE 73, 42). Soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betragen (BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 15, aaO; 2. März 2006 -  2 AZR 46/05  - Rn. 24 , BAGE 117, 168 ). Bei Vorliegen besonderer Umstände darf sie auch überschritten werden (BAG 2. März 2006 -  2 AZR 46/05  - aaO). Unerheblich ist, ob die Ermittlungsmaßnahmen tatsächlich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen haben oder nicht ( BAG 21. Februar 2013 - 2 AZR 433/12 - aaO; 25. November 2010 - 2 AZR 171/09  - aaO). Gibt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Stellungnahme, so gereicht ihm dies hinsichtlich des Beginns der zweiwöchigen Ausschlussfrist deshalb auch dann nicht zum Nachteil, wenn der Arbeitnehmer innerhalb angemessener Überlegungszeit keine Erklärung abgibt oder seine Stellungnahme rückblickend zur Feststellung des Sachverhalts nichts beiträgt (BAG 27. Januar 1972 - 2 AZR 157/71 - zu 3 der Gründe, BAGE 24, 99). Das bedeutet zugleich, dass der mit der beabsichtigten Anhörung verbundene Fristaufschub iSv. § 626 Abs. 2 BGB nicht nachträglich entfällt, wenn der Arbeitgeber das ergebnislose Verstreichen der Frist zur Stellungnahme für den Arbeitnehmer zum Anlass nimmt, nunmehr auf dessen Anhörung zu verzichten. Ein solcher nachträglicher Wegfall des ursprünglichen Aufschubs käme nur in Frage, wenn der betreffende Entschluss des Arbeitgebers auf Willkür beruhte. Davon kann die Rede nicht sein, wenn Anlass für den neuen Entschluss der Umstand ist, dass sich der Arbeitnehmer innerhalb einer ihm gesetzten, angemessenen Frist nicht geäußert hat.

15

2. Danach hat die Beklagte die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht deshalb nicht gewahrt, weil diese spätestens mit dem auf den 7. Dezember 2010 folgenden Tag zu laufen begonnen hätte.

16

a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Beklagte sei spätestens am 7. Dezember 2010 in der Lage gewesen, sich ein Bild darüber zu machen, ob die im Revisionsbericht aufgeführten Sachverhalte Grundlage für die Überzeugung sein konnten, der Kläger habe die ihm vorgeworfenen Pflichtverletzungen begangen. Um darauf eine Kündigung zu stützen, habe es für sie keiner weiteren Sachverhaltsaufklärung, insbesondere keiner Anhörung des Klägers bedurft. Sie sei schließlich auch ohne neue Erkenntnisse zu dem Schluss gekommen, der ihr bereits am 7. Dezember 2010 möglich gewesen sei. Die Frist für den Ausspruch einer auf tatsächlich begangene Pflichtverletzungen gestützten Kündigung habe damit am 21. Dezember 2010 geendet. Bis zu diesem Zeitpunkt sei die Kündigung dem Kläger - unstreitig - nicht zugegangen.

17

b) Diese Würdigung hält einer Überprüfung nicht stand. Zwar lag der Beklagten am 7. Dezember 2010 der Bericht ihrer Innenrevision vor. Sie durfte es aber nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich halten, dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu den darin enthaltenen Anschuldigungen zu geben. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie dadurch von Umständen Kenntnis erlangen könnte, die den bisher ermittelten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen ließen. Darauf, ob die Anhörung tatsächlich neue Erkenntnisse erbrachte, kommt es nicht an.

18

3. Ob die Beklagte die Frist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt hat, steht noch nicht fest.

19

a) Allerdings hat die Beklagte, nachdem der Bericht der Innenrevision vorlag, den Kläger hinreichend zeitnah zu einer Anhörung eingeladen. Der vorgesehene Termin am 13. Dezember 2010 lag innerhalb einer Woche. Nachdem der Kläger mitgeteilt hatte, dass er den Termin wegen seiner Rehabilitationsmaßnahme nicht wahrnehmen könne, widersprach es auch nicht der gebotenen Eile, ihm zur Beantwortung des Fragenkatalogs eine Frist bis zum 17. Dezember 2010 zu setzen. Der Kläger selbst hatte um schriftliche Anhörung gebeten. Dies ist ein Umstand, der für die Anhörung das Überschreiten der Regelfrist von einer Woche rechtfertigt. Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB begann demnach erst mit Ablauf der dem Kläger gesetzten Frist zur Stellungnahme, dh. am 18. Dezember 2010 zu laufen. Die Beklagte hätte die Kündigungserklärungsfrist selbst dann eingehalten, wenn die Kündigung dem Kläger erst am 30. Dezember 2010 zugegangen sein sollte.

20

b) Das Landesarbeitsgericht hat bisher aber keine Feststellungen dazu getroffen, ob eine für die Beklagte kündigungsberechtigte Person schon vor dem 17. Dezember 2010 von Umständen Kenntnis erlangt hatte, die darauf schließen ließen, der Kläger werde sich bis zum Ablauf der ihm gesetzten Frist ohnehin nicht mehr äußern. In diesem Fall käme ein entsprechend früherer Fristbeginn in Betracht. Dann wiederum könnte es für die Wahrung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB darauf ankommen, wann genau die Kündigung dem Kläger im Rechtssinne zugegangen ist. Ebenso wenig hat das Landesarbeitsgericht bisher aufgeklärt, ob die Beklagte bis zur Vorlage des Berichts der Innenrevision am 7. Dezember 2010 die Aufklärungsmaßnahmen mit der gebotenen Eile vorgenommen hat.

21

c) Demgegenüber wurde der Fristbeginn nicht schon deshalb hinausgeschoben, weil der Kläger eine Stellungnahme erst nach dem Ende seiner Rehabilitationsmaßnahme in Aussicht gestellt hatte. Die Beklagte hatte die ihm bis zum 17. Dezember 2010 gesetzte Frist nicht verlängert. Darauf, ob andernfalls ein entsprechendes Zuwarten noch mit dem Gebot hinreichend zügiger Aufklärung vereinbar wäre, kommt es nicht an.

22

II. Sollte das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis kommen, die Beklagte habe die Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten, wird es zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorliegt. Sofern es dies nicht wegen erwiesener Pflichtverletzung(en) des Klägers bejahen sollte, wird es prüfen müssen, ob ein solcher Grund zumindest wegen des Verdachts einer erheblichen Pflichtverletzung gegeben ist. Unter diesem Aspekt wäre die Kündigung auf der Basis der bisherigen Feststellungen nicht deshalb unwirksam, weil es an der erforderlichen Anhörung des Klägers fehlte.

23

1. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung. Bei ihr besteht in besonderem Maße die Gefahr, dass der Arbeitnehmer zu Unrecht beschuldigt wird. Dessen Anhörung ist deshalb ein Gebot der Verhältnismäßigkeit. Unterbliebe sie, wäre die Kündigung nicht „ultima ratio“ (BAG 23. Mai 2013 - 2 AZR 102/12 - Rn. 31; 24. Mai 2012 - 2 AZR 206/11 - Rn. 32). Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung Gelegenheit geben, zu den Verdachtsmomenten Stellung zu nehmen, um dessen Einlassungen bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen zu können (BAG 30. April 1987 - 2 AZR 283/86 - zu B I 2 c der Gründe). Versäumt er dies, kann er sich im Prozess nicht auf den Verdacht eines pflichtwidrigen Verhaltens des Arbeitnehmers berufen; die hierauf gestützte Kündigung ist unwirksam (BAG 30. April 1987 - 2 AZR 283/86 - zu B I 2 d der Gründe; 11. April 1985 - 2 AZR 239/84 - zu C III 3 der Gründe, BAGE 49, 39).

24

a) Der Umfang der Anhörung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Einerseits muss sie nicht in jeder Hinsicht den Anforderungen genügen, die an eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG gestellt werden(BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 206/11 - Rn. 33; 13. März 2008 - 2 AZR 961/06  - Rn. 15 ). Andererseits reicht es nicht aus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer lediglich mit einer allgemein gehaltenen Wertung konfrontiert. Die Anhörung muss sich auf einen greifbaren Sachverhalt beziehen. Der Arbeitnehmer muss die Möglichkeit haben, bestimmte, zeitlich und räumlich eingegrenzte Tatsachen ggf. zu bestreiten oder den Verdacht entkräftende Tatsachen aufzuzeigen und so zur Aufhellung der für den Arbeitgeber im Dunkeln liegenden Geschehnisse beizutragen. Um dieser Aufklärung willen wird dem Arbeitgeber die Anhörung abverlangt ( BAG 24. Mai 2012 - 2 AZR 206/11 - aaO; 13. März 2008 - 2 AZR 961/06  - aaO).

25

b) Unterblieb die Anhörung, weil der Arbeitnehmer von vornherein nicht bereit war, sich auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einzulassen und nach seinen Kräften an der Aufklärung mitzuwirken, steht dies der Wirksamkeit der Verdachtskündigung nicht entgegen. Erklärt der Arbeitnehmer, er werde sich zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf nicht äußern, und nennt er für seine Weigerung keine relevanten Gründe, muss der Arbeitgeber ihn über die Verdachtsmomente nicht näher informieren ( BAG 13. März 2008 - 2 AZR 961/06 - Rn. 16; 28. November 2007 - 5 AZR 952/06  - Rn. 20). Eine solche Anhörung wäre überflüssig. Sie könnte zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Willensbildung des Arbeitgebers nichts beitragen ( BAG 13. März 2008 - 2 AZR 961/06 - aaO; 30. April 1987 - 2 AZR 283/86 - zu B I 2 d aa der Gründe).

26

c) Ein Unterlassen der Anhörung kann auch dann unschädlich sein, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer - im Rahmen des Zumutbaren - Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, und dieser sich innerhalb der gesetzten - angemessenen - Frist gleichwohl nicht geäußert hat. Dies gilt einmal, wenn der Arbeitnehmer vorsätzlich schweigt, kann aber selbst bei unfreiwilligem Schweigen gelten. Ist etwa der Arbeitnehmer krankheitsbedingt nicht nur an einem persönlichen Gespräch, sondern längerfristig auch an einer schriftlichen Stellungnahme auf ihm übermittelte Fragen verhindert, muss der Arbeitgeber nicht notwendig die Zeit abwarten, zu der sich der Arbeitnehmer wieder äußern kann. Zwar mag die Frist des § 626 Abs. 2 BGB noch nicht zu laufen beginnen, solange der Arbeitgeber entsprechend zuwartet(vgl. dazu LAG Köln 25. Januar 2001 - 6 Sa 1310/00 -; Hessisches LAG 8. Oktober 1979 - 11 Sa 544/79 -). Wartet der Arbeitgeber diesen Zeitpunkt aber nicht ab, führt das nicht automatisch dazu, dass ihm eine Verletzung seiner Aufklärungspflicht vorzuwerfen wäre.

27

aa) Wartet der Arbeitgeber, dem der Arbeitnehmer mitteilt, er könne sich wegen einer Erkrankung nicht, auch nicht schriftlich äußern, dessen Gesundung ab, um ihm eine Stellungnahme zu den Vorwürfen zu ermöglichen, liegen in der Regel hinreichende besondere Umstände vor, aufgrund derer der Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB entsprechend lange hinausgeschoben wird. Dem Arbeitgeber, der die Möglichkeit einer weiteren Aufklärung durch den Arbeitnehmer trotz der Zeitverzögerung nicht ungenutzt lassen möchte, wird regelmäßig nicht der Vorwurf gemacht werden können, er betreibe keine hinreichend eilige Aufklärung, insbesondere dann nicht, wenn der Arbeitnehmer selbst um eine Fristverlängerung gebeten hat (ebenso Eylert/Friedrichs DB 2007, 2203, 2206; Mennemeyer/Dreymüller NZA 2005, 382). Dies dient nicht zuletzt dem Interesse des Arbeitnehmers an der Vermeidung einer vorschnell, ohne Rücksicht auf mögliche Entlastungen erklärten Kündigung (vgl. dazu BAG 26. September 2013 - 2 AZR 741/12 - Rn. 23, 34).

28

bb) Umgekehrt verletzt der Arbeitgeber in einem solchen Fall nicht notwendig seine Aufklärungspflicht aus § 626 Abs. 1 BGB, wenn er von einem weiteren Zuwarten absieht. Ihm kann - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - eine weitere Verzögerung unzumutbar sein. Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitgeber davon ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde sich in absehbarer Zeit nicht äußern (können). Hat etwa der Arbeitnehmer mehrmals um eine Verlängerung der gesetzten Frist zur Stellungnahme gebeten und hat sich seine Prognose, wann er sich werde äußern können, wiederholt als unzutreffend erwiesen, wird dem Arbeitgeber ein weiteres Zuwarten nicht zuzumuten sein. Mehrfache ergebnislose Fristverlängerungen können überdies die Annahme rechtfertigen, der Arbeitnehmer wolle sich in Wirklichkeit ohnehin nicht äußern. Einige weitere Tage warten zu müssen, wird der Arbeitgeber dabei in der Regel eher hinzunehmen haben als eine Wartezeit von mehreren Wochen. Es kann wiederum auch das Ende eines längeren Zeitraums abzuwarten sein, wenn schon die bisherigen Aufklärungsmaßnahmen längere Zeit in Anspruch genommen haben und keine Ansprüche des Arbeitnehmers aus Annahmeverzug drohen.

29

2. Danach ist das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, es habe an der erforderlichen Anhörung des Klägers gefehlt.

30

a) Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, die Beklagte habe nicht annehmen dürfen, der Kläger wolle sich einer Anhörung entziehen. Der Kläger habe seine Mitwirkung bei der Anhörung angekündigt, seine Prozessbevollmächtigten hätten sie für Mitte Januar 2011 in Aussicht gestellt. Der Kläger sei psychisch erkrankt gewesen und habe sich in einer Reha-Maßnahme befunden. „Hierüber“ habe er die Beklagte unverzüglich in Kenntnis gesetzt.

31

b) Das Landesarbeitsgericht hat nicht alle relevanten Umstände in seine Prüfung mit einbezogen. Die bislang festgestellten Tatsachen tragen seine Begründung nicht.

32

aa) Das Landesarbeitsgericht hat nicht gewürdigt, dass der Kläger zunächst ohne einen Hinweis auf zeitliche Einschränkungen durch die Reha-Maßnahme um eine schriftliche Anhörung gebeten hatte. Erst anschließend stellten seine Prozessbevollmächtigten eine Äußerung für eine geraume Zeit später und zu einem recht vagen Zeitpunkt in Aussicht. Sie kündigten diese nicht für „Mitte Januar 2011“ an - wovon das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist - sondern kündigten an, sie würde „im Laufe des Januar 2011“ erfolgen. Die Prozessbevollmächtigten erläuterten überdies nicht, warum nicht schon während der noch laufenden Reha-Maßnahme eine Besprechung mit dem Kläger möglich wäre. Ob sich der Kläger dazu gesundheitlich nicht in der Lage sah, ob er möglicherweise überhaupt nicht äußerungsfähig war oder ob es nur Terminprobleme bzw. sonstige organisatorische Schwierigkeiten gab, die dem entgegenstünden, wird aus ihren Schreiben nicht ersichtlich.

33

bb) Dafür, dass die Beklagte aus der Art der Erkrankung des Klägers Rückschlüsse auf das Fehlen seiner Fähigkeit hätte ziehen können, sich - und sei es schriftlich - zu äußern, gibt es nach den bisherigen Feststellungen keine hinreichenden Anhaltspunkte. Es ist unklar, ob das Landesarbeitsgericht angenommen hat, der Kläger habe die Beklagte nicht nur über seinen Aufenthalt in einer Reha-Klinik, sondern auch über die Art seiner Erkrankung informiert. In der E-Mail vom 12. Dezember 2010 hatte der Kläger lediglich mitgeteilt, er befinde sich bis zum 11. Januar 2011 in der Klinik, sei gesundheitlich nicht in der Lage, an der Anhörung in den Räumen der Beklagten teilzunehmen, und bitte um eine schriftliche Anhörung. In den Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten werden zur Art seiner Erkrankung keine Angaben gemacht.

34

c) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, dem Kläger sei es wegen seiner Erkrankung und der Durchführung der Reha-Maßnahme nicht möglich gewesen, den Fragenkatalog innerhalb der gesetzten Frist angemessen zu beantworten, beruht ebenfalls nicht auf hinreichenden Tatsachenfeststellungen. Sie rechtfertigt deshalb nicht die Würdigung, die Beklagte habe, weil sie dem Kläger keine längere Frist zur Stellungnahme gewährt habe, ihre Aufklärungspflicht verletzt.

35

aa) Das Landesarbeitsgericht stellt darauf ab, der Kläger sei von den betrieblichen Informationsquellen abgeschnitten gewesen, die ihm möglicherweise Entlastungsmaterial hätten liefern können. Es ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger darauf - insbesondere gegenüber der Beklagten - überhaupt berufen hätte. Abgesehen davon hätte er in seiner Antwort auf diesen Umstand hinweisen können.

36

bb) Soweit das Landesarbeitsgericht annimmt, die zeitliche Beanspruchung des Klägers durch Therapieeinheiten habe die ihm zur Verfügung stehende Zeit zur Stellungnahme erheblich eingeschränkt, fehlt es an Feststellungen zum konkreten zeitlichen Umfang dieser Einheiten. Ebenso wenig ist festgestellt, dass die Beklagte von dieser Beanspruchung Kenntnis gehabt hätte und sie bei ihrer Entscheidung, dem Kläger keine Nachfrist zu gewähren, hätte in Rechnung stellen müssen.

37

d) Unerheblich ist, ob die Beklagte das Gebot der zügigen Aufklärung aus § 626 Abs. 2 BGB verletzt hätte, wenn sie dem Kläger eine Nachfrist jedenfalls bis Mitte Januar 2011 gesetzt hätte. Selbst wenn dies zu verneinen wäre, folgt allein daraus - entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts - nicht, dass sie ihre Aufklärungspflicht nach § 626 Abs. 1 BGB verletzt hat, weil sie dem Kläger eine solche Frist nicht gewährte.

38

3. Das Landesarbeitsgericht wird - falls es darauf ankommt - die Frage, ob der Kläger vor Ausspruch der Verdachtskündigung im Rahmen des der Beklagten Zumutbaren Gelegenheit zur Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen hatte, unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen und aller relevanten Umstände des Streitfalls erneut zu prüfen haben.

        

    Kreft    

        

    Berger     

        

    Rachor    

        

        

        

    Perreng     

        

    Wolf    

                 

(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist.

(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Die Kündigung ist auch sozial ungerechtfertigt, wenn

1.
in Betrieben des privaten Rechts
a)
die Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes verstößt,
b)
der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann
und der Betriebsrat oder eine andere nach dem Betriebsverfassungsgesetz insoweit zuständige Vertretung der Arbeitnehmer aus einem dieser Gründe der Kündigung innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes schriftlich widersprochen hat,
2.
in Betrieben und Verwaltungen des öffentlichen Rechts
a)
die Kündigung gegen eine Richtlinie über die personelle Auswahl bei Kündigungen verstößt,
b)
der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in derselben Dienststelle oder in einer anderen Dienststelle desselben Verwaltungszweigs an demselben Dienstort einschließlich seines Einzugsgebiets weiterbeschäftigt werden kann
und die zuständige Personalvertretung aus einem dieser Gründe fristgerecht gegen die Kündigung Einwendungen erhoben hat, es sei denn, daß die Stufenvertretung in der Verhandlung mit der übergeordneten Dienststelle die Einwendungen nicht aufrechterhalten hat.
Satz 2 gilt entsprechend, wenn die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen oder eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers unter geänderten Arbeitsbedingungen möglich ist und der Arbeitnehmer sein Einverständnis hiermit erklärt hat. Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen.

(3) Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des Absatzes 2 gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. In die soziale Auswahl nach Satz 1 sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen.

(4) Ist in einem Tarifvertrag, in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes oder in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte nach Absatz 3 Satz 1 im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die Bewertung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.

(5) Sind bei einer Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 des Betriebsverfassungsgesetzes die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, in einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat namentlich bezeichnet, so wird vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne des Absatzes 2 bedingt ist. Die soziale Auswahl der Arbeitnehmer kann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht, soweit sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat. Der Interessenausgleich nach Satz 1 ersetzt die Stellungnahme des Betriebsrates nach § 17 Abs. 3 Satz 2.

Tenor

Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 11. November 2010 - 3 Sa 40/10 - aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung.

2

Die 1969 geborene Klägerin ist seit dem 1. Juli 1991 beim beklagten Land als Lehrerin angestellt und war zuletzt in der Grundschule K in D tätig. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt der Runderlass des Kultusministeriums vom 26. Mai 1994 „Erziehungsmittel in der Schule“. Darin sind im Einzelnen die zulässigen Erziehungsmittel aufgeführt und wird die körperliche Züchtigung von Schülern für unzulässig erklärt.

3

Im Februar 2009 beschwerten sich Eltern von Schülern der ersten Klasse der Grundschule über die Klägerin. Sie teilten mit, die Klägerin habe den Schülern P und E den Mund mit einem durchsichtigen Tesafilm zugeklebt, nachdem diese den Unterricht gestört haben sollen. Ein ähnlicher Vorfall solle sich schon zwei Jahre vorher mit der Schülerin H ereignet haben.

4

Das beklagte Land hörte die Klägerin am 10. und 11. Februar 2009 zu den Vorwürfen an. In den Gesprächen räumte sie ein, dass ein Aufbringen von Tesafilm kein geeignetes Erziehungsmittel gegenüber den Schülern sei. Das beklagte Land stellte die Klägerin daraufhin mit sofortiger Wirkung von ihrer Tätigkeit als Lehrerin frei.

5

Am 13. Februar 2009 befragte die Schulpsychologin in Anwesenheit der schulfachlichen Referentin die Schüler E, P und H. Diese bestätigten die Vorfälle im Wesentlichen und erklärten, die Klägerin habe ihnen den Mund mit Tesafilm verklebt.

6

Mit Schreiben vom 23. Februar 2009 kündigte das beklagte Land das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristlos. Durch rechtskräftiges Urteil vom 7. August 2009 stellte das Arbeitsgericht D die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung fest.

7

Nachdem die zuständigen Personalräte ihre Zustimmung zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin verweigert und die daraufhin angerufene Einigungsstelle beim Kultusministerium des beklagten Landes eine ordentliche Kündigung empfohlen hatte, kündigte das beklagte Land mit Schreiben vom 3. Juni 2009 das Arbeitsverhältnis der Parteien ordentlich zum 31. Dezember 2009.

8

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen diese Kündigung gewandt und geltend gemacht, in ihrem Unterricht habe es keine körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen oder entwürdigenden Maßnahmen gegeben. Anlass für ihr Verhalten im Unterricht der ersten Klasse im Jahr 2009 sei gewesen, dass sie ein eingerissenes Blatt ihrer Arbeitsunterlagen wieder habe zusammenkleben wollen. Zu diesem Zweck habe sie ein Stück Tesafilm abgeschnitten. Der neben dem Lehrertisch sitzende Schüler E sei unruhig gewesen. Sie habe deshalb zu ihm gesagt, der Streifen gehöre ja wohl eher auf seinen Mund als auf das Papier. E habe lachend mit „Ja“ geantwortet. Daraufhin habe sie ihm den Streifen Tesafilm in Höhe des Mundes lose auf die Wange geklebt. Der Schüler P habe dies gesehen und für sich ebenfalls einen Streifen gewollt. Sie habe deshalb auch ihm lose ein Stück Tesafilm auf die Wange geklebt. Die Streifen hätten nicht fest geklebt. Sie seien sogar abgefallen und beide Jungen hätten sie jeweils wieder aufgedrückt. Die Sache sei von allen Kindern als „Spaß“ empfunden worden, beide Schüler hätten mitgelacht und sich vom weiteren Erzählen und Mitarbeiten während des Unterrichts nicht abhalten lassen. Die Äußerungen der Kinder vor der Schulpsychologin entsprächen nicht der Wahrheit. Eine solche spontane, aus einer scherzhaften Situation heraus entstandene Handlung stelle keine Verfehlung dar. Sie räume ein, zunächst nicht ausreichend sensibel gewesen zu sein und bedauere, dass der Fall öffentlichkeitswirksam geworden sei. Die Klägerin hat bestritten, schon einmal ähnlich gehandelt zu haben. Der Schülerin H habe sie keinen Tesafilm ins Gesicht geklebt.

9

Die Klägerin hat beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des beklagten Landes vom 3. Juni 2009 nicht zum 31. Dezember 2009 beendet worden ist.

10

Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat vorgetragen, die Klägerin habe mehrfach Tesafilmstreifen auf die Münder von Grundschülern geklebt. Sie habe damit ihre pädagogische Pflicht zum respektvollen und gewaltfreien Umgang mit Kindern verletzt. Sie habe eine schulrechtlich unzulässige, inakzeptable und herabwürdigende Erziehungsmethode zum Zweck der Disziplinierung angewandt. Lehrkräfte hätten gerade gegenüber Grundschülern eine besondere Obhutspflicht. Stattdessen habe sie den Kindern Schaden zugefügt. Es sei nicht entscheidend, welche Stärke der Tesafilmstreifen tatsächlich gehabt und wie fest er auf den Mündern geklebt habe. Einer Abmahnung habe es angesichts der Schwere des Vorfalls nicht bedurft. Überdies hätten zahlreiche Eltern nach Bekanntwerden der Vorwürfe unmissverständlich zu verstehen gegeben, ihre Kinder nicht mehr in die betreffende Schule schicken zu wollen, solange die Klägerin dort weiter unterrichte. Die in der Sache berechtigten Elternbeschwerden ließen den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nicht zu.

11

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt das beklagte Land weiterhin die Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision des beklagten Landes ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte mit der von ihm gegebenen Begründung der Kündigungsschutzklage nicht stattgeben. Auf der Basis der bisherigen Feststellungen hält diese Begründung einer Überprüfung an § 1 Abs. 2 KSchG nicht stand. Sie beruht auf widersprüchlichen Annahmen und Feststellungen und berücksichtigt nicht alle wesentlichen Umstände. Da noch nicht abschließend beurteilt werden kann, ob die Kündigung rechtsunwirksam ist, war der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).

13

I. Aufgrund der bisherigen Feststellungen durfte das Landesarbeitsgericht einen Kündigungsgrund im Verhalten der Klägerin iSv. § 1 Abs. 2 KSchG nicht verneinen.

14

1. Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat und eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht. Dann kann dem Risiko künftiger Störungen nur durch die (fristgemäße) Beendigung des Arbeitsverhältnisses begegnet werden. Das wiederum ist nicht der Fall, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken (BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 284/10 - Rn. 34, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 64 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 37; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 293/09 - Rn. 12, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 62 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 78). Im Vergleich mit einer fristgemäßen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere Versetzung und Abmahnung in Betracht.

15

Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 36, BAGE 134, 349; Schlachter NZA 2005, 433, 436). Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist(vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 284/10 - Rn. 35, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 64 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 37; 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 37 mwN, aaO).

16

2. Danach steht noch nicht fest, ob die Kündigung vom 3. Juni 2009 sozial gerechtfertigt ist. Eine erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten läge jedenfalls dann vor, wenn die Klägerin - wie das beklagte Land behauptet - den Schülern tatsächlich zu Disziplinierungszwecken mit einem Tesafilmstreifen den Mund verklebt hätte. Das dies nicht der Fall war, hat das Gericht bislang nicht festgestellt.

17

a) Nach dem Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt gehört es zum Erziehungsauftrag einer Grundschullehrerin, die Schüler zur Achtung der Würde des Menschen, zur Selbstbestimmung, zur Anerkennung und Bindung an ethische Werte, zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit und zu friedlicher Gesinnung zu erziehen (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 SchulG LSA). Weiter sieht § 44 SchulG LSA ausdrücklich vor, dass „Ordnungsmaßnahmen getroffen werden (können), wenn dies zur Sicherung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit oder zum Schutz von Personen oder Sachen erforderlich ist. Die Würde der Schülerin oder des Schülers darf durch Ordnungsmaßnahmen nicht verletzt werden“. Dementsprechend hat eine Lehrerin ihr Verhalten in der Schule so einzurichten, dass die Verwirklichung des ihr nach dem Arbeitsverhältnis zukommenden Erziehungsauftrags nicht gefährdet wird (BAG 27. November 2008 - 2 AZR 98/07 - Rn. 24, AP KSchG 1969 § 1 Nr. 90 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 4). Sie darf deshalb gegen ausdrückliche, berechtigte Vorgaben und konkrete Weisungen des Arbeitgebers nicht verstoßen. Nach Ziff. 4 des Runderlasses vom 26. Mai 1994 ist eine „körperliche Züchtigung von Schülern unzulässig“. Nach seiner Ziff. 1 sind „kränkende, ehrverletzende Äußerungen, Drohungen und Einschüchterungsversuche“ untersagt. Danach ist das Zukleben eines Schülermundes mit Tesafilm zweifellos kein zulässiges Erziehungsmittel.

18

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Handhabung den Tatbestand der körperlichen Bestrafung oder seelischen Verletzung erfüllt. Regelmäßig wird darin jedenfalls eine entwürdigende Maßnahme liegen, weil Kinder hierdurch zum Gespött anderer Personen, insbesondere von Freunden oder Klassenkameraden werden und deren Verachtung ausgesetzt sind, so dass Selbstachtung und Ehrgefühl des betroffenen Kindes erheblich beeinträchtigt werden (vgl. § 1631 Abs. 2 BGB, der einem Kind auch im Verhältnis zu seinen Eltern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung einräumt; dazu Palandt/Diederichsen BGB 71. Aufl. § 1631 Rn. 7; MüKoBGB/Huber § 1631 Rn. 28; NK-BGB/Rakete-Dombek § 1631 Rn. 14). Es kommt nicht darauf an, ob die entwürdigende Maßnahme vom betroffenen Kind tatsächlich als Verletzung aufgefasst und gefühlt oder ob sie als „spaßig“ empfunden wird. Entscheidend ist ihre objektive Eignung als entwürdigend (Huber/Scherer FamRZ 2001, 797, 799).

19

b) Ein den erhobenen Vorwürfen entsprechendes Verhalten einer Grundschullehrerin wäre geeignet, eine Kündigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG zu bedingen. Hätte die Klägerin den Schülern E und P zum Zwecke der Disziplinierung die Münder mit einem Streifen Tesafilm verklebt, hätte sie damit massiv gegen ihre Pflichten als Erzieherin verstoßen. Einer Abmahnung hätte es dann vor Ausspruch einer Kündigung nicht bedurft. Selbst wenn durch eine Abmahnung die Gefahr einer künftigen Wiederholung hätte ausgeschlossen werden können, wäre der Pflichtenverstoß als so schwerwiegend einzustufen, dass dem beklagten Land schon die erstmalige Hinnahme nicht zuzumuten wäre. Auch angesichts der langen Dienstzugehörigkeit der Klägerin zerstörte ein solcher Missgriff in ihren Erziehungsmethoden das Vertrauen des beklagten Landes in ihre von dem nötigen Respekt vor der Verletzlichkeit und Würde der ihr anvertrauten jungen Personen getragene Grundhaltung in irreparabler Weise. Aus diesem Grund wäre auch eine Versetzung kein vorrangiges Reaktionsmittel.

20

c) Die Klägerin hat bestritten, dass sie den Schülern Tesafilm über den Mund geklebt und dies gar zu Disziplinierungszwecken getan hat. Sie hat behauptet, sie habe dem einen Jungen wegen seiner Unruhe scherzhaft einen Streifen Tesafilm in Höhe des Mundes auf die Wange geklebt und dies bei dem anderen Jungen auf dessen Wunsch hin wiederholt. Beide hätten sich die Streifen, nachdem sie abgefallen seien, von sich aus sogar wieder aufgeklebt. Alle Kinder hätten die Angelegenheit als Spaß aufgefasst. Einen früheren Vorfall dieser Art habe es nicht gegeben.

21

Auf der Grundlage dieses Vortrags liegt ein Verhalten der Klägerin, das eine Kündigung bedingen könnte, nicht vor. Mag sie sich wegen der äußerlichen Nähe zu Disziplinierungsmaßnahmen und möglicher Missverständlichkeiten pädagogisch unkorrekt verhalten haben, so liegt doch ein Übergriff in den Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts der Kinder, der eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellen würde, nicht vor.

22

d) Es ist nicht mit einer für die Beurteilung nach § 559 Abs. 1, Abs. 2 ZPO ausreichenden Deutlichkeit erkennbar, welchen tatsächlichen Geschehensablauf das Landesarbeitsgericht seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat.

23

aa) Unter II. 2.1 der Entscheidungsgründe heißt es, „die Handlung der Klägerin, den Schülern E und P der damaligen ersten Klasse ... zum Zwecke der Disziplinierung einen Tesafilmstreifen, nach Angabe der Klägerin von etwa 2 cm Breite und 5 cm Länge, über den Mund zu kleben“, stelle einen Verstoß gegen ihre Pflichten dar, „ein derartiges ‚Überkleben’ des Mundes eines Schülers“ sei kein zulässiges Erziehungsmittel. Anschließend führt das Landesarbeitsgericht an gleicher Stelle aus, „eine negative Prognose (liege) nicht vor, weil die Klägerin die von ihr gegenüber den Schülern E und P begangene Handlung nie bestritten“ habe. Sie habe schon im Verlauf der ersten Anhörung eingesehen, dass die Maßnahme pädagogisch nicht zulässig gewesen sei.

24

Die Klägerin hat indessen die Behauptungen des beklagten Landes durchaus substantiiert bestritten. Sie hat gerade kein Überkleben der Münder zu Disziplinierungszwecken eingeräumt. Es bleibt deshalb offen, von welchem Sachverhalt das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist: Lag ein Zukleben der Münder zu Disziplinierungszwecken vor? Lag zwar ein Überkleben der Münder vor, aber ohne Disziplinierungsabsicht und „zum Spaß“? Oder wurden die Tesafilmstreifen zum Spaß ohnehin nur auf die Wange geklebt?

25

Für die kündigungsrechtliche Bewertung kann dies nicht dahingestellt bleiben.

26

3. Da die Begründung des Berufungsurteils, sollte die erste der aufgezählten Sachverhaltsvarianten zutreffen, eine Rechtsverletzung ergäbe und sich mangels Feststellungen zu möglichen Fehlern bei der Personalratsanhörung auch nicht beurteilen lässt, ob die Entscheidung selbst aus anderen Gründen sich als richtig darstellt, war das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben (§§ 561, 562 Abs. 1 ZPO). Da ein Fall des § 563 Abs. 3 ZPO nicht gegeben ist, war die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

27

II. Vor einer neuen Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht den Parteien erneut Gelegenheit zu substantiiertem und im Hinblick auf eine der drei Sachverhaltsalternativen hinreichend konkretem Tatsachenvortrag und zum Beweisantritt geben müssen. Je nach Einlassung der Klägerin auf den zu erwartenden Vortrag des beklagten Landes wird es ggf. Beweis erheben müssen.

28

Falls es ihm für seine abschließende Beurteilung darauf ankommen sollte, ob der gegen die Klägerin hinsichtlich eines zeitlich vorausliegenden ähnlichen Vorfalls mit der Schülerin H erhobene Vorwurf zutrifft, wird das Landesarbeitsgericht auch dessen Berechtigung ggf. durch Beweisaufnahme aufzuklären haben. Das entsprechende Vorbringen des beklagten Landes ist ausreichend substantiiert. Es wurde von der Klägerin ebenso substantiiert bestritten.

29

Im Rahmen einer Beweisaufnahme kann auch ein Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der außergerichtlich abgegebenen Erklärungen der Schüler erforderlich werden.

        

    Kreft     

        

    Rachor     

        

    Eylert     

        

        

        

    Grimberg     

        

    Frey     

                 

(1) Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

(2) Besteht der wichtige Grund in der Verletzung einer Pflicht aus dem Vertrag, ist die Kündigung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig. Für die Entbehrlichkeit der Bestimmung einer Frist zur Abhilfe und für die Entbehrlichkeit einer Abmahnung findet § 323 Absatz 2 Nummer 1 und 2 entsprechende Anwendung. Die Bestimmung einer Frist zur Abhilfe und eine Abmahnung sind auch entbehrlich, wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Kündigung rechtfertigen.

(3) Der Berechtigte kann nur innerhalb einer angemessenen Frist kündigen, nachdem er vom Kündigungsgrund Kenntnis erlangt hat.

(4) Die Berechtigung, Schadensersatz zu verlangen, wird durch die Kündigung nicht ausgeschlossen.

*

(1) Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß, so kann der Gläubiger, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat, vom Vertrag zurücktreten.

(2) Die Fristsetzung ist entbehrlich, wenn

1.
der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert,
2.
der Schuldner die Leistung bis zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer im Vertrag bestimmten Frist nicht bewirkt, obwohl die termin- oder fristgerechte Leistung nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder auf Grund anderer den Vertragsabschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist, oder
3.
im Falle einer nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen.

(3) Kommt nach der Art der Pflichtverletzung eine Fristsetzung nicht in Betracht, so tritt an deren Stelle eine Abmahnung.

(4) Der Gläubiger kann bereits vor dem Eintritt der Fälligkeit der Leistung zurücktreten, wenn offensichtlich ist, dass die Voraussetzungen des Rücktritts eintreten werden.

(5) Hat der Schuldner eine Teilleistung bewirkt, so kann der Gläubiger vom ganzen Vertrag nur zurücktreten, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat. Hat der Schuldner die Leistung nicht vertragsgemäß bewirkt, so kann der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist.

(6) Der Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn der Gläubiger für den Umstand, der ihn zum Rücktritt berechtigen würde, allein oder weit überwiegend verantwortlich ist oder wenn der vom Schuldner nicht zu vertretende Umstand zu einer Zeit eintritt, zu welcher der Gläubiger im Verzug der Annahme ist.

Tenor

Auf die Revision des beklagten Landes wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 11. November 2010 - 3 Sa 40/10 - aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung.

2

Die 1969 geborene Klägerin ist seit dem 1. Juli 1991 beim beklagten Land als Lehrerin angestellt und war zuletzt in der Grundschule K in D tätig. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gilt der Runderlass des Kultusministeriums vom 26. Mai 1994 „Erziehungsmittel in der Schule“. Darin sind im Einzelnen die zulässigen Erziehungsmittel aufgeführt und wird die körperliche Züchtigung von Schülern für unzulässig erklärt.

3

Im Februar 2009 beschwerten sich Eltern von Schülern der ersten Klasse der Grundschule über die Klägerin. Sie teilten mit, die Klägerin habe den Schülern P und E den Mund mit einem durchsichtigen Tesafilm zugeklebt, nachdem diese den Unterricht gestört haben sollen. Ein ähnlicher Vorfall solle sich schon zwei Jahre vorher mit der Schülerin H ereignet haben.

4

Das beklagte Land hörte die Klägerin am 10. und 11. Februar 2009 zu den Vorwürfen an. In den Gesprächen räumte sie ein, dass ein Aufbringen von Tesafilm kein geeignetes Erziehungsmittel gegenüber den Schülern sei. Das beklagte Land stellte die Klägerin daraufhin mit sofortiger Wirkung von ihrer Tätigkeit als Lehrerin frei.

5

Am 13. Februar 2009 befragte die Schulpsychologin in Anwesenheit der schulfachlichen Referentin die Schüler E, P und H. Diese bestätigten die Vorfälle im Wesentlichen und erklärten, die Klägerin habe ihnen den Mund mit Tesafilm verklebt.

6

Mit Schreiben vom 23. Februar 2009 kündigte das beklagte Land das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristlos. Durch rechtskräftiges Urteil vom 7. August 2009 stellte das Arbeitsgericht D die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung fest.

7

Nachdem die zuständigen Personalräte ihre Zustimmung zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin verweigert und die daraufhin angerufene Einigungsstelle beim Kultusministerium des beklagten Landes eine ordentliche Kündigung empfohlen hatte, kündigte das beklagte Land mit Schreiben vom 3. Juni 2009 das Arbeitsverhältnis der Parteien ordentlich zum 31. Dezember 2009.

8

Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen diese Kündigung gewandt und geltend gemacht, in ihrem Unterricht habe es keine körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen oder entwürdigenden Maßnahmen gegeben. Anlass für ihr Verhalten im Unterricht der ersten Klasse im Jahr 2009 sei gewesen, dass sie ein eingerissenes Blatt ihrer Arbeitsunterlagen wieder habe zusammenkleben wollen. Zu diesem Zweck habe sie ein Stück Tesafilm abgeschnitten. Der neben dem Lehrertisch sitzende Schüler E sei unruhig gewesen. Sie habe deshalb zu ihm gesagt, der Streifen gehöre ja wohl eher auf seinen Mund als auf das Papier. E habe lachend mit „Ja“ geantwortet. Daraufhin habe sie ihm den Streifen Tesafilm in Höhe des Mundes lose auf die Wange geklebt. Der Schüler P habe dies gesehen und für sich ebenfalls einen Streifen gewollt. Sie habe deshalb auch ihm lose ein Stück Tesafilm auf die Wange geklebt. Die Streifen hätten nicht fest geklebt. Sie seien sogar abgefallen und beide Jungen hätten sie jeweils wieder aufgedrückt. Die Sache sei von allen Kindern als „Spaß“ empfunden worden, beide Schüler hätten mitgelacht und sich vom weiteren Erzählen und Mitarbeiten während des Unterrichts nicht abhalten lassen. Die Äußerungen der Kinder vor der Schulpsychologin entsprächen nicht der Wahrheit. Eine solche spontane, aus einer scherzhaften Situation heraus entstandene Handlung stelle keine Verfehlung dar. Sie räume ein, zunächst nicht ausreichend sensibel gewesen zu sein und bedauere, dass der Fall öffentlichkeitswirksam geworden sei. Die Klägerin hat bestritten, schon einmal ähnlich gehandelt zu haben. Der Schülerin H habe sie keinen Tesafilm ins Gesicht geklebt.

9

Die Klägerin hat beantragt

        

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des beklagten Landes vom 3. Juni 2009 nicht zum 31. Dezember 2009 beendet worden ist.

10

Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat vorgetragen, die Klägerin habe mehrfach Tesafilmstreifen auf die Münder von Grundschülern geklebt. Sie habe damit ihre pädagogische Pflicht zum respektvollen und gewaltfreien Umgang mit Kindern verletzt. Sie habe eine schulrechtlich unzulässige, inakzeptable und herabwürdigende Erziehungsmethode zum Zweck der Disziplinierung angewandt. Lehrkräfte hätten gerade gegenüber Grundschülern eine besondere Obhutspflicht. Stattdessen habe sie den Kindern Schaden zugefügt. Es sei nicht entscheidend, welche Stärke der Tesafilmstreifen tatsächlich gehabt und wie fest er auf den Mündern geklebt habe. Einer Abmahnung habe es angesichts der Schwere des Vorfalls nicht bedurft. Überdies hätten zahlreiche Eltern nach Bekanntwerden der Vorwürfe unmissverständlich zu verstehen gegeben, ihre Kinder nicht mehr in die betreffende Schule schicken zu wollen, solange die Klägerin dort weiter unterrichte. Die in der Sache berechtigten Elternbeschwerden ließen den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses nicht zu.

11

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt das beklagte Land weiterhin die Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision des beklagten Landes ist begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte mit der von ihm gegebenen Begründung der Kündigungsschutzklage nicht stattgeben. Auf der Basis der bisherigen Feststellungen hält diese Begründung einer Überprüfung an § 1 Abs. 2 KSchG nicht stand. Sie beruht auf widersprüchlichen Annahmen und Feststellungen und berücksichtigt nicht alle wesentlichen Umstände. Da noch nicht abschließend beurteilt werden kann, ob die Kündigung rechtsunwirksam ist, war der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).

13

I. Aufgrund der bisherigen Feststellungen durfte das Landesarbeitsgericht einen Kündigungsgrund im Verhalten der Klägerin iSv. § 1 Abs. 2 KSchG nicht verneinen.

14

1. Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung aus Gründen im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat und eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht. Dann kann dem Risiko künftiger Störungen nur durch die (fristgemäße) Beendigung des Arbeitsverhältnisses begegnet werden. Das wiederum ist nicht der Fall, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken (BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 284/10 - Rn. 34, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 64 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 37; 28. Oktober 2010 - 2 AZR 293/09 - Rn. 12, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 62 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 78). Im Vergleich mit einer fristgemäßen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere Versetzung und Abmahnung in Betracht.

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Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 36, BAGE 134, 349; Schlachter NZA 2005, 433, 436). Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist(vgl. BAG 9. Juni 2011 - 2 AZR 284/10 - Rn. 35, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 64 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 37; 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 37 mwN, aaO).

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2. Danach steht noch nicht fest, ob die Kündigung vom 3. Juni 2009 sozial gerechtfertigt ist. Eine erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten läge jedenfalls dann vor, wenn die Klägerin - wie das beklagte Land behauptet - den Schülern tatsächlich zu Disziplinierungszwecken mit einem Tesafilmstreifen den Mund verklebt hätte. Das dies nicht der Fall war, hat das Gericht bislang nicht festgestellt.

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a) Nach dem Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt gehört es zum Erziehungsauftrag einer Grundschullehrerin, die Schüler zur Achtung der Würde des Menschen, zur Selbstbestimmung, zur Anerkennung und Bindung an ethische Werte, zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit und zu friedlicher Gesinnung zu erziehen (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 1 SchulG LSA). Weiter sieht § 44 SchulG LSA ausdrücklich vor, dass „Ordnungsmaßnahmen getroffen werden (können), wenn dies zur Sicherung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit oder zum Schutz von Personen oder Sachen erforderlich ist. Die Würde der Schülerin oder des Schülers darf durch Ordnungsmaßnahmen nicht verletzt werden“. Dementsprechend hat eine Lehrerin ihr Verhalten in der Schule so einzurichten, dass die Verwirklichung des ihr nach dem Arbeitsverhältnis zukommenden Erziehungsauftrags nicht gefährdet wird (BAG 27. November 2008 - 2 AZR 98/07 - Rn. 24, AP KSchG 1969 § 1 Nr. 90 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 4). Sie darf deshalb gegen ausdrückliche, berechtigte Vorgaben und konkrete Weisungen des Arbeitgebers nicht verstoßen. Nach Ziff. 4 des Runderlasses vom 26. Mai 1994 ist eine „körperliche Züchtigung von Schülern unzulässig“. Nach seiner Ziff. 1 sind „kränkende, ehrverletzende Äußerungen, Drohungen und Einschüchterungsversuche“ untersagt. Danach ist das Zukleben eines Schülermundes mit Tesafilm zweifellos kein zulässiges Erziehungsmittel.

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Dabei kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Handhabung den Tatbestand der körperlichen Bestrafung oder seelischen Verletzung erfüllt. Regelmäßig wird darin jedenfalls eine entwürdigende Maßnahme liegen, weil Kinder hierdurch zum Gespött anderer Personen, insbesondere von Freunden oder Klassenkameraden werden und deren Verachtung ausgesetzt sind, so dass Selbstachtung und Ehrgefühl des betroffenen Kindes erheblich beeinträchtigt werden (vgl. § 1631 Abs. 2 BGB, der einem Kind auch im Verhältnis zu seinen Eltern ein Recht auf gewaltfreie Erziehung einräumt; dazu Palandt/Diederichsen BGB 71. Aufl. § 1631 Rn. 7; MüKoBGB/Huber § 1631 Rn. 28; NK-BGB/Rakete-Dombek § 1631 Rn. 14). Es kommt nicht darauf an, ob die entwürdigende Maßnahme vom betroffenen Kind tatsächlich als Verletzung aufgefasst und gefühlt oder ob sie als „spaßig“ empfunden wird. Entscheidend ist ihre objektive Eignung als entwürdigend (Huber/Scherer FamRZ 2001, 797, 799).

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b) Ein den erhobenen Vorwürfen entsprechendes Verhalten einer Grundschullehrerin wäre geeignet, eine Kündigung iSv. § 1 Abs. 2 KSchG zu bedingen. Hätte die Klägerin den Schülern E und P zum Zwecke der Disziplinierung die Münder mit einem Streifen Tesafilm verklebt, hätte sie damit massiv gegen ihre Pflichten als Erzieherin verstoßen. Einer Abmahnung hätte es dann vor Ausspruch einer Kündigung nicht bedurft. Selbst wenn durch eine Abmahnung die Gefahr einer künftigen Wiederholung hätte ausgeschlossen werden können, wäre der Pflichtenverstoß als so schwerwiegend einzustufen, dass dem beklagten Land schon die erstmalige Hinnahme nicht zuzumuten wäre. Auch angesichts der langen Dienstzugehörigkeit der Klägerin zerstörte ein solcher Missgriff in ihren Erziehungsmethoden das Vertrauen des beklagten Landes in ihre von dem nötigen Respekt vor der Verletzlichkeit und Würde der ihr anvertrauten jungen Personen getragene Grundhaltung in irreparabler Weise. Aus diesem Grund wäre auch eine Versetzung kein vorrangiges Reaktionsmittel.

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c) Die Klägerin hat bestritten, dass sie den Schülern Tesafilm über den Mund geklebt und dies gar zu Disziplinierungszwecken getan hat. Sie hat behauptet, sie habe dem einen Jungen wegen seiner Unruhe scherzhaft einen Streifen Tesafilm in Höhe des Mundes auf die Wange geklebt und dies bei dem anderen Jungen auf dessen Wunsch hin wiederholt. Beide hätten sich die Streifen, nachdem sie abgefallen seien, von sich aus sogar wieder aufgeklebt. Alle Kinder hätten die Angelegenheit als Spaß aufgefasst. Einen früheren Vorfall dieser Art habe es nicht gegeben.

21

Auf der Grundlage dieses Vortrags liegt ein Verhalten der Klägerin, das eine Kündigung bedingen könnte, nicht vor. Mag sie sich wegen der äußerlichen Nähe zu Disziplinierungsmaßnahmen und möglicher Missverständlichkeiten pädagogisch unkorrekt verhalten haben, so liegt doch ein Übergriff in den Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts der Kinder, der eine erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellen würde, nicht vor.

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d) Es ist nicht mit einer für die Beurteilung nach § 559 Abs. 1, Abs. 2 ZPO ausreichenden Deutlichkeit erkennbar, welchen tatsächlichen Geschehensablauf das Landesarbeitsgericht seiner rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt hat.

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aa) Unter II. 2.1 der Entscheidungsgründe heißt es, „die Handlung der Klägerin, den Schülern E und P der damaligen ersten Klasse ... zum Zwecke der Disziplinierung einen Tesafilmstreifen, nach Angabe der Klägerin von etwa 2 cm Breite und 5 cm Länge, über den Mund zu kleben“, stelle einen Verstoß gegen ihre Pflichten dar, „ein derartiges ‚Überkleben’ des Mundes eines Schülers“ sei kein zulässiges Erziehungsmittel. Anschließend führt das Landesarbeitsgericht an gleicher Stelle aus, „eine negative Prognose (liege) nicht vor, weil die Klägerin die von ihr gegenüber den Schülern E und P begangene Handlung nie bestritten“ habe. Sie habe schon im Verlauf der ersten Anhörung eingesehen, dass die Maßnahme pädagogisch nicht zulässig gewesen sei.

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Die Klägerin hat indessen die Behauptungen des beklagten Landes durchaus substantiiert bestritten. Sie hat gerade kein Überkleben der Münder zu Disziplinierungszwecken eingeräumt. Es bleibt deshalb offen, von welchem Sachverhalt das Landesarbeitsgericht ausgegangen ist: Lag ein Zukleben der Münder zu Disziplinierungszwecken vor? Lag zwar ein Überkleben der Münder vor, aber ohne Disziplinierungsabsicht und „zum Spaß“? Oder wurden die Tesafilmstreifen zum Spaß ohnehin nur auf die Wange geklebt?

25

Für die kündigungsrechtliche Bewertung kann dies nicht dahingestellt bleiben.

26

3. Da die Begründung des Berufungsurteils, sollte die erste der aufgezählten Sachverhaltsvarianten zutreffen, eine Rechtsverletzung ergäbe und sich mangels Feststellungen zu möglichen Fehlern bei der Personalratsanhörung auch nicht beurteilen lässt, ob die Entscheidung selbst aus anderen Gründen sich als richtig darstellt, war das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben (§§ 561, 562 Abs. 1 ZPO). Da ein Fall des § 563 Abs. 3 ZPO nicht gegeben ist, war die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

27

II. Vor einer neuen Entscheidung wird das Landesarbeitsgericht den Parteien erneut Gelegenheit zu substantiiertem und im Hinblick auf eine der drei Sachverhaltsalternativen hinreichend konkretem Tatsachenvortrag und zum Beweisantritt geben müssen. Je nach Einlassung der Klägerin auf den zu erwartenden Vortrag des beklagten Landes wird es ggf. Beweis erheben müssen.

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Falls es ihm für seine abschließende Beurteilung darauf ankommen sollte, ob der gegen die Klägerin hinsichtlich eines zeitlich vorausliegenden ähnlichen Vorfalls mit der Schülerin H erhobene Vorwurf zutrifft, wird das Landesarbeitsgericht auch dessen Berechtigung ggf. durch Beweisaufnahme aufzuklären haben. Das entsprechende Vorbringen des beklagten Landes ist ausreichend substantiiert. Es wurde von der Klägerin ebenso substantiiert bestritten.

29

Im Rahmen einer Beweisaufnahme kann auch ein Sachverständigengutachten zur Glaubhaftigkeit der außergerichtlich abgegebenen Erklärungen der Schüler erforderlich werden.

        

    Kreft     

        

    Rachor     

        

    Eylert     

        

        

        

    Grimberg     

        

    Frey     

                 

(1) Durch den Dienstvertrag wird derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.

(2) Gegenstand des Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein.

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

(1) Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, insbesondere die dem Gegner erwachsenen Kosten zu erstatten, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren. Die Kostenerstattung umfasst auch die Entschädigung des Gegners für die durch notwendige Reisen oder durch die notwendige Wahrnehmung von Terminen entstandene Zeitversäumnis; die für die Entschädigung von Zeugen geltenden Vorschriften sind entsprechend anzuwenden.

(2) Die gesetzlichen Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts der obsiegenden Partei sind in allen Prozessen zu erstatten, Reisekosten eines Rechtsanwalts, der nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassen ist und am Ort des Prozessgerichts auch nicht wohnt, jedoch nur insoweit, als die Zuziehung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig war. Die Kosten mehrerer Rechtsanwälte sind nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. In eigener Sache sind dem Rechtsanwalt die Gebühren und Auslagen zu erstatten, die er als Gebühren und Auslagen eines bevollmächtigten Rechtsanwalts erstattet verlangen könnte.

(3) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne der Absätze 1, 2 gehören auch die Gebühren, die durch ein Güteverfahren vor einer durch die Landesjustizverwaltung eingerichteten oder anerkannten Gütestelle entstanden sind; dies gilt nicht, wenn zwischen der Beendigung des Güteverfahrens und der Klageerhebung mehr als ein Jahr verstrichen ist.

(4) Zu den Kosten des Rechtsstreits im Sinne von Absatz 1 gehören auch Kosten, die die obsiegende Partei der unterlegenen Partei im Verlaufe des Rechtsstreits gezahlt hat.

(5) Wurde in einem Rechtsstreit über einen Anspruch nach Absatz 1 Satz 1 entschieden, so ist die Verjährung des Anspruchs gehemmt, bis die Entscheidung rechtskräftig geworden ist oder der Rechtsstreit auf andere Weise beendet wird.

(1) Den Wert des Streitgegenstands setzt das Arbeitsgericht im Urteil fest.

(2) Spricht das Urteil die Verpflichtung zur Vornahme einer Handlung aus, so ist der Beklagte auf Antrag des Klägers zugleich für den Fall, daß die Handlung nicht binnen einer bestimmten Frist vorgenommen ist, zur Zahlung einer vom Arbeitsgericht nach freiem Ermessen festzusetzenden Entschädigung zu verurteilen. Die Zwangsvollstreckung nach §§ 887 und 888 der Zivilprozeßordnung ist in diesem Fall ausgeschlossen.

(3) Ein über den Grund des Anspruchs vorab entscheidendes Zwischenurteil ist wegen der Rechtsmittel nicht als Endurteil anzusehen.