Urteilskommentar: Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23

originally published: 12/12/2024 16:34, updated: 12/12/2024 17:02
Urteilskommentar: Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23
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Bundesverfassungsgericht Urteil, 30. Juli 2024 - 2 BvF 1/23

Author’s summary by Rechtsanwalt Dirk Streifler - Partner

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30. Juli 2024 zur Verfassungsmäßigkeit des neuen Bundeswahlgesetzes markiert einen zentralen Moment in der Entwicklung des deutschen Wahlrechts. Insbesondere die Bewertung des Zweitstimmendeckungsverfahrens und der 5 %-Sperrklausel zeigt die Spannungsfelder zwischen demokratischer Gleichheit, Wahlrechtstraditionen und der Sicherung parlamentarischer Funktionsfähigkeit. Im Folgenden werden die wesentlichen Punkte des Urteils beleuchtet, ihre juristischen Implikationen analysiert und potenzielle Kritikpunkte diskutiert.

 

I. Hintergrund und Kernaussagen des Urteils

Das BVerfG hatte zwei Kernfragen zu beantworten:

  1. Das Zweitstimmendeckungsverfahren: Hierbei handelt es sich um eine Neuerung, die Mandate erfolgreicher Wahlkreisbewerber nur dann zuteilt, wenn ihre Partei ein entsprechendes Sitzkontingent aus den Zweitstimmen erhalten hat. Das Verfahren wurde einstimmig als verfassungsgemäß anerkannt.

  2. Die 5 %-Sperrklausel: Die bisherige Zugangshürde wurde in ihrer jetzigen Form als verfassungswidrig eingestuft, da sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen über das Ziel hinausgeht, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Sie bleibt jedoch mit der Maßgabe in Kraft, dass kooperierende Parteien wie CDU und CSU gemeinsam die Sperrklausel überwinden können.


II. Bewertung des Urteils

1. Verfassungsmäßigkeit des Zweitstimmendeckungsverfahrens

Das Gericht stellt klar, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren keine Abkehr von den Grundprinzipien des bisherigen Wahlrechts darstellt, sondern eine zulässige Weiterentwicklung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitswahl ist. Es würdigt den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, der zwischen Verhältniswahl und Personenwahl einen neuen Ausgleich schaffen wollte. Das BVerfG betont dabei die verfassungsrechtliche Legitimität, da das Verfahren sowohl den Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) als auch die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahrt.

Kritikpunkt: Die Kritik von Oppositionsparteien und Wahlrechtswissenschaftlern, dass das Verfahren die Regionalrepräsentation schwächen könnte, wird zurückgewiesen. Das BVerfG argumentiert überzeugend, dass die Legitimation der Mandate primär über die Zweitstimmen erfolgt und die regionale Verankerung kein Verfassungsgrundsatz ist. Diese Argumentation ist juristisch stimmig, doch bleibt fraglich, ob das Verfahren politisch konsensfähig bleibt.


2. Verfassungswidrigkeit der 5 %-Sperrklausel

Die Entscheidung zur Sperrklausel zeigt das differenzierte Verständnis des Gerichts für die Wahlrechtsgrundsätze. Zwar wird die generelle Legitimität der Klausel zur Vermeidung einer Zersplitterung des Bundestages anerkannt, jedoch stellt das BVerfG fest, dass sie unter den derzeitigen Bedingungen nicht erforderlich ist, um das Ziel der Funktionsfähigkeit zu erreichen. Besonders die CSU, die in Bayern allein antritt und in einer Fraktion mit der CDU kooperiert, profitiert von der Maßgabe, dass kooperierende Parteien gemeinsam betrachtet werden können.

Kritikpunkt: Die Differenzierung, kooperierende Parteien zu privilegieren, könnte als Bevorzugung spezifischer politischer Konstellationen wahrgenommen werden. Kritiker sehen darin eine potenzielle Gefahr der Ungleichbehandlung anderer kleiner Parteien. Das BVerfG argumentiert jedoch, dass eine solche Kooperation, die auf dauerhafter Fraktionsbildung basiert, den spezifischen Anforderungen des Bundestages entspricht.


III. Was lernen wir aus dem Urteil?

  1. Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers: Das Urteil betont, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Grundsätze des Wahlrechts weitgehende Spielräume hat, neue Regelungen einzuführen. Gleichzeitig unterstreicht das Gericht die Notwendigkeit, diese Regelungen streng an den Grundsätzen der Wahlgleichheit und Chancengleichheit zu messen.

  2. Flexibilität der Verfassungsinterpretation: Das BVerfG zeigt eine bemerkenswerte Flexibilität in der Interpretation der Anforderungen an Sperrklauseln. Die Maßgabe für kooperierende Parteien stellt eine pragmatische, wenn auch umstrittene Lösung dar.

  3. Stärkung der Wahlrechtsgrundsätze: Durch die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der bisherigen Sperrklausel betont das Gericht die Bedeutung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Parteienvielfalt und Parlamentsfunktionalität.


IV. Abweichende Meinungen und Problemkreise

  1. Sperrklausel und Gleichbehandlung: Die Maßgabe zur privilegierten Behandlung kooperierender Parteien ruft kontroverse Diskussionen hervor. Einige sehen hierin eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, während andere dies als notwendige Differenzierung betrachten.

  2. Zweitstimmendeckungsverfahren: Kritiker monieren, dass das Verfahren kleinere Parteien mit starken Wahlkreiskandidaten benachteiligen könnte. Das BVerfG weist diese Kritik zurück, doch bleibt die politische Umsetzung dieser Neuerung fraglich.

  3. Pragmatische Fortgeltung verfassungswidriger Regelungen: Die Fortgeltung der 5 %-Sperrklausel trotz festgestellter Verfassungswidrigkeit ist ein politisch und rechtlich sensibler Punkt, da sie die Wahlrechtsreform in der Praxis vorerst nicht vollständig wirksam macht.


V. Fazit

Das Urteil des BVerfG ist ein bedeutender Beitrag zur Fortentwicklung des Wahlrechts in Deutschland. Es bestätigt die grundlegende Legitimität des Zweitstimmendeckungsverfahrens und fordert gleichzeitig eine differenziertere Gestaltung der 5 %-Sperrklausel. Während die juristischen Argumente des Gerichts überzeugen, bleibt die politische Diskussion um die Umsetzung der Maßgaben und die Akzeptanz des neuen Wahlrechts offen.

Für die Praxis zeigt das Urteil, wie wichtig es ist, Wahlrechtsreformen nicht nur verfassungskonform, sondern auch konsensfähig zu gestalten. Es bietet wertvolle Orientierungspunkte für zukünftige Reformen und unterstreicht die Rolle des BVerfG als Hüter der verfassungsrechtlichen Grundsätze im demokratischen System.

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(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.