Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 03. Juli 2007 - 6 K 2790/07

bei uns veröffentlicht am03.07.2007

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wurde am 18.12.1973 im Bundesgebiet geboren. Er wuchs mit mehreren Geschwistern bei seinen Eltern auf, besuchte zunächst die Grundschule und dann die Hauptschule, ohne einen Abschluss zu erzielen. Eine begonnene Lehre als Maler wurde abgebrochen, anschließend ging er gelegentlich Aushilfstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit und durch Strafverbüßungen unterbrochen waren. Seit 2000 geht er nach Aktenlage keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Der Kläger ist seit dem 28.01.1991 in Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die seit dem 01.01.2005 als Niederlassungserlaubnis fortgilt. Ein zwischenzeitig gestellter Einbürgerungsantrag wurde wegen der von ihm begangenen Straftaten abgelehnt. Als sein Vater 1991 verstarb, begann der Kläger erstmals Marihuana zu rauchen, nach Erkrankung seiner Mutter, die mittlerweile in einem Pflegeheim in Crailsheim untergebracht ist, begann er ab 1998 regelmäßig Heroin und Kokain zu konsumieren. Nach einem in der Zeit von Juli 2001 bis September 2001 durchlaufenen Methadonprogramm sowie einer absolvierten stationären Drogentherapie bei Four Steps, die am 14.07.2003 mit günstiger Prognose abgeschlossen wurde, wurde der Kläger erneut rückfällig und setzte den Konsum von Heroin und Kokain bis zu seiner letzten Inhaftierung im November 2005 fort. Der Kläger lebte zuletzt mit keinem Familienmitglied mehr zusammen. Seine Geschwister führen jeweils selbständige Haushalte. Ein älterer Bruder, mit dem er 1993 wegen Bandendiebstahls verurteilt worden war, wurde im August 2002 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben.
Seit 1993 wurde der Kläger mehrfach straffällig und insgesamt - ohne die zuletzt genannte Verurteilung - fünf mal u.a. wegen Badendiebstahls, gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls bzw. Diebstahls in besonders schwerem Fall zu Jugend- und später zu Freiheitsstrafen von teilweise über 2 Jahren verurteilt. Der Kläger verbüßte einen Teil dieser Freiheitsstrafen, ein Teil der Freiheitsstrafen wurde zur Bewährung ausgesetzt und wegen Bewährungsbruch später widerrufen. Ausländerrechtlich wurde er am 28.10.1996 wegen der zu diesem Zeitpunkt begangenen zwei Straftaten von der Ausländerbehörde verwarnt. Zuletzt wurde der Kläger am 28.07.2006 vom Landgericht Ellwangen wegen Diebstahls in 8 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Seit dem 28.11.2005 ist der Kläger inhaftiert und verbüßt die zuletzt verhängte Freiheitsstrafe sowie die restliche Freiheitsstrafe aus einer vorangegangenen Verurteilung.
Nach Anhörung verfügte das Regierungspräsidium ... mit Bescheid vom 06.03.2007 die Ausweisung des Klägers unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und drohte dem Kläger ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei oder in einen zu seiner Rückübernahme bereiten Staat an.
Dagegen hat der Kläger am 26.03.2007 Klage erhoben, ohne diese näher zu begründen.
Der Kläger beantragt,
die Verfügung des Regierungspräsidiums ... vom 06.03.2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sein Vertreter auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.
10 
Dem Gericht lagen die Ausweisungsakte des Beklagten sowie die Behördenakten der unteren Ausländerbehörde vor. Auf die in diesen sowie auf die im Klageverfahren gewechselten Schriftsätze wird hinsichtlich des weiteren Vorbringens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
11 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten verhandeln und entscheiden. Auf diese Möglichkeit ist in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
12 
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Ausweisungsverfügung, denn diese ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
13 
Das Regierungspräsidium ... hat als sachlich und örtlich zuständige Ausländerbehörde (vgl. §§ 10 Abs. 1 AAZuVO vom 11.01.2005 (GBl. Seite 93)) für den inhaftierten Kläger die Ausweisung verfügt. Das Verfahren wurde ordnungsgemäß geführt. Insbesondere ist vor Durchführung des Klageverfahrens nicht mehr die Einschaltung einer „unabhängigen Stelle“ erforderlich (so Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG). Denn die RL 64/221/EWG ist durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung zum 30.04.2006 aufgehoben worden. Die an die Stelle der RL 64/221/EWG getretene RL 2004/38/EG verlangt aber nicht mehr die Einschaltung einer sog. „unabhängigen Stelle“.
14 
Zutreffend ist das Regierungspräsidium in seiner Verfügung auch davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei - i.F. : ARB 1/80 - zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm ziehen“ in Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und hier stets gelebt hat; auch durch die verhängten und zwischenzeitig verbüßten Freiheitsstrafen sind dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren gegangen (dazu EuGH, Urt. v 11.11.2004 - C 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Aufgrund dieser Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - ungeachtet der Erfüllung eines sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestands nach nationalem Recht - im Übrigen nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. EuGH, Urteile vom 29.04.2004 - Rs. C - 482/01 und C - 493/01 - (Orfanopoulos und Oliveri), DVBl 2004, 876; BVerwG, Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 30/02 und 1 C 29/02 - sowie Urteile vom 06.10.2005 - 1 C 5/04 - und vom 28.06.2006 - 1 C 4/06 -).
15 
Nicht zu berücksichtigen ist im Falle des Klägers hingegen Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG, wonach gegenüber Unionsbürgern eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie a) ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
16 
Diese Regelung gilt zunächst nur für Unionsbürger. Allerdings wird die Übertragung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, welche ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, diskutiert und teilweise auch bejaht (so u.a.: VG Karlsruhe, Beschl. 09.03.2007 - 6 K 2907/06 - und Urt. v. 09.11.2006 - 2 K 1559/06 -; offen gelassen: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -; Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - und OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 -, verneinend: OVG Nordr. Westf., Beschl. v. 16.03.2005 - 18 B 1751/04 und Nieders. OVG, Beschl. v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -). Soweit das Regierungspräsidium meint, diese Frage hier deshalb offen lassen zu können, weil für Familienangehörige, die aus Drittstaaten stammen, Art. 28 Abs. 2 der RL 2004/38/EG lediglich die Beschränkung enthält, dass eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf, der Kläger aber einem Familienangehörigen vergleichbar sei, weil er seine Rechtsposition ebenfalls nur aus seiner Angehörigenstellung zu einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Staatsangehörigen ableiten kann (Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), folgt das Gericht dieser Argumentation nicht. Denn im Unterschied zu einem Familienangehörigen, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, begründet Art. 7 ARB 1/80 bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen unmittelbar und ohne zeitliche Grenze eine eigene Rechtsposition des türkischen Staatsangehörigen. Dieser ist insoweit eher einem Familienangehörigen vergleichbar, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Dieser aber unterfällt ebenfalls der Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG.
17 
Die Frage, ob Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG auch auf türkische Staatsangehörige, welche ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, anzuwenden ist, ist im Falle des Klägers auch durchaus entscheidungserheblich. Denn mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.04.2006 gilt diese Richtlinie unmittelbar. Der Bundesgesetzgeber ist der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG zwar derzeit noch nicht nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Nach dem Referentenentwurf der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetz/EU sollen zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit aber nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -). Diesen Rahmen bzw. diese Anforderungen erfüllen die Haftstrafen des Klägers aber nicht.
18 
Begründet wird die entsprechende Anwendbarkeit dabei im Wesentlichen damit, dass auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sowie Art. 6 und 7 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren würde. Der Europäische Gerichtshof - EuGH - habe dazu aber in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer übertragen werden müssten, die eine Rechtsstellung aus dem ARB 1/80 besitzen. Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem Art. 39 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stelle der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkungen von Rechten nach dem Assoziationsratsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Dementsprechend hätten der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der RL 64/221/EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung). Der EuGH habe auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil vom 30.09.2004 - C 275/02 - (Ayaz ) ) oder in Art. 3 der RL 64/221/EWG (Urt. v. 11.11.2004 - C 467/02 - (Cetinkaya ) ) oder in Art. 8 und 9 der RL 64/221/EWG (Urteil vom 02.06.2005 - C 163/03 (Dörr und Ünal ) ) auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen; das Bundesverwaltungsgericht habe sich dem angeschlossen (BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 a.a.O.). Mit der RL 2004/38/EG sei aber die Einschränkbarkeit der Freizügigkeitsrechte durch Ausweisungen auf gemeinschaftlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet und konkretisiert worden.
19 
Demgegenüber betonen die Gegner der Anwendbarkeit, dass die genannte Gerichte nicht verlangen würden, dass türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, rechtlich wie Unionsbürger zu behandeln seien. Die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei bestehenden Assoziationsregelungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer würden keineswegs die vollständige Gleichstellung von türkischen Arbeitnehmern in Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Gemeinschaftsangehörigen beinhalten, sondern dienten lediglich der schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit. Dem nationalen Gesetzgeber bleibe es unbenommen, auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige das allgemeine Ausländerrecht unter Berücksichtigung der Sonderstellung dieses Personenkreises für anwendbar zu erklären und das sei in § 4 Abs. 1 und Abs. 5 AufenthG geschehen (dazu OVG Nordr. Westf., Beschl. v. 16.03.2005 - 18 B 1751/04 und Nieders. OVG, Beschl. v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -).
20 
Das Gericht folgt dabei der zuletzt genannten Auslegung. Die Vertragsparteien haben mit der Regelung des Art. 14 ARB 1/80 eine eigenständige Beschränkung der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen geschaffen. Dass man bisher die Auslegung der dort geregelten Beschränkungen an die Beschränkungen der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern angelehnt hat, wurde u.a. mit der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und von Art. 39 EG und mit dem Ziel der Assoziationsvereinbarung begründet. Mit der RL 2004/38/EG ist die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger aber weiter ausgestaltet und konkretisiert worden. Würde man auch dies auf assoziationsberechtigte türkische Staatsbürger übertragen, dann käme der Bestimmung des Art. 14 ARB 1/80 die Wirkung einer sog. dynamischen Verweisung zu. Mit dem Wortlaut des Art. 14 ARB 1/80 (Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind) und der Intention der Vertragsparteien wäre eine so weite Einschränkung der Rechte der Vertragsparteien (zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit) aber kaum zu vereinbaren. Deshalb hat das Regierungspräsidium im Ergebnis zu Recht eine Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG auf den Kläger verneint.
21 
Zutreffend wurde auf den Kläger aber Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) vom 13.12.1955 angewendet, der nach einem mehr als zehnjährigen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates vorsieht, dass der Ausländer nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder wenn die übrigen in Absatz 1 aufgeführten Gründe - der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit - besonders schwerwiegend sind ausgewiesen werden darf. Ferner ist für den Kläger auch die nationale Vorschrift des § 56 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG einschlägig, so dass er auch danach nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann. Zwischen den besonders schwerwiegenden Gründen von Art. 3 Abs. 3 ENA und den schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung des § 56 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG besteht aber kein qualitativer Unterschied (zum Verhältnis von ENA zum früheren § 48 AuslG BVerwG; Urt. v. 11.06.1996 - 1 C 24.94 -).
22 
So kommt auch bei einem türkischen Staatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 zusteht, eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das aber ist der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht besteht, das sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut besteht (zu den Anforderungen der Ausweisung von sog. „ARB-Türken“ siehe auch EGMR, Urt. v. 16.01.2006 - Rs. C-502/04 - (Torun), InfAuslR 2006, 209). Diese Voraussetzungen wurden vom Regierungspräsidium zutreffend bejaht, nachdem der Kläger nicht nur einmal und zu einer hohen Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten wegen Diebstahls in 8 Fällen, jeweils gemeinschaftlich begangen und in einem besonders schweren Fall, durch das Landgericht Ellwangen verurteilt worden ist, sondern eine Vielzahl von einschlägigen Vorstrafen, größtenteils auch zu Zeiten, als er noch unter Bewährung stand, vorzuweisen hat. Auch ist die Einschätzung, dass die vorsätzlich begangenen und von den Strafgerichten abgeurteilten Straftaten besonders schwer wiegen, nachdem der Kläger durch Automatenaufbrüche erhebliche Beute machte und - allein bei den zuletzt abgeurteilten Straftaten - einen Sachschaden von mehr als EUR 100.000,--verursacht hat, kaum zu beanstanden. Eine konkrete Wiederholungsgefahr wurde mit der außerordentlich hohen Rückfallgeschwindigkeit begründet, nachdem sich der Kläger weder von Vorverurteilungen, noch Hafterfahrungen oder ausländerrechtlichen Verwarnungen von weiteren einschlägigen Straftaten hat abhalten lassen. Dabei wurde auch gesehen, dass die Straftaten teilweise auch durch den jahrelangen Drogenkonsum und die Drogenabhängigkeit des Klägers beeinflusst waren. Allerdings hatten die durchgeführten Therapien nur kurzeitig Erfolg. Selbst nach Abschluss einer Therapie im Juli 2003 mit günstiger Prognose konsumierte der Kläger bereits kurze Zeit später erneut Drogen und wurde dann ca. zwei Jahre später erneut, in erheblichem Umfang und über einen längeren Zeitraum, straffällig. Dass das Regierungspräsidium insoweit seine, im Verwaltungsverfahren bekundete, erneute Therapiewilligkeit nicht als Garant für eine dauerhafte Verhaltensänderung ansieht, nachdem er bereits in der Vergangenheit gezeigt hat, dass diese Bereitschaft vor dem Hintergrund der Strafverbüßung und der drohenden ausländerrechtlichen Maßnahmen zu sehen ist und daher wohl ebenfalls nur geringen dauerhaften Erfolg haben wird, ist nicht zu beanstanden. Die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr ist dabei auch angesichts der bereits jetzt schon desolaten finanziellen Lage des Klägers, den nach seiner Haftentlassung noch zu erwartenden hohen Schadensersatzforderungen der durch die Straftaten Geschädigten und der fehlenden beruflichen Zukunftsperspektive kaum zu widerlegen.
23 
Demgegenüber hat der Kläger keine nachvollziehbaren Gründe dargelegt, die in seinem Fall die Annahme rechtfertigen könnten, bei ihm liege ausnahmsweise eine günstigere Sozialprognose vor oder eine solche günstigere Sozialprognose würde sich zumindest durch neue Entwicklungen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auftun.
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Zutreffend geht das Regierungspräsidium weiter davon aus, dass - unabhängig von der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - damit auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, weil zum einen der Ausweisungsanlass schwer wiegt und zum anderen eine konkrete Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten besteht. Nachdem beim Kläger damit auch die Hürden des nationalen Rechts aber auch des besonderen Ausweisungsschutzes gem. Art. 3 Abs. 3 ENA genommen sind, ist es nicht zu beanstanden, wenn das Regierungspräsidium über die Ausweisung des Klägers nach Ermessen entschieden hat. Die vom Regierungspräsidium unter Einbeziehung sämtlicher, in die Entscheidung einzubeziehender, Abwägungskriterien getroffene Entscheidung ist fehlerfrei erfolgt. Gründe, welche in der Entscheidung nicht oder nicht richtig gewürdigt worden sind, wurden weder aufgezeigt noch sind solche ersichtlich. Insoweit wird auf die ausführliche Darlegung in der angefochtenen Verfügung Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
25 
Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der persönlichen Belange des Klägers nach Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 - EMRK - verhältnismäßig. Zwar kann unterstellt werden, dass die Ausweisung in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens eingreift. Allerdings sieht Art. 8 Abs. 2 EMRK insoweit vor, dass in dieses Recht eingegriffen werden darf, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Vorliegend ist die Ausweisung des Klägers als Eingriff gesetzlich vorgesehen (§ 55 AufenthG). Sie dient auch einem berechtigten Ziel, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Anordnung der Ausweisung wegen strafbarer Handlungen verurteilter Ausländer. Ferner muss die Maßnahme, um Art. 8 Abs. 2 EMRK zu genügen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Sie muss einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere verhältnismäßig zu dem verfolgten legitimen Ziel sein. Das aber ist hier der Fall. Wie ausgeführt besteht bei einem Verbleib des Klägers im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die ernsthafte Gefahr neuer Verfehlungen des Klägers. Andererseits hat der Kläger durchaus ein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, hält er sich doch hier bereits seit seiner Geburt auf und wird insoweit auch durch die Lebensbedingungen im Bundesgebiet geprägt sein. Er verfügt auch über familiäre Bindungen im Bundesgebiet. Allerdings lebt er mit keinem seiner Verwandten mehr zusammen. Seine Geschwister führen einen eigenen Haushalt, seine Mutter soll in einem Pflegeheim untergebracht sein, sein Vater ist 1991 verstorben. Der Kläger ist mittlerweile auch 34 Jahre alt und damit auf die Lebenshilfe durch einen seiner Angehörigen nicht mehr angewiesen. Auch kann von einer echten Integration in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet angesichts seiner wiederholten Straffälligkeit und seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung kaum gesprochen werden. Trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet spricht einiges dafür, dass er über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügen wird, ist doch bei Ausländern der zweiten Generation - oftmals wegen der geringen deutschen Sprachkenntnisse der Eltern - davon auszugehen, dass in der Familie auch türkisch gesprochen wurde. Der Kläger befindet sich auch in einem Alter, in welchem ihm der Aufbau einer Existenz in seinem Heimatland noch möglich sein müsste, zumal bereits sein älterer Bruder im August 2002 in die Türkei abgeschoben wurde, ihm insoweit als Stütze bzw. Ansprechpartner für den Aufbau eines Lebens in der Türkei zur Verfügung stehen könnte.
26 
Soweit hingegen in Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht - EGMR (u.a. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - 52853/99 - (Yilmaz), NJW 2004, 2147, Urt. v. 22.04.2004 - 42703/98 - (Radovanovic), InfAuslR 2004, 374; Urt. v. 27.10.2005 - 32231/02 - (Keles), InfAuslR 2006, 3 und Urt. v. 31.01.2006 - 50252/99 -, (Sezen), InfAuslR 2006, 2355) Ausweisungen als unverhältnismäßig beurteilt wurden, die keine Befristungsentscheidung enthielten, wurde dort aber auch festgestellt, dass eine unbefristete Ausweisung nicht per se gegen Art. 8 EMRK verstößt, sondern vielmehr einer Würdigung der Gesamtumstände bedarf. Auch unter diesem Aspekt ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 GG nicht ersichtlich. Im Unterschied zu einigen vom EGMR entschiedenen Fällen handelt es sich bei den seinerzeit zur Ausweisung des Klägers führenden Straftaten um solche aus dem Bereich der Schwerstkriminalität. Die Ausländerbehörde hat darüber hinaus in zutreffender Weise eine Prognose über die besondere Rückfallgefahr des Klägers aufgestellt. Bei der persönlichen und familiären Situation wurden der lange Aufenthalt des Klägers und die damit verbundene und soziale Integration beachtet; aufgrund der Schwere der letzten von ihm begangenen Straftaten wurde allerdings nicht von einer echten Integration im Bundesgebiet ausgegangen. Angesichts der vom Kläger ausgehenden erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, der Schwere der begangenen Straftaten, der unbedingten Verurteilung (anders z.B. im Fall Radovanovic) und des Umstandes, dass die Taten auch nicht mit der Jugend des Ausländers „entschuldigt“ werden können (so z.B. in den Fällen Yilmaz und Radovanovic) und angesichts dessen, dass im deutschen Recht dem der Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung getragen wird, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (dazu auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 -), ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK auch durch die unbedingte Ausweisung nicht festzustellen.
27 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
28 
Die Berufung war gem. § 124 a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Gründe

 
11 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten verhandeln und entscheiden. Auf diese Möglichkeit ist in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
12 
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der angefochtenen Ausweisungsverfügung, denn diese ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
13 
Das Regierungspräsidium ... hat als sachlich und örtlich zuständige Ausländerbehörde (vgl. §§ 10 Abs. 1 AAZuVO vom 11.01.2005 (GBl. Seite 93)) für den inhaftierten Kläger die Ausweisung verfügt. Das Verfahren wurde ordnungsgemäß geführt. Insbesondere ist vor Durchführung des Klageverfahrens nicht mehr die Einschaltung einer „unabhängigen Stelle“ erforderlich (so Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG). Denn die RL 64/221/EWG ist durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung zum 30.04.2006 aufgehoben worden. Die an die Stelle der RL 64/221/EWG getretene RL 2004/38/EG verlangt aber nicht mehr die Einschaltung einer sog. „unabhängigen Stelle“.
14 
Zutreffend ist das Regierungspräsidium in seiner Verfügung auch davon ausgegangen, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei - i.F. : ARB 1/80 - zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm ziehen“ in Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und hier stets gelebt hat; auch durch die verhängten und zwischenzeitig verbüßten Freiheitsstrafen sind dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verloren gegangen (dazu EuGH, Urt. v 11.11.2004 - C 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Aufgrund dieser Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - ungeachtet der Erfüllung eines sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestands nach nationalem Recht - im Übrigen nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. EuGH, Urteile vom 29.04.2004 - Rs. C - 482/01 und C - 493/01 - (Orfanopoulos und Oliveri), DVBl 2004, 876; BVerwG, Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 30/02 und 1 C 29/02 - sowie Urteile vom 06.10.2005 - 1 C 5/04 - und vom 28.06.2006 - 1 C 4/06 -).
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Nicht zu berücksichtigen ist im Falle des Klägers hingegen Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG, wonach gegenüber Unionsbürgern eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie a) ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder b) minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.
16 
Diese Regelung gilt zunächst nur für Unionsbürger. Allerdings wird die Übertragung dieser Regelung auf türkische Staatsangehörige, welche ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, diskutiert und teilweise auch bejaht (so u.a.: VG Karlsruhe, Beschl. 09.03.2007 - 6 K 2907/06 - und Urt. v. 09.11.2006 - 2 K 1559/06 -; offen gelassen: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -; Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - und OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 -, verneinend: OVG Nordr. Westf., Beschl. v. 16.03.2005 - 18 B 1751/04 und Nieders. OVG, Beschl. v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -). Soweit das Regierungspräsidium meint, diese Frage hier deshalb offen lassen zu können, weil für Familienangehörige, die aus Drittstaaten stammen, Art. 28 Abs. 2 der RL 2004/38/EG lediglich die Beschränkung enthält, dass eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf, der Kläger aber einem Familienangehörigen vergleichbar sei, weil er seine Rechtsposition ebenfalls nur aus seiner Angehörigenstellung zu einem dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Staatsangehörigen ableiten kann (Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80), folgt das Gericht dieser Argumentation nicht. Denn im Unterschied zu einem Familienangehörigen, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, begründet Art. 7 ARB 1/80 bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen unmittelbar und ohne zeitliche Grenze eine eigene Rechtsposition des türkischen Staatsangehörigen. Dieser ist insoweit eher einem Familienangehörigen vergleichbar, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Dieser aber unterfällt ebenfalls der Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG.
17 
Die Frage, ob Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG auch auf türkische Staatsangehörige, welche ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, anzuwenden ist, ist im Falle des Klägers auch durchaus entscheidungserheblich. Denn mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 30.04.2006 gilt diese Richtlinie unmittelbar. Der Bundesgesetzgeber ist der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG zwar derzeit noch nicht nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Nach dem Referentenentwurf der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetz/EU sollen zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit aber nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -). Diesen Rahmen bzw. diese Anforderungen erfüllen die Haftstrafen des Klägers aber nicht.
18 
Begründet wird die entsprechende Anwendbarkeit dabei im Wesentlichen damit, dass auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sowie Art. 6 und 7 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren würde. Der Europäische Gerichtshof - EuGH - habe dazu aber in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer übertragen werden müssten, die eine Rechtsstellung aus dem ARB 1/80 besitzen. Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem Art. 39 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stelle der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkungen von Rechten nach dem Assoziationsratsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Dementsprechend hätten der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der RL 64/221/EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung). Der EuGH habe auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil vom 30.09.2004 - C 275/02 - (Ayaz ) ) oder in Art. 3 der RL 64/221/EWG (Urt. v. 11.11.2004 - C 467/02 - (Cetinkaya ) ) oder in Art. 8 und 9 der RL 64/221/EWG (Urteil vom 02.06.2005 - C 163/03 (Dörr und Ünal ) ) auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen; das Bundesverwaltungsgericht habe sich dem angeschlossen (BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 a.a.O.). Mit der RL 2004/38/EG sei aber die Einschränkbarkeit der Freizügigkeitsrechte durch Ausweisungen auf gemeinschaftlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet und konkretisiert worden.
19 
Demgegenüber betonen die Gegner der Anwendbarkeit, dass die genannte Gerichte nicht verlangen würden, dass türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen, rechtlich wie Unionsbürger zu behandeln seien. Die zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei bestehenden Assoziationsregelungen zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer würden keineswegs die vollständige Gleichstellung von türkischen Arbeitnehmern in Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Gemeinschaftsangehörigen beinhalten, sondern dienten lediglich der schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit. Dem nationalen Gesetzgeber bleibe es unbenommen, auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige das allgemeine Ausländerrecht unter Berücksichtigung der Sonderstellung dieses Personenkreises für anwendbar zu erklären und das sei in § 4 Abs. 1 und Abs. 5 AufenthG geschehen (dazu OVG Nordr. Westf., Beschl. v. 16.03.2005 - 18 B 1751/04 und Nieders. OVG, Beschl. v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05 -).
20 
Das Gericht folgt dabei der zuletzt genannten Auslegung. Die Vertragsparteien haben mit der Regelung des Art. 14 ARB 1/80 eine eigenständige Beschränkung der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen geschaffen. Dass man bisher die Auslegung der dort geregelten Beschränkungen an die Beschränkungen der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern angelehnt hat, wurde u.a. mit der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und von Art. 39 EG und mit dem Ziel der Assoziationsvereinbarung begründet. Mit der RL 2004/38/EG ist die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger aber weiter ausgestaltet und konkretisiert worden. Würde man auch dies auf assoziationsberechtigte türkische Staatsbürger übertragen, dann käme der Bestimmung des Art. 14 ARB 1/80 die Wirkung einer sog. dynamischen Verweisung zu. Mit dem Wortlaut des Art. 14 ARB 1/80 (Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind) und der Intention der Vertragsparteien wäre eine so weite Einschränkung der Rechte der Vertragsparteien (zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit) aber kaum zu vereinbaren. Deshalb hat das Regierungspräsidium im Ergebnis zu Recht eine Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 3 der RL 2004/38/EG auf den Kläger verneint.
21 
Zutreffend wurde auf den Kläger aber Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) vom 13.12.1955 angewendet, der nach einem mehr als zehnjährigen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates vorsieht, dass der Ausländer nur aus Gründen der Sicherheit des Staates oder wenn die übrigen in Absatz 1 aufgeführten Gründe - der öffentlichen Ordnung oder Sittlichkeit - besonders schwerwiegend sind ausgewiesen werden darf. Ferner ist für den Kläger auch die nationale Vorschrift des § 56 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG einschlägig, so dass er auch danach nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden kann. Zwischen den besonders schwerwiegenden Gründen von Art. 3 Abs. 3 ENA und den schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung des § 56 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG besteht aber kein qualitativer Unterschied (zum Verhältnis von ENA zum früheren § 48 AuslG BVerwG; Urt. v. 11.06.1996 - 1 C 24.94 -).
22 
So kommt auch bei einem türkischen Staatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 zusteht, eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das aber ist der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht besteht, das sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergibt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut besteht (zu den Anforderungen der Ausweisung von sog. „ARB-Türken“ siehe auch EGMR, Urt. v. 16.01.2006 - Rs. C-502/04 - (Torun), InfAuslR 2006, 209). Diese Voraussetzungen wurden vom Regierungspräsidium zutreffend bejaht, nachdem der Kläger nicht nur einmal und zu einer hohen Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten wegen Diebstahls in 8 Fällen, jeweils gemeinschaftlich begangen und in einem besonders schweren Fall, durch das Landgericht Ellwangen verurteilt worden ist, sondern eine Vielzahl von einschlägigen Vorstrafen, größtenteils auch zu Zeiten, als er noch unter Bewährung stand, vorzuweisen hat. Auch ist die Einschätzung, dass die vorsätzlich begangenen und von den Strafgerichten abgeurteilten Straftaten besonders schwer wiegen, nachdem der Kläger durch Automatenaufbrüche erhebliche Beute machte und - allein bei den zuletzt abgeurteilten Straftaten - einen Sachschaden von mehr als EUR 100.000,--verursacht hat, kaum zu beanstanden. Eine konkrete Wiederholungsgefahr wurde mit der außerordentlich hohen Rückfallgeschwindigkeit begründet, nachdem sich der Kläger weder von Vorverurteilungen, noch Hafterfahrungen oder ausländerrechtlichen Verwarnungen von weiteren einschlägigen Straftaten hat abhalten lassen. Dabei wurde auch gesehen, dass die Straftaten teilweise auch durch den jahrelangen Drogenkonsum und die Drogenabhängigkeit des Klägers beeinflusst waren. Allerdings hatten die durchgeführten Therapien nur kurzeitig Erfolg. Selbst nach Abschluss einer Therapie im Juli 2003 mit günstiger Prognose konsumierte der Kläger bereits kurze Zeit später erneut Drogen und wurde dann ca. zwei Jahre später erneut, in erheblichem Umfang und über einen längeren Zeitraum, straffällig. Dass das Regierungspräsidium insoweit seine, im Verwaltungsverfahren bekundete, erneute Therapiewilligkeit nicht als Garant für eine dauerhafte Verhaltensänderung ansieht, nachdem er bereits in der Vergangenheit gezeigt hat, dass diese Bereitschaft vor dem Hintergrund der Strafverbüßung und der drohenden ausländerrechtlichen Maßnahmen zu sehen ist und daher wohl ebenfalls nur geringen dauerhaften Erfolg haben wird, ist nicht zu beanstanden. Die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr ist dabei auch angesichts der bereits jetzt schon desolaten finanziellen Lage des Klägers, den nach seiner Haftentlassung noch zu erwartenden hohen Schadensersatzforderungen der durch die Straftaten Geschädigten und der fehlenden beruflichen Zukunftsperspektive kaum zu widerlegen.
23 
Demgegenüber hat der Kläger keine nachvollziehbaren Gründe dargelegt, die in seinem Fall die Annahme rechtfertigen könnten, bei ihm liege ausnahmsweise eine günstigere Sozialprognose vor oder eine solche günstigere Sozialprognose würde sich zumindest durch neue Entwicklungen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auftun.
24 
Zutreffend geht das Regierungspräsidium weiter davon aus, dass - unabhängig von der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG - damit auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, weil zum einen der Ausweisungsanlass schwer wiegt und zum anderen eine konkrete Gefahr der Wiederholung weiterer Straftaten besteht. Nachdem beim Kläger damit auch die Hürden des nationalen Rechts aber auch des besonderen Ausweisungsschutzes gem. Art. 3 Abs. 3 ENA genommen sind, ist es nicht zu beanstanden, wenn das Regierungspräsidium über die Ausweisung des Klägers nach Ermessen entschieden hat. Die vom Regierungspräsidium unter Einbeziehung sämtlicher, in die Entscheidung einzubeziehender, Abwägungskriterien getroffene Entscheidung ist fehlerfrei erfolgt. Gründe, welche in der Entscheidung nicht oder nicht richtig gewürdigt worden sind, wurden weder aufgezeigt noch sind solche ersichtlich. Insoweit wird auf die ausführliche Darlegung in der angefochtenen Verfügung Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
25 
Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der persönlichen Belange des Klägers nach Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 - EMRK - verhältnismäßig. Zwar kann unterstellt werden, dass die Ausweisung in das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens eingreift. Allerdings sieht Art. 8 Abs. 2 EMRK insoweit vor, dass in dieses Recht eingegriffen werden darf, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Vorliegend ist die Ausweisung des Klägers als Eingriff gesetzlich vorgesehen (§ 55 AufenthG). Sie dient auch einem berechtigten Ziel, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Anordnung der Ausweisung wegen strafbarer Handlungen verurteilter Ausländer. Ferner muss die Maßnahme, um Art. 8 Abs. 2 EMRK zu genügen, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Sie muss einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere verhältnismäßig zu dem verfolgten legitimen Ziel sein. Das aber ist hier der Fall. Wie ausgeführt besteht bei einem Verbleib des Klägers im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die ernsthafte Gefahr neuer Verfehlungen des Klägers. Andererseits hat der Kläger durchaus ein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, hält er sich doch hier bereits seit seiner Geburt auf und wird insoweit auch durch die Lebensbedingungen im Bundesgebiet geprägt sein. Er verfügt auch über familiäre Bindungen im Bundesgebiet. Allerdings lebt er mit keinem seiner Verwandten mehr zusammen. Seine Geschwister führen einen eigenen Haushalt, seine Mutter soll in einem Pflegeheim untergebracht sein, sein Vater ist 1991 verstorben. Der Kläger ist mittlerweile auch 34 Jahre alt und damit auf die Lebenshilfe durch einen seiner Angehörigen nicht mehr angewiesen. Auch kann von einer echten Integration in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet angesichts seiner wiederholten Straffälligkeit und seiner fehlenden Schul- und Berufsausbildung kaum gesprochen werden. Trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet spricht einiges dafür, dass er über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügen wird, ist doch bei Ausländern der zweiten Generation - oftmals wegen der geringen deutschen Sprachkenntnisse der Eltern - davon auszugehen, dass in der Familie auch türkisch gesprochen wurde. Der Kläger befindet sich auch in einem Alter, in welchem ihm der Aufbau einer Existenz in seinem Heimatland noch möglich sein müsste, zumal bereits sein älterer Bruder im August 2002 in die Türkei abgeschoben wurde, ihm insoweit als Stütze bzw. Ansprechpartner für den Aufbau eines Lebens in der Türkei zur Verfügung stehen könnte.
26 
Soweit hingegen in Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht - EGMR (u.a. EGMR, Urt. v. 17.04.2003 - 52853/99 - (Yilmaz), NJW 2004, 2147, Urt. v. 22.04.2004 - 42703/98 - (Radovanovic), InfAuslR 2004, 374; Urt. v. 27.10.2005 - 32231/02 - (Keles), InfAuslR 2006, 3 und Urt. v. 31.01.2006 - 50252/99 -, (Sezen), InfAuslR 2006, 2355) Ausweisungen als unverhältnismäßig beurteilt wurden, die keine Befristungsentscheidung enthielten, wurde dort aber auch festgestellt, dass eine unbefristete Ausweisung nicht per se gegen Art. 8 EMRK verstößt, sondern vielmehr einer Würdigung der Gesamtumstände bedarf. Auch unter diesem Aspekt ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK bzw. Art. 6 GG nicht ersichtlich. Im Unterschied zu einigen vom EGMR entschiedenen Fällen handelt es sich bei den seinerzeit zur Ausweisung des Klägers führenden Straftaten um solche aus dem Bereich der Schwerstkriminalität. Die Ausländerbehörde hat darüber hinaus in zutreffender Weise eine Prognose über die besondere Rückfallgefahr des Klägers aufgestellt. Bei der persönlichen und familiären Situation wurden der lange Aufenthalt des Klägers und die damit verbundene und soziale Integration beachtet; aufgrund der Schwere der letzten von ihm begangenen Straftaten wurde allerdings nicht von einer echten Integration im Bundesgebiet ausgegangen. Angesichts der vom Kläger ausgehenden erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, der Schwere der begangenen Straftaten, der unbedingten Verurteilung (anders z.B. im Fall Radovanovic) und des Umstandes, dass die Taten auch nicht mit der Jugend des Ausländers „entschuldigt“ werden können (so z.B. in den Fällen Yilmaz und Radovanovic) und angesichts dessen, dass im deutschen Recht dem der Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung getragen wird, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (dazu auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.01.2007 - 13 S 451/06 -), ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK auch durch die unbedingte Ausweisung nicht festzustellen.
27 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
28 
Die Berufung war gem. § 124 a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 03. Juli 2007 - 6 K 2790/07

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 03. Juli 2007 - 6 K 2790/07 zitiert 10 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

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(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die B

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(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinsc

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(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgr

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(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer 1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 4 Erfordernis eines Aufenthaltstitels


(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 03. Juli 2007 - 6 K 2790/07 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

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Verwaltungsgericht Karlsruhe Beschluss, 09. März 2007 - 6 K 2907/06

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Tenor 1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 wird wiederhergestellt, soweit der Antragsteller aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und angeordnet, sowei

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 24. Jan. 2007 - 13 S 451/06

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Verwaltungsgericht Karlsruhe Urteil, 09. Nov. 2006 - 2 K 1559/06

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Tenor 1. Soweit die Beteiligten bezüglich Ziff. 2 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 29. Juni 2006 - 11 S 2299/05

bei uns veröffentlicht am 29.06.2006

Tenor Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 05. September 2005 - 3 K 3786/04 - wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird zugelassen. Tatbestan
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 03. Juli 2007 - 6 K 2790/07.

Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 21. Okt. 2009 - 8 K 2123/09

bei uns veröffentlicht am 21.10.2009

Tenor Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die Berufung wird zugelassen. Tatbestand   1  Der 1988 in ... geborene ledige Kl

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(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 wird wiederhergestellt, soweit der Antragsteller aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und angeordnet, soweit ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht worden ist.

2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

 
Das Begehren des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs.5 VwGO mit dem wie folgt sachdienlich zu fassenden Antrag,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 wiederherzustellen, soweit er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und anzuordnen, soweit ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht worden ist,
ist zulässig und begründet.
1. Das Gericht sieht sich veranlasst, dem Antragsteller, einem bislang nicht vorbestraften 30-jährigen türkischen Staatsangehörigen, welcher durch Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 19.01.2006 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs.5 VwGO gegen dessen für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung aus dem Bundesgebiet durch Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 (dort Ziffer 1) zu gewähren. Denn das private Interesse des Antragstellers, vorläufig von der Vollstreckung dieser ausländerrechtlichen Maßnahme verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der verfügten Ausweisung. Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Betrachtung der Sach- und Rechtslage bestehen für das Gericht durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006. Es besteht daher Anlass dazu, der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsverfügung (VG Karlsruhe, Az.: 6 K 2822/06) - wie dies auch der gesetzlichen Grundregel des § 80 Abs.1 Satz 1 VwGO entspricht - aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen.
Die durchgreifenden Zweifel des Gerichts an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Regierungspräsidiums vom 08.11.2006 knüpfen daran an, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Ausweisung des Antragstellers die Regelung des Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30.04.2004, L 158/ 77) unbeachtet gelassen hat. Es spricht aber viel dafür, dass sich der Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner gerade auf eine entsprechende Anwendung der Ausweisungsschutzvorschrift des Art. 28 Abs.3 dieser Richtlinie berufen kann.
Unstreitig rechnet der Antragsteller, der in Deutschland geboren, aufgewachsen und ausgebildet worden ist, und der während seines ganzen Lebens im Bundesgebiet wohnhaft gewesen ist, zu dem durch die Regelungen des Beschlusses Nr.1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei begünstigten Personenkreis. Die Zulässigkeit einer Ausweisung aus dem Bundesgebiet bestimmt sich danach bei ihm in erster Linie nach der Reglung in Artikel 14 dieses Beschlusses, dessen Auslegung und Anwendung durch die langjährige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zwischenzeitlich auch durch das Bundesverwaltungsgericht nachvollzogen worden ist (vgl. insbesondere die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29/02 -, BVerwGE 121, 315 = NVwZ 2005, 224, vom 15.03.2005 - 1 C 2/04 -, NVwZ 2005, 274 und vom 28.06.2006 - 1 C 4/06 -, juris). Hiernach ist insbesondere aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.2004 (Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri -, DVBl. 2004, 876) auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr.1/80 berufen können, von besonderen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen. Gerade auch die materiell-rechtlichen Grundsätze, die bei einer Aufenthaltsbeendigung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger gelten, sind danach auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, welche ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen. Als Beispiel nennt das Bundesverwaltungsgericht etwa Art. 39 Abs.3 EG und den diese Norm konkretisierenden Artikel der - zwischenzeitlich aufgehobenen - Richtlinie 64/221/EWG, wonach jeder Anschein zu vermeiden ist, dass strafrechtliche Verurteilungen einer privilegierten Person keine andere Rechtsfolge zulassen als ihre Ausweisung oder jedenfalls eine gewisse „Vermutung“ zugunsten ihrer Ausweisung begründen, woraus folgt, dass eine Ausweisung allein aufgrund einer Ermessensentscheidung vorgenommen werden darf.
Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat mit der von dem Antragsteller angegriffenen Entscheidung vom 08.11.2006 zwar diese mittlerweile ständige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung berücksichtigt und insbesondere eine Ermessensentscheidung getroffen, welche zu Lasten des Antragstellers auch lediglich auf spezialpräventive Gesichtspunkte abstellt. Unberücksichtigt gelassen hat das Regierungspräsidium indes, dass zwischenzeitlich die Unionsbürger betreffenden Regelungen nochmals geändert wurden und insbesondere die bisherige Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG, welche mit Ablauf der Frist für die Umsetzung in nationales Recht am 30.04.2006 nunmehr unmittelbar Geltung beansprucht, aufgehoben und ersetzt worden ist. Es spricht nach der Einschätzung des Gerichts vieles dafür, dass nunmehr insbesondere die Ausweisungsvorschrift des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG auch auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige entsprechende Anwendung findet (so ausdrücklich bejahend: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 -, juris, HessVGH, Beschl. v. 12.07.2006, AuAS 2006, 232, VG Karlsruhe, Urt. v. 09.11.2006 - 2 K 1559/06 -, juris; offen gelassen: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 01.12.2006 - 18 B 2219/06 -, juris, VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -, juris und Niedersächs. OVG, Urt. v. 16.05.2006, InfAuslR 2006, 350; vgl. im Übrigen den auch die einschlägige Frage betreffenden Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof des VG Darmstadt vom 16.08.2006 - 8 E 1364/05 -, juris; zum Streitstand allgemein vgl. die Erläuterungen des HTK-AuslR unter 3.2 zu Artikel 14 ARB 1/80). Dabei dürfte es nach Auffassung des Gerichts - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - keine Rolle spielen, dass die Richtlinie 2004/38/EG ausdrücklich nur das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen betrifft und assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige nicht erwähnt. Denn dasselbe galt auch für die Vorgängerrichtlinie 64/221/EWG, und nach der Auffassung des Gerichts kann jedenfalls nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens und des Artikel 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Assoziationsratsbeschlusses Nr.1/80 herleitet, dass die für Unionsbürger geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf die türkischen Staatsangehörigen, die die im Beschluss Nr.1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 10.02.2000 - Nazli -, NVwZ 2000, 1029), woraus der Gerichtshof folgert, dass bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs.1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird, zumal die genannte Vorschrift nahezu denselben Wortlaut wie Art. 39 Abs.3 EG hat. Dass dabei etwaige im Rahmen einer Weiterentwicklung des Rechts zu Gunsten von Unionsbürgern erfolgte Änderungen nicht auch den assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen zukommen sollen, wie dies offenbar der Antragsgegner meint, erscheint dem Gericht nicht schlüssig.
Bei einer Berücksichtigung von Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG dürfte aber der Antragsteller, weil er seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland hatte, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden. Diese Regelung stellt im Rahmen der Stufenfolge des Art. 28 eine Begünstigung gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dar, welche zwar das Recht zum Daueraufenthalt in einem Aufnahmemitgliedsstaat genießen, sich jedoch dort zuletzt noch nicht 10 Jahre lang aufgehalten haben. Jener Personenkreis darf gem. Art. 28 Abs. 2 aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgewiesen werden. Ersichtlich reicht daher der Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs.3 der Richtlinie weiter als derjenige, den das Regierungspräsidium Karlsruhe in seiner Entscheidung vom 08.11.2006 hinsichtlich des Antragstellers bereits aus Art. 14 ARB 1/80, § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG sowie Art. 3 Abs.3 des Europäischen Niederlassungsabkommens zu Gunsten des Antragstellers abgeleitet hat. Dem entsprechend sieht auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union bezüglich einer beabsichtigten Änderung von § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vor, dass eine Feststellung nach § 6 Abs.1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden darf. Entsprechend dem Gesetzentwurf können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
Auch wenn das erwähnte Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union bislang noch nicht verabschiedet und in Kraft getreten ist, dürfte jedenfalls in dem Fall des Antragstellers, der zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist, von dem Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG nicht ausgegangen werden können, obgleich auch nicht der Auffassung der Antragstellerseite zu folgen sein dürfte, nach welcher diese Regelung eine Ausweisung nur noch aus Gründen der Sicherheit des Staates zulässt.
10 
Wegen der sonach bestehenden durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe hält das Gericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsentscheidung für sachgerecht.
11 
2. In der Folge der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsentscheidung ist auch die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die verfügte Androhung seiner Abschiebung in die Türkei (Ziff. 3 der Verfügung vom 08.11.2006) gemäß § 80 Abs.5 Satz 1 VwGO anzuordnen. Denn aufgrund der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsentscheidung fehlt es an dem Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers (vgl. § 58 Abs.2 AufenthG), welche ihrerseits Voraussetzung für den Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des verfügten Inhalts ist (vgl. §§ 58 Abs.1, 59 AufenthG).
12 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO.
13 
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus den §§ 53 Abs.3 Nr.2, 52 Abs.1, 39 Abs.1 GKG.

Tenor

1. Soweit die Beteiligten bezüglich Ziff. 2 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

2. Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006 wird unter Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung) aufgehoben.

3. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

 
Mit der Klage wendet sich der Kläger zuletzt gegen seine Ausweisung.
Der am ... im Bundesgebiet geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er besitzt einen im Berufsvorbereitungsjahr erworbenen Hauptschulabschluss und hat eine Lehre als Maler und Lackierer erfolgreich im Juli ... abgeschlossen. Der Kläger lebt nicht mehr bei seiner Familie, ist ledig und hat keine Kinder. Nach Abschluss seiner Lehre arbeitete er, mit kurzen Zeiten von Arbeitslosigkeit, allerdings nicht in seinem erlernten Beruf. Zuletzt war er bis zum Jahresende 2005 befristet im Gartenbau als Hilfsarbeiter beschäftigt. Seine Eltern leben im Bundesgebiet. Sein Vater, zwischenzeitlich Rentner, ist nach einem Schlaganfall behindert und sitzt im Rollstuhl.
Der Kläger ist im Bundesgebiet wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
1. Amtsgericht ... - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 03.03.1998, Straftat: Gefährliche Körperverletzung, Strafmaß: Verwarnung.
2. Amtsgericht ... - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 29.04.1998, Straftaten: zwei Vergehen des gemeinschaftlichen Diebstahls, ein Vergehen des gemeinschaftlichen Diebstahls in einem erschwerten Fall, Strafmaß: 50 Stunden Arbeit nach Weisung des Jugendamtes.
3. Amtsgericht ..., Urteil vom 05.01.2000, Straftat: Körperverletzung; die Entscheidung über die Verhängung von Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
4. Amtsgericht ..., Urteil vom 18.10.2000, Straftaten: unerlaubter Erwerb von Betäubungsmittel in 16 Fällen, vorsätzliche Körperverletzung, Strafmaß: 1 Jahr Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
5. Amtsgericht ..., - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 30.08.2001, Straftaten: Diebstahl, Computerbetrug, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Strafmaß: 1 Jahr und 6 Monate Einheitsjugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die nachfolgenden Straftaten wurden der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung zugrunde gelegt:
10 
1. Amtsgericht ..., Urteil vom 19.07.2005, Straftaten: unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen und unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, Strafmaß: 9 Monate Gesamtfreiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
11 
Die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wurde durch Beschluss des Amtsgerichts ... vom 07.11.2005 widerrufen, nachdem der Kläger keinen Kontakt zu seinem Bewährungshelfer aufgenommen, auf Anschreiben nicht reagiert und zur Drogenberatung keine Verbindung aufgenommen hatte sowie seiner Zahlungsauflage hinsichtlich der Drogenhilfe nicht nachgekommen war.
12 
2. Amtsgericht ..., Urteil vom 22.12.2005, Straftaten: unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Strafmaß 1 Jahr und 3 Monate Freiheitsstrafe.
13 
Eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgte wegen einer vom Strafgericht als schlecht erachteten Legal- und Kriminalprognose des Klägers nicht.
14 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, wies den Kläger mit Verfügung vom 03.05.2006 unter gleichzeitiger Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und unter Beifügung einer Abschiebungsandrohung bezüglich der Türkei aus der Bundesrepublik Deutschland aus.
15 
Die Verfügung wurde im Wesentlichen damit begründet, der Kläger könne sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 berufen, weshalb seine Ausweisung nur aus spezialpräventiven Gründen nach Ermessen gem. § 55 AufenthG erfolgen könne. Der weitere Aufenthalt des Klägers stelle eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Denn bei Würdigung des Lebenslaufes des Klägers und seiner kriminellen Energie, die durch die Straftaten zum Ausdruck gekommen sei, bestehe die erhebliche Besorgnis, dass der Kläger weiterhin, vor allem im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, Straftaten begehen werde. Die wirtschaftliche Situation des Klägers biete Anlass zur Sorge, nachdem er nicht in seinem erlernten Beruf gearbeitet habe, seit Dezember 2004 arbeitslos sei und im Jahr 2005 nur für drei Monate befristet in einem Gärtnereibetrieb Arbeit gefunden habe. Die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hätten ihn nicht davon abhalten können, Straftaten zu begehen. Insbesondere sei herauszuheben, dass der Kläger bereits 10 Tage nach seiner strafgerichtlichen Verurteilung durch das Amtsgericht ... am 19.07.2005 wiederum einschlägig in Erscheinung getreten sei. Auch der langjährige eigene Drogenkonsum des Klägers erhärte die negative Prognose. Der Ausweisung stehe weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK entgegen. Der Kläger sei im Bundesgebiet auf ein Zusammenleben mit den Eltern nicht angewiesen und habe darüber hinaus keine festen Bindungen. Der Kläger könne auch nicht als „faktischer Inländer“ angesehen werden. Es sei aufgrund der Erziehung durch seine Eltern davon auszugehen, dass er der türkischen Sprache mächtig sei und sich in die türkischen Lebensverhältnisse integrieren könne. Zwar könne sich der Kläger auf Art. 3 Abs. 3 ENA berufen, doch dürfe er nach dieser Bestimmung ausgewiesen werden, weil hierfür besonders schwerwiegende Gründe vorlägen.
16 
Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei abzulehnen gewesen, nachdem der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei (§ 11 Abs. 1 AufenthG).
17 
Die ordnungsgemäße Zustellung der Ausweisungsverfügung lässt sich den vorgelegten Behördenakten nicht entnehmen.
18 
Am 20.06.2006 hat der Kläger Klage erhoben und zuletzt beantragt,
19 
die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziff. 1 und 3, aufzuheben.
20 
Die Klagebegründung wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Kläger bei Begehung der Straftaten suchtkrank gewesen sei. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger, der unter keinen Entzugserscheinungen leide, seine Sucht infolge seiner Inhaftierung in Griff bekommen habe und nunmehr „clean“ sei. Der Kläger verfüge über keine persönlichen Bindungen zur Türkei und spreche nahezu kein Türkisch.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Klage abzuweisen.
23 
Die Klageerwiderung stützt sich im Wesentlichen darauf, allein der Hinweis des Klägers, er leide nicht unter Entzugserscheinungen, rechtfertige nicht die Annahme, er sei zwischenzeitlich nicht mehr suchtkrank. In diesem Zusammenhang sei beachtlich, dass die Strafvollstreckungsbehörde die Strafvollstreckung zur Aufnahme einer Therapie gem. § 35 BtmG nicht zurückgestellt habe. Gegen eine günstige Zukunftsprognose des Klägers spreche auch seine desolate wirtschaftliche Lage. Außer Einkünften aus den Drogengeschäften habe er über kein ausreichendes legales Einkommen verfügt, so dass zwischenzeitlich Schulden aufgelaufen seien. Aufgrund dessen habe er seine Wohnung aufgeben müssen. Es bestehe daher die erhebliche Besorgnis, dass der Kläger nach der Haftentlassung wiederum von illegalen Einkünften aus dem Drogenhandel lebe. Der Kläger sei volljährig, Malergeselle und besitze zumindest noch Grundkenntnisse des Türkischen. Es sei ihm zuzumuten, sich eingehendere Kenntnisse seiner Muttersprache anzueignen und sich zumindest eine gewisse Zeit ohne direkte persönliche Unterstützung durch seine Familie im Ausland aufzuhalten. Die Schaffung einer eigenen wirtschaftlichen Existenz in der Türkei könne dem Kläger bei entsprechender Anstrengung gelingen.
24 
In der mündlichen Verhandlung ist die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziff. 2 der Verfügung vom 03.05.2006) aufgehoben worden.
25 
Des Weiteren wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die vorgelegten Behördenakten (1 Heft Ausländerakte, 1 Heft des Beklagten), die Strafakten der Verfahren 8 Ds 91 Js 16570/04 und 2 Ls 91 Js 9926/05 sowie auf die Niederschrift über die mündlichen Verhandlung vom 09.11.2006 verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
26 
Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet.
27 
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 VwGO analog).
28 
Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung), ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; sie war deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
29 
Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 ARB 1/80 zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm zu ziehen“ in Art. 7 S. 1 ARB 1/80), dass der Kläger hier geboren ist und im Bundesgebiet stets gelebt hat; auch durch die verhängte und derzeit verbüßte Freiheitsstrafe gehen dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verlustig (EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C - 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Auch dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei seinen Eltern hatte, von denen er sein aus Art. 7 ARB 1/80 resultierendes Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, berührt sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 -). Für die nach der Haftentlassung beabsichtigte Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ist der Kläger über die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 hinaus auch nicht gehalten, die strengeren Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03).
30 
Zwar erfüllt der Kläger aufgrund seiner im Tatbestand aufgeführten letzten Straftat den grundsätzlich zu einer zwingenden Ausweisung führenden Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger jedoch den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des BVerwG nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. BVerwG, Urteile v. 03.08.2004 - 1 C 30/02 - u. 1 C 29/02 -; 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).
31 
Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagte die Ausweisung des Klägers ermessensfehlerfrei verfügt und die Vorgaben des EuGH und des BVerwG, die bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu berücksichtigen sind, beachtet hat (vgl. die vorstehenden Urteilszitate). Denn die Ausweisungsverfügung beachtet nicht, dass der Kläger nach Art. 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (nachfolgend: RL) hätte nicht ausgewiesen werden dürfen. Art. 28 Abs. 3 lit.a RL bestimmt, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben.
32 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese auch unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; m.w.N.).
33 
Art. 28 RL gilt auch für türkische Staatsangehörige, die, wie der Kläger, ein direkt aus Art. 6, 7 ARB 1/ 80 resultierendes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der EG haben (§ 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert dieses Aufenthaltsrecht nur durch die Ausstellung einer - deklaratorischen - Aufenthaltserlaubnis, vgl. Hailbronner, AuslR, § 4 AufenthG, Rd.Nr. 61 ff, m.w.N.). Denn da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren ( EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (vgl. Urteile v. 02.06.2005 - C-138/03 -; v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ( BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 RL mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).
34 
Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien, u.a. die Richtlinie 64/221 EWG - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden.
35 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL, der einen gestuften Schutz vor Ausweisung vorsieht, der darin mündet, dass nach dessen Abs. 3 gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (lit. a) oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig (lit. b).
36 
Der EuGH hat auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil v. 30.09.2004 - C-275/02 - [Ayaz]) oder in Art. 3 der Richtlinie 64/221 (Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]; oder in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG (Urteil v. 02.06.2005 - C-163/03 - [Dörr und Ünal]) ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen und spricht von einer Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistung durch Richtlinien der EU, die deshalb auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden seien (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004, a.a.O.).
37 
Die Kammer folgt der im Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - vertretenen Auffassung, es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die in der Richtlinie 2004/38/EG vorgenommene Ausgestaltung und Konkretisierung der EU-Angehörigen zukommenden Freizügigkeitsgewährleistungen nicht auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörig anzuwenden seien. Der Hess. VGH hat in seinem o.g. Beschluss zutreffend herausgearbeitet, dass die "Stufenfolge" der Ausweisungseinschränkungen, die Art. 28 RL vorsehe, als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes naheliegender und zwangloser aus Art. 39 Abs. 3 EG und der Ermächtigung in Art. 40 EG ableitbar sei, als die verfahrensrechtliche Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 9 Richtlinie 64/221 EWG. Dem würden die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; Beschluss v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05-), das eine gegenteilige Auffassung vertrete, nicht hinreichend Rechnung tragen. Dies hat auch für den im Ergebnis mit der in den vorgenannten Entscheidungen des Nieders. OVG vertretenen Auffassung identischen Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.03.2005 - 18 B 1751/04 - zu gelten.
38 
Der Ausweisung des Klägers, der in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet seinen Aufenthalt gehabt hat, ist damit Art. 28 Abs. 3 RL zugrundezulegen. Seine Ausweisung darf danach nicht mehr verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Aus den in der Richtlinie verwendeten Begriffen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit lässt sich der Schluss ziehen, dass mit dem letzteren Begriff eine über die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit hinausgehende Voraussetzung für eine zulässige Ausweisung vorliegen muss. Hierfür ist beim Kläger nichts erkennbar. Die Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten und das Begehen einer weiteren einschlägigen Straftat nach dem BtMG nur wenige Tage nach seiner Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe würde nach Ansicht der Kammer aller Voraussicht nach die Ausweisung des Klägers tragen, wenn man dieser den bisher gültigen Maßstab für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die sich zudem noch auf Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen - wie beim Kläger gegeben - berufen können (vgl. BVerwG, Urte. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 und v. 29.09.1998 - 1 C 8/96 -; m.w.N.), zugrundezulegen hätte. Das Verhalten des Klägers vermag aber nicht die nunmehr von Art. 28 Abs. 3 RL einer Ausweisung entgegen gestellte höhere Hürde zu nehmen; sie ist nicht aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich. Der Bundesgesetzgeber ist noch nicht der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 RL nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Die Kammer hat daher die im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vorgesehene Konkretisierung zu Grunde gelegt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen hiernach nur dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06). Diesen Rahmen sprengt das strafrechtliche Verhalten des Klägers (bisher) nicht. Die Ausweisungsverfügung des Beklagten war demzufolge aufzuheben.
39 
Da die Ausweisung rechtswidrig ist, ist die Abschiebungsandrohung ebenfalls aufzuheben (§§ 58 Abs. 1, 2; 59 Abs. 1 AufenthG).
40 
Die Berufung ist nach § 124a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Fragen der Anwendung der Richtlinie 38/2004 EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige und der Konkretisierung der dort unter Art. 28 Abs. 3 RL vorgenommenen Beschränkung einer Ausweisung auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ zuzulassen.
41 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO.
42 
Beschluss
43 
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO auf EUR 10.000,00 festgesetzt.
44 
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs. 1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

Gründe

 
26 
Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet.
27 
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 VwGO analog).
28 
Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung), ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; sie war deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
29 
Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 ARB 1/80 zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm zu ziehen“ in Art. 7 S. 1 ARB 1/80), dass der Kläger hier geboren ist und im Bundesgebiet stets gelebt hat; auch durch die verhängte und derzeit verbüßte Freiheitsstrafe gehen dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verlustig (EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C - 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Auch dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei seinen Eltern hatte, von denen er sein aus Art. 7 ARB 1/80 resultierendes Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, berührt sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 -). Für die nach der Haftentlassung beabsichtigte Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ist der Kläger über die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 hinaus auch nicht gehalten, die strengeren Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03).
30 
Zwar erfüllt der Kläger aufgrund seiner im Tatbestand aufgeführten letzten Straftat den grundsätzlich zu einer zwingenden Ausweisung führenden Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger jedoch den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des BVerwG nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. BVerwG, Urteile v. 03.08.2004 - 1 C 30/02 - u. 1 C 29/02 -; 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).
31 
Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagte die Ausweisung des Klägers ermessensfehlerfrei verfügt und die Vorgaben des EuGH und des BVerwG, die bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu berücksichtigen sind, beachtet hat (vgl. die vorstehenden Urteilszitate). Denn die Ausweisungsverfügung beachtet nicht, dass der Kläger nach Art. 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (nachfolgend: RL) hätte nicht ausgewiesen werden dürfen. Art. 28 Abs. 3 lit.a RL bestimmt, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben.
32 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese auch unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; m.w.N.).
33 
Art. 28 RL gilt auch für türkische Staatsangehörige, die, wie der Kläger, ein direkt aus Art. 6, 7 ARB 1/ 80 resultierendes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der EG haben (§ 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert dieses Aufenthaltsrecht nur durch die Ausstellung einer - deklaratorischen - Aufenthaltserlaubnis, vgl. Hailbronner, AuslR, § 4 AufenthG, Rd.Nr. 61 ff, m.w.N.). Denn da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren ( EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (vgl. Urteile v. 02.06.2005 - C-138/03 -; v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ( BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 RL mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).
34 
Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien, u.a. die Richtlinie 64/221 EWG - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden.
35 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL, der einen gestuften Schutz vor Ausweisung vorsieht, der darin mündet, dass nach dessen Abs. 3 gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (lit. a) oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig (lit. b).
36 
Der EuGH hat auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil v. 30.09.2004 - C-275/02 - [Ayaz]) oder in Art. 3 der Richtlinie 64/221 (Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]; oder in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG (Urteil v. 02.06.2005 - C-163/03 - [Dörr und Ünal]) ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen und spricht von einer Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistung durch Richtlinien der EU, die deshalb auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden seien (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004, a.a.O.).
37 
Die Kammer folgt der im Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - vertretenen Auffassung, es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die in der Richtlinie 2004/38/EG vorgenommene Ausgestaltung und Konkretisierung der EU-Angehörigen zukommenden Freizügigkeitsgewährleistungen nicht auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörig anzuwenden seien. Der Hess. VGH hat in seinem o.g. Beschluss zutreffend herausgearbeitet, dass die "Stufenfolge" der Ausweisungseinschränkungen, die Art. 28 RL vorsehe, als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes naheliegender und zwangloser aus Art. 39 Abs. 3 EG und der Ermächtigung in Art. 40 EG ableitbar sei, als die verfahrensrechtliche Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 9 Richtlinie 64/221 EWG. Dem würden die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; Beschluss v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05-), das eine gegenteilige Auffassung vertrete, nicht hinreichend Rechnung tragen. Dies hat auch für den im Ergebnis mit der in den vorgenannten Entscheidungen des Nieders. OVG vertretenen Auffassung identischen Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.03.2005 - 18 B 1751/04 - zu gelten.
38 
Der Ausweisung des Klägers, der in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet seinen Aufenthalt gehabt hat, ist damit Art. 28 Abs. 3 RL zugrundezulegen. Seine Ausweisung darf danach nicht mehr verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Aus den in der Richtlinie verwendeten Begriffen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit lässt sich der Schluss ziehen, dass mit dem letzteren Begriff eine über die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit hinausgehende Voraussetzung für eine zulässige Ausweisung vorliegen muss. Hierfür ist beim Kläger nichts erkennbar. Die Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten und das Begehen einer weiteren einschlägigen Straftat nach dem BtMG nur wenige Tage nach seiner Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe würde nach Ansicht der Kammer aller Voraussicht nach die Ausweisung des Klägers tragen, wenn man dieser den bisher gültigen Maßstab für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die sich zudem noch auf Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen - wie beim Kläger gegeben - berufen können (vgl. BVerwG, Urte. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 und v. 29.09.1998 - 1 C 8/96 -; m.w.N.), zugrundezulegen hätte. Das Verhalten des Klägers vermag aber nicht die nunmehr von Art. 28 Abs. 3 RL einer Ausweisung entgegen gestellte höhere Hürde zu nehmen; sie ist nicht aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich. Der Bundesgesetzgeber ist noch nicht der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 RL nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Die Kammer hat daher die im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vorgesehene Konkretisierung zu Grunde gelegt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen hiernach nur dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06). Diesen Rahmen sprengt das strafrechtliche Verhalten des Klägers (bisher) nicht. Die Ausweisungsverfügung des Beklagten war demzufolge aufzuheben.
39 
Da die Ausweisung rechtswidrig ist, ist die Abschiebungsandrohung ebenfalls aufzuheben (§§ 58 Abs. 1, 2; 59 Abs. 1 AufenthG).
40 
Die Berufung ist nach § 124a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Fragen der Anwendung der Richtlinie 38/2004 EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige und der Konkretisierung der dort unter Art. 28 Abs. 3 RL vorgenommenen Beschränkung einer Ausweisung auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ zuzulassen.
41 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO.
42 
Beschluss
43 
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO auf EUR 10.000,00 festgesetzt.
44 
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs. 1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 05. September 2005 - 3 K 3786/04 - wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung in die Türkei.
Der 1970 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. 1991 heiratete er eine türkische Staatsangehörige, die seit 1975 in Deutschland lebt, 1990 eine Aufenthaltsberechtigung erhalten hatte und als angestellte Friseurin beschäftigt war. Nach der Eheschließung reiste der Kläger mit einem Visum zur Familienzusammenführung zu seiner in Köln lebenden Ehefrau in das Bundesgebiet ein. Am 06.11.1992 erteilte ihm die Stadt Köln erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit verlängert wurde. Am 19.07.1993 wurde der gemeinsame Sohn der Eheleute geboren. Am 25.11.1997 erhielt der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seit 1998 lebt der Kläger von seiner Ehefrau getrennt; mittlerweile ist die Ehe geschieden.
Von Juli 1993 bis März 1995 arbeitete der Kläger bei der Firma .... Ab April 1995 bis Dezember 2002 war der Kläger bei der Firma A. G. ... als Metallputzer beschäftigt. Als die Gießerei Ende 2002 ihren Betrieb aufgab, wurde er arbeitslos.
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 - 14 K Ls 203 Js 79186/02 - wurde der Kläger wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen unerlaubten bewaffneten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladewaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zur Schaffung einer Einnahmequelle hatte der Kläger im Januar/Februar 2003 zusammen mit anderen Mittätern 500 g aus den Niederlanden eingeführtes Kokain an einen verdeckten Ermittler der Polizei verkauft sowie darüber hinaus versucht, an diesen Ermittler weitere 5 kg Kokain (bzw. Kokainimitat) zu verkaufen. Das Strafgericht hat die Taten bei allen Tatbeteiligten als minder schweren Fall angesehen, weil von vornherein auf der Käuferseite bei beiden Geschäften verdeckte Ermittler eingeschaltet gewesen seien. Bei der Strafzumessung ist das Strafgericht beim Kläger von einem erheblichen Maß an krimineller Energie ausgegangen und hat berücksichtigt, dass der Kläger bei der zweiten Tat eine Waffe mit sich geführt sowie im wesentlichen den telefonischen Kontakt aus Deutschland zu den Lieferanten aus Holland gehalten habe.
Wegen der genannten Straftat wurde der Kläger am 09.02.2003 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt in Untersuchungshaft in die JVA Mannheim genommen. Als Anschrift des Klägers war in diesem Haftbefehl die K. ... in K. angegeben, von wo der Kläger allerdings nach den Daten des Ausländerzentralregisters am 29.05.2000 „nach unbekannt“ abgemeldet worden war. Mit Schreiben vom 28.02.2003 hörte das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger zu seiner beabsichtigten Ausweisung an. Der Kläger machte sinngemäß (nur) geltend, mit einer Ausweisung nicht einverstanden zu sein.
Mit Schreiben vom 06.03.2003 und 14.03.2003 teilte die Stadtverwaltung Köln dem Regierungspräsidium Karlsruhe mit, dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe, von seiner Ehefrau getrennt lebe und die Wohnung K. ... leer stehe.
Am 23.06.2003 ging beim Regierungspräsidium Karlsruhe die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 11.06.2003 ein, aus der sich ergibt, dass der Kläger von April 1999 bis zu seiner Inhaftierung bei seiner (seinerzeit noch anderweitig verheirateten) Lebensgefährtin L. B. in deren Wohnung in der O. Straße ... K. gewohnt habe, ohne dort gemeldet gewesen zu sein.
Im September 2004 wurde der Kläger in die JVA Köln verlegt.
Mit Verfügung vom 12.10.2004 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt: Der Kläger erfülle die Ist-Ausweisungstatbestände des § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 AuslG stehe dem Kläger nicht zu, da er zwar über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfüge, aber nicht als Minderjähriger, sondern erst als Erwachsener in das Bundesgebiet eingereist sei. Er könne aber auch dann ausgewiesen werden, wenn er diesen Schutz genieße. Aufgrund der am 11.03.2004 abgeurteilten Straftat liege ein schwerwiegender spezialpräventiver Ausweisungsgrund vor. Vom Kläger gehe auch nach wie vor eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Bei schwerwiegenden Straftaten wie dem unerlaubten bandenmäßigen Handeltreiben mit Kokain in nicht geringer Menge dürfe im allgemeinen allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens eine hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen bejaht werden. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger bis zu seiner Verurteilung vom 11.03.2004 nicht vorbestraft gewesen sei. Bei der begangenen schweren Betäubungsmittelstraftat habe der Kläger eine erhebliche kriminelle Energie offenbart, die auch in Zukunft - zur eigenen Bereicherung - die Begehung schwerer Betäubungsmittelstraftaten erwarten lasse. Weder die Ehe noch die Geburt eines Kindes noch der Umstand, dass der Kläger in Deutschland bei verschiedenen Firmen erwerbstätig gewesen sei, habe ihn von der Begehung der schweren Betäubungsmittelstraftaten abhalten können. Angesichts des hohen Ranges der durch den Kläger gefährdeten Rechtsgüter seien geringere Anforderungen an den Grad der bestehenden Wiederholungsgefahr zu stellen. Es könne deshalb dahingestellt bleiben, ob die Ausweisung des Klägers auch allein aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt wäre. Dies dürfe aber wohl der Fall sein, denn es bestehe ein dringendes Bedürfnis dafür, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass insbesondere schwere Betäubungsmittelstraftaten nicht nur strafrechtliche Konsequenzen hätten.
10 
Eine Ausweisung aus rein generalpräventiven Gründen sei aber nur dann rechtlich zulässig, wenn der Kläger keine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 habe. Sollte der Kläger (noch) assoziationsrechtlich privilegiert sein, wovon zu seinen Gunsten ausgegangen werde, könne er nur im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung nach §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2 AuslG ausgewiesen werden. Im vorliegenden Fall sei es unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich, den Kläger zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Die Ausweisung verstoße insbesondere nicht gegen Art. 6 GG, da der Kläger von Ehefrau und Sohn getrennt lebe. Es sei davon auszugehen, dass zu dem Sohn keine Lebens- und Beistandsgemeinschaft mehr, sondern nur noch eine bloße Begegnungsgemeinschaft bestanden habe. Selbst wenn der Kläger seinem Sohn bis zu seiner Inhaftierung Lebenshilfe im Sinne einer Beistandsgemeinschaft geleistet hätte, stünde in Anbetracht der schweren Betäubungsmittelstraftaten und der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr die Vater-Kind-Beziehung der Ausweisung nicht entgegen. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Sohn des Klägers durch die Ausweisung und Abschiebung in die Türkei nennenswerte Schäden davontragen werde, da er bei seiner Mutter lebe und von dieser ausreichend versorgt werde. Außerdem könnten die privaten Belange des Klägers und seines Sohnes auch im Rahmen einer Befristungsentscheidung nach § 8 Abs. 2 AuslG angemessen berücksichtigt werden. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen supranationale Rechtsvorschriften. Da spezialpräventive Gründe vorlägen, die nach Art. 14 ARB 1/80 eine Ausweisung rechtfertigten, könne insbesondere der Assoziationsratsbeschluss 1/80 keine Ausweisungsbeschränkung darstellen. Auch Art. 8 EMRK stehe einer Ausweisung nicht entgegen. Es sei insbesondere in keiner Weise ersichtlich, dass der Kläger zu einem seinem Heimatland völlig entfremdeten „faktischen Inländer“ geworden sei, dem eine Rückkehr in die Türkei nicht zugemutet werden könne.
11 
Im Zusammenhang mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisungsverfügung führte das Regierungspräsidium Folgendes aus: Es bestehe die begründete Besorgnis, dass der Kläger während eines Klageverfahrens, welches erfahrungsgemäß mehrere Jahre in Anspruch nehmen könne, erneut strafbare Handlungen begehen werde. Die fortbestehende qualifizierte Wiederholungsgefahr bestehe nicht nur für die Zeit nach der Haftentlassung, sondern auch - wenn auch abgeschwächt - für die Zeit des Strafvollzuges; auch im Strafvollzug würden erwiesenermaßen viele Straftaten, insbesondere auch Betäubungsmittelstraftaten, begangen. Es liege daher im besonderen öffentlichen Interesse - auch allein aufgrund der bekanntermaßen völlig überfüllten Strafanstalten -, dass das gesetzliche Abschiebegebot nach § 49 AuslG zum rechtlich frühestmöglichen Zeitpunkt vollzogen werde. Eine Freigabe zur Abschiebung sei bereits zum Halbstrafentermin möglich bzw. werde - wie andere Entscheidungen von Strafvollstreckungskammern bzw. Strafvollstreckungsbehörden zeigten - im Ausnahmefall auch schon vor dem Halbstrafentermin erteilt. Darüber hinaus dürfe die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisung auch aus Gründen der Generalprävention gerechtfertigt sein. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass eine möglichst zeitnah zu der Anlasstat getroffene und vollzogene Sanktion besonders wirksam sei. Je dringender das Bedürfnis sei, andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Tat und Schwere abzuhalten, um so eher bedürfe es einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung. Die durch die Ausweisung angestrebte Generalprävention verliere gerade dann erheblich an Wirkung, wenn der Ausgewiesene auch nach der Begehung schwerwiegender Straftaten wegen der Dauer der Rechtsbehelfsverfahren unter Umständen noch mehrere Jahre im Bundesgebiet verbleibe.
12 
Gegen die Ausweisung hat der Kläger Klage erhoben und im Klageverfahren zur Begründung ausgeführt, das Regierungspräsidium Karlsruhe sei für den Erlass der Verfügung nicht zuständig gewesen. Örtlich zuständig sei die Behörde, in deren Bezirk der Ausländer seinen Aufenthalt habe oder zuletzt gehabt habe. Der Kläger sei seit September 2004 in Köln gemeldet und habe seinen Lebensmittelpunkt schon seit seiner Einreise in das Bundesgebiet in Köln gehabt. Durch die Verbüßung einer Untersuchungshaft werde typischerweise kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet. Außerdem habe der Kläger zum Zeitpunkt der Verfügung bereits nicht mehr in der JVA Mannheim, sondern in der JVA Köln eingesessen. Die Ausweisung verstoße außerdem gegen den Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80. Der Kläger sei 1992 im Zuge der Familienzusammenführung zu seiner assoziationsberechtigten türkischen Ehefrau in das Bundesgebiet eingereist und habe bis zu seiner Inhaftierung seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland gelebt. Danach sei er im Sinne des Art. 7 ARB 1/80 assoziationsrechtlich privilegiert. Die für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern entwickelten Grundsätze müssten auf die Ausweisung von Assoziationsberechtigten übertragen werden. Dies sei vorliegend nicht erfolgt. Die für eine Ermessensentscheidung erforderlichen spezialpräventiven Gründe lägen nicht vor. Der Kläger habe einen Schlussstrich unter seine strafrechtliche Vergangenheit gezogen. Eine Wiederholungsgefahr sei nicht mehr gegeben. Auch liege ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Die Beziehung des Klägers zu seinem Sohn sei nicht ausreichend berücksichtigt worden.
13 
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ergänzend geltend gemacht, das Regierungspräsidium Karlsruhe sei für die Ausweisungsentscheidung zuständig gewesen, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Verfügung schon seit längerem in der JVA Mannheim eingesessen sei. Eine spätere Verlegung nach Köln sei nicht bekannt gewesen und auch unerheblich.
14 
Mit Beschluss vom 02.12.2004, dem Regierungspräsidium Karlsruhe zugegangen am 20.12.2004, hat die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Ausweisung des Klägers ab dem 09.05.2005 (d.h. nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe) von einer weiteren Strafvollstreckung abgesehen.
15 
Während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hat die Stadt Köln mit Schriftsatz vom 02.09.2005 - auch rückwirkend - der Fortführung des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe zugestimmt.
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Mit Urteil vom 05.09.2005 (3 K 3786/04) hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 aufgehoben. Das Verwaltungsgericht hat dabei seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Frage, ob das Regierungspräsidium Karlsruhe für das Ausweisungsverfahren örtlich zuständig gewesen sei, könne dahingestellt bleiben, denn die Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 sei jedenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben, weil sie gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 verstoße. Der Kläger habe, wie zwischen den Beteiligten unstreitig sei, durch seine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben und diesen Status auch nicht dadurch verloren, dass er zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine zeitliche Freiheitsstrafe verbüße. Es könne dahingestellt bleiben, ob die erworbene Rechtsstellung in Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 materiell-rechtlich beendet werden dürfe, denn für den Kläger fänden die für freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe Anwendung, denen vorliegend nicht Rechnung getragen worden sei. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) seien im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auch die für EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe anzuwenden. Die Ausweisung des Klägers verstoße gegen Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850; im Folgenden: RL 64/221/EWG). Nach dieser Vorschrift habe, sofern keine Rechtsmittel gegeben seien oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Verwaltungsbehörde über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, außer in dringenden Fällen, erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes zu entscheiden, wobei diese Stelle eine andere sein müsse als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig sei. In Baden-Württemberg regele § 6a Abs. 1 AGVwGO in Fällen, in denen - wie beim Kläger - die Ausweisung vom Regierungspräsidium verfügt worden sei, den Wegfall des in § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgesehenen Vorverfahrens, das der Nachprüfung von Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsaktes diene. Damit könne eine vom Regierungspräsidium verfügte Ausweisung nur noch unmittelbar mit der verwaltungsgerichtlichen Klage angegriffen werden. In diesem Verfahren werde die Ausweisung jedoch im Sinne von Art. 9 RL 64/221/EWG nur auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüft. Die angefochtene Ausweisungsverfügung erweise sich damit als rechtswidrig, weil es an der für diesen Fall von der Richtlinie geforderten gesonderten Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ vor Erlass der Verfügung fehle. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren erfülle nicht die Anforderungen an ein Rechtsmittelverfahren, welche nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfüllt sein müssten, damit vor einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf eine vorherige Stellungnahme durch eine gesonderte Stelle verzichtet werden könne, da in einem solchen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsüberprüfung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht stattfinde. Ohne das in § 68 VwGO geregelte Vorverfahren entspreche damit das deutsche verwaltungsgerichtliche Verfahren, welches auf eine bloße Überprüfung der Grenzen einer fremden Ermessensentscheidung (§ 114 VwGO) beschränkt und zudem erst zeitlich nach dem Erlass einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme stattfinde, den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht.
17 
Im vorliegenden Fall sei auch nicht der Ausnahmefall des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG gegeben, wonach „in dringenden Fällen“ die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ unterbleiben könne. Zwar habe das Regierungspräsidium die Ausweisungsverfügung für sofort vollziehbar erklärt, weil die Besorgnis bestehe, der Kläger werde während eines erfahrungsgemäß mehrere Jahre dauernden Klageverfahrens erneut strafbare Handlungen begehen. Zudem bestehe die Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten - wenn auch abgeschwächt - für die Zeit des Strafvollzuges. Diese Bewertung halte das Gericht, bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004, für nicht zutreffend. Zu diesem Zeitpunkt sei für die Behörde nicht ersichtlich gewesen, dass eine Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet in absehbarer Zeit möglich sei. Der Kläger sei mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Ein Verzicht der Vollstreckungsbehörde gemäß § 456a StPO auf die Vollstreckung der Rest-Freiheitsstrafe unter der Bedingung einer Abschiebung sei zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung noch nicht erteilt worden und habe auch noch nicht im Raum gestanden. Angesichts dessen rechtfertige auch die von Seiten der Beklagten angeführte abstrakte Möglichkeit, dass der Kläger auch in der JVA weitere Straftaten begehen könne, keine andere Beurteilung. Darauf, ob zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen eines besonderen Sofortvollzugsinteresses bejaht werden könne, insbesondere nachdem die Staatsanwaltschaft am 02.12.2004 die Freigabe zur Abschiebung ab dem 09.05.2005 erklärt habe, komme es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ im Sinne von Art. 9 RL 64/221/EWG vorliege, nach Auffassung der Kammer nicht an. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung sei der Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung. Da Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetze, könne die Frage, ob ein dringender Fall vorliege und somit das in Art. 9 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer „zuständigen Stelle“ der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise nicht vorauszugehen habe, nur nach der sich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung darstellenden Sachlage beurteilt werden.
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Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat die Berufung gegen dieses Urteil gemäß §§ 124a Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zugelassen, weil die Kammer bezüglich der Frage, ob Art. 9 RL 64/221/EWG verletzt sei, von den Urteilen des erkennenden Senats vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 (VBlBW 2004, 481 ff.) - und vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 - abweiche. Das Urteil wurde dem Beklagten am 12.10.2005 zugestellt.
19 
Mit Schriftsatz vom 18.10.2005, beim Verwaltungsgericht Karlsruhe eingegangen am 09.11.2005, hat der Beklagte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe Berufung eingelegt und die Berufung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Beurteilung der Frage der Dringlichkeit sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 05.03.1980, NJW 1980, 2630 ff.) allein Sache der Verwaltung. Durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme solle den Gerichten im Rahmen der verfahrensrechtlichen Überprüfung nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet verliehen werden. Das Regierungspräsidium Karlsruhe habe darüber hinaus die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet. Insofern liege nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 - ) ein dringender Fall i.S.d. RL 64/221/EWG vor. Die (andere) ex-post-Beurteilung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe sei diesbezüglich unbeachtlich. Zudem bestehe im vorliegenden Fall auch angesichts der hohen Rückfallgefahr des Klägers am Vorliegen eines dringenden Falles im Sinne der genannten Bestimmung kein Zweifel. Es sei schlicht falsch, dass für das Regierungspräsidium Karlsruhe zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 nicht ersichtlich gewesen sei, dass eine Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet in absehbarer Zeit möglich gewesen sei, weil noch keine Freigabeentschließung der Staatsanwaltschaft erteilt worden sei. Denn dann könne nie ein dringender Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bejaht werden, weil die Strafvollstreckungsbehörde in Ausweisungsfällen die für den Vollzug der Ausweisung (Abschiebung) erforderliche Freigabe erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung bzw. frühestens dann erteile, wenn der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig sei, was erst mit Zustellung der vollziehbaren Ausweisungsverfügung der Fall sei. Die für die Abschiebung erforderliche Entschließung nach § 456a StPO werde von der Ausländerbehörde sinnvollerweise erst dann bei der zuständigen Strafvollstreckungsbehörde beantragt, wenn der Betroffene ausgewiesen worden bzw. vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die besondere Dringlichkeit habe sich im vorliegenden Fall bereits aus der Besorgnis ergeben, die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Das Regierungspräsidium habe von der Tatsache ausgehen müssen, dass die Freigabe zur Abschiebung von der Strafvollstreckungsbehörde bei vollziehbarer Ausreisepflicht in der Regel zum Halbstrafenzeitpunkt oder spätestens zwischen dem Halbstrafenzeitpunkt und dem Zweidrittel-Zeitpunkt erteilt werde. Aus der Sicht von Oktober 2004 sei deshalb bei realistischer Betrachtungsweise, ausgehend vom bekannten Beginn der Untersuchungshaft des Klägers und der ebenfalls bekannten Verurteilung zu vier Jahren und sechs Monaten, eine Freigabe zur Abschiebung bereits innerhalb eines Zeitraumes von weit unter einem Jahr (Mai 2005) in Betracht gekommen, bzw. bei vorzeitiger Haftentlassung nach zwei Dritteln der verhängten Strafe innerhalb eines Zeitraums von knapp eineinhalb Jahren (Februar 2006). Die Freigabe sei tatsächlich erwartungsgemäß zum 09.05.2005 erteilt worden. Bei realistischer Betrachtungsweise habe daher im Oktober 2004 die begründete Besorgnis bestanden, dass sich die vom Kläger ausgehende Gefahr vor Rechtskraft einer abschließenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über die von ihm erhobene Anfechtungsklage realisieren werde, so dass das Regierungspräsidium bei Erlass der Ausweisungsverfügung zu Recht vom Vorliegen eines dringenden Falles ausgegangen sei.
20 
Das Verwaltungsgericht gehe schließlich zu Unrecht davon aus, dass bei der Beurteilung, ob ein dringender Fall vorliege, der Zeitpunkt des Verwaltungshandelns - allein - maßgeblich sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (- 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224) sei für türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach ARB 1/80 inne hätten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts bestehende Sach- und Rechtslage maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt sei die Freigabe bereits erteilt gewesen, so dass eine Dringlichkeit unzweifelhaft zu bejahen sei.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 05.09.2005 - 3 K 3786/04 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
23 
Der Kläger beantragt,
24 
die Berufung zurückzuweisen.
25 
Er trägt vor, das Bundesverwaltungsgericht habe mit seinen Urteilen vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - (InfAuslR 2006, 110 ff.) und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - (InfAuslR 2006, 114 ff.) ausgeführt, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen von Regierungspräsidien in Baden-Württemberg die in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) nicht mehr gewährleistet sei. Die Ausweisung des Klägers sei daher wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig, da für die Annahme eines dringenden Falls im Sinne der Richtlinie keine Anhaltspunkte vorlägen. Die angegriffene Verfügung berücksichtige zudem nicht in ausreichendem Maße das Verhältnis des Klägers zu seinem in Deutschland lebenden Sohn und den durch Art. 6 GG garantierten Schutz durch den Staat. Durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts von 1997 sei das Kindeswohl in den Mittelpunkt gestellt und die Beziehung jeden Elternteils zu seinem Kind als grundsätzlich schutz- und förderungswürdig anerkannt worden.
26 
Das Landgericht Köln hat während des Berufungsverfahrens mit Beschluss vom 02.03.2006 - StVK 2/06 3252 VRs 203 Js 79186/02 - nach Verbüßung von mehr als zwei Drittel der durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 verhängten Freiheitsstrafe die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. In der Begründung heißt es, der vom Gericht beauftragte Sachverständige habe nachvollziehbar ausgeführt, dass beim Kläger keine Gefahr mehr bestehe, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fort bestehe. Zwar bestehe bei Drogendelinquenz eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 50 %; letzteres müsse allerdings relativiert werden, da der Kläger selbst nicht drogenabhängig sei. Positiv für den Kläger spreche, dass es sich bei dem Delikt und der gezeigten Kriminalität um einen Ausdruck einer lebensphasischen Veränderung gehandelt habe und Kriminalität kein eingeschliffenes Verhaltensmuster in der Biographie des Klägers sei. Der Kläger sei auch von der Haft deutlich beeindruckt und habe Reue gezeigt. Das Verhalten des Klägers während der Haft sei weit überwiegend positiv gewesen; er werde als freundlicher, ruhiger und unauffälliger Gefangener geschildert. Für eine positive Prognose spreche schließlich, dass der Kläger über feste soziale Bindungen verfüge. Er sei seit 1999 mit seiner Freundin/Verlobten L. B. zusammen, in deren Wohnung er nach seiner Entlassung auch wohnen werde. Der Kontakt zu seinem Sohn aus der mittlerweile geschiedenen Ehe habe auch während der Haftzeit aufrecht erhalten werden können. Der Kläger verfüge schließlich über eine Arbeitsstelle für die Zeit nach seiner Haftentlassung. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und nach dem vom Verurteilten im Anhörungstermin gewonnenen persönlichen Eindruck könne erwartet werden, dass er unter dem Eindruck der Aussetzung der Reststrafe künftig keine Straftaten mehr begehen werde.
27 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten des Regierungspräsidiums Karlsruhe sowie der Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
28 
Die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe zugelassene Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) und den inhaltlichen Anforderungen entsprechend fristgerecht begründet worden (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).
29 
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 zu Recht aufgehoben, denn diese ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar war entgegen der Auffassung des Klägers das Regierungspräsidium Karlsruhe für die Ausweisungsentscheidung örtlich zuständig (dazu unter I.). Die Entscheidung verstößt jedoch gegen die auch für den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, die sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 ff.) erfahren hat und der sich der Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anschließt (dazu unter II.). Die unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung ist wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig; daran ändert sich auch nichts dadurch, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist (dazu unter III).
I.
30 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe war für den Erlass der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 örtlich zuständig, obwohl der Kläger vor seiner Inhaftierung (U-Haft in der JVA Mannheim) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Köln hatte und auch bereits vor Erlass der Ausweisungsverfügung in die JVA Köln verlegt wurde.
31 
Weder im während des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Ausländergesetz noch in dem seit dem 01.01.2005 geltenden Aufenthaltsgesetz waren bzw. sind Regelungen über die örtliche Behördenzuständigkeit enthalten (vgl. § 63 AuslG, § 71 AufenthG). Diese richtet sich vielmehr nach dem Verfahrensrecht der Länder, die die Bundesgesetze gemäß Art. 83 GG als eigene Angelegenheiten ausführen (vgl. auch Nr. 63.1.2.1 der nach Art. 84 Abs. 2 GG erlassenen AuslG-VwV vom 28.06.2000 des BMI, GMBl. 2000, S. 618 ff.). Die örtliche Zuständigkeit im Ausländerrecht richtet sich mithin in Baden-Württemberg nach der Aufenthalts- und Asyl- Zuständigkeitsverordnung (im Folgenden: AAZuVO) in der jeweils maßgeblichen Fassung und ergänzend nach § 3 LVwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 LVwVfG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AAZuVO in der bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Fassung vom 19.07.1995 (GBl. S. 586 ff, mit Änderungen vom 21.10.1996, GBl. S. 649 ff., und vom 23.03.1998, GBl. S. 187) bleibt, wenn der Ausländer sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, die Ausländerbehörde - örtlich - zuständig, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer vor der Hafteinweisung oder der Ingewahrsamnahme gewöhnlich aufgehalten hat. Ist der vorige gewöhnliche Aufenthalt nicht bekannt , ist die Ausländerbehörde, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, zuständig (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO). Eine nach Satz 2 begründete Zuständigkeit bleibt erhalten, wenn der Ausländer während der Haft in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde verlegt wird (§ 4 Abs. 3 Satz 3 AAZuVO).
32 
Im vorliegenden Fall war bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens dem Regierungspräsidium Karlsruhe der gewöhnliche Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung nicht bekannt. Der Kläger befand sich auf Grund des Beschlusses des Amtsgerichts Stuttgart vom 07.02.2003 in Untersuchungshaft in der JVA Mannheim im Zuständigkeitsbereich des Regierungspräsidiums Karlsruhe. Unter der in dem o.g. Beschluss angegebenen Wohnanschrift K. ... in K. hat der Kläger sich vor seiner Inhaftierung unstreitig nicht aufgehalten. Anhaltspunkte für eine andere Wohnanschrift lagen dem Regierungspräsidium bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens nicht vor. Vielmehr ergab sich aus dem Ausländerzentralregister, dass der Kläger am 29.05.2000 „nach unbekannt“ verzogen war. Auch die Stadtverwaltung der Stadt Köln hat dem Regierungspräsidium auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt (Schreiben vom 06.03.2003), dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe. Entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung bestand für das Regierungspräsidium auch keine Veranlassung für weitere Nachforschungen, nachdem selbst der Kläger bei seiner Anhörung vor Erlass der Ausweisungsverfügung keine weitergehenden Angaben zu seinem Aufenthalt vor der Inhaftierung oder zu seinen persönlichen Bindungen gemacht hat.
33 
Danach war das Regierungspräsidium Karlsruhe zumindest bis zur Übersendung der Anklageschrift vom 06.06.2003, aus der sich der frühere tatsächliche Aufenthalt des Klägers bei seiner Lebensgefährtin in der O. Straße ... in K. ergab, nach § 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO für das Ausweisungsverfahren zuständig. Daran hätte auch die vor Erlass der Ausweisungsverfügung erfolgte Verlegung des Klägers in die JVA Köln nichts geändert (vgl. § 4 Abs. 3 S. 3 AAZuVO).
34 
Nachdem durch die Übersendung der Anklageschrift der Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung (d.h. von April 1999 bis Februar 2003) bekannt war, ist das Regierungspräsidium Karlsruhe im laufenden Ausweisungsverfahren allerdings örtlich unzuständig geworden. Gemäß § 3 Abs. 3 LVwVfG kann jedoch, wenn sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens die die Zuständigkeit begründenden Umstände ändern, die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, nachdem die Stadt Köln mit Erklärung vom 02.09.2005 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens rückwirkend zugestimmt hat.
35 
Eine Änderung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände liegt typischerweise bei einer Änderung äußerer Umstände, etwa bei einem Wohnsitzwechsel, vor. Nachdem im vorliegenden Fall aber gerade die Unkenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers der die Zuständigkeit begründende Umstand war, stellt umgekehrt dessen spätere Kenntnis eine Änderung der zuständigkeitsbegründenden Umstände dar. Geht man davon aus, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe örtlich unzuständig geworden ist, lag auch kein sog. positiver Kompetenzkonflikt, d.h. eine Zuständigkeit von Ausländerbehörden mehrerer Länder nach landesrechtlichen Vorschriften, vor, der ein Zurückgreifen auf die zu § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ergangenen Regelungen in der AuslG-VwV (a.a.O., Nr. 63.2.2, insbes. Nr. 63.2.2.1 und 63.2.2.2.1) erfordert hätte. Für die Anwendung des § 3 Abs. 3 LVwVfG genügt auch die Zustimmungserklärung der Behörde eines anderen Bundeslandes(Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 3 Rn. 44, Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38, jeweils m.w.N.). Auch die Tatsache, dass die Stadt Köln der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - rückwirkend -zugestimmt hat, steht der Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 LVwVfG nicht entgegen. Zwar wird teilweise (vgl. etwa Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38) die Auffassung vertreten, die Zustimmung könne wirksam bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erklärt werden. In dem als Beleg dafür angeführten Fall des Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 18.04.1986 - 8 C 81/83 -, NVwZ 1987, 224 f.) war streitig, ob die im Widerspruchsverfahren erklärte Zustimmung zu berücksichtigen war, was das Bundesverwaltungsgericht bejaht hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Zustimmungserklärung nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erteilt werden kann, zumal § 45 Abs. 1 Nr. 5 LVwVfG die Nachholung erforderlicher Mitwirkungshandlungen grundsätzlich bis zur letzten Tatsacheninstanz zulässt.
36 
Schließlich ist die Fortführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe auch unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall war es aus Sicht der Behörden zweckmäßig, trotz Kenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers das Ausweisungsverfahren durch das Regierungspräsidium Karlsruhe fortführen zu lassen, nachdem dieses dort bereits eingeleitet worden sowie die Anhörung erfolgt war und die Akten entscheidungsreif vorlagen. Auch die Interessen des Klägers sind dadurch nicht unzumutbar beeinträchtigt worden. Zwar ist die Rechtsverfolgung für den Kläger durch die räumliche Entfernung der für das Klage- und Berufungsverfahren zuständigen Gerichte (VG Karlsruhe bzw. VGH Mannheim) erschwert. Andererseits hängt die Durchführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe ursächlich damit zusammen, dass der Kläger offensichtlich seine alte Wohnanschrift ohne Abmeldung verlassen hat und „nach unbekannt“ verzogen ist, so dass jedenfalls der Ausländerbehörde der tatsächliche Aufenthalt des Klägers unbekannt war; diesen Umstand muss der Kläger sich zurechnen lassen.
II.
37 
Letztlich kommt es jedoch auf die zwischen den Parteien umstrittene Frage der örtlichen Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe nicht entscheidungserheblich an. Denn die Verfügung des Regierungspräsidiums verstößt jedenfalls gegen die auch für den Kläger - ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, wie sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 und vom 06.10.2005, a.a.O.) vorgenommen worden ist. Sie ist damit wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig.
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1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts in den o.g. Urteilen vom 13.09.2005 und 06.10.2005 sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
39 
Der Kläger war von Juli 1993 bis März 1995 bei der Fa. ... und von April 1995 bis Dezember 2002 bei der Firma A.-... ordnungsgemäß, d.h. mit Besitz von Aufenthaltserlaubnissen, beschäftigt. Damit hat er - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Diesen Rechtsstatus hat er seither auch nicht verloren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 07.07.2005 - C 383/03 - , InfAuslR 2005, 350 ff.) ist ein Verlust dieser Rechtsstellung insbesondere nicht dadurch eingetreten, dass der Kläger eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat.
40 
Möglicherweise hat der Kläger als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers nach drei- bzw. fünfjährigem Aufenthalt auch den Rechtsstatus nach Art. 7 Satz 1 1. oder 2. Spiegelstrich erworben. Der Kläger ist 1992 im Wege des Familiennachzugs zu seiner türkischen Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ausweislich der beigezogenen Behördenakten war die Ehefrau des Klägers - jedenfalls zum Zeitpunkt der Einreise - als angestellte Friseurin bei der Firma F. beschäftigt. Wie lange die Ehefrau der Klägers danach noch dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat, ist den Akten nicht zu entnehmen, kann aber - da nicht entscheidungserheblich - auch auf sich beruhen.
41 
2. Nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG trifft, „sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben“, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen „außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes“, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, wobei „diese Stelle eine andere sein muss als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig ist“.
42 
Nach der vom EuGH in der Rechtssache Dörr und Ünal (Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 47) getroffenen Auslegung muss die gesonderte Stelle i.S.d. Richtlinie zur Gewährleistung eines hinreichend effektiven Schutzes eine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme geben. Nach der im Anschluss daran ergangenen o.g. Rechtsprechung des BVerwG (Urteile vom 13.09.2005 und 06.10.2005, a.a.O.) wird in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren i.S.d. § 68 VwGO). Das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren, welches lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vorsehe, insbesondere bei behördlichen Ermessenserwägungen auf die Überprüfung beschränkt sei, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien bzw. von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei, genüge den Anforderungen an eine zweite zuständige Stelle nicht. Daraus folge, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei von den Regierungspräsidien verfügten Ausweisungen (vgl. § 6a S. 1 AGVwGO; eingefügt durch das Gesetz zur Entlastung der Regierungspräsidien vom 10.05.1999, GBl. S. 173, in Kraft getreten am 01.07.1999) die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) entfallen sei. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen seien daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es habe ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.
43 
Der Senat hatte demgegenüber in der Vergangenheit in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass im Hinblick auf den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht vom deutschen Rechtsverständnis dieses Begriffes - etwa im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeitskontrolle im Widerspruchsverfahren, § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO - auszugehen sei und die vom EuGH geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde (Urteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481 ff.; unter Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -; ebenso Senatsurteil vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 -). Im Hinblick auf die o.g. Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005 hat der Senat im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung diese Rechtsprechung zwischenzeitlich aufgegeben. Dies gilt weiterhin und ungeachtet der Tatsache, dass Art. 31 der seit dem 01.05.2006 unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/38/EG (vgl. dazu Groß, ZAR 2006, 61 ff., 64), die u.a. eine „genauere Definition der Verfahrensgarantien“ bei der Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bezweckt (vgl. 22. Erwägungsgrund), - deren Anwendbarkeit auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige unterstellt - nicht die Einschaltung einer zweiten außergerichtlichen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens verlangt, sondern den gerichtlichen Rechtsbehelf ausreichen lässt (vgl. dazu im einzelnen unter III).
44 
3. Die vom Regierungspräsidium Karlsruhe am 12.10.2004 verfügte Ausweisung erfolgte im Hinblick auf § 6a AGVwGO ohne vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens und damit ohne Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens. Dies ist auch nicht deshalb unschädlich, weil ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen hätte, bei dem die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ entbehrlich gewesen wäre.
45 
a) Entgegen der Ansicht des Beklagten unterliegt die Beurteilung, ob von einem „dringender Fall“ i. S. von Art. 9 RL 64/221/EWG auszugehen ist, der gerichtlichen Überprüfung und ist nicht allein Sache der Verwaltung. In dem vom Beklagten für seine Auffassung herangezogenen Urteil des EuGH vom 05.03.1980 (Rs 98/79 , NJW 1980, 2630 ff.) heißt es zwar, dass durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme den Gerichten nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet habe verliehen werden sollen. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Prüfung auch nach nationalem Recht nicht zu erfolgen hat. Das verdeutlicht der Gerichtshof im Übrigen in derselben Entscheidung dadurch, dass er für die Ausübung derartiger Befugnisse durch die einzelstaatlichen Gerichte auf Art. 8 RL 64/221EWG und damit auf die nationale Rechtsordnung verweist. Nach der deutschen Rechtsordnung unterliegen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm grundsätzlich der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, ohne dass eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Bewertungen besteht. Dies gilt auch für Prognoseentscheidungen wie z.B. die Beurteilung einer polizeirechtlichen Gefahr oder der Wiederholungsgefahr im Ausländerrecht. Eine Ausnahme von der eigenständigen Beurteilungspflicht der Verwaltungsgerichte muss sich aus dem jeweiligen materiellen Recht eindeutig ergeben, was hier nicht der Fall ist (vgl. zu dem Problemkreis etwa Kuntze in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 114 Rn. 30 ff.).
46 
Die Auffassung, die Überprüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme sei allein Sache der Verwaltung, ist im übrigen nach der eigenen Rechtsprechung des EuGH überholt. Der EuGH hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 29.04.2004 (verb. Rs. C 482/01 und C 493/01 , NVwZ 2004, 1099 ff.) nicht wieder aufgegriffen und hat in seinem Urteil vom 02.06.2005 (, a.a.O., Rn. 56) das Vorliegen eines dringenden Falles selbst geprüft und ausdrücklich verneint (vgl. dazu auch Gutmann, GK zum AufenthG, Bd. 5, IX-1 Art. 14 Rn. 124.6). Auch das Bundesverwaltungsgericht geht von einer vollen gerichtlichen Überprüfung der Dringlichkeit der Maßnahme aus. So hat es in seinem Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) Kriterien zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Begriffs des „dringenden Falls“ entwickelt und die Rechtssache zur erneuten Überprüfung an Hand dieser Kriterien an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
47 
b) Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner o.g. Entscheidung ausgeführt, das Merkmal der Dringlichkeit sei als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“. Ein dringender Fall könne sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern könne erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten sei. Ein dringender Fall komme demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Dann sei auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles ähnelten damit den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa in BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053). Ein dringender Fall sei danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet habe und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt werde. Vielmehr müsse ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen sei, müsse nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung sei hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese werde in der Regel entfallen, wenn und solange der Ausländer sich in Haft befinde. Die Annahme eines dringenden Falles komme unter solchen Umständen nur für den Fall in Frage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden solle. Zu berücksichtigen sei ferner, ob die Ausländerbehörde selbst den Fall als dringlich erachte und behandele. Die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordne oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch mache.
48 
c) Nach dieser Rechtsprechung, der auch der Senat im Grundsatz folgt, ist ein dringender Fall entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon dann - gewissermaßen als Automatismus - anzunehmen, wenn wie im vorliegenden Fall die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet wurde. Die in diesem Zusammenhang vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des 13. Senats des erkennenden Gerichtshofs (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 -) dürfte durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überholt sein. Insgesamt ergibt sich bei der - auch nach Ansicht des Senats gebotenen - besonders engen Auslegung, dass ein dringender Fall grundsätzlich erst dann angenommen werden kann, wenn wegen der vom Ausländer ausgehenden Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Die vom Ausländer ausgehende Gefahr entfällt in der Regel, wenn und solange er sich in Haft befindet. Davon sind wiederum Ausnahmen in den Fällen denkbar, in denen konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten in der Haft vorliegen bzw. der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll und die Einschaltung einer zweiten Verwaltungsstelle - auch bei der gebotenen zügigen Bearbeitung - nicht durchführbar ist. Zu beachten ist dabei allerdings auch, dass bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einem zu erwartenden Absehen von der Strafvollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde nach § 456a StPO (etwa nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Dritteln einer gegen den Ausländer verhängten zeitigen Freiheitsstrafe) der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und diese den Termin nicht so festlegen darf, dass die dem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen grundsätzlich zustehenden Verfahrensgarantien unterlaufen werden, ohne dass eine besondere Gefahrensituation vorliegt.
49 
Fraglich ist, wie - insbesondere in Haftfällen - die Erwägung des Bundesverwaltungsgerichts zu verstehen ist, ein dringender Fall komme (nur) in Betracht, wenn die Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Mit „Hauptverfahren“ dürfte wohl das gerichtliche Hauptsache verfahren (vgl. auch den 3. Leitsatz zum Urteil vom 13.09.2005, a.a.O., wo vom „gerichtlichen Hauptverfahren“ die Rede ist). Nach dem Sinn und Zweck der Regelung in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, vor der behördlichen Ausweisungsentscheidung grundsätzlich eine Überprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle zu gewährleisten, unddavon in dringenden Fällen eine Ausnahme zuzulassen, kann es nach Ansicht des Senats bei der Dringlichkeitsprüfung aber nur darauf ankommen, ob eine Verzögerung durch die Einschaltung einer zweiten Stelle hinnehmbar ist oder die Gefahr besteht, dass sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einschließlich des Kontrollverfahrens bei der anderen Stelle realisiert. Dies gilt umso mehr, als auch im Anschluss an die Einschaltung einer zweiten Stelle noch eine Ausweisungsentscheidung mit Sofortvollzug ergehen kann. Die aufgeworfene Frage ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen der Ausländer sich in Haft befindet und vor seiner bevorstehenden Entlassung oder seiner beabsichtigten Abschiebung aus der Haft noch ausreichend Zeit besteht, eine Überprüfung der Ausweisungsentscheidung durch eine zweite Stelle vornehmen zu lassen. Wenn nicht ersichtlich ist, dass in diesem Zeitraum vom Ausländer eine erhebliche Gefahr ausgeht, liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles nach Auffassung des Senats nicht vor. Auf die Frage, ob sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert, kommt es dann nur für die Entscheidung über die Anordnung des Sofortvollzuges an, deren Voraussetzungen aber - wie das Bundesverwaltungsgericht selbst ausgeführt hat - nicht identisch sind mit denen der besonderen Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Gegenstand der Dringlichkeitsprüfung nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist vielmehr ausschließlich das „Hauptverfahren“ auf Verwaltungsebene einschließlich der Kontrollentscheidung der „anderen Stelle“.
50 
d) Ebenso wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ist auch der Senat der Auffassung, dass es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliegt, auf die Sachlage zu dem Zeitpunkt ankommt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung zu treffen hat.
51 
Bereits die Verwendung der Gegenwartsform im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie („ … trifft die Verwaltungsbehörde …“) legt es nahe, für die Beurteilung eines „dringenden Falles“ auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung abzustellen. Die Tatsache, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dievorherige Einschaltung einer zuständigen Stelle vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetzt, spricht ebenfalls für eine solche Auslegung (ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ). Schließlich dient eine solche Auslegung auch der Verfahrenssicherheit, da sich allein aus der Beurteilung der Dringlichkeit bei Erlass der Ausweisungsverfügung ergibt, welches Verfahren im Einzelfall einzuhalten ist, d.h. ob vor dem Erlass noch eine zweite Stelle einzuschalten ist oder nicht.
52 
Diese Auslegung führt entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Hinblick auf die Regelung in § 456a Abs. 1 StPO nicht zu sachwidrigen Ergebnissen. Nach dieser Vorschrift kann die Vollstreckungsbehörde u.a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte ausgewiesen wird. Der Beklagte trägt in diesem Zusammenhang sinngemäß vor, zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung stehe noch nicht fest, ob und wann der Ausländer aus der Haft abgeschoben werden könne (mithin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein dringender Fall anzunehmen sei), da die Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung nach § 456a StPO erst treffe, nachdem die Ausweisung erfolgt und der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig sei.
53 
Dieses vom Beklagten geschilderte Prozedere erscheint dem Senat aber nicht zwingend. Die Vollstreckungsbehörde kann unter den Voraussetzungen des § 456a StPO nach ihrem Ermessen auf Antrag oder von Amts wegen ganz oder teilweise von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen. Nach den für das Land Baden-Württemberg dazu erlassenen Richtlinien (AV d. JuM vom 17. Oktober 1996 - Die Justiz S. 500) prüft die Vollstreckungsbehörde von Amts wegen, ob von der Vollstreckung abzusehen ist. Sie setzt sich hierzu mit der Ausländerbehörde in Verbindung, um festzustellen, ob gegen den Verurteilten eine Ausweisungsverfügung ergangen ist oder ob mit dem Erlass einer solchen Verfügung gerechnet werden kann (Ziffer III 2. a der Richtlinien). Die Maßnahme nach § 456a StPO wird regelmäßig bereits unmittelbar nach Rechtskraft bei Einleitung der Vollstreckung und ohne Rücksicht darauf getroffen werden können, ob bereits eine Ausweisungsverfügung vorliegt (Ziffer III 2 b Satz 1). In jedem Fall soll die Maßnahme nach § 456a StPO so frühzeitig angeordnet werden, dass die u.a. zur Ausweisung notwendigen Vorbereitungen der Ausländerbehörde rechtzeitig getroffen werden können (Ziffer III 2 b Satz 2). In der Regel ist nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe von der weiteren Vollstreckung abzusehen; bei besonderen, in der Tat oder der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder zur Verteidigung der Rechtsordnung kann nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit von der weiteren Vollstreckung abgesehen werden (Ziffer III 1. c).
54 
Daraus ergibt sich für den Senat, dass auch schon vor Erlass einer Ausweisungsverfügung eine Entscheidung nach § 456a StPO möglich und nach den o.g. Richtlinien sogar geboten ist. Sollte diese trotz entsprechender Bemühungen bei der Strafvollstreckungsbehörde dennoch nicht erwirkt werden können, wird man möglicherweise eine Prognoseentscheidung auf der Basis einer zu erwartenden Freigabe nach der Hälfte bzw. zwei Dritteln der verhängten Strafe ausreichen lassen können. Zu berücksichtigen ist aber auch hier, dass selbst bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einer zu erwartenden Freigabeentscheidung nach § 456a StPO der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und insoweit eine Abschiebung vor Einschaltung einer zweiten Stelle häufig nicht zwingend ist.
55 
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem o.g. Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Dringlichkeit nicht ausdrücklich entschieden. Zwar führt auch das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „ … wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird“ und beendet seine diesbezüglichen Ausführungen mit der Feststellung, dass ein Verstoß - vorbehaltlich des Vorliegens eines dringenden Falles - zu einem unheilbaren Verfahrensfehler führt (Rn. 13 a.E. des amtl. Urteilsabdrucks). Diese Ausführungen sprechen ebenfalls dafür, maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung abzustellen und später eintretende Veränderungen unberücksichtigt zu lassen. In seinen weiteren Erwägungen (vgl. Rn. 19 des Abdrucks) ermöglicht das Bundesverwaltungsgericht allerdings (auch) die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung, etwa indem es ausführt, die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und von der Anordnung des Sofortvollzuges - ggf. nach gerichtlicher Bestätigung - nicht unverzüglich Gebrauch mache. Insoweit dürfte es sich allerdings eher um einen Fall widersprüchlichen Verhaltens handeln, der eine Berufung auf das Vorliegen eines dringenden Falles durch die Behörde als unzulässig erscheinen lassen kann.
56 
d) Wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, lag zum danach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe über die Ausweisung des Klägers ein „dringender Fall“, der ausnahmsweise die Einschaltung einer zweiten Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entbehrlich gemacht hätte, nicht vor. Die Ausweisungsverfügung ist damit unter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften ergangen.
57 
Für die Annahme eines dringenden Falles sprach zwar, dass der Kläger eine besonders schwerwiegende Betäubungsmittelstraftat mit „harten“ Drogen begangen und dabei - wie auch vom Strafgericht zu Recht betont - eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt hat. Das Regierungspräsidium hat das Verfahren auch zügig betrieben (nach Eingang des rechtskräftigen Strafurteils am 20.09.2004 erging bereits am 12.10.2004 die Ausweisungsverfügung) und seinerseits den Sofortvollzug angeordnet. Im Ergebnis zu Recht ist das Regierungspräsidium bei seiner Entscheidung auch davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers mit einer Freigabeentscheidung gemäß § 456a StPO nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe gerechnet werden konnte und eine Abschiebung aus der Haft in Frage kam.
58 
Diese Gesichtspunkte reichen jedoch nicht aus, im Falle des Klägers eine besondere Dringlichkeit zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung zu begründen.
59 
Wie dargelegt ist diese Merkmal als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders eng auszulegen und erfordert eine Situation, bei der wegen der vom Ausländer unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Ausweisung bzw. deren Vollzug nicht zu verantworten ist. Diese engen Voraussetzungen waren beim Kläger nicht gegeben. Der Kläger war zu einer viereinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden und befand sich seit dem 09.02.2003 in Strafhaft. Selbst eine Freigabeentscheidung nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Haftstrafe (deren Erteilung zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung allerdings keineswegs feststand), war frühestens zum 09.05.2005 zu erwarten; konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Freigabe bereits vor diesem Termin lagen nicht vor. Es stand mithin bei Erlass der Ausweisungsentscheidung vom 12.10.2004 bis zu einer eventuell möglichen Abschiebung aus der Haft (die ihrerseits nicht zwingend unmittelbar nach Freigabe zu erfolgen hatte) noch ein Zeitraum von sieben Monaten zur Verfügung. Nach Auffassung des Senats ist ein solcher Zeitraum - unter Berücksichtigung der grundsätzlich bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien und der gebotenen zügigen Bearbeitung - ausreichend, eine beabsichtigte Ausweisungsverfügung durch eine zweite Verwaltungsstelle überprüfen zu lassen. Zu berücksichtigen war schließlich auch, dass im vorliegenden Fall die persönlichen Belange des Klägers (insbesondere sein lang dauernder Aufenthalt in der Bundesrepublik, davon seit 1997 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, sowie sein Umgangsrecht mit seinem 1993 hier geborener Sohn) ein nicht unerhebliches Gewicht haben. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund die bloß abstrakte Möglichkeit, der Kläger könne in der Strafhaft weitere Straftaten begehen, keine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt.
60 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat noch darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Rechtsauffassung des Beklagten, für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei (ebenso wie bei der Beurteilung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen, vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224 ff.) auf die Sachlage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, wohl nicht zu einem anderen Ergebnis führen dürfte. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (29.06.2006) war der Kläger auf Grund des Beschlusses des Landgerichts Köln vom 02.03.2006 über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus der Haft entlassen worden. Damit kommt eine Abschiebung aus der Haft nicht mehr in Betracht. Der Entscheidung des Landgerichts lag ein klinisch-forensisches Fachgutachten vom 06.02.2006 zu Grunde, welches zu dem Ergebnis gekommen war, beim Kläger bestehe keine Gefahr mehr, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Ungeachtet der Tatsache, dass dieses im Strafverfahren erstellte und dort auch unter Resozialisierungsgesichtspunkten zu verstehende Gutachten möglicherweise bei der Beurteilung einer qualifizierten Wiederholungsgefahr als materielle Ausweisungsvoraussetzung einer kritischen Würdigung zu unterziehen wäre (zumal das Gutachten davon ausging, dass der Kläger nach Haftentlassung über eine Arbeitsstelle verfüge, wohingegen die mündliche Verhandlung vor dem Senat ergeben hat, dass er arbeitslos ist), dürfte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine unmittelbar drohende erhebliche Gefahr als Voraussetzung für eine besondere Dringlichkeit schwerlich zu begründen sein.
61 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt sei ferner darauf hingewiesen, dass die vom Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung enthaltene Erwägung, eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung sei (auch) aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt, wohl nicht tragfähig sein dürfte, auch wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung als solcher, sondern (nur) im Zusammenhang mit der Anordnung des Sofortvollzuges steht. Bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist bei Beschränkungen der Freizügigkeit zur Gefahrenabwehr nur auf die auf Grund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen vorliegende Gefährdung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.). Es spricht einiges dafür, dass dies auch im Hinblick auf die Begründung des Sofortvollzuges (d.h. die sofortige Aufenthaltsbeendigung und damit unmittelbare Beschränkung der Freizügigkeit) gelten dürfte.
62 
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt eine Heilung des Verfahrensmangels nach § 46 LVwVfG nicht in Betracht.
63 
Nach § 46 LVwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, ein eventueller Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei nach § 46 LVwVfG letztlich unbeachtlich, da die Stellungnahme einer im Vorfeld der Maßnahme zu beteiligenden Stelle angesichts der massiven kriminellen Energie des Antragstellers unter Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe im Ergebnis offensichtlich nicht hätte beeinflussen können.
64 
a) Fraglich ist bereits, ob § 46 LVwVfG auf die Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften Anwendung findet. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seinen Urteilen vom 13.09.2005 und 06.12.2005 (a.a.O.) nicht aufgeworfen, geht allerdings im Ergebnis - ohne nähere Begründung - von einem unheilbaren Verfahrensmangel aus.
65 
§ 46 LVwVfG findet keine Anwendung bei sog. absoluten Verfahrensfehlern (vg. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 46 Rn. 18 m.w.N., Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 46 Rn. 22). Dies ist bei einem Verstoß gegen solche Vorschriften anzunehmen, die nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs dienen, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325 ff., Rn. 25). Wegen des Erfordernisses effektiver, einheitlicher Wirkung des EU-Rechts in allen Mitgliedsländern (sog. „effet utile“, vgl. dazu etwa Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76) werden nach wohl überwiegender Meinung die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt mit der Folge, dass eine Heilung nach § 46 LVwVfG ausscheidet (ebenso Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 20; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. § 46 Rn. 9, § 45 Rn. 187; VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ; z.T. a.A. Papier, DVBl 1993, 809 ff., 814). Für diese Auffassung spricht auch, dass die Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Heilung von Verfahrensmängeln von äußerster Zurückhaltung geprägt ist (vgl. dazu ausführlich Wahl, DVBl. 2003, 1285 ff, 1290, und Kment, ArchöR 2005, 571 ff., 584, 612, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH). Es zeigt sich darin ein vom deutschen Verwaltungsverfahrensrecht grundlegend abweichendes Verständnis vom Verwaltungsverfahren in dem Sinn, dass Verfahrensregelungen nicht nur der wirksamen Durchsetzung materiellen Rechts dienen, sondern zugleich auch eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung bieten sollen.
66 
b) Im Ergebnis kann die Frage der Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften aber offen bleiben, denn selbst seine Anwendbarkeit unterstellt würde er im vorliegenden Fall nicht zu einer Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führen. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nämlich nach § 46 LVwVfG nur dann unbeachtlich, wenn „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.“ Eröffnet das materielle Recht im konkreten Einzelfall Ermessen, so ist im Regelfall nicht auszuschließen, dass sich die Verletzung der in § 46 LVwVfG genannten Vorschriften auf die Entscheidung in der Sache ausgewirkt hat. Deswegen sind in diesen Fällen Fehler grundsätzlich relevant (vgl. Kopp-Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 32 m.w.N.; Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 46 Rn. 66).
67 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O.) dürfen türkische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Der Senat hat seine gegenteilige Auffassung, es lasse sich dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger - und entsprechend assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - ausschließlich im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289 f.; ebenso zuletzt Renner, ZAR 2005, 295 ff.) im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung aufgegeben. Nach der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei der zu treffenden Ermessensentscheidung neben der Art und Schwere der begangenen Straftat die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und die privaten Belange des Betroffenen umfassend abzuwägen. Hat der Betroffene Ausweisungsgründe nach §§ 53, 54 AufenthG (ehemals § 47 Abs. 1 und 2 AuslG - sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestände -) verwirklicht, darf dies zwar in die Abwägung einbezogen werden, jedoch nicht im Sinne einer Regelvermutung oder sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist auch hier stets auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
68 
Bei einer danach für die Ausweisung des Klägers erforderliche Ermessensentscheidung unter umfassender Berücksichtigung einer Vielzahl von Gesichtspunkten und ohne isolierte Betrachtung der Art und Schwere der vom Kläger verwirklichten Straftat kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine zweite Stelle zu einer anderen Entscheidung in der Sache gekommen wäre. Unter diesen Umstände scheidet eine Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nach § 46 LVwVfG aus.
69 
5. Eine Heilung des Verfahrensverstoßes nach § 45 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 LVwVfG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach den genannten Vorschriften ist die Verletzung von Verfahrensvorschriften unbeachtlich, wenn die erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird. Bereits der Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeitvor der Ausweisungsentscheidung sicherzustellen, sprechen dagegen, die fehlende Prüfung durch eine zweite zuständige Stelle im Laufe des Gerichtsverfahrens noch nachholen zu können. Auch das o.g. gemeinschaftsrechtliche Prinzip des „effet utile“ dürfte der nachträglichen Heilung auf Grund nationaler Verfahrensvorschriften entgegenstehen. Der Senat hat vor diesem Hintergrund keine Veranlassung gesehen, das Rechtsmittelverfahren etwa entsprechend § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen, um Gelegenheit zur Nachholung der fehlenden Prüfung zu geben. Auch von der Beklagten wurde während des anhängigen Verfahrens nicht nachträglich eine zweite zuständige Stelle eingeschaltet. Eine solche Möglichkeit ist auch zwischenzeitlich entfallen, da die Änderung der AAZuVO vom 04.10.2005 (GBl. S. 678), mit der in § 10 Abs. 7 für Ausweisungsentscheidungen des Regierungspräsidiums Karlsruhe das Regierungspräsidium Freiburg als zweite zuständige Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bestimmt wurde, mit Ablauf des 30.04.2006 wieder außer Kraft getreten ist.
III.
70 
Die unter Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ergangene Ausweisungsverfügung des Klägers wird nicht dadurch rechtmäßig, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O., und - 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Denn dieser Zeitpunkt ist (nur) für die Überprüfung der materiellen Voraussetzungen der Ausweisung maßgeblich, nicht aber dafür, welches Verfahrensrecht im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist.
71 
1. Gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog. Freizügigkeitsrichtlinie, im Folgenden RL 2004/38/EG; ABl. L 229/35 vom 29.06.2005, in Kraft getreten am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, vgl. Art. 41;) ist die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist zum 30.04.2006 auch Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG entfallen.
72 
a) Ob und in welchen Teilen die neue Richtlinie, die nach ihrem Wortlaut nur für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt und anders als die Richtlinie 64/221/EWG nicht nur Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, enthält, auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar ist, ist bisher ungeklärt (offen gelassen von Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -; bzgl. der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 Abs. 3 verneint, bzgl. Art. 30 Abs. 3 bejaht von VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.; aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der RL 2004/38/EG vgl. auch folgende Entscheidungen, die sich im Wesentlichen mit einer evt. Vorwirkung und der Geltung der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 beschäftigen: Hess. VGH, Beschluss vom 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295 ff.; Nieders. OVG, Beschlüsse vom 06.06.2005 - 11 ME 39,05, NVwZ-RR 2005, 654 f. und vom 05.10.2005 - 11 ME 247/04 -, InfAuslR 2005, 453 ff.; zum Ganzen s. auch Gutmann, Die neue Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG und ihr Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, InfAuslR 2005, 401 ff.). Für die Anwendung zumindest der Verfahrensvorschriften könnte sprechen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die im Rahmen des Art. 39 geltenden Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden sollen (vgl. zuletzt Urteil vom 11.11.2004 , InfAuslR 2005, 13 ff.) und die verfahrensrechtlichen Garantien untrennbar mit dem materiellen Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit verbunden sind (vgl. Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 67).
73 
b) Die in der RL 2004/38/EG enthaltenen Verfahrensvorschriften verlangen jedenfalls nicht (mehr) die Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde vor Abschluss des behördlichen Verfahrens (ebenso Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006, a.a.O.). Nach der Richtlinie ist lediglich erforderlich, dass gegen eine Ausweisungsentscheidung „ein Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedsstaates eingelegt werden kann (Art. 31 Abs. 1). Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen; dabei ist zu gewährleisten, dass die Entscheidung insbesondere (im Hinblick auf die gemäß Art. 28 Abs. 1 zu berücksichtigenden Gesichtspunkte) nichtunverhältnismäßig ist.
74 
Aus alledem ergibt sich die Erforderlichkeit eines behördlichen „Vier-Augen-Prinzips“ nicht mehr, so dass es ab dem 01.05.2006 gemeinschaftsrechtlich unbedenklich sein dürfte, wenn das Widerspruchsverfahren gesetzlich ausgeschlossen ist. Durch den gerichtlichen Rechtsschutz (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes, vgl. dazu Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie), der in Deutschland entsprechend den o.g. Vorgaben eine umfassende Prüfung der tatsächlichen Grundlagen der Ausweisungsentscheidung sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beinhaltet, wird den gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien genügt (Dass die vom Gemeinschaftsrecht geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde, war vom Senat bereits unter der Geltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG angenommen worden - vgl. Senatsurteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, a.a.O.; er hat diese Rechtsprechung aber im Hinblick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005, (a.a.O.) aufgegeben, vgl dazu unter II. 2. ).
75 
2. Die Tatsache, dass damit ab dem 01.05.2006 das gemeinschaftsrechtliche Erfordernis der Nachprüfung einer Ausweisungsentscheidung durch eine zweite behördliche Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) ersatzlos weggefallen ist, führt allerdings nicht dazu, dass die gegen den Kläger unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung nunmehr als rechtmäßig anzusehen wäre. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), wonach für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist.
76 
a) Ob und inwieweit eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretene Veränderung der Sach- oder Rechtslage das Urteil über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beeinflusst, ist keine Frage des Prozessrechts-, sondern des zu Grunde liegenden materiellen Rechts (vgl. ausführlich zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage etwa Kopp/Schenke, 14. Aufl., § 113, Rn. 34 ff. und Rn. 47 ff., und Kleinlein, Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, VerwArch 1990, 149 ff., jeweils m.w.N.).
77 
Die o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruht auf der Anwendung materiellen Gemeinschaftsrechts über die Voraussetzungen der Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern bzw. assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 29.04.2004 , a.a.O.), wonach Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann. Da die Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit nach Art. 39 EG eng auszulegen seien, müssten die Voraussetzungen der gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein, zu dem die Ausweisung erfolge. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts gefolgt und hat - möglicherweise sogar darüber hinausgehend - entschieden, dass für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger bzw. assoziationsberechtigter Türken in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nunmehr insgesamt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sei. Aus dem Erfordernis, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt bestehen müsse, zu dem die Ausweisung erfolge, ergebe sich darüber hinaus, dass entscheidungserhebliche neue Tatsachen umfassend zu berücksichtigen seien.
78 
c) Aus dieser zu den materiellen Ausweisungsvoraussetzungen ergangenen Rechtsprechung lässt sich nichts dafür herleiten, dass eine ursprünglich unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften von der Behörde rechtswidrig erlassene Ausweisungsverfügung durch eine spätere Änderung der Verfahrensvorschriften nachträglich als rechtmäßig zu behandeln wäre (a.A., allerdings ohne nähere Begründung, Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -). Ob ein behördlicher Verfahrensfehler vorliegt, der zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung führt, richtet sich vielmehr nach dem während des Verwaltungsverfahrens geltenden Verfahrensrecht, mithin nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.
79 
Die (Übergangs-)Regelung in Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG bestimmt, dass die RL 64/221/EWG (erst) zum 30.04.2006 und damit nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden soll. Bereits dies spricht dagegen, dass die Regelungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG durch das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG auch für ergangene Ausweisungsentscheidungen überholt sind (ebenso VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2005 - 4 K 743/03 - ).
80 
Darüber hinaus entspricht es allgemeinen, aus dem Wesen und der Funktion des Rechts hergeleiteten Grundsätzen, dass neue Rechtsnormen grundsätzlich für die Zukunft gelten, sofern nicht spezielle Übergangsvorschriften ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Neues Verfahrensrecht gilt damit im Zweifel, d.h. mangels Vorliegens anders lautender Überleitungsvorschriften, vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an, und zwar i.d.R. (auch) für bereits anhängige, nicht jedoch für bereits abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte; letztere können nur nach dem im Zeitpunkt ihres Ergehens geltenden Recht beurteilt werden (vgl. dazu etwa Nieders. OVG, Urteil vom 15.03.2006 - 10 LB 7/06 -, m.w.N.; das Nieders. OVG bejaht in dieser Entscheidung die Anwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem Inkrafttreten der Norm - 01.01.2005 - in das Bundesgebiet eingereiste oder geborene Kinder, weil mit der Antragstellung das Verwaltungsverfahren erst eingeleitet werde; vgl. demgegenüber BverwG - Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21/04 -, InfAuslR 2006, 244 ff., wonach § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 ergangene Widerrufsentscheidungen, d.h. bereits abgeschlossene Verfahren, keine Anwendung findet). Ist ein belastender Verwaltungsakt unter Verletzung einer zur Zeit seines Erlasses geltenden Verfahrensvorschrift ergangenen und damit rechtswidrig, führt grundsätzlich der spätere Wegfall der Verfahrensvorschrift nicht zu einer Umwandlung eines rechtswidrigen in einen rechtmäßigen Verwaltungsakt (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 47, der davon spricht, dass der spätere Wegfall nicht eine „Metamorphose“ eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in einen rechtmäßigen bewirke). Allenfalls kann der Gesetzgeber (unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze) die Verletzung der Verfahrensvorschrift für unbeachtlich erklären, wie dies etwa in §§ 45, 46 LVwVfG geschehen ist, mit der Folge, dass der Verwaltungsakt trotz seines rechtswidrigen Zustandekommens als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. Kleinlein, a.a.O., S. 161). Die Voraussetzungen für eine Heilung nach §§ 45, 46 LVwVfG sind aber im vorliegenden Fall gerade nicht gegeben (vgl unter II. 4. und 5.).
81 
Im Ergebnis hat daher das Außerkrafttreten der RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 und das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG zum 01.05.2006 keinen entscheidungserheblichen Einfluss auf die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004. Diese ist vielmehr wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben worden.
IV.
82 
Ob die Ausweisung auch gegen materielles Gemeinschaftsrecht verstößt, ob insbesondere zum diesbezüglich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch von einer qualifizierten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann und die Verfügung im übrigen den an eine Ermessensausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. dazu im einzelnen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), kann danach offen bleiben. Offen bleiben kann damit auch, ob das Regierungspräsidium im Hinblick auf das Umgangsrecht des Klägers mit seinem 1993 in der Bundesrepublik geborenen Sohn bei seiner Entscheidung die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG (vgl. dazu insbes. Kammerbeschluss des BVerfG vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122 ff.) ausreichend gewichtet hat.
V.
83 
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht schließlich davon ausgegangen, dass bei einer Aufhebung der Ausweisung auch die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben kann.
VI.
84 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
VII.
85 
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das Außerkrafttreten des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 auf in der Vergangenheit unter Verstoß gegen diese Vorschrift erlassene Ausweisungsverfügungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen hat, gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Die Frage ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht geklärt; das Nieders. OVG hat in seinem - noch unveröffentlichten - Urteil vom 16.05.2006 (11 LC 324/05) eine von der Ansicht des zulassenden Gerichtshofs abweichende Rechtsauffassung vertreten; ebenso das VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.). Zwar handelt es sich bei Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG um außer Kraft getretenes Recht; die aufgeworfene Frage ist aber angesichts der Vielzahl der unter der Geltung dieser Vorschrift erlassenen und noch nicht bestandkräftig gewordenen Ausweisungen für einen nicht überschaubaren Personenkreis auf unabsehbare Zeit noch von Bedeutung; darüber hinaus kann die Frage auch Bedeutung haben für die Vielzahl der bei den Ausländerbehörden und Gerichten bereits anhängigen - sowie ggf. noch zu erwartenden - Verfahren auf Wiederaufgreifen von gemeinschaftsrechtswidrig erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen (zur Zulassung der Revision bei auslaufendem oder außer Kraft getretenen Recht vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.10.1994 - 9 B 83.94 - , DVBl 1995, 569, und vom 20.10.1995 - 6 B 35/95 -, NVwZ-RR 1996, 712, jeweils m.w.N.). Das Revisionsverfahren bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Frage des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu klären sowie die entstandenen Unklarheiten im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes „Hauptverfahren“ im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.09.2005 (a.a.O.) zu beseitigen.
86 
Beschluss
87 
vom 29. Juni 2006
88 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt der nur im Zuge der Anfechtung einer Ausweisung angefochtenen Abschiebungsandrohung keine selbständige wirtschaftliche Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28.04.1982 - 1 B 38.82 -, InfAuslR 1982, 167 und vom 29.01.1982 - 1 B 1.92 -, BayVBl. 1982, 380). Das gilt unabhängig von der Relevanz des angedrohten Zielstaats oder des ausländerrechtlichen Status des Betroffenen (vgl. Beschluss des Senats vom 24.06.2004 - 11 S 1168/04 -) und ungeachtet dessen, dass bei der Anfechtung einer isolierten Abschiebungsandrohung der volle Regelstreitwert anzusetzen ist.
89 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
28 
Die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe zugelassene Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) und den inhaltlichen Anforderungen entsprechend fristgerecht begründet worden (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).
29 
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 zu Recht aufgehoben, denn diese ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar war entgegen der Auffassung des Klägers das Regierungspräsidium Karlsruhe für die Ausweisungsentscheidung örtlich zuständig (dazu unter I.). Die Entscheidung verstößt jedoch gegen die auch für den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, die sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 ff.) erfahren hat und der sich der Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anschließt (dazu unter II.). Die unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung ist wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig; daran ändert sich auch nichts dadurch, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist (dazu unter III).
I.
30 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe war für den Erlass der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 örtlich zuständig, obwohl der Kläger vor seiner Inhaftierung (U-Haft in der JVA Mannheim) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Köln hatte und auch bereits vor Erlass der Ausweisungsverfügung in die JVA Köln verlegt wurde.
31 
Weder im während des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Ausländergesetz noch in dem seit dem 01.01.2005 geltenden Aufenthaltsgesetz waren bzw. sind Regelungen über die örtliche Behördenzuständigkeit enthalten (vgl. § 63 AuslG, § 71 AufenthG). Diese richtet sich vielmehr nach dem Verfahrensrecht der Länder, die die Bundesgesetze gemäß Art. 83 GG als eigene Angelegenheiten ausführen (vgl. auch Nr. 63.1.2.1 der nach Art. 84 Abs. 2 GG erlassenen AuslG-VwV vom 28.06.2000 des BMI, GMBl. 2000, S. 618 ff.). Die örtliche Zuständigkeit im Ausländerrecht richtet sich mithin in Baden-Württemberg nach der Aufenthalts- und Asyl- Zuständigkeitsverordnung (im Folgenden: AAZuVO) in der jeweils maßgeblichen Fassung und ergänzend nach § 3 LVwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 LVwVfG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AAZuVO in der bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Fassung vom 19.07.1995 (GBl. S. 586 ff, mit Änderungen vom 21.10.1996, GBl. S. 649 ff., und vom 23.03.1998, GBl. S. 187) bleibt, wenn der Ausländer sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, die Ausländerbehörde - örtlich - zuständig, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer vor der Hafteinweisung oder der Ingewahrsamnahme gewöhnlich aufgehalten hat. Ist der vorige gewöhnliche Aufenthalt nicht bekannt , ist die Ausländerbehörde, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, zuständig (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO). Eine nach Satz 2 begründete Zuständigkeit bleibt erhalten, wenn der Ausländer während der Haft in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde verlegt wird (§ 4 Abs. 3 Satz 3 AAZuVO).
32 
Im vorliegenden Fall war bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens dem Regierungspräsidium Karlsruhe der gewöhnliche Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung nicht bekannt. Der Kläger befand sich auf Grund des Beschlusses des Amtsgerichts Stuttgart vom 07.02.2003 in Untersuchungshaft in der JVA Mannheim im Zuständigkeitsbereich des Regierungspräsidiums Karlsruhe. Unter der in dem o.g. Beschluss angegebenen Wohnanschrift K. ... in K. hat der Kläger sich vor seiner Inhaftierung unstreitig nicht aufgehalten. Anhaltspunkte für eine andere Wohnanschrift lagen dem Regierungspräsidium bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens nicht vor. Vielmehr ergab sich aus dem Ausländerzentralregister, dass der Kläger am 29.05.2000 „nach unbekannt“ verzogen war. Auch die Stadtverwaltung der Stadt Köln hat dem Regierungspräsidium auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt (Schreiben vom 06.03.2003), dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe. Entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung bestand für das Regierungspräsidium auch keine Veranlassung für weitere Nachforschungen, nachdem selbst der Kläger bei seiner Anhörung vor Erlass der Ausweisungsverfügung keine weitergehenden Angaben zu seinem Aufenthalt vor der Inhaftierung oder zu seinen persönlichen Bindungen gemacht hat.
33 
Danach war das Regierungspräsidium Karlsruhe zumindest bis zur Übersendung der Anklageschrift vom 06.06.2003, aus der sich der frühere tatsächliche Aufenthalt des Klägers bei seiner Lebensgefährtin in der O. Straße ... in K. ergab, nach § 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO für das Ausweisungsverfahren zuständig. Daran hätte auch die vor Erlass der Ausweisungsverfügung erfolgte Verlegung des Klägers in die JVA Köln nichts geändert (vgl. § 4 Abs. 3 S. 3 AAZuVO).
34 
Nachdem durch die Übersendung der Anklageschrift der Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung (d.h. von April 1999 bis Februar 2003) bekannt war, ist das Regierungspräsidium Karlsruhe im laufenden Ausweisungsverfahren allerdings örtlich unzuständig geworden. Gemäß § 3 Abs. 3 LVwVfG kann jedoch, wenn sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens die die Zuständigkeit begründenden Umstände ändern, die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, nachdem die Stadt Köln mit Erklärung vom 02.09.2005 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens rückwirkend zugestimmt hat.
35 
Eine Änderung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände liegt typischerweise bei einer Änderung äußerer Umstände, etwa bei einem Wohnsitzwechsel, vor. Nachdem im vorliegenden Fall aber gerade die Unkenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers der die Zuständigkeit begründende Umstand war, stellt umgekehrt dessen spätere Kenntnis eine Änderung der zuständigkeitsbegründenden Umstände dar. Geht man davon aus, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe örtlich unzuständig geworden ist, lag auch kein sog. positiver Kompetenzkonflikt, d.h. eine Zuständigkeit von Ausländerbehörden mehrerer Länder nach landesrechtlichen Vorschriften, vor, der ein Zurückgreifen auf die zu § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ergangenen Regelungen in der AuslG-VwV (a.a.O., Nr. 63.2.2, insbes. Nr. 63.2.2.1 und 63.2.2.2.1) erfordert hätte. Für die Anwendung des § 3 Abs. 3 LVwVfG genügt auch die Zustimmungserklärung der Behörde eines anderen Bundeslandes(Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 3 Rn. 44, Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38, jeweils m.w.N.). Auch die Tatsache, dass die Stadt Köln der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - rückwirkend -zugestimmt hat, steht der Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 LVwVfG nicht entgegen. Zwar wird teilweise (vgl. etwa Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38) die Auffassung vertreten, die Zustimmung könne wirksam bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erklärt werden. In dem als Beleg dafür angeführten Fall des Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 18.04.1986 - 8 C 81/83 -, NVwZ 1987, 224 f.) war streitig, ob die im Widerspruchsverfahren erklärte Zustimmung zu berücksichtigen war, was das Bundesverwaltungsgericht bejaht hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Zustimmungserklärung nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erteilt werden kann, zumal § 45 Abs. 1 Nr. 5 LVwVfG die Nachholung erforderlicher Mitwirkungshandlungen grundsätzlich bis zur letzten Tatsacheninstanz zulässt.
36 
Schließlich ist die Fortführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe auch unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall war es aus Sicht der Behörden zweckmäßig, trotz Kenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers das Ausweisungsverfahren durch das Regierungspräsidium Karlsruhe fortführen zu lassen, nachdem dieses dort bereits eingeleitet worden sowie die Anhörung erfolgt war und die Akten entscheidungsreif vorlagen. Auch die Interessen des Klägers sind dadurch nicht unzumutbar beeinträchtigt worden. Zwar ist die Rechtsverfolgung für den Kläger durch die räumliche Entfernung der für das Klage- und Berufungsverfahren zuständigen Gerichte (VG Karlsruhe bzw. VGH Mannheim) erschwert. Andererseits hängt die Durchführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe ursächlich damit zusammen, dass der Kläger offensichtlich seine alte Wohnanschrift ohne Abmeldung verlassen hat und „nach unbekannt“ verzogen ist, so dass jedenfalls der Ausländerbehörde der tatsächliche Aufenthalt des Klägers unbekannt war; diesen Umstand muss der Kläger sich zurechnen lassen.
II.
37 
Letztlich kommt es jedoch auf die zwischen den Parteien umstrittene Frage der örtlichen Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe nicht entscheidungserheblich an. Denn die Verfügung des Regierungspräsidiums verstößt jedenfalls gegen die auch für den Kläger - ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, wie sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 und vom 06.10.2005, a.a.O.) vorgenommen worden ist. Sie ist damit wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig.
38 
1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts in den o.g. Urteilen vom 13.09.2005 und 06.10.2005 sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
39 
Der Kläger war von Juli 1993 bis März 1995 bei der Fa. ... und von April 1995 bis Dezember 2002 bei der Firma A.-... ordnungsgemäß, d.h. mit Besitz von Aufenthaltserlaubnissen, beschäftigt. Damit hat er - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Diesen Rechtsstatus hat er seither auch nicht verloren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 07.07.2005 - C 383/03 - , InfAuslR 2005, 350 ff.) ist ein Verlust dieser Rechtsstellung insbesondere nicht dadurch eingetreten, dass der Kläger eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat.
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Möglicherweise hat der Kläger als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers nach drei- bzw. fünfjährigem Aufenthalt auch den Rechtsstatus nach Art. 7 Satz 1 1. oder 2. Spiegelstrich erworben. Der Kläger ist 1992 im Wege des Familiennachzugs zu seiner türkischen Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ausweislich der beigezogenen Behördenakten war die Ehefrau des Klägers - jedenfalls zum Zeitpunkt der Einreise - als angestellte Friseurin bei der Firma F. beschäftigt. Wie lange die Ehefrau der Klägers danach noch dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat, ist den Akten nicht zu entnehmen, kann aber - da nicht entscheidungserheblich - auch auf sich beruhen.
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2. Nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG trifft, „sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben“, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen „außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes“, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, wobei „diese Stelle eine andere sein muss als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig ist“.
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Nach der vom EuGH in der Rechtssache Dörr und Ünal (Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 47) getroffenen Auslegung muss die gesonderte Stelle i.S.d. Richtlinie zur Gewährleistung eines hinreichend effektiven Schutzes eine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme geben. Nach der im Anschluss daran ergangenen o.g. Rechtsprechung des BVerwG (Urteile vom 13.09.2005 und 06.10.2005, a.a.O.) wird in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren i.S.d. § 68 VwGO). Das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren, welches lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vorsehe, insbesondere bei behördlichen Ermessenserwägungen auf die Überprüfung beschränkt sei, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien bzw. von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei, genüge den Anforderungen an eine zweite zuständige Stelle nicht. Daraus folge, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei von den Regierungspräsidien verfügten Ausweisungen (vgl. § 6a S. 1 AGVwGO; eingefügt durch das Gesetz zur Entlastung der Regierungspräsidien vom 10.05.1999, GBl. S. 173, in Kraft getreten am 01.07.1999) die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) entfallen sei. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen seien daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es habe ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.
43 
Der Senat hatte demgegenüber in der Vergangenheit in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass im Hinblick auf den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht vom deutschen Rechtsverständnis dieses Begriffes - etwa im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeitskontrolle im Widerspruchsverfahren, § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO - auszugehen sei und die vom EuGH geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde (Urteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481 ff.; unter Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -; ebenso Senatsurteil vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 -). Im Hinblick auf die o.g. Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005 hat der Senat im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung diese Rechtsprechung zwischenzeitlich aufgegeben. Dies gilt weiterhin und ungeachtet der Tatsache, dass Art. 31 der seit dem 01.05.2006 unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/38/EG (vgl. dazu Groß, ZAR 2006, 61 ff., 64), die u.a. eine „genauere Definition der Verfahrensgarantien“ bei der Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bezweckt (vgl. 22. Erwägungsgrund), - deren Anwendbarkeit auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige unterstellt - nicht die Einschaltung einer zweiten außergerichtlichen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens verlangt, sondern den gerichtlichen Rechtsbehelf ausreichen lässt (vgl. dazu im einzelnen unter III).
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3. Die vom Regierungspräsidium Karlsruhe am 12.10.2004 verfügte Ausweisung erfolgte im Hinblick auf § 6a AGVwGO ohne vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens und damit ohne Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens. Dies ist auch nicht deshalb unschädlich, weil ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen hätte, bei dem die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ entbehrlich gewesen wäre.
45 
a) Entgegen der Ansicht des Beklagten unterliegt die Beurteilung, ob von einem „dringender Fall“ i. S. von Art. 9 RL 64/221/EWG auszugehen ist, der gerichtlichen Überprüfung und ist nicht allein Sache der Verwaltung. In dem vom Beklagten für seine Auffassung herangezogenen Urteil des EuGH vom 05.03.1980 (Rs 98/79 , NJW 1980, 2630 ff.) heißt es zwar, dass durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme den Gerichten nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet habe verliehen werden sollen. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Prüfung auch nach nationalem Recht nicht zu erfolgen hat. Das verdeutlicht der Gerichtshof im Übrigen in derselben Entscheidung dadurch, dass er für die Ausübung derartiger Befugnisse durch die einzelstaatlichen Gerichte auf Art. 8 RL 64/221EWG und damit auf die nationale Rechtsordnung verweist. Nach der deutschen Rechtsordnung unterliegen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm grundsätzlich der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, ohne dass eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Bewertungen besteht. Dies gilt auch für Prognoseentscheidungen wie z.B. die Beurteilung einer polizeirechtlichen Gefahr oder der Wiederholungsgefahr im Ausländerrecht. Eine Ausnahme von der eigenständigen Beurteilungspflicht der Verwaltungsgerichte muss sich aus dem jeweiligen materiellen Recht eindeutig ergeben, was hier nicht der Fall ist (vgl. zu dem Problemkreis etwa Kuntze in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 114 Rn. 30 ff.).
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Die Auffassung, die Überprüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme sei allein Sache der Verwaltung, ist im übrigen nach der eigenen Rechtsprechung des EuGH überholt. Der EuGH hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 29.04.2004 (verb. Rs. C 482/01 und C 493/01 , NVwZ 2004, 1099 ff.) nicht wieder aufgegriffen und hat in seinem Urteil vom 02.06.2005 (, a.a.O., Rn. 56) das Vorliegen eines dringenden Falles selbst geprüft und ausdrücklich verneint (vgl. dazu auch Gutmann, GK zum AufenthG, Bd. 5, IX-1 Art. 14 Rn. 124.6). Auch das Bundesverwaltungsgericht geht von einer vollen gerichtlichen Überprüfung der Dringlichkeit der Maßnahme aus. So hat es in seinem Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) Kriterien zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Begriffs des „dringenden Falls“ entwickelt und die Rechtssache zur erneuten Überprüfung an Hand dieser Kriterien an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
47 
b) Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner o.g. Entscheidung ausgeführt, das Merkmal der Dringlichkeit sei als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“. Ein dringender Fall könne sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern könne erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten sei. Ein dringender Fall komme demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Dann sei auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles ähnelten damit den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa in BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053). Ein dringender Fall sei danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet habe und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt werde. Vielmehr müsse ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen sei, müsse nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung sei hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese werde in der Regel entfallen, wenn und solange der Ausländer sich in Haft befinde. Die Annahme eines dringenden Falles komme unter solchen Umständen nur für den Fall in Frage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden solle. Zu berücksichtigen sei ferner, ob die Ausländerbehörde selbst den Fall als dringlich erachte und behandele. Die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordne oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch mache.
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c) Nach dieser Rechtsprechung, der auch der Senat im Grundsatz folgt, ist ein dringender Fall entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon dann - gewissermaßen als Automatismus - anzunehmen, wenn wie im vorliegenden Fall die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet wurde. Die in diesem Zusammenhang vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des 13. Senats des erkennenden Gerichtshofs (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 -) dürfte durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überholt sein. Insgesamt ergibt sich bei der - auch nach Ansicht des Senats gebotenen - besonders engen Auslegung, dass ein dringender Fall grundsätzlich erst dann angenommen werden kann, wenn wegen der vom Ausländer ausgehenden Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Die vom Ausländer ausgehende Gefahr entfällt in der Regel, wenn und solange er sich in Haft befindet. Davon sind wiederum Ausnahmen in den Fällen denkbar, in denen konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten in der Haft vorliegen bzw. der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll und die Einschaltung einer zweiten Verwaltungsstelle - auch bei der gebotenen zügigen Bearbeitung - nicht durchführbar ist. Zu beachten ist dabei allerdings auch, dass bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einem zu erwartenden Absehen von der Strafvollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde nach § 456a StPO (etwa nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Dritteln einer gegen den Ausländer verhängten zeitigen Freiheitsstrafe) der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und diese den Termin nicht so festlegen darf, dass die dem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen grundsätzlich zustehenden Verfahrensgarantien unterlaufen werden, ohne dass eine besondere Gefahrensituation vorliegt.
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Fraglich ist, wie - insbesondere in Haftfällen - die Erwägung des Bundesverwaltungsgerichts zu verstehen ist, ein dringender Fall komme (nur) in Betracht, wenn die Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Mit „Hauptverfahren“ dürfte wohl das gerichtliche Hauptsache verfahren (vgl. auch den 3. Leitsatz zum Urteil vom 13.09.2005, a.a.O., wo vom „gerichtlichen Hauptverfahren“ die Rede ist). Nach dem Sinn und Zweck der Regelung in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, vor der behördlichen Ausweisungsentscheidung grundsätzlich eine Überprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle zu gewährleisten, unddavon in dringenden Fällen eine Ausnahme zuzulassen, kann es nach Ansicht des Senats bei der Dringlichkeitsprüfung aber nur darauf ankommen, ob eine Verzögerung durch die Einschaltung einer zweiten Stelle hinnehmbar ist oder die Gefahr besteht, dass sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einschließlich des Kontrollverfahrens bei der anderen Stelle realisiert. Dies gilt umso mehr, als auch im Anschluss an die Einschaltung einer zweiten Stelle noch eine Ausweisungsentscheidung mit Sofortvollzug ergehen kann. Die aufgeworfene Frage ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen der Ausländer sich in Haft befindet und vor seiner bevorstehenden Entlassung oder seiner beabsichtigten Abschiebung aus der Haft noch ausreichend Zeit besteht, eine Überprüfung der Ausweisungsentscheidung durch eine zweite Stelle vornehmen zu lassen. Wenn nicht ersichtlich ist, dass in diesem Zeitraum vom Ausländer eine erhebliche Gefahr ausgeht, liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles nach Auffassung des Senats nicht vor. Auf die Frage, ob sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert, kommt es dann nur für die Entscheidung über die Anordnung des Sofortvollzuges an, deren Voraussetzungen aber - wie das Bundesverwaltungsgericht selbst ausgeführt hat - nicht identisch sind mit denen der besonderen Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Gegenstand der Dringlichkeitsprüfung nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist vielmehr ausschließlich das „Hauptverfahren“ auf Verwaltungsebene einschließlich der Kontrollentscheidung der „anderen Stelle“.
50 
d) Ebenso wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ist auch der Senat der Auffassung, dass es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliegt, auf die Sachlage zu dem Zeitpunkt ankommt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung zu treffen hat.
51 
Bereits die Verwendung der Gegenwartsform im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie („ … trifft die Verwaltungsbehörde …“) legt es nahe, für die Beurteilung eines „dringenden Falles“ auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung abzustellen. Die Tatsache, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dievorherige Einschaltung einer zuständigen Stelle vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetzt, spricht ebenfalls für eine solche Auslegung (ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ). Schließlich dient eine solche Auslegung auch der Verfahrenssicherheit, da sich allein aus der Beurteilung der Dringlichkeit bei Erlass der Ausweisungsverfügung ergibt, welches Verfahren im Einzelfall einzuhalten ist, d.h. ob vor dem Erlass noch eine zweite Stelle einzuschalten ist oder nicht.
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Diese Auslegung führt entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Hinblick auf die Regelung in § 456a Abs. 1 StPO nicht zu sachwidrigen Ergebnissen. Nach dieser Vorschrift kann die Vollstreckungsbehörde u.a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte ausgewiesen wird. Der Beklagte trägt in diesem Zusammenhang sinngemäß vor, zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung stehe noch nicht fest, ob und wann der Ausländer aus der Haft abgeschoben werden könne (mithin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein dringender Fall anzunehmen sei), da die Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung nach § 456a StPO erst treffe, nachdem die Ausweisung erfolgt und der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig sei.
53 
Dieses vom Beklagten geschilderte Prozedere erscheint dem Senat aber nicht zwingend. Die Vollstreckungsbehörde kann unter den Voraussetzungen des § 456a StPO nach ihrem Ermessen auf Antrag oder von Amts wegen ganz oder teilweise von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen. Nach den für das Land Baden-Württemberg dazu erlassenen Richtlinien (AV d. JuM vom 17. Oktober 1996 - Die Justiz S. 500) prüft die Vollstreckungsbehörde von Amts wegen, ob von der Vollstreckung abzusehen ist. Sie setzt sich hierzu mit der Ausländerbehörde in Verbindung, um festzustellen, ob gegen den Verurteilten eine Ausweisungsverfügung ergangen ist oder ob mit dem Erlass einer solchen Verfügung gerechnet werden kann (Ziffer III 2. a der Richtlinien). Die Maßnahme nach § 456a StPO wird regelmäßig bereits unmittelbar nach Rechtskraft bei Einleitung der Vollstreckung und ohne Rücksicht darauf getroffen werden können, ob bereits eine Ausweisungsverfügung vorliegt (Ziffer III 2 b Satz 1). In jedem Fall soll die Maßnahme nach § 456a StPO so frühzeitig angeordnet werden, dass die u.a. zur Ausweisung notwendigen Vorbereitungen der Ausländerbehörde rechtzeitig getroffen werden können (Ziffer III 2 b Satz 2). In der Regel ist nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe von der weiteren Vollstreckung abzusehen; bei besonderen, in der Tat oder der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder zur Verteidigung der Rechtsordnung kann nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit von der weiteren Vollstreckung abgesehen werden (Ziffer III 1. c).
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Daraus ergibt sich für den Senat, dass auch schon vor Erlass einer Ausweisungsverfügung eine Entscheidung nach § 456a StPO möglich und nach den o.g. Richtlinien sogar geboten ist. Sollte diese trotz entsprechender Bemühungen bei der Strafvollstreckungsbehörde dennoch nicht erwirkt werden können, wird man möglicherweise eine Prognoseentscheidung auf der Basis einer zu erwartenden Freigabe nach der Hälfte bzw. zwei Dritteln der verhängten Strafe ausreichen lassen können. Zu berücksichtigen ist aber auch hier, dass selbst bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einer zu erwartenden Freigabeentscheidung nach § 456a StPO der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und insoweit eine Abschiebung vor Einschaltung einer zweiten Stelle häufig nicht zwingend ist.
55 
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem o.g. Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Dringlichkeit nicht ausdrücklich entschieden. Zwar führt auch das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „ … wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird“ und beendet seine diesbezüglichen Ausführungen mit der Feststellung, dass ein Verstoß - vorbehaltlich des Vorliegens eines dringenden Falles - zu einem unheilbaren Verfahrensfehler führt (Rn. 13 a.E. des amtl. Urteilsabdrucks). Diese Ausführungen sprechen ebenfalls dafür, maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung abzustellen und später eintretende Veränderungen unberücksichtigt zu lassen. In seinen weiteren Erwägungen (vgl. Rn. 19 des Abdrucks) ermöglicht das Bundesverwaltungsgericht allerdings (auch) die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung, etwa indem es ausführt, die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und von der Anordnung des Sofortvollzuges - ggf. nach gerichtlicher Bestätigung - nicht unverzüglich Gebrauch mache. Insoweit dürfte es sich allerdings eher um einen Fall widersprüchlichen Verhaltens handeln, der eine Berufung auf das Vorliegen eines dringenden Falles durch die Behörde als unzulässig erscheinen lassen kann.
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d) Wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, lag zum danach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe über die Ausweisung des Klägers ein „dringender Fall“, der ausnahmsweise die Einschaltung einer zweiten Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entbehrlich gemacht hätte, nicht vor. Die Ausweisungsverfügung ist damit unter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften ergangen.
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Für die Annahme eines dringenden Falles sprach zwar, dass der Kläger eine besonders schwerwiegende Betäubungsmittelstraftat mit „harten“ Drogen begangen und dabei - wie auch vom Strafgericht zu Recht betont - eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt hat. Das Regierungspräsidium hat das Verfahren auch zügig betrieben (nach Eingang des rechtskräftigen Strafurteils am 20.09.2004 erging bereits am 12.10.2004 die Ausweisungsverfügung) und seinerseits den Sofortvollzug angeordnet. Im Ergebnis zu Recht ist das Regierungspräsidium bei seiner Entscheidung auch davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers mit einer Freigabeentscheidung gemäß § 456a StPO nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe gerechnet werden konnte und eine Abschiebung aus der Haft in Frage kam.
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Diese Gesichtspunkte reichen jedoch nicht aus, im Falle des Klägers eine besondere Dringlichkeit zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung zu begründen.
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Wie dargelegt ist diese Merkmal als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders eng auszulegen und erfordert eine Situation, bei der wegen der vom Ausländer unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Ausweisung bzw. deren Vollzug nicht zu verantworten ist. Diese engen Voraussetzungen waren beim Kläger nicht gegeben. Der Kläger war zu einer viereinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden und befand sich seit dem 09.02.2003 in Strafhaft. Selbst eine Freigabeentscheidung nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Haftstrafe (deren Erteilung zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung allerdings keineswegs feststand), war frühestens zum 09.05.2005 zu erwarten; konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Freigabe bereits vor diesem Termin lagen nicht vor. Es stand mithin bei Erlass der Ausweisungsentscheidung vom 12.10.2004 bis zu einer eventuell möglichen Abschiebung aus der Haft (die ihrerseits nicht zwingend unmittelbar nach Freigabe zu erfolgen hatte) noch ein Zeitraum von sieben Monaten zur Verfügung. Nach Auffassung des Senats ist ein solcher Zeitraum - unter Berücksichtigung der grundsätzlich bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien und der gebotenen zügigen Bearbeitung - ausreichend, eine beabsichtigte Ausweisungsverfügung durch eine zweite Verwaltungsstelle überprüfen zu lassen. Zu berücksichtigen war schließlich auch, dass im vorliegenden Fall die persönlichen Belange des Klägers (insbesondere sein lang dauernder Aufenthalt in der Bundesrepublik, davon seit 1997 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, sowie sein Umgangsrecht mit seinem 1993 hier geborener Sohn) ein nicht unerhebliches Gewicht haben. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund die bloß abstrakte Möglichkeit, der Kläger könne in der Strafhaft weitere Straftaten begehen, keine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt.
60 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat noch darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Rechtsauffassung des Beklagten, für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei (ebenso wie bei der Beurteilung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen, vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224 ff.) auf die Sachlage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, wohl nicht zu einem anderen Ergebnis führen dürfte. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (29.06.2006) war der Kläger auf Grund des Beschlusses des Landgerichts Köln vom 02.03.2006 über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus der Haft entlassen worden. Damit kommt eine Abschiebung aus der Haft nicht mehr in Betracht. Der Entscheidung des Landgerichts lag ein klinisch-forensisches Fachgutachten vom 06.02.2006 zu Grunde, welches zu dem Ergebnis gekommen war, beim Kläger bestehe keine Gefahr mehr, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Ungeachtet der Tatsache, dass dieses im Strafverfahren erstellte und dort auch unter Resozialisierungsgesichtspunkten zu verstehende Gutachten möglicherweise bei der Beurteilung einer qualifizierten Wiederholungsgefahr als materielle Ausweisungsvoraussetzung einer kritischen Würdigung zu unterziehen wäre (zumal das Gutachten davon ausging, dass der Kläger nach Haftentlassung über eine Arbeitsstelle verfüge, wohingegen die mündliche Verhandlung vor dem Senat ergeben hat, dass er arbeitslos ist), dürfte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine unmittelbar drohende erhebliche Gefahr als Voraussetzung für eine besondere Dringlichkeit schwerlich zu begründen sein.
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Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt sei ferner darauf hingewiesen, dass die vom Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung enthaltene Erwägung, eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung sei (auch) aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt, wohl nicht tragfähig sein dürfte, auch wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung als solcher, sondern (nur) im Zusammenhang mit der Anordnung des Sofortvollzuges steht. Bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist bei Beschränkungen der Freizügigkeit zur Gefahrenabwehr nur auf die auf Grund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen vorliegende Gefährdung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.). Es spricht einiges dafür, dass dies auch im Hinblick auf die Begründung des Sofortvollzuges (d.h. die sofortige Aufenthaltsbeendigung und damit unmittelbare Beschränkung der Freizügigkeit) gelten dürfte.
62 
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt eine Heilung des Verfahrensmangels nach § 46 LVwVfG nicht in Betracht.
63 
Nach § 46 LVwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, ein eventueller Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei nach § 46 LVwVfG letztlich unbeachtlich, da die Stellungnahme einer im Vorfeld der Maßnahme zu beteiligenden Stelle angesichts der massiven kriminellen Energie des Antragstellers unter Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe im Ergebnis offensichtlich nicht hätte beeinflussen können.
64 
a) Fraglich ist bereits, ob § 46 LVwVfG auf die Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften Anwendung findet. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seinen Urteilen vom 13.09.2005 und 06.12.2005 (a.a.O.) nicht aufgeworfen, geht allerdings im Ergebnis - ohne nähere Begründung - von einem unheilbaren Verfahrensmangel aus.
65 
§ 46 LVwVfG findet keine Anwendung bei sog. absoluten Verfahrensfehlern (vg. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 46 Rn. 18 m.w.N., Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 46 Rn. 22). Dies ist bei einem Verstoß gegen solche Vorschriften anzunehmen, die nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs dienen, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325 ff., Rn. 25). Wegen des Erfordernisses effektiver, einheitlicher Wirkung des EU-Rechts in allen Mitgliedsländern (sog. „effet utile“, vgl. dazu etwa Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76) werden nach wohl überwiegender Meinung die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt mit der Folge, dass eine Heilung nach § 46 LVwVfG ausscheidet (ebenso Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 20; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. § 46 Rn. 9, § 45 Rn. 187; VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ; z.T. a.A. Papier, DVBl 1993, 809 ff., 814). Für diese Auffassung spricht auch, dass die Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Heilung von Verfahrensmängeln von äußerster Zurückhaltung geprägt ist (vgl. dazu ausführlich Wahl, DVBl. 2003, 1285 ff, 1290, und Kment, ArchöR 2005, 571 ff., 584, 612, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH). Es zeigt sich darin ein vom deutschen Verwaltungsverfahrensrecht grundlegend abweichendes Verständnis vom Verwaltungsverfahren in dem Sinn, dass Verfahrensregelungen nicht nur der wirksamen Durchsetzung materiellen Rechts dienen, sondern zugleich auch eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung bieten sollen.
66 
b) Im Ergebnis kann die Frage der Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften aber offen bleiben, denn selbst seine Anwendbarkeit unterstellt würde er im vorliegenden Fall nicht zu einer Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führen. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nämlich nach § 46 LVwVfG nur dann unbeachtlich, wenn „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.“ Eröffnet das materielle Recht im konkreten Einzelfall Ermessen, so ist im Regelfall nicht auszuschließen, dass sich die Verletzung der in § 46 LVwVfG genannten Vorschriften auf die Entscheidung in der Sache ausgewirkt hat. Deswegen sind in diesen Fällen Fehler grundsätzlich relevant (vgl. Kopp-Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 32 m.w.N.; Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 46 Rn. 66).
67 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O.) dürfen türkische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Der Senat hat seine gegenteilige Auffassung, es lasse sich dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger - und entsprechend assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - ausschließlich im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289 f.; ebenso zuletzt Renner, ZAR 2005, 295 ff.) im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung aufgegeben. Nach der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei der zu treffenden Ermessensentscheidung neben der Art und Schwere der begangenen Straftat die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und die privaten Belange des Betroffenen umfassend abzuwägen. Hat der Betroffene Ausweisungsgründe nach §§ 53, 54 AufenthG (ehemals § 47 Abs. 1 und 2 AuslG - sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestände -) verwirklicht, darf dies zwar in die Abwägung einbezogen werden, jedoch nicht im Sinne einer Regelvermutung oder sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist auch hier stets auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
68 
Bei einer danach für die Ausweisung des Klägers erforderliche Ermessensentscheidung unter umfassender Berücksichtigung einer Vielzahl von Gesichtspunkten und ohne isolierte Betrachtung der Art und Schwere der vom Kläger verwirklichten Straftat kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine zweite Stelle zu einer anderen Entscheidung in der Sache gekommen wäre. Unter diesen Umstände scheidet eine Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nach § 46 LVwVfG aus.
69 
5. Eine Heilung des Verfahrensverstoßes nach § 45 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 LVwVfG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach den genannten Vorschriften ist die Verletzung von Verfahrensvorschriften unbeachtlich, wenn die erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird. Bereits der Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeitvor der Ausweisungsentscheidung sicherzustellen, sprechen dagegen, die fehlende Prüfung durch eine zweite zuständige Stelle im Laufe des Gerichtsverfahrens noch nachholen zu können. Auch das o.g. gemeinschaftsrechtliche Prinzip des „effet utile“ dürfte der nachträglichen Heilung auf Grund nationaler Verfahrensvorschriften entgegenstehen. Der Senat hat vor diesem Hintergrund keine Veranlassung gesehen, das Rechtsmittelverfahren etwa entsprechend § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen, um Gelegenheit zur Nachholung der fehlenden Prüfung zu geben. Auch von der Beklagten wurde während des anhängigen Verfahrens nicht nachträglich eine zweite zuständige Stelle eingeschaltet. Eine solche Möglichkeit ist auch zwischenzeitlich entfallen, da die Änderung der AAZuVO vom 04.10.2005 (GBl. S. 678), mit der in § 10 Abs. 7 für Ausweisungsentscheidungen des Regierungspräsidiums Karlsruhe das Regierungspräsidium Freiburg als zweite zuständige Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bestimmt wurde, mit Ablauf des 30.04.2006 wieder außer Kraft getreten ist.
III.
70 
Die unter Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ergangene Ausweisungsverfügung des Klägers wird nicht dadurch rechtmäßig, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O., und - 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Denn dieser Zeitpunkt ist (nur) für die Überprüfung der materiellen Voraussetzungen der Ausweisung maßgeblich, nicht aber dafür, welches Verfahrensrecht im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist.
71 
1. Gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog. Freizügigkeitsrichtlinie, im Folgenden RL 2004/38/EG; ABl. L 229/35 vom 29.06.2005, in Kraft getreten am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, vgl. Art. 41;) ist die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist zum 30.04.2006 auch Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG entfallen.
72 
a) Ob und in welchen Teilen die neue Richtlinie, die nach ihrem Wortlaut nur für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt und anders als die Richtlinie 64/221/EWG nicht nur Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, enthält, auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar ist, ist bisher ungeklärt (offen gelassen von Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -; bzgl. der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 Abs. 3 verneint, bzgl. Art. 30 Abs. 3 bejaht von VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.; aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der RL 2004/38/EG vgl. auch folgende Entscheidungen, die sich im Wesentlichen mit einer evt. Vorwirkung und der Geltung der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 beschäftigen: Hess. VGH, Beschluss vom 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295 ff.; Nieders. OVG, Beschlüsse vom 06.06.2005 - 11 ME 39,05, NVwZ-RR 2005, 654 f. und vom 05.10.2005 - 11 ME 247/04 -, InfAuslR 2005, 453 ff.; zum Ganzen s. auch Gutmann, Die neue Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG und ihr Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, InfAuslR 2005, 401 ff.). Für die Anwendung zumindest der Verfahrensvorschriften könnte sprechen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die im Rahmen des Art. 39 geltenden Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden sollen (vgl. zuletzt Urteil vom 11.11.2004 , InfAuslR 2005, 13 ff.) und die verfahrensrechtlichen Garantien untrennbar mit dem materiellen Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit verbunden sind (vgl. Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 67).
73 
b) Die in der RL 2004/38/EG enthaltenen Verfahrensvorschriften verlangen jedenfalls nicht (mehr) die Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde vor Abschluss des behördlichen Verfahrens (ebenso Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006, a.a.O.). Nach der Richtlinie ist lediglich erforderlich, dass gegen eine Ausweisungsentscheidung „ein Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedsstaates eingelegt werden kann (Art. 31 Abs. 1). Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen; dabei ist zu gewährleisten, dass die Entscheidung insbesondere (im Hinblick auf die gemäß Art. 28 Abs. 1 zu berücksichtigenden Gesichtspunkte) nichtunverhältnismäßig ist.
74 
Aus alledem ergibt sich die Erforderlichkeit eines behördlichen „Vier-Augen-Prinzips“ nicht mehr, so dass es ab dem 01.05.2006 gemeinschaftsrechtlich unbedenklich sein dürfte, wenn das Widerspruchsverfahren gesetzlich ausgeschlossen ist. Durch den gerichtlichen Rechtsschutz (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes, vgl. dazu Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie), der in Deutschland entsprechend den o.g. Vorgaben eine umfassende Prüfung der tatsächlichen Grundlagen der Ausweisungsentscheidung sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beinhaltet, wird den gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien genügt (Dass die vom Gemeinschaftsrecht geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde, war vom Senat bereits unter der Geltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG angenommen worden - vgl. Senatsurteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, a.a.O.; er hat diese Rechtsprechung aber im Hinblick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005, (a.a.O.) aufgegeben, vgl dazu unter II. 2. ).
75 
2. Die Tatsache, dass damit ab dem 01.05.2006 das gemeinschaftsrechtliche Erfordernis der Nachprüfung einer Ausweisungsentscheidung durch eine zweite behördliche Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) ersatzlos weggefallen ist, führt allerdings nicht dazu, dass die gegen den Kläger unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung nunmehr als rechtmäßig anzusehen wäre. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), wonach für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist.
76 
a) Ob und inwieweit eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretene Veränderung der Sach- oder Rechtslage das Urteil über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beeinflusst, ist keine Frage des Prozessrechts-, sondern des zu Grunde liegenden materiellen Rechts (vgl. ausführlich zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage etwa Kopp/Schenke, 14. Aufl., § 113, Rn. 34 ff. und Rn. 47 ff., und Kleinlein, Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, VerwArch 1990, 149 ff., jeweils m.w.N.).
77 
Die o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruht auf der Anwendung materiellen Gemeinschaftsrechts über die Voraussetzungen der Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern bzw. assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 29.04.2004 , a.a.O.), wonach Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann. Da die Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit nach Art. 39 EG eng auszulegen seien, müssten die Voraussetzungen der gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein, zu dem die Ausweisung erfolge. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts gefolgt und hat - möglicherweise sogar darüber hinausgehend - entschieden, dass für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger bzw. assoziationsberechtigter Türken in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nunmehr insgesamt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sei. Aus dem Erfordernis, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt bestehen müsse, zu dem die Ausweisung erfolge, ergebe sich darüber hinaus, dass entscheidungserhebliche neue Tatsachen umfassend zu berücksichtigen seien.
78 
c) Aus dieser zu den materiellen Ausweisungsvoraussetzungen ergangenen Rechtsprechung lässt sich nichts dafür herleiten, dass eine ursprünglich unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften von der Behörde rechtswidrig erlassene Ausweisungsverfügung durch eine spätere Änderung der Verfahrensvorschriften nachträglich als rechtmäßig zu behandeln wäre (a.A., allerdings ohne nähere Begründung, Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -). Ob ein behördlicher Verfahrensfehler vorliegt, der zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung führt, richtet sich vielmehr nach dem während des Verwaltungsverfahrens geltenden Verfahrensrecht, mithin nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.
79 
Die (Übergangs-)Regelung in Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG bestimmt, dass die RL 64/221/EWG (erst) zum 30.04.2006 und damit nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden soll. Bereits dies spricht dagegen, dass die Regelungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG durch das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG auch für ergangene Ausweisungsentscheidungen überholt sind (ebenso VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2005 - 4 K 743/03 - ).
80 
Darüber hinaus entspricht es allgemeinen, aus dem Wesen und der Funktion des Rechts hergeleiteten Grundsätzen, dass neue Rechtsnormen grundsätzlich für die Zukunft gelten, sofern nicht spezielle Übergangsvorschriften ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Neues Verfahrensrecht gilt damit im Zweifel, d.h. mangels Vorliegens anders lautender Überleitungsvorschriften, vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an, und zwar i.d.R. (auch) für bereits anhängige, nicht jedoch für bereits abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte; letztere können nur nach dem im Zeitpunkt ihres Ergehens geltenden Recht beurteilt werden (vgl. dazu etwa Nieders. OVG, Urteil vom 15.03.2006 - 10 LB 7/06 -, m.w.N.; das Nieders. OVG bejaht in dieser Entscheidung die Anwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem Inkrafttreten der Norm - 01.01.2005 - in das Bundesgebiet eingereiste oder geborene Kinder, weil mit der Antragstellung das Verwaltungsverfahren erst eingeleitet werde; vgl. demgegenüber BverwG - Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21/04 -, InfAuslR 2006, 244 ff., wonach § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 ergangene Widerrufsentscheidungen, d.h. bereits abgeschlossene Verfahren, keine Anwendung findet). Ist ein belastender Verwaltungsakt unter Verletzung einer zur Zeit seines Erlasses geltenden Verfahrensvorschrift ergangenen und damit rechtswidrig, führt grundsätzlich der spätere Wegfall der Verfahrensvorschrift nicht zu einer Umwandlung eines rechtswidrigen in einen rechtmäßigen Verwaltungsakt (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 47, der davon spricht, dass der spätere Wegfall nicht eine „Metamorphose“ eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in einen rechtmäßigen bewirke). Allenfalls kann der Gesetzgeber (unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze) die Verletzung der Verfahrensvorschrift für unbeachtlich erklären, wie dies etwa in §§ 45, 46 LVwVfG geschehen ist, mit der Folge, dass der Verwaltungsakt trotz seines rechtswidrigen Zustandekommens als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. Kleinlein, a.a.O., S. 161). Die Voraussetzungen für eine Heilung nach §§ 45, 46 LVwVfG sind aber im vorliegenden Fall gerade nicht gegeben (vgl unter II. 4. und 5.).
81 
Im Ergebnis hat daher das Außerkrafttreten der RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 und das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG zum 01.05.2006 keinen entscheidungserheblichen Einfluss auf die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004. Diese ist vielmehr wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben worden.
IV.
82 
Ob die Ausweisung auch gegen materielles Gemeinschaftsrecht verstößt, ob insbesondere zum diesbezüglich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch von einer qualifizierten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann und die Verfügung im übrigen den an eine Ermessensausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. dazu im einzelnen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), kann danach offen bleiben. Offen bleiben kann damit auch, ob das Regierungspräsidium im Hinblick auf das Umgangsrecht des Klägers mit seinem 1993 in der Bundesrepublik geborenen Sohn bei seiner Entscheidung die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG (vgl. dazu insbes. Kammerbeschluss des BVerfG vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122 ff.) ausreichend gewichtet hat.
V.
83 
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht schließlich davon ausgegangen, dass bei einer Aufhebung der Ausweisung auch die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben kann.
VI.
84 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
VII.
85 
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das Außerkrafttreten des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 auf in der Vergangenheit unter Verstoß gegen diese Vorschrift erlassene Ausweisungsverfügungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen hat, gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Die Frage ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht geklärt; das Nieders. OVG hat in seinem - noch unveröffentlichten - Urteil vom 16.05.2006 (11 LC 324/05) eine von der Ansicht des zulassenden Gerichtshofs abweichende Rechtsauffassung vertreten; ebenso das VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.). Zwar handelt es sich bei Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG um außer Kraft getretenes Recht; die aufgeworfene Frage ist aber angesichts der Vielzahl der unter der Geltung dieser Vorschrift erlassenen und noch nicht bestandkräftig gewordenen Ausweisungen für einen nicht überschaubaren Personenkreis auf unabsehbare Zeit noch von Bedeutung; darüber hinaus kann die Frage auch Bedeutung haben für die Vielzahl der bei den Ausländerbehörden und Gerichten bereits anhängigen - sowie ggf. noch zu erwartenden - Verfahren auf Wiederaufgreifen von gemeinschaftsrechtswidrig erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen (zur Zulassung der Revision bei auslaufendem oder außer Kraft getretenen Recht vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.10.1994 - 9 B 83.94 - , DVBl 1995, 569, und vom 20.10.1995 - 6 B 35/95 -, NVwZ-RR 1996, 712, jeweils m.w.N.). Das Revisionsverfahren bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Frage des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu klären sowie die entstandenen Unklarheiten im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes „Hauptverfahren“ im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.09.2005 (a.a.O.) zu beseitigen.
86 
Beschluss
87 
vom 29. Juni 2006
88 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt der nur im Zuge der Anfechtung einer Ausweisung angefochtenen Abschiebungsandrohung keine selbständige wirtschaftliche Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28.04.1982 - 1 B 38.82 -, InfAuslR 1982, 167 und vom 29.01.1982 - 1 B 1.92 -, BayVBl. 1982, 380). Das gilt unabhängig von der Relevanz des angedrohten Zielstaats oder des ausländerrechtlichen Status des Betroffenen (vgl. Beschluss des Senats vom 24.06.2004 - 11 S 1168/04 -) und ungeachtet dessen, dass bei der Anfechtung einer isolierten Abschiebungsandrohung der volle Regelstreitwert anzusetzen ist.
89 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1.
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
2.
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
2a.
Blaue Karte EU (§ 18b Absatz 2),
2b.
ICT-Karte (§ 19),
2c.
Mobiler-ICT-Karte (§ 19b),
3.
Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder
4.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).
Die für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Rechtsvorschriften werden auch auf die Blaue Karte EU, die ICT-Karte und die Mobiler-ICT-Karte angewandt, sofern durch Gesetz oder Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist.

(2) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.

(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

1.
vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder
2.
auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2) Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

(3) Er kann verpflichtet werden, in einem anderen Wohnort oder in bestimmten Unterkünften auch außerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde zu wohnen, wenn dies geboten erscheint, um

1.
die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden und die Einhaltung vereinsrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Auflagen und Verpflichtungen besser überwachen zu können oder
2.
die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden.

(4) Um die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5, zu einer Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 oder zu einer Abschiebungsanordnung nach § 58a geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden, kann der Ausländer auch verpflichtet werden, zu bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen und bestimmte Kommunikationsmittel oder Dienste nicht zu nutzen, soweit ihm Kommunikationsmittel verbleiben und die Beschränkungen notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Um die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden, können Beschränkungen nach Satz 1 angeordnet werden, soweit diese notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwenden.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen 1 bis 4 ruhen, wenn sich der Ausländer in Haft befindet. Eine Anordnung nach den Absätzen 3 und 4 ist sofort vollziehbar.

(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgrund vom Vorsitzenden oder, wenn er verhindert ist, vom dienstältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht.

(2) Das Urteil enthält

1.
die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren,
2.
die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben,
3.
die Urteilsformel,
4.
den Tatbestand,
5.
die Entscheidungsgründe,
6.
die Rechtsmittelbelehrung.

(3) Im Tatbestand ist der Sach- und Streitstand unter Hervorhebung der gestellten Anträge seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt darzustellen. Wegen der Einzelheiten soll auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt.

(4) Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war, ist vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übermitteln. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übermitteln; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln.

(5) Das Gericht kann von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(6) Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat auf dem Urteil den Tag der Zustellung und im Falle des § 116 Abs. 1 Satz 1 den Tag der Verkündung zu vermerken und diesen Vermerk zu unterschreiben. Werden die Akten elektronisch geführt, hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle den Vermerk in einem gesonderten Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Urteil untrennbar zu verbinden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Oktober 2005 - 6 K 3901/04 - abgeändert; der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29. September 2004 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4. März 1998 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im übrigen werden die Klage und die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger 1/3 und der Beklagte 2/3.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und im Jahr 1973 in Deutschland geboren, wo auch seine italienische Mutter, der italienische Stiefvater und seine Halbschwester leben. Er hat einen Hauptschulabschluss, ist aber ohne Beruf; begonnene Lehren wurden nicht zu Ende geführt. 1993 bezog er mit seiner damaligen deutschen Freundin - die er später heiratete - eine Wohnung; aus der Beziehung sind zwei Kinder hervorgegangen (geboren 1990 und 1995), deren Vaterschaften er anerkannte. Die ihm zuletzt erteilte befristete Aufenthaltserlaubnis nach dem Ausländergesetz (nicht nach dem AufenthaltsG/EWG), erteilt von der Stadt Stuttgart am 22.4.1996, endete am 22.10.1997; eine Verlängerung wurde nicht beantragt.
Seit 1988 wurde der Kläger im Bundesgebiet mehrfach straffällig und verurteilt. Es handelt sich zunächst u.a. um zahlreiche Diebstahlsdelikte, Urkundenfälschungen, mehrfaches Fahren ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung und Betrugsversuche; später (ab 1992) kamen hinzu: gemeinschaftlicher schwerer Raub, unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln, weitere Diebstähle und Fahren ohne Fahrerlaubnis, fahrlässige und vorsätzliche Straßenverkehrsgefährdung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und weitere Delikte (zuletzt Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten). Im Juli 1997 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Betrugs, gemeinschaftlicher Urkundenfälschung und zweier Diebstähle in besonders schwerem Fall zu einem Jahr und 3 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Im Oktober 1996 wurde der Kläger festgenommen und war anschließend in Haft; er flüchtete im Juli 1997 aus der Haftanstalt und wurde im Oktober 1997 erneut in Haft genommen.
Im Juni 1998 wurde er aufgrund einer Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 (Regelausweisung aus schwerwiegenden spezial- und generalpräventiven Gründen und Abschiebungsandrohung) nach Italien abgeschoben. Vor Erlass dieser Ausweisungsverfügung hatte der Kläger mit Schreiben vom 15.2.1998 erklärt:
„Im Schreiben vom 12.1.1998 sieht die Staatsanwaltschaft von der weiteren Vollstreckung der Strafe ab dem 13.6.1998 ab, wenn ich von der Grenzpolizei abgeschoben werde. Darum beantrage ich nun selber meine Abschiebung aus der BRD und ziehe hiermit meine Beschwerde vom 2.2.1997 zurück. Ich habe in der BRD nichts mehr zu suchen, da meine Freundin und meine beiden Kinder mit mir nach Italien gehen ...“
In der Begründung der Ausweisungsverfügung, gegen die der Kläger keinen Widerspruch erhob, war das Regierungspräsidium Stuttgart davon ausgegangen, dass der Kläger mangels Arbeitnehmereigenschaft, ausreichender Krankenversicherung und Existenzmitteln sowie aufgrund seiner Erklärung vom Februar 1998 nicht zu den freiheitsberechtigten Unionsbürgern gehöre. Eine atypische Fallgestaltung wurde verneint; Ermessen wurde nicht (auch nicht hilfsweise) ausgeübt.
Im November 1998 kam der Kläger nach Deutschland zurück; am 13.9.1999 wurde er erneut nach Italien abgeschoben. Im November 1999 reiste er wiederum in das Bundesgebiet ein; am 18.3.2000 kam er wieder in Haft. Er war erneut straffällig geworden (Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 4.8.2000: Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Diebstahls in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit, wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in zwei Fällen, wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs sowie wegen schwerer räuberischer Erpressung). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB wurde angeordnet. Das Urteil wurde rechtskräftig. Der Maßregelvollzug (ab Juni 2001) in der ... in ... wurde abgebrochen, nachdem der Kläger im November 2001 mit zwei Mitpatienten von dort geflohen war; seit dem 19.12.2001 befindet er sich wieder in Strafhaft in der JVA Heilbronn.
Von 1993 bis ca. 2000 hatte der Kläger mit seinen Kindern und deren Mutter mit den oben genannten Unterbrechungen zusammengelebt; er heiratete die Mutter der Kinder im Jahr 1999 (19.8.1999) in der Strafhaft. Ab März 2000 bewohnte der Kläger mit zwei Mitbewohnern aus dem Drogenmilieu eine Zwei-Zimmer-Wohnung; er selbst war drogenabhängig und konsumierte Drogen aller Art, auch Heroin. Er ist mit HIV und Hepatitis C infiziert.
Der Sohn ... des Klägers (geb 1990) ist wegen Verhaltensauffälligkeit tagsüber in einem Heim untergebracht, die Tochter ... lebt bei der Mutter, zu der der Kläger keinen engen Kontakt mehr hat.
Der Kläger beantragte im April 2001 und erneut im Februar 2004, die Wirkungen seiner Ausweisung und Abschiebung zu befristen. Er machte geltend, er sei mit einer Deutschen verheiratet und habe auch zwei deutsche Kinder. Das Befristungsverfahren wurde im Einverständnis mit dem Kläger zunächst nicht betrieben, weil er erklärte, sich in Italien einer Drogentherapie unterziehen zu wollen. Im Mai 2004 beantragte der Kläger, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen, hilfsweise die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebungen mit sofortiger Wirkung zu befristen.
10 
Mit Verfügung vom 29.9.2004 lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 4.3.1998 und die weiteren Anträge auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebungen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 LVwVfG für den Erlass einer die Ausweisungsverfügung betreffenden Rücknahmeverfügung lägen nicht vor. Die Ausweisung sei rechtmäßig erlassen worden. Ihr Widerruf scheide aus, weil die Widerrufsvorschrift durch die Befristungsregelung im Ausländergesetz verdrängt sei. Eine Befristung der Wirkungen komme derzeit nicht in Betracht, weil der von § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG vorausgesetzte Regelfall nicht gegeben sei. Der Fall des Klägers sei atypisch, und es sei gegenwärtig nicht absehbar, dass der spezialpräventive Zweck der Ausweisung überhaupt erreicht werden könne. Auch eine Befristung der Wirkungen der Abschiebung komme derzeit nicht in Betracht, zumal der Kläger die angefallenen Kosten noch nicht bezahlt und im übrigen seine früheren Abschiebungen missachtend schon zweimal illegal nach Deutschland gekommen sei.
11 
Die am 1.10.2004 beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage, mit der der Kläger beantragt hat,
12 
die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen, hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung zu befristen,
13 
ist durch Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.10.2005 - 16 K 3901/04 - abgewiesen worden. Das Verwaltungsgericht hat in den Gründen ausgeführt, die Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 verletze den Kläger nicht in seinen Rechten; eine Rücknahme komme nicht in Betracht, da die frühere Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums vom 4.3.1998 rechtmäßig sei. Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ändere nichts daran, dass diese Verfügung rechtmäßig erlassen worden sei. Der Kläger sei zwar Unionsbürger, erfülle aber die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364/EWG vom 28.6.1990 nicht, da das Erfordernis der Krankenversicherung und ausreichender Existenzmittel nicht erfüllt sei. Außerdem habe der Kläger vor Erlass der Ausweisungsverfügung im Anhörungsverfahren wirksam auf ein Freizügigkeitsrecht verzichtet, als er erklärt habe, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen und wolle deshalb mit seiner Freundin und seinen beiden Kindern nach Italien übersiedeln. Auch der Hilfsantrag habe keinen Erfolg, da auf den Kläger nunmehr aufgrund der Ausweisungsverfügung nicht mehr das Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern vielmehr das allgemeine Ausländerrecht anzuwenden sei. Ein Regelfall, der die Befristung nahe legen könne, sei hier nicht gegeben; das Regierungspräsidium habe zu Recht angenommen, hier liege ein Sonderfall vor. Auf die Begründung der Behörde werde Bezug genommen.
14 
Auf den rechtzeitig gestellten und begründeten Zulassungsantrag des Klägers hin hat der Senat mit Beschluss vom 20.2.2006 (Zustellung am 27.2.2006) die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen; mit dem am 2.3.2006 eingegangenen Berufungsbegründungsschriftsatz, der auf das Vorbringen im Zulassungsverfahren Bezug genommen hat, beantragt der Kläger,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.10.2005 - 16 K 3901/04 - abzuändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen,
hilfsweise:
den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung der Verfügung vom 29.9.2004 die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung zu befristen.
16 
Zur Begründung des Berufungsantrags trägt der Kläger vor, sein Freizügigkeitsrecht könne nicht bestritten werden. Es ergebe sich aus Art. 7 Abs. 2 der RL 68/360/EWG, und das Freizügigkeitsrecht sei auch nicht wegen Fehlens von Unterhaltsgewährung nach Art. 10 der Verordnung 1612/68 untergegangen. Ein Verzicht auf das Freizügigkeitsrecht sei unwirksam und liege auch inhaltlich nicht vor. Das Verwaltungsgericht habe außerdem verkannt, dass auch seine Kinder neben der deutschen Staatsangehörigkeit die italienische Staatsangehörigkeit hätten, so dass er als Vater dieser Kinder ebenfalls ein Aufenthaltsrecht habe. Dass die damalige Ausweisungsverfügung gemeinschaftsrechtswidrig gewesen sei, liege auf der Hand. Einmal habe die Behörde zu Unrecht das Freizügigkeitsrecht verneint und allgemeines Ausländerrecht angewandt. Dies sei bei EU-Bürgern unzulässig. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof inzwischen sogar die entsprechende Regelung des AufenthaltsG/EWG für gemeinschaftswidrig erklärt. Rechtswidrig sei die Ausweisung auch deswegen gewesen, weil sie unbefristet erfolgt sei; dies widerspreche mehreren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Allgemein sei zu bemerken, dass die Europäischen Institutionen die Voraussetzungen der Ausweisung ohnehin enger fassten als die deutschen Behörden und Gerichte. Das der Behörde zustehende Ermessen sei hier wegen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Ausweisung auf die Rücknahme ex tunc reduziert; eine andere Lösung komme nicht in Betracht. Die Bestandskraft einer Verfügung sei geringer zu werten als die Rechtskraft, und der Europäische Gerichtshof habe mehrfach entschieden, dass bei gemeinschaftsrechtswidrigen Verfügungen entweder die Rechtsmittelfrist gehemmt sei oder eine Rücknahmepflicht bestehe. Teilweise werde auch angenommen, solche gemeinschaftsrechtswidrigen Verfügungen würden unwirksam. Jedenfalls sei die neuere Rechtsprechung der Europäischen Gerichte auch auf zurückliegende Sachverhalte anzuwenden. Da die Möglichkeit der Befristung einer Rücknahme ex nunc als Spezialregelung entgegenstehe, bleibe die Rücknahme ex tunc. Mindestens sei diese Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
die Berufung zurückzuweisen.
19 
Er ist nach wie vor der Auffassung, dass der Kläger die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts im Zeitpunkt der Ausweisung nicht mehr erfüllt habe und daher EU-Recht unbeachtlich sei. Seine Erklärung vom15.2.1998, er wolle mit Freundin und Kindern in Italien leben, belege dies ausreichend. Abgesehen davon seien aber die Voraussetzungen des § 12 AufenthG/EWG und des EU-Rechts für die Ausweisung gegeben gewesen, da der Kläger massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Insofern handle es sich um einen Extremfall im Sinn des Urteils des EuGH vom 29.4.2004, und von einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Behörden könne keine Rede sein. Die bestehende Wiederholungsgefahr habe der Kläger selbst nach seiner Rückkehr in das Bundesgebiet nachhaltig bestätigt. Auch der Vollzug der Strafhaft sei nicht beanstandungsfrei. Die vom Kläger zitierten Urteile des EGMR insbesondere zur Befristungsfrage änderten daran nichts; zumutbar und erforderlich sei jedenfalls, dass ein Befristungsantrag gestellt werde. Die Befristungsvorschriften belegten geradezu, dass die Ausweisung nicht gewissermaßen lebenslänglich sei. Die Ausweisung habe auch nicht gegen Art. 9 der RL 64/221/EWG verstoßen, da der Kläger nach Italien habe zurückkehren wollen. Er habe außerdem keine Klage erhoben, habe sich also gerade nicht verteidigen wollen. Ein Rücknahmeermessen sei damit nicht gegeben; erst recht nicht sei es auf die Rücknahme der Ausweisung reduziert. Auf die Bedeutung der Rechts- und Bestandskraft habe der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 16.3.2006 hingewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht gehe außerdem davon aus, dass eine Ermessensentscheidung auch nachgeholt werden könne. Eine Rücknahme sei regelmäßig ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt mit gleichem Inhalt (hier: Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 Freizügigkeitsgesetz/EU) neu erlassen werden müsse. Das sei hier der Fall. Neben dem nachhaltigen und massiven kriminellen Fehlverhalten sei darauf hinzuweisen, dass auch die Drogenproblematik nicht gelöst sei. Es sei daher nicht unverhältnismäßig, an der Ausweisung festzuhalten, sie als Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt anzusehen und dem Rücknahmeantrag nicht zu entsprechen. Es sei nicht ermessensfehlerhaft, den Kläger auf die Möglichkeit der Befristung zu verweisen für den Fall, dass die Wiederholungsgefahr nicht mehr gegeben sei. Mit den Kindern habe der Kläger im übrigen vor seiner Inhaftierung nicht in familiärer Lebensgemeinschaft zusammengewohnt. Möglicherweise werde er von ihnen und von seiner freizügigkeitsberechtigten Mutter noch regelmäßig besucht. Zur Mutter der Kinder habe er aber nur sporadischen und telefonischen Kontakt. Was Art. 8 EMRK angehe, so sei die hohe und konkrete Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen; er sei nicht therapiert. Seine Erkrankung führe nicht dazu, dass sein Interesse an der Rücknahme der Ausweisung überwiege, da er erforderliche Medikamente auch in Italien bekommen könne. Für die ersten Tage nach einer Abschiebung nach Italien könnten ihm auch Medikamente mitgegeben werden. Jedenfalls habe der Kläger keinen Anspruch auf die beantragte Rücknahme, und eine am Zweck des § 48 LVwVfG orientierte Ermessensausübung ergebe, dass die Ablehnung des Antrags nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Soweit hilfsweise die Befristung beantragt werde, werde auf die angegriffene Verfügung vom 29.9.2004 (Fortbestand der Wiederholungsgefahr) verwiesen.
20 
Dem Senat liegen die den Kläger betreffenden Akten des Verwaltungsgerichts und der Behörden (jeweils 1 Heft Akten des RP Stuttgart und der Stadt Fellbach) vor; sie waren Gegenstand der Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe

 
21 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig begründete Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) hat Erfolg, soweit der Kläger neben der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 die Verpflichtung des beklagten Landes zur erneuten Entscheidung über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 begehrt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO); die darüber hinausgehende Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme dieser Verfügung war allerdings abzuweisen, da dem Kläger kein entsprechender Rücknahmeanspruch zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Da die Klage damit im Hauptantrag (teilweise) Erfolg hat und das erstinstanzliche Urteil insofern abzuändern war, braucht über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden (vgl. auch Sodan/Ziekow, VwGO, 2006, Rn 111 vor § 124).
22 
Gegenstand des mit der Berufung in erster Linie verfolgten Hauptantrags ist der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG; die damit verbundene Abschiebungsandrohung ist von dem sich auf die “Ausweisungsanordnung“ beschränkenden Berufungsantrag nicht umfasst, und auch eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Sinn von § 51 VwVfG ist nicht erhoben, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat. Dieser Antrag umfasst allerdings bei sachdienlicher Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) nicht nur einen denkbaren Rücknahmeanspruch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wegen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, sondern es ist auf diesen Antrag hin auch zu prüfen, ob der Beklagte deswegen zur „Rücknahme“ der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung verpflichtet ist, weil diese rechtlich unwirksam ist. Die Unwirksamkeit der Verfügung hat der Kläger in Anlehnung an die Rechtsprechung des Hess. VGH und des OVG Berlin (im einzelnen siehe dazu unten) in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich als Klagegrund geltend gemacht, und es ist anerkannt, dass bei einem unwirksamen - oder: wie hier allenfalls unwirksam gewordenen - Verwaltungsakt eine (klarstellende) behördliche Rücknahme des Verwaltungsakts möglich und aus Gründen der Beseitigung des Rechtsscheins gegebenenfalls auch erforderlich ist (siehe dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 2003, Rn 19a zu § 48; siehe auch Bay. VGH, Urteil vom 12.10.1989 - 26 B 86.02944 -, NVwZ-RR 1991, 117; Hess. VGH, Urteil vom 29.3.2006 - 6 UE 2874/04 - juris und BSG, Urteil vom 23.2.1989 - NVwZ 1989, 902). Bei einer solchen Fallgestaltung ist der Kläger nicht darauf verwiesen, Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 VwGO zu erheben (siehe dazu Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 63 und 71 zu § 43; BSG a.a.O.), was im vorliegenden Fall als Klageänderung im Berufungsverfahren ohnehin prozessual nicht unproblematisch wäre.
23 
Der mit der Berufung verfolgte Anspruch des Klägers auf Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung hat jedoch nur teilweise Erfolg. Da diese Verfügung rechtswidrig war, war das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnet (1); es wurde allerdings weder in der Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 noch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt, so dass der Beklagte zu einer entsprechenden Bescheidung nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten war (2). Ein darüber hinaus gehender unbedingter Rücknahmeanspruch besteht dagegen nicht (3).
24 
1. Der Kläger ist nicht bereits deswegen rechtlich daran gehindert, die nach seiner Auffassung bei Ergehen der Ausweisungsverfügung bestehende Rechtswidrigkeit geltend zu machen, weil er zuvor der Behörde gegenüber am 15.2.1998 erklärt hatte, er beantrage seine Abschiebung und habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, weil er mit Freundin und Kindern nach Italien gehe. Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Rücknahmeverlangen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht darauf abstellt, auf welche Weise der Verwaltungsakt bestandskräftig geworden ist; selbst ein Verzicht auf einen Widerspruch schließt damit ein späteres Rücknahmebegehren nicht aus. Erst recht gilt dies in einem Fall wie dem vorliegenden: Die Einverständniserklärung des Klägers vor Erlass des Verwaltungsakts steht nämlich einem Widerspruchsverzicht nicht gleich (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 20.1.1967 - VII C 191.64 -, NJW 1967, 2027; Kopp/Schenke, VwGO, 2005, Rn 11 zu § 69 und Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 96 zu § 69 Fn 106). Die zur Bestandskraft des Verwaltungsakts führenden konkreten Umstände und insbesondere das Verhalten des Klägers der bevorstehenden Ausweisung gegenüber schließen eine Rücknahme also nicht aus; sie sind allenfalls Gesichtspunkte, die bei der Ausübung des Rücknahmeermessens von Bedeutung sind (siehe auch Senat, Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Kopp/Ramsauer, a.a.O., RN 52 f. zu § 48).
25 
Für die damit im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung des Klägers stellt der Senat auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ab; da der Kläger zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war, kann offen bleiben, inwieweit eine erst später eintretende Rechtswidrigkeit ein Rücknahmeverfahren eröffnen kann (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 - 1 C 13.03 -, NVwZ-RR 2005, 341; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.9.2001 - 8 S 641/01 -, VBlBW 2002, 208, 209).
26 
Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses ergibt sich für den Senat allerdings nicht bereits aus den Vorschriften des damals geltenden Ausländergesetzes selbst - tatbestandlich lag ein Fall der Regelausweisung durchaus vor - und auch nicht aus den einfachrechtlichen Modifikationen der Ausweisung, die das damalige AufenthG/EWG insbesondere in § 12 enthielt; auch diese Vorschriften, insbesondere das Erfordernis einer Wiederholungsgefahr (§ 12 Abs. 3 und 4 AufenthG/EWG) sind eingehalten worden. Der Senat ist auch nicht der Auffassung, dass die Ausweisung des Klägers als eines Ausländers der sog. zweiten Generation aus Gründen des als Gesetzesrecht zu beachtenden Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtswidrig war; angesichts der erheblichen Vorstrafen des Klägers und der jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt offen zu Tage liegenden Wiederholungsgefahr hinsichtlich gravierender Delikte war der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Schutzgut „Familienleben“ im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Verhütung von Straftaten im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig (s. dazu Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts - Grundrechtsschutz, 2006, S. 66, 67 m.w.N. und die Nachweise bei Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 16 Rn 94 m.w.N.) In Fällen wie dem vorliegenden hätte auch nicht notwendigerweise mit der Ausweisung selbst schon über eine Befristung der Wirkungen entschieden werden müssen. Eine solche zusätzliche Entscheidung lag im Fall des Klägers zum damaligen Zeitpunkt bereits wegen dessen vorangegangener Erklärung, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, nicht nahe; sie war aber auch nicht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten. Zwar hat der EGMR in mehreren Entscheidungen eine Ausweisung eines Ausländers also unverhältnismäßig beurteilt, die keine Befristungsentscheidung enthielt (siehe Urteile vom 17.4.2003 - Yilmaz -, NJW 2004, 2147, 2149; Urteil vom 22.4.2004 - Radovanovic -, InfAuslR 2004, 374 und Urteil vom 27.10.2005 - Keles -, InfAuslR 2006, 3); das deutsche Recht wird dem dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit aber dadurch gerecht, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (siehe damals § 8 Abs. 2 AuslG und heute § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG und BVerwG, Beschluss vom 27.6.1997 - 1 B 126/97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 13).
27 
Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben; ein im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG beachtlicher Verstoß der Ausweisungsverfügung gegen Rechtsvorschriften ergibt sich nämlich daraus, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war und dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Bindungen zu beachten waren (1.1). Insbesondere durfte der Kläger nicht nach den Vorschriften der Regelausweisung ausgewiesen werden, sondern es war Ermessen auszuüben (1.2). Auf das Vorliegen weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bindungen und die Frage, ob sie eingehalten sind, kommt es danach nicht mehr an (1.3).
28 
1.1. Ob der Kläger zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt war, ist zweifelhaft, kann letztlich aber offen bleiben. Mangels Arbeitnehmereigenschaft bzw. Arbeitssuche liegen die Voraussetzungen der Verordnungen Nr. 1612/68/EWG und 1251/70/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft nicht vor (siehe Art. 1 und Art. 2 VO 1612/68/EWG); daraus folgt auch das Fehlen eines Freizügigkeitsrechts entsprechend der RL 68/360/EWG (Art. 1 und Art. 4 Abs. 1). Unabhängig von der Frage der Arbeitnehmereigenschaft und Erwerbstätigkeit leitet der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings ein allgemeines Freizügigkeitsrecht bereits aus der (bei dem Kläger als italienischem Staatsangehörigen bestehenden) Unionsbürgerschaft (Art. 18 EG) her; dies gilt jedenfalls seit der Entscheidung Baumbast (siehe EuGH, Urteil vom 17.9.2002 - C 413/99 -, InfAuslR 2002, 463, Rn 84/8Rn 84/85; zur früheren Rechtslage vgl. auch BVerwG, Vorlageentscheidung vom 18.9.2001 - 1 C 17/00 -, NVwZ 2002, 339 m.w.N.). In der Folgezeit hat der EuGH diese Rechtsprechung fortgeführt und bestärkt (siehe Urteil vom 29.4.2004 - Orfanopoulos und Oliveri -, - C 282/01 -, Rn 65, NVwZ 2004, 1099; Urteil vom 15.3.2005 - Bidar -, - C 209/03 -, Rn 36, NJW 2005, 2055; Urteil vom 23.3.2006 - Kommission -, - C 408/03 -, Rn 37, NVwZ 2006, 918), und Literatur und nationale Rechtsprechung sind dem weitgehend gefolgt (siehe Sander, DVBl. 2005, 1014 und Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004, 133; Lenz/Borchardt, EU- und EGV, 2006, RN 2 zu Art. 18; siehe auch Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, AuAS 2005, 74). Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 7.9.2004 - C 456/02 -, -Trojani-, Rn 36, InfAuslR 2004, 417) zu den „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit im Sinn des Art. 18 Abs. 1 EG ausgeführt, bei Fehlen ausreichender Existenzmittel im Sinn der RL 90/364/EWG erwachse dem Unionsbürger kein Recht zum Aufenthalt; diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass bei Nichterfüllung dieser Beschränkungen und Bedingungen die Unionsbürgerschaft allein zur Entstehung des Freizügigkeitsrechts noch nicht ausreicht. Dass im Fall des Klägers ausreichende Existenzmittel im Sinn der genannten Richtlinie im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung nicht vorhanden waren, liegt für den Senat angesichts des Fehlens gesicherter Einkünfte und seiner schweren Erkrankung mehr als nahe; selbst wenn er in gewissem Umfang von seiner damaligen Ehefrau und/oder seinen italienischen Eltern unterstützt worden sein mag, dürfte es jedenfalls an ausreichender Krankheitsvorsorge gefehlt haben (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 19.10.2004 - C 200/02 -, - Chen -, InfAuslR 2004, 413 und vom 23.3.2006, a.a.O.). Hiervon abgesehen geht der EuGH jedenfalls dann vom Fehlen bzw. Erlöschen des Freizügigkeitsrechts aus, wenn die Nichterfüllung der „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) dem Betroffenen „entgegengehalten“ worden ist (siehe EuGH, Bidar, a.a.O., Rn 36). Eine derartige behördliche Entscheidung - zum neuen Recht siehe § 7 Abs. 1 FreizügG/EU - kann hier durchaus in der Ausweisungsverfügung selbst gesehen werden, die dem Kläger ausdrücklich wegen fehlender Existenzmittel und wegen fehlenden Krankenversicherungsschutzes gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit abgesprochen hat (S. 6 f. der Ausweisungsverfügung) und die der Kläger ebenso wie die Ausweisung selbst akzeptiert hat.
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Letztlich kann der Senat jedoch offen lassen, ob der Kläger sich zum damaligen Zeitpunkt auf ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht berufen konnte; er war jedenfalls aus abgeleitetem Recht als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt. Ein solches Recht scheidet nicht bereits deswegen aus, weil der Kläger bereits im Bundesgebiet geboren wurde und es damit „an sich“ an dem erforderlichen grenzüberschreitenden Element fehlt (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 19/20). Ob der Kläger als Familienangehöriger von seiner italienischen Mutter oder von seinem italienischen Stiefvater (siehe dazu EuGH , Urteil vom 30.9.2004 - C 275/02 -, - Ayaz -, InfAuslR 2004, 416 und Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Rn 17 zu § 3 FreizügG) ein Freizügigkeitsrecht ableiten konnte, obwohl er über 21 Jahre alt war, insbesondere ob ausreichende Unterhaltsleistungen der Stammberechtigten vorlagen (siehe dazu EuGH, Chen, a.a.O., und Kommission, a.a.O.), ist angesichts der Einstellung der Eltern des Klägers zu seiner Drogenabhängigkeit fragwürdig; der Senat braucht diese Fragen jedoch nicht zu entscheiden, weil der Kläger jedenfalls von seinen Kindern als Stammberechtigte ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht herleiten konnte. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
30 
Die Kinder des Klägers sind (auch) italienische Staatsangehörige (siehe Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 8 (Italien), S. 6 mit Hinweis auf Art. 1 des italienischen Gesetzes 91/1992 vom 5.2.1992). Die Tatsache, dass sie daneben die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ändert an ihrer Eignung als „Stammberechtigte“ nichts (siehe EuGH, Urteil vom 7.7.1992 - C 369/90 -, - Micheletti -, InfAuslR 1992, 2). Kraft ihrer Rechtsstellung als Unionsbürger konnten die Kinder des Klägers diesem trotz ihrer Geburt in Deutschland ein Freizügigkeitsrecht vermitteln (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O.), und sie selbst waren nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EG freizügigkeitsberechtigt. Dabei ist es ohne rechtliche Bedeutung, dass die maßgebende Rechtsprechung des EuGH sowohl zum Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 EG als auch zur „Erstreckung“ des Freizügigkeitsrechts von Kindern auf Eltern (s. dazu unten) erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt worden ist; sie erfasst auch zurückliegende Tatbestände, die im Sinn der „geläuterten“ Rechtsprechung zu beurteilen sind (siehe dazu EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask -, Slg I 06783, Rn 36,37; vgl. auch die Rechtsprechung des BVerwG zum Verständnis der RL 64/221/EWG, Urteile vom13.9.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110, und vom 6.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 und Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn 35 zu § 48 m.w.N.). Dass die Kinder des Klägers ihrerseits die „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) unter irgendeinem Gesichtspunkt (Existenzmittel, Krankheitsvorsorge) nicht erfüllt hätten, ist nicht ersichtlich; erst recht ist ihnen ein solcher Tatbestand im Sinn der Rechtsprechung des EuGH (Bidar, a.a.O.) auch nicht „entgegengehalten“ worden. Aus dieser Rechtsstellung folgt, dass nicht nur sie selbst im maßgebenden Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung freizügigkeitsberechtigt waren, sondern dass zusätzlich eine Gefährdung ihres Freizügigkeitsrechts durch eine Ausweisung ihres Vaters gemeinschaftsrechtlich zu vermeiden war (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O. Rn 72 f. und Chen, a.a.O. Rn 45). In den genannten Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof nämlich ein den Kindern zustehendes Freizügigkeitsrecht in bestimmten Fällen auf die Eltern erstreckt; er hat sich dabei an der Überlegung orientiert, dass das einem Kind nach der Gemeinschaftsgesetzgebung zustehende Recht verloren gehen könnte, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu verbleiben. Dies gilt nach Auffassung des EuGH jedenfalls für solche Eltern, die die Personensorge tatsächlich wahrnehmen und sich bei dem Kind aufhalten (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O., Rn 71 und 73; siehe auch EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 45). Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser „Erstreckung“ des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Kinder auf die Eltern waren im Fall des Klägers auch gegeben:
31 
Zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung lagen - bezogen auf den Kläger, seine damalige Noch-Ehefrau und die beiden Kinder - die ein „Familienleben“ im Sinn der (auf Art. 8 Abs. 1 EMRK Bezug nehmenden) Rechtsprechung des EuGH begründenden Umstände vor; der Kläger wohnte mit seinen Familienangehörigen zusammen, und es ist auch davon auszugehen, dass die in den genannten Urteilen für eine Erstreckung der Freizügigkeit vorausgesetzte tatsächliche Personensorge für die Kinder (auch) von ihm wahrgenommen wurde (zu den Anforderungen des Art. 8 EMRK siehe Grote/Marauhn, a.a.O. Kap. 16 Rn 41 und Breitenmoser/Riemer/Seitz, a.a.O., S. 59 und 60). Der tatsächliche Kontakt, auf den es in diesem Zusammenhang ankommt, endete auch nicht in den Zeiträumen, in denen der Kläger inhaftiert war; es bestand regelmäßiger Besuchskontakt (alle zwei Wochen) mit seiner damaligen Ehefrau und den Kindern (RP-Akten S. 26), und auch sonst hatte - wie aus den Ausländerakten der Stadt Fellbach hervorgeht - keine Seite die Absicht, die familiäre Lebensgemeinschaft zu beenden (siehe etwa Vermerke vom 25.11.1997 und 16. und 18.12.1997). Die Inhaftierungszeiten haben damit den der Rechtsprechung des EuGH zur Erstreckung des Freizügigkeitsrechts auf Eltern zugrunde liegenden familienrechtlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht berührt (vgl. dazu auch Grote/Maraun, a.a.O., Kap. 16 Rn 45 m.w.N.).
32 
Die dem Schutz des Freizügigkeitsrechts der Kinder dienende Erstreckung dieses Rechts auf ihren Vater scheitert im vorliegenden Fall auch nicht daran, dass die Kinder gleichzeitig deutsche Staatsangehörige sind. Zwar folgt hieraus, dass naturgemäß ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland zu keinem Zeitpunkt in Frage stand; die gegen den Kläger ergangene Ausweisung setzte aber gleichwohl die Familienangehörigen dem mittelbaren Druck aus, dem Kläger nach Italien zu folgen. Dass es im vorliegenden Fall hierzu nicht kam, weil die Kinder und ihre Mutter sich für den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden, ändert daran nichts, zumal der weitere Zusammenhalt der Familienangehörigen in der illegalen Wiedereinreise des Klägers und in seinen (heimlichen) Besuchen bei der Familie zum Ausdruck kommt. Es spricht mehr dafür, dass die Familienangehörigen des Klägers die bevorstehende Trennung nicht durch ihre Nachreise nach Italien, sondern durch weiteren Kontakt in der Illegalität verhindern bzw. entschärfen wollten. Da die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Entscheidungen Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) eine für Kinder bei Ausweisung eines Elternteils entstehende Zwangslage vermeiden will, ist sie auch auf Fallgestaltungen wie die hier vorliegende anwendbar.
33 
Auf das aus seinen Kindern abgeleitete Freizügigkeitsrecht hat der Kläger schließlich auch nicht durch seine Erklärung vom 15.2.1998 verzichtet. Wie bereits ausgeführt worden ist, betraf diese Erklärung nur die konkret bevorstehende Abschiebung; mit ihr wollte der Kläger für die Behörde erkennbar eine vorzeitige Haftbeendigung in Deutschland erreichen. In der mündlichen Verhandlung hat er dazu glaubhaft angegeben, es sei ihm darum gegangen, möglichst früh in Italien wieder an Drogen zu kommen. Als Verzicht auf ein Freizügigkeitsrecht, das ihn auch zur Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigen würde, ist diese Erklärung nicht aufzufassen, ganz abgesehen davon, dass es insofern offenbar an einem verbindlichen rechtlichen Erklärungswillen - sozusagen für alle Zukunft - fehlte und ein wesentliches Element der Erklärung - die Mitausreise der Familienangehörigen - nicht Realität wurde. Insofern sind strenge Anforderungen zu stellen; sogar bei einer Ausreise „zum Sterben in der Heimat“ hat die Rechtsprechung die Annahme eines Freizügigkeitsverzichts abgelehnt (siehe dazu und zu den Voraussetzungen eines solchen Verzichts OVG Koblenz, Beschluss vom 17.6.1996 - 11 B 11155/96 -, InfAuslR 1996, 337 m.w.N.). Verzichtserklärungen im europäischen Recht sind auf die konkrete Handlung beschränkt und nicht mit Zukunftswirkung verbunden (siehe dazu Umbach/Clemens, GG, 2002, Rn 8 zu Art. 18). Insofern gilt nichts anderes als bei grundgesetzlich gewährleisteten Rechten (siehe dazu im einzelnen Jarass/Pieroth, GG, 2004, Vorbem. vor Art. 1, Rn 36 und Dreier, GG, 1996, Vorbem. 83, je m.w.N.). Auch ist zu bedenken, dass zum damaligen Zeitpunkt ein aus dem Unionsbürgerrecht selbst fließendes Aufenthaltsrecht noch nicht durch den Europäischen Gerichtshof anerkannt war; 1997 hatte der Europäische Gerichtshof noch entschieden, dass die Unionsbürgerschaft keine Ausdehnung der Rechtsstellung bewirken wolle (siehe dazu Lenz/Borchardt, a.a.O., Rn 2 zu Art. 18). Für einen entsprechenden Verzichtswille fehlt es daher zum damaligen Zeitpunkt an einer Grundlage.
34 
1.2. Konsequenz des dem Kläger nach diesen Ausführungen bei Erlass der Ausweisungsverfügung zustehenden Freizügigkeitsrechts war, dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschranken anzuwenden waren; insbesondere schied im Fall des Klägers eine (nach nationalem Recht zutreffende) Regelausweisung aus und es war Ausweisungsermessen auszuüben. Der Europäische Gerichtshof hat - allerdings erst im Jahr 2004, aber gleichwohl mit Wirkung auch für frühere Ausweisungsfälle (siehe dazu oben 1.1) -entschieden, dass bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern die Tatbestände der zwingenden und der Regelausweisung als Rechtsgrundlagen ausscheiden; solche Ausländer dürfen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden (siehe dazu EuGH, Urteil vom 29.4.2004 - Rs C 482/01 - und C 493/01 - Orfanopoulos und Oliveri, DVBl. 2004, 876), und das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen (Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, NVwZ 2004, 1099). Die frühere - abweichende - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist damit aufgegeben worden. Im Licht dieser - allerdings neueren - Rechtsprechung könnte die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung im Verfahren über den Rücknahmeantrag nur dann als rechtmäßig beurteilt werden, wenn die Behörde die Ausweisung des Klägers nicht nur auf den Tatbestand der Regelausweisung gestützt, sondern hilfsweise Ermessen ausgeübt hätte. Dies ist hier aber nicht geschehen. Die Behörde ging ausdrücklich von einer sog. Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus, die wegen der ausländerrechtlichen Privilegierung des Klägers als Vater zweier deutscher Kinder in eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 AuslG herabgestuft wurde (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG); die Behörde hat danach lediglich noch geprüft, ob eine atypische Fallgestaltung vorliegt, die eine Ermessensausweisung gebietet (S. 9 ff. der Ausweisungsverfügung), und diese Frage verneint. Die Verfügung setzt sich zwar bei der Prüfung, ob eine atypischen Fallgestaltung gegeben ist, mit der bisherigen Lebensführung des Klägers im einzelnen auseinander; diese Gesichtspunkte können aber nicht in eine Ermessensausübung „umgedeutet“ werden, da Rechtserwägungen im Zusammenhang mit der Problematik der Atypik keine Ermessenserwägungen sind (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152). Die Tatsache, dass bei der Prüfung der Atypik alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (siehe BVerwG, Urteil vom 26.2.2002 - 1 C 21/00 -, NVwZ 2002, 1512), begründet daher nicht die Annahme einer Ermessensentscheidung; die Atypik führt erst tatbestandsmäßig zur Ermessensausübung (siehe BVerwG, Urteil vom 31.8.2004 - 1 C 25/03 -, NVwZ 2005, 229).
35 
1.3. Der Senat kann offen lassen, ob die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger nicht nur wegen unterbliebener Ermessensausübung, sondern auch wegen Verletzung des Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen ist (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 13.9.2005, a.a.O. und vom 6.10.2005, a.a.O.), ob der in dieser Richtlinie gebotene verfahrensrechtliche Schutz wegen der Einwilligung des Klägers in seine Ausweisung bzw. Abschiebung entbehrlich war und ob ein gegebenenfalls vorliegender Rechtsverstoß durch den späteren Wegfall der Richtlinie gegenstandslos geworden ist (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 -). Offensichtlich fehlerhaft wäre allerdings die Annahme, es hätten im Weg der sog. Vorwirkung bereits damals (1998) die materiellen Ausweisungsvoraussetzungen der weitaus späteren RL 2004/38/EG gegolten.
36 
2. Aus der wegen Ermessensunterschreitung vorliegenden Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung ergibt sich, dass entgegen der Auffassung der Behörde tatbestandsmäßig eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Betracht kam; die Behörde war dementsprechend verpflichtet, über den Rücknahmeantrag nach Ermessen zu entscheiden. Die Behörde hat jedoch in der Verfügung vom 29.9.2004 den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung aus Rechtsgründen, d.h. wegen fehlender Rechtswidrigkeit der Verfügung, abgelehnt (S. 3 der Verfügung); (wenigstens) hilfsweise Ermessensausübung liegt auch insofern nicht vor, zumal die weiteren Ausführungen der Behörde im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung bzw. Abschiebung nicht als Ermessensausführungen im Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG aufgefasst werden können (siehe dazu auch oben). Das Rücknahme-Ermessen ist auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden; insbesondere liegt kein „Ergänzen“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO vor. Im gerichtlichen Verfahren hat die Behörde an ihrer Auffassung zur Rechtmäßigkeit der Verfügung festgehalten. Sie hat zwar ausgeführt, ihr müsse noch die Möglichkeit der Nachholung des Ermessens gegeben werden, und sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 3.8.2004 (a.a.O.) bezogen; damit verkennt sie aber, dass diese Entscheidung die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung und nicht - wie hier - eine Klage auf Rücknahme dieser Verfügung betrifft. Die Verweisung auf das Befristungsverfahren ist keine Ermessensbetätigung im Rücknahmeverfahren, und eine bestandskräftig gewordene „Alt-Ausweisung“ kann auch nicht in eine nach Voraussetzungen und Struktur unterschiedliche Feststellung nach § 6 FreizügG umgedeutet werden (siehe auch OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 -, InfAuslR 2006, 118, 120). Im übrigen wäre wegen des ursprünglichen Fehlens von Ermessenserwägungen überhaupt eine bloße „Ergänzung“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO nicht zulässig (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 5.9.2006 - 1 C 20.05 -, juris und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.2006 - 13 S 1566/06 -). Die aufgrund der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (Entscheidung Orfanopoulos a.a.O.) vom Bundesverwaltungsgericht über § 114 Satz 2 VwGO hinaus eingeräumte generelle Nachholmöglichkeit ist hier nicht geboten, da die Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung hier nicht auf neuen Erkenntnissen während des Anfechtungsverfahrens beruhte, sondern auf der bereits 2002 eingeleiteten Rechtsprechung zu Art. 18 EG und zur Erstreckung der Freizügigkeit auf Kinder (siehe oben), die ohne weiteres (wenigstens hilfsweise) im Ablehnungsbescheid von 2004 hätte berücksichtigt werden können.
37 
3. Die danach vorliegende Ermessensunterschreitung führt allerdings nur zu einer entsprechenden Bescheidungsverpflichtung des beklagten Landes nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO; eine darüber hinausgehende Verpflichtung des Beklagten zur unmittelbaren Rücknahmeentscheidung kam nicht in Betracht, so dass die auf dieses Ziel gerichtete Klage (teilweise) abzuweisen war. Einen direkt auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung gerichteten Anspruch kann der Kläger nicht unter dem Gesichtspunkt der sog. Ermessensreduzierung auf die Rücknahme als einzig rechtlich zutreffende Entscheidung verlangen (3.1), und eine Pflicht der Behörde zur (in diesem Fall: deklaratorischen) Rücknahme besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Unwirksamkeit der Ausweisungsverfügung (3.2).
38 
3.1. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem beklagten Land, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.
39 
Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann „schlechthin unerträglich“ sein (siehe dazu z.B. BVerwG, Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 -, DÖV 2005, 651 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben; einmal war der Kläger, was für die Ermessensausübung durchaus relevant sein kann, mit seiner Abschiebung zum damaligen Zeitpunkt einverstanden, und zum anderen erscheint die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung auch nicht deswegen im Sinn der oben angeführten Rechtsprechung „schlechthin unerträglich“, weil die zur Annahme der Rechtswidrigkeit führende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum abgeleiteten Freizügigkeitsrecht von Kindern und zum Unionsbürgerrecht erst Jahre nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt wurde. Auch ergibt sich eine Ermessensreduzierung nicht aus dem Verhalten der Behörde selbst oder daraus, dass das Rücknahmeinteresse des Betroffenen eindeutig und offensichtlich schwerer wiegen würde als das öffentliche Interesse an einer Rücknahme (zu diesen Kriterien siehe Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn 55 zu § 48). Im übrigen käme es in diesem Zusammenhang bei der Ermessensausübung auch auf die Frage an, ob der Kläger in der Tat zum Entscheidungszeitpunkt drogenfrei ist und wie die Rückfallprognose aussieht.
40 
Auch Gemeinschaftsrecht verpflichtet den Beklagten zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung nicht. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
41 
Dass Gemeinschaftsrecht in Fällen der vorliegenden Art keinen unbedingten Rücknahmeanspruch begründet, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seiner bisherigen Rechtsprechung ausgeführt (siehe z.B. Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -), und dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 - a.a.O.). Vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung - mit der Folge der Bestandskraft bei Nichteinhaltung dieser Fristen - sind nämlich deswegen grundsätzlich mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil sie ein Anwendungsfall des auch für das Gemeinschaftsrecht grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sind (siehe EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask, Slg I O6783, Rn 45; Urteil vom 13.1.2004 - C 453/00 -, Kühne und Heitz, DVBl. 2004, 373, Rn 24 und zuletzt Urteil vom 19.9.2006 - C 392/04 -und - C 422/0C 422/04 -, I 21, NVwZ 2006, 1277 Rn 51). Während die frühere Rechtsprechung des EuGH die Frage der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte nicht problematisiert hatte (siehe dazu die Nachweise bei Gärditz, NWVBl. 2006, 442 Fn 34 f. und beispielhaft EuGH, Urteil vom 2.12.1997, a.a.O.), hat erstmals die Entscheidung Kühne und Heitz (a.a.O.) bestimmte Voraussetzungen für eine behördliche Pflicht zur Überprüfung bestandskräftiger gemeinschaftswidriger Verwaltungsakte formuliert (siehe dazu auch Epiney, NVwZ 2006, 410 f.). Diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall nicht (kumulativ) erfüllt: Zwar ist die Behörde nach nationalem Recht (hier: § 48 VwVfG) zur Rücknahme befugt, die Bestandskraft der Entscheidung beruht aber nicht wie im Fall Kühne/Heitz auf einem nationalen Gerichtsurteil, das die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG verletzt hat, und der Betroffene hat sich auch nicht unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung (hier: Urteile Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) an die Behörde gewandt und Rücknahme beantragt. Ganz unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Entscheidung Kühne/Heitz nicht explizit die Frage der Rücknahmepflicht, sondern nur die Frage der Prüfungspflicht war (siehe dazu im einzelnen Gärditz a.a.O. S. 448). Eine Pflicht zur Überprüfung des bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts bedeutet noch nicht die Pflicht zur Aufhebung (Gärditz a.a.O. Rn 105 m.w.N.). Die anlässlich der Entscheidung Kühne/Heitz in Literatur und Rechtsprechung aufgetretenen Unklarheiten (siehe dazu, Epiney a.a.O. S. 410 und Pache/Bieletz, DVBl. 2006, S. 331) sind im übrigen durch die weitere Rechtsprechung des EuGH im wesentlichen beseitigt worden. Die Entscheidung vom 16.3.2006 (- C 234/04 - Kapferer, DVBl. 2006, 569), die allerdings nicht (nur) bestandskräftige, sondern rechtskräftige Entscheidungen betrifft, hat bereits das vorangegangene Urteil Kühne/Heitz relativiert, und der EuGH hat im Urteil vom 19.9.2006 (I 21, a.a.O.) schließlich ausdrücklich ausgeführt, dass - von der Anerkennung der Bestandskraft ausgehend - (Rn 51) eine Überprüfungspflicht der Behörde bei Nichtausschöpfung des Rechtsbehelfsverfahrens grundsätzlich nicht besteht (Rn 53) und dass es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung ist, die Modalitäten einer Rücknahme bzw. einer erneuten Überprüfung festzulegen. Die Überprüfungs- und Rücknahmepflicht nach nationalem Recht (hier: § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) wird damit mit der gemeinschaftsrechtlichen Überprüfungs- und Rücknahmepflicht parallelisiert (EuGH, I 21, a.a.O. Rn 63 f. und Gärditz a.a.O. S. 446 f.); wo das nationale Recht keine Rücknahmepflicht ergibt, lässt sie sich also nicht zusätzlich aus Gemeinschaftsrecht herleiten. Bereits oben ist ausgeführt worden, dass unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergangenen Ausweisung nicht „schlechthin unerträglich“ ist, eine Rücknahmepflicht insoweit also nicht besteht, und diese Überlegungen gelten auch im hier interessierenden Zusammenhang. Der Verzicht des Klägers auf Rechtsbehelfe und die Tatsache, dass der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht keineswegs offensichtlich war - die die Freizügigkeit begründende Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs stammt wie ausgeführt aus einem Zeitraum nach Erlass der Ausweisungsverfügung - stehen auch hier der Annahme einer
Rechts verpflichtung entgegen. Von besonderer Gravität oder gar (zusätzlicher) Offensichtlichkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes kann unter diesen Gesichtspunkten ohnehin nicht ausgegangen werden. Nach den Grundsätzen der I 21-Entscheidung des EuGH (a.a.O.) ist es vielmehr auch gemeinschaftsrechtlich zu akzeptieren, wenn sich das nationale Recht (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) angesichts der hier widerstreitenden Interessen (Rechtssicherheit einerseits, materielle Rechtmäßigkeit andererseits) mit einer Ermessensentscheidung der Behörde begnügt.

42 
3.2 Der Kläger kann die Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der (deklaratorischen) Aufhebung einer unwirksamen oder unwirksam gewordenen Verfügung erreichen; die Voraussetzungen eines solchen „Rücknahme“-Anspruchs (zur Zulässigkeit einer solchen Rücknahme siehe oben vor 1.) sind nämlich nicht gegeben.
43 
Bei Erlass der Ausweisungsverfügung und auch in der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des FreizügG/EU lag kein Grund für die Annahme von Unwirksamkeit (siehe § 43 Abs. 1 und 2 VwVfG) oder gar von Nichtigkeit (§ 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 VwVfG) der Ausweisungsverfügung vor; dies liegt für den Senat auf der Hand und bedarf keiner näheren Ausführungen; sie folgt insbesondere nicht aus dem vom Kläger in diesem Zusammenhang für sich in Anspruch genommenen Urteil des EuGH vom 29.4.1999 (- C 224/97 -, Ciola), das sich lediglich mit strafrechtlichen Folgen des Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtswidrige Verfügungen auseinandersetzt. Die Ausweisungsverfügung ist aber auch nicht durch Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes zum 1.1.2005 unwirksam geworden. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
44 
Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes hätten die nach früherem Recht ergangenen Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern ihre Rechtsgrundlage verloren (so für nicht bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügungen Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, NVwZ 2005, 837; für bestandskräftige Verfügungen OVG Berlin, Beschluss vom 15.3.2006 - 8 S 823/05 -, NVwZ 2006, 953), ist diese Rechtsprechung teilweise nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall Bestandskraft gegeben ist; teilweise kann der Senat ihr aus anderen Gründen nicht folgen. Er schließt sich vielmehr der Gegenmeinung an, die die (fortdauernde) Wirksamkeit bestandskräftig gewordener Ausweisungen bejaht (siehe dazu OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, EzAR; OVG Lüneburg, Beschluss vom 30.6.2006 - 11 LA 147.05 -, AuAS 2006, 185, ebenso schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1885/05 - und Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 -). Das bloße Fehlen einer für Verfügungen nach dem damaligen AufenthG/EWG ergangenen Ausweisung geltenden Übergangsvorschrift bzw. das Fehlen einer Verweisung auf § 102 Abs. 1 AufenthG in § 11 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU begründet fehlende Fortgeltung bereits deswegen nicht, weil sich im vorliegenden Fall die Fortdauer der Wirkungen der Ausweisung bereits unmittelbar aus § 102 Abs. 1 AufenthG ergibt. Die Vorschrift erfasst nämlich im Anwendungsbereich jedenfalls die auf das frühere Ausländergesetz gestützten Ausweisungsverfügungen, und um eine solche Verfügung handelt es sich im vorliegenden Fall, weil die Freizügigkeitsberechtigung und damit die Anwendung des AufenthG/EWG ausdrücklich verneint worden sind und Rechtsgrundlage der Ausweisung gerade das AuslG war. Außerdem ist der Anwendungsbereich des (späteren) FreizügG/EU und damit auch dessen § 11 Abs. 1 noch aus einem anderen Grund nicht gegeben; dieses Gesetz stellt durch die Bezugnahme auf § 1 FreizügG/EU auch in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 auf die Freizügigkeitsberechtigung als Voraussetzung ab. Diese ist aber durch die Bestandskraft der auf das allgemeine Ausländergesetz gestützten Ausweisung entfallen (siehe auch Funke-Kaiser, Rn 2 zu § 102; OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2005 - Bs 79/05 -, InfAuslR 2006, 305; Lüdke, InfAuslR 2005, S. 178; a.A. Gutmann, InfAuslR 2005, 125). Aus der fehlenden Verweisung auf § 102 AufenthG in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU kann daher kein Argument zugunsten des Klägers hergeleitet werden. Im Übrigen hätte es wegen der bereits im Jahr 1998 eingetretenen Bestandskraft der Ausweisungsverfügung einer entsprechend klaren gesetzlichen Regelung bedurft, um die seit Bekanntgabe bestehende und durch die Bestandskraft verstärkte Wirksamkeit des Verwaltungsakts nach § 43 Abs. 2 VwVfG zu beseitigen; Die amtliche Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes lässt eine so weitgehende Absicht nicht erkennen (BT-Drs. 15/420, S. 101 ff. S. 105 f.; siehe auch OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005, a.a.O.).
45 
Die Bestandskraft und die damit eingetretene Wirkung der Ausweisungsverfügung ist auch nicht kraft Gemeinschaftsrechts entfallen; dies ergibt sich bereits daraus, dass das Gemeinschaftsrecht - wie oben ausgeführt - das Institut der Bestandskraft durchaus anerkennt und bei Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eigene Instrumente - wie das Recht zur Überprüfung der Verfügung - entwickelt hat, um gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dieser rechtlichen Instrumente hätte es nicht bedurft, wenn gemeinschaftsrechtlich sogar von der Unwirksamkeit (oder vom Unwirksamwerden) solcher Verfügungen auszugehen wäre. Dass in der Rechtsprechung der Strafgerichte bei Verstößen gegen solche Verfügungen unter Berufung auf den EuGH (Ciola a.a.O.) Strafbarkeit z.T. nicht mehr angenommen wird (siehe OLG Hamburg a.a.O. und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6.12.2006 3 Ws 346/05), steht dem nicht entgegen; insoweit handelt es sich um eine speziell strafrechtliche Fragestellung, die der Senat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zu beantworten braucht.
46 
4. Da der Kläger damit mit der Klage lediglich einen Teil seines mit dem Hauptantrag verfolgten Begehrens erreicht hat, waren ihm die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge teilweise aufzuerlegen (siehe § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO); der Senat geht dabei davon aus, dass der Kläger zu einem Drittel im Berufungsverfahren unterlegen ist.
47 
Die Revision war zuzulassen, da insbesondere die Frage der Wirksamkeit sog. altrechtlicher Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern in der obergerichtlichen Rechtsprechung strittig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist (siehe § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
48 
Beschluss
49 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
21 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig begründete Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) hat Erfolg, soweit der Kläger neben der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 die Verpflichtung des beklagten Landes zur erneuten Entscheidung über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 begehrt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO); die darüber hinausgehende Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme dieser Verfügung war allerdings abzuweisen, da dem Kläger kein entsprechender Rücknahmeanspruch zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Da die Klage damit im Hauptantrag (teilweise) Erfolg hat und das erstinstanzliche Urteil insofern abzuändern war, braucht über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden (vgl. auch Sodan/Ziekow, VwGO, 2006, Rn 111 vor § 124).
22 
Gegenstand des mit der Berufung in erster Linie verfolgten Hauptantrags ist der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG; die damit verbundene Abschiebungsandrohung ist von dem sich auf die “Ausweisungsanordnung“ beschränkenden Berufungsantrag nicht umfasst, und auch eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Sinn von § 51 VwVfG ist nicht erhoben, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat. Dieser Antrag umfasst allerdings bei sachdienlicher Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) nicht nur einen denkbaren Rücknahmeanspruch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wegen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, sondern es ist auf diesen Antrag hin auch zu prüfen, ob der Beklagte deswegen zur „Rücknahme“ der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung verpflichtet ist, weil diese rechtlich unwirksam ist. Die Unwirksamkeit der Verfügung hat der Kläger in Anlehnung an die Rechtsprechung des Hess. VGH und des OVG Berlin (im einzelnen siehe dazu unten) in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich als Klagegrund geltend gemacht, und es ist anerkannt, dass bei einem unwirksamen - oder: wie hier allenfalls unwirksam gewordenen - Verwaltungsakt eine (klarstellende) behördliche Rücknahme des Verwaltungsakts möglich und aus Gründen der Beseitigung des Rechtsscheins gegebenenfalls auch erforderlich ist (siehe dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 2003, Rn 19a zu § 48; siehe auch Bay. VGH, Urteil vom 12.10.1989 - 26 B 86.02944 -, NVwZ-RR 1991, 117; Hess. VGH, Urteil vom 29.3.2006 - 6 UE 2874/04 - juris und BSG, Urteil vom 23.2.1989 - NVwZ 1989, 902). Bei einer solchen Fallgestaltung ist der Kläger nicht darauf verwiesen, Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 VwGO zu erheben (siehe dazu Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 63 und 71 zu § 43; BSG a.a.O.), was im vorliegenden Fall als Klageänderung im Berufungsverfahren ohnehin prozessual nicht unproblematisch wäre.
23 
Der mit der Berufung verfolgte Anspruch des Klägers auf Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung hat jedoch nur teilweise Erfolg. Da diese Verfügung rechtswidrig war, war das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnet (1); es wurde allerdings weder in der Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 noch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt, so dass der Beklagte zu einer entsprechenden Bescheidung nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten war (2). Ein darüber hinaus gehender unbedingter Rücknahmeanspruch besteht dagegen nicht (3).
24 
1. Der Kläger ist nicht bereits deswegen rechtlich daran gehindert, die nach seiner Auffassung bei Ergehen der Ausweisungsverfügung bestehende Rechtswidrigkeit geltend zu machen, weil er zuvor der Behörde gegenüber am 15.2.1998 erklärt hatte, er beantrage seine Abschiebung und habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, weil er mit Freundin und Kindern nach Italien gehe. Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Rücknahmeverlangen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht darauf abstellt, auf welche Weise der Verwaltungsakt bestandskräftig geworden ist; selbst ein Verzicht auf einen Widerspruch schließt damit ein späteres Rücknahmebegehren nicht aus. Erst recht gilt dies in einem Fall wie dem vorliegenden: Die Einverständniserklärung des Klägers vor Erlass des Verwaltungsakts steht nämlich einem Widerspruchsverzicht nicht gleich (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 20.1.1967 - VII C 191.64 -, NJW 1967, 2027; Kopp/Schenke, VwGO, 2005, Rn 11 zu § 69 und Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 96 zu § 69 Fn 106). Die zur Bestandskraft des Verwaltungsakts führenden konkreten Umstände und insbesondere das Verhalten des Klägers der bevorstehenden Ausweisung gegenüber schließen eine Rücknahme also nicht aus; sie sind allenfalls Gesichtspunkte, die bei der Ausübung des Rücknahmeermessens von Bedeutung sind (siehe auch Senat, Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Kopp/Ramsauer, a.a.O., RN 52 f. zu § 48).
25 
Für die damit im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung des Klägers stellt der Senat auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ab; da der Kläger zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war, kann offen bleiben, inwieweit eine erst später eintretende Rechtswidrigkeit ein Rücknahmeverfahren eröffnen kann (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 - 1 C 13.03 -, NVwZ-RR 2005, 341; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.9.2001 - 8 S 641/01 -, VBlBW 2002, 208, 209).
26 
Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses ergibt sich für den Senat allerdings nicht bereits aus den Vorschriften des damals geltenden Ausländergesetzes selbst - tatbestandlich lag ein Fall der Regelausweisung durchaus vor - und auch nicht aus den einfachrechtlichen Modifikationen der Ausweisung, die das damalige AufenthG/EWG insbesondere in § 12 enthielt; auch diese Vorschriften, insbesondere das Erfordernis einer Wiederholungsgefahr (§ 12 Abs. 3 und 4 AufenthG/EWG) sind eingehalten worden. Der Senat ist auch nicht der Auffassung, dass die Ausweisung des Klägers als eines Ausländers der sog. zweiten Generation aus Gründen des als Gesetzesrecht zu beachtenden Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtswidrig war; angesichts der erheblichen Vorstrafen des Klägers und der jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt offen zu Tage liegenden Wiederholungsgefahr hinsichtlich gravierender Delikte war der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Schutzgut „Familienleben“ im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Verhütung von Straftaten im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig (s. dazu Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts - Grundrechtsschutz, 2006, S. 66, 67 m.w.N. und die Nachweise bei Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 16 Rn 94 m.w.N.) In Fällen wie dem vorliegenden hätte auch nicht notwendigerweise mit der Ausweisung selbst schon über eine Befristung der Wirkungen entschieden werden müssen. Eine solche zusätzliche Entscheidung lag im Fall des Klägers zum damaligen Zeitpunkt bereits wegen dessen vorangegangener Erklärung, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, nicht nahe; sie war aber auch nicht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten. Zwar hat der EGMR in mehreren Entscheidungen eine Ausweisung eines Ausländers also unverhältnismäßig beurteilt, die keine Befristungsentscheidung enthielt (siehe Urteile vom 17.4.2003 - Yilmaz -, NJW 2004, 2147, 2149; Urteil vom 22.4.2004 - Radovanovic -, InfAuslR 2004, 374 und Urteil vom 27.10.2005 - Keles -, InfAuslR 2006, 3); das deutsche Recht wird dem dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit aber dadurch gerecht, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (siehe damals § 8 Abs. 2 AuslG und heute § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG und BVerwG, Beschluss vom 27.6.1997 - 1 B 126/97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 13).
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Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben; ein im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG beachtlicher Verstoß der Ausweisungsverfügung gegen Rechtsvorschriften ergibt sich nämlich daraus, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war und dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Bindungen zu beachten waren (1.1). Insbesondere durfte der Kläger nicht nach den Vorschriften der Regelausweisung ausgewiesen werden, sondern es war Ermessen auszuüben (1.2). Auf das Vorliegen weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bindungen und die Frage, ob sie eingehalten sind, kommt es danach nicht mehr an (1.3).
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1.1. Ob der Kläger zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt war, ist zweifelhaft, kann letztlich aber offen bleiben. Mangels Arbeitnehmereigenschaft bzw. Arbeitssuche liegen die Voraussetzungen der Verordnungen Nr. 1612/68/EWG und 1251/70/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft nicht vor (siehe Art. 1 und Art. 2 VO 1612/68/EWG); daraus folgt auch das Fehlen eines Freizügigkeitsrechts entsprechend der RL 68/360/EWG (Art. 1 und Art. 4 Abs. 1). Unabhängig von der Frage der Arbeitnehmereigenschaft und Erwerbstätigkeit leitet der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings ein allgemeines Freizügigkeitsrecht bereits aus der (bei dem Kläger als italienischem Staatsangehörigen bestehenden) Unionsbürgerschaft (Art. 18 EG) her; dies gilt jedenfalls seit der Entscheidung Baumbast (siehe EuGH, Urteil vom 17.9.2002 - C 413/99 -, InfAuslR 2002, 463, Rn 84/8Rn 84/85; zur früheren Rechtslage vgl. auch BVerwG, Vorlageentscheidung vom 18.9.2001 - 1 C 17/00 -, NVwZ 2002, 339 m.w.N.). In der Folgezeit hat der EuGH diese Rechtsprechung fortgeführt und bestärkt (siehe Urteil vom 29.4.2004 - Orfanopoulos und Oliveri -, - C 282/01 -, Rn 65, NVwZ 2004, 1099; Urteil vom 15.3.2005 - Bidar -, - C 209/03 -, Rn 36, NJW 2005, 2055; Urteil vom 23.3.2006 - Kommission -, - C 408/03 -, Rn 37, NVwZ 2006, 918), und Literatur und nationale Rechtsprechung sind dem weitgehend gefolgt (siehe Sander, DVBl. 2005, 1014 und Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004, 133; Lenz/Borchardt, EU- und EGV, 2006, RN 2 zu Art. 18; siehe auch Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, AuAS 2005, 74). Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 7.9.2004 - C 456/02 -, -Trojani-, Rn 36, InfAuslR 2004, 417) zu den „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit im Sinn des Art. 18 Abs. 1 EG ausgeführt, bei Fehlen ausreichender Existenzmittel im Sinn der RL 90/364/EWG erwachse dem Unionsbürger kein Recht zum Aufenthalt; diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass bei Nichterfüllung dieser Beschränkungen und Bedingungen die Unionsbürgerschaft allein zur Entstehung des Freizügigkeitsrechts noch nicht ausreicht. Dass im Fall des Klägers ausreichende Existenzmittel im Sinn der genannten Richtlinie im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung nicht vorhanden waren, liegt für den Senat angesichts des Fehlens gesicherter Einkünfte und seiner schweren Erkrankung mehr als nahe; selbst wenn er in gewissem Umfang von seiner damaligen Ehefrau und/oder seinen italienischen Eltern unterstützt worden sein mag, dürfte es jedenfalls an ausreichender Krankheitsvorsorge gefehlt haben (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 19.10.2004 - C 200/02 -, - Chen -, InfAuslR 2004, 413 und vom 23.3.2006, a.a.O.). Hiervon abgesehen geht der EuGH jedenfalls dann vom Fehlen bzw. Erlöschen des Freizügigkeitsrechts aus, wenn die Nichterfüllung der „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) dem Betroffenen „entgegengehalten“ worden ist (siehe EuGH, Bidar, a.a.O., Rn 36). Eine derartige behördliche Entscheidung - zum neuen Recht siehe § 7 Abs. 1 FreizügG/EU - kann hier durchaus in der Ausweisungsverfügung selbst gesehen werden, die dem Kläger ausdrücklich wegen fehlender Existenzmittel und wegen fehlenden Krankenversicherungsschutzes gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit abgesprochen hat (S. 6 f. der Ausweisungsverfügung) und die der Kläger ebenso wie die Ausweisung selbst akzeptiert hat.
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Letztlich kann der Senat jedoch offen lassen, ob der Kläger sich zum damaligen Zeitpunkt auf ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht berufen konnte; er war jedenfalls aus abgeleitetem Recht als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt. Ein solches Recht scheidet nicht bereits deswegen aus, weil der Kläger bereits im Bundesgebiet geboren wurde und es damit „an sich“ an dem erforderlichen grenzüberschreitenden Element fehlt (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 19/20). Ob der Kläger als Familienangehöriger von seiner italienischen Mutter oder von seinem italienischen Stiefvater (siehe dazu EuGH , Urteil vom 30.9.2004 - C 275/02 -, - Ayaz -, InfAuslR 2004, 416 und Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Rn 17 zu § 3 FreizügG) ein Freizügigkeitsrecht ableiten konnte, obwohl er über 21 Jahre alt war, insbesondere ob ausreichende Unterhaltsleistungen der Stammberechtigten vorlagen (siehe dazu EuGH, Chen, a.a.O., und Kommission, a.a.O.), ist angesichts der Einstellung der Eltern des Klägers zu seiner Drogenabhängigkeit fragwürdig; der Senat braucht diese Fragen jedoch nicht zu entscheiden, weil der Kläger jedenfalls von seinen Kindern als Stammberechtigte ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht herleiten konnte. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
30 
Die Kinder des Klägers sind (auch) italienische Staatsangehörige (siehe Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 8 (Italien), S. 6 mit Hinweis auf Art. 1 des italienischen Gesetzes 91/1992 vom 5.2.1992). Die Tatsache, dass sie daneben die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ändert an ihrer Eignung als „Stammberechtigte“ nichts (siehe EuGH, Urteil vom 7.7.1992 - C 369/90 -, - Micheletti -, InfAuslR 1992, 2). Kraft ihrer Rechtsstellung als Unionsbürger konnten die Kinder des Klägers diesem trotz ihrer Geburt in Deutschland ein Freizügigkeitsrecht vermitteln (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O.), und sie selbst waren nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EG freizügigkeitsberechtigt. Dabei ist es ohne rechtliche Bedeutung, dass die maßgebende Rechtsprechung des EuGH sowohl zum Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 EG als auch zur „Erstreckung“ des Freizügigkeitsrechts von Kindern auf Eltern (s. dazu unten) erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt worden ist; sie erfasst auch zurückliegende Tatbestände, die im Sinn der „geläuterten“ Rechtsprechung zu beurteilen sind (siehe dazu EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask -, Slg I 06783, Rn 36,37; vgl. auch die Rechtsprechung des BVerwG zum Verständnis der RL 64/221/EWG, Urteile vom13.9.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110, und vom 6.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 und Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn 35 zu § 48 m.w.N.). Dass die Kinder des Klägers ihrerseits die „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) unter irgendeinem Gesichtspunkt (Existenzmittel, Krankheitsvorsorge) nicht erfüllt hätten, ist nicht ersichtlich; erst recht ist ihnen ein solcher Tatbestand im Sinn der Rechtsprechung des EuGH (Bidar, a.a.O.) auch nicht „entgegengehalten“ worden. Aus dieser Rechtsstellung folgt, dass nicht nur sie selbst im maßgebenden Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung freizügigkeitsberechtigt waren, sondern dass zusätzlich eine Gefährdung ihres Freizügigkeitsrechts durch eine Ausweisung ihres Vaters gemeinschaftsrechtlich zu vermeiden war (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O. Rn 72 f. und Chen, a.a.O. Rn 45). In den genannten Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof nämlich ein den Kindern zustehendes Freizügigkeitsrecht in bestimmten Fällen auf die Eltern erstreckt; er hat sich dabei an der Überlegung orientiert, dass das einem Kind nach der Gemeinschaftsgesetzgebung zustehende Recht verloren gehen könnte, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu verbleiben. Dies gilt nach Auffassung des EuGH jedenfalls für solche Eltern, die die Personensorge tatsächlich wahrnehmen und sich bei dem Kind aufhalten (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O., Rn 71 und 73; siehe auch EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 45). Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser „Erstreckung“ des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Kinder auf die Eltern waren im Fall des Klägers auch gegeben:
31 
Zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung lagen - bezogen auf den Kläger, seine damalige Noch-Ehefrau und die beiden Kinder - die ein „Familienleben“ im Sinn der (auf Art. 8 Abs. 1 EMRK Bezug nehmenden) Rechtsprechung des EuGH begründenden Umstände vor; der Kläger wohnte mit seinen Familienangehörigen zusammen, und es ist auch davon auszugehen, dass die in den genannten Urteilen für eine Erstreckung der Freizügigkeit vorausgesetzte tatsächliche Personensorge für die Kinder (auch) von ihm wahrgenommen wurde (zu den Anforderungen des Art. 8 EMRK siehe Grote/Marauhn, a.a.O. Kap. 16 Rn 41 und Breitenmoser/Riemer/Seitz, a.a.O., S. 59 und 60). Der tatsächliche Kontakt, auf den es in diesem Zusammenhang ankommt, endete auch nicht in den Zeiträumen, in denen der Kläger inhaftiert war; es bestand regelmäßiger Besuchskontakt (alle zwei Wochen) mit seiner damaligen Ehefrau und den Kindern (RP-Akten S. 26), und auch sonst hatte - wie aus den Ausländerakten der Stadt Fellbach hervorgeht - keine Seite die Absicht, die familiäre Lebensgemeinschaft zu beenden (siehe etwa Vermerke vom 25.11.1997 und 16. und 18.12.1997). Die Inhaftierungszeiten haben damit den der Rechtsprechung des EuGH zur Erstreckung des Freizügigkeitsrechts auf Eltern zugrunde liegenden familienrechtlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht berührt (vgl. dazu auch Grote/Maraun, a.a.O., Kap. 16 Rn 45 m.w.N.).
32 
Die dem Schutz des Freizügigkeitsrechts der Kinder dienende Erstreckung dieses Rechts auf ihren Vater scheitert im vorliegenden Fall auch nicht daran, dass die Kinder gleichzeitig deutsche Staatsangehörige sind. Zwar folgt hieraus, dass naturgemäß ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland zu keinem Zeitpunkt in Frage stand; die gegen den Kläger ergangene Ausweisung setzte aber gleichwohl die Familienangehörigen dem mittelbaren Druck aus, dem Kläger nach Italien zu folgen. Dass es im vorliegenden Fall hierzu nicht kam, weil die Kinder und ihre Mutter sich für den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden, ändert daran nichts, zumal der weitere Zusammenhalt der Familienangehörigen in der illegalen Wiedereinreise des Klägers und in seinen (heimlichen) Besuchen bei der Familie zum Ausdruck kommt. Es spricht mehr dafür, dass die Familienangehörigen des Klägers die bevorstehende Trennung nicht durch ihre Nachreise nach Italien, sondern durch weiteren Kontakt in der Illegalität verhindern bzw. entschärfen wollten. Da die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Entscheidungen Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) eine für Kinder bei Ausweisung eines Elternteils entstehende Zwangslage vermeiden will, ist sie auch auf Fallgestaltungen wie die hier vorliegende anwendbar.
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Auf das aus seinen Kindern abgeleitete Freizügigkeitsrecht hat der Kläger schließlich auch nicht durch seine Erklärung vom 15.2.1998 verzichtet. Wie bereits ausgeführt worden ist, betraf diese Erklärung nur die konkret bevorstehende Abschiebung; mit ihr wollte der Kläger für die Behörde erkennbar eine vorzeitige Haftbeendigung in Deutschland erreichen. In der mündlichen Verhandlung hat er dazu glaubhaft angegeben, es sei ihm darum gegangen, möglichst früh in Italien wieder an Drogen zu kommen. Als Verzicht auf ein Freizügigkeitsrecht, das ihn auch zur Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigen würde, ist diese Erklärung nicht aufzufassen, ganz abgesehen davon, dass es insofern offenbar an einem verbindlichen rechtlichen Erklärungswillen - sozusagen für alle Zukunft - fehlte und ein wesentliches Element der Erklärung - die Mitausreise der Familienangehörigen - nicht Realität wurde. Insofern sind strenge Anforderungen zu stellen; sogar bei einer Ausreise „zum Sterben in der Heimat“ hat die Rechtsprechung die Annahme eines Freizügigkeitsverzichts abgelehnt (siehe dazu und zu den Voraussetzungen eines solchen Verzichts OVG Koblenz, Beschluss vom 17.6.1996 - 11 B 11155/96 -, InfAuslR 1996, 337 m.w.N.). Verzichtserklärungen im europäischen Recht sind auf die konkrete Handlung beschränkt und nicht mit Zukunftswirkung verbunden (siehe dazu Umbach/Clemens, GG, 2002, Rn 8 zu Art. 18). Insofern gilt nichts anderes als bei grundgesetzlich gewährleisteten Rechten (siehe dazu im einzelnen Jarass/Pieroth, GG, 2004, Vorbem. vor Art. 1, Rn 36 und Dreier, GG, 1996, Vorbem. 83, je m.w.N.). Auch ist zu bedenken, dass zum damaligen Zeitpunkt ein aus dem Unionsbürgerrecht selbst fließendes Aufenthaltsrecht noch nicht durch den Europäischen Gerichtshof anerkannt war; 1997 hatte der Europäische Gerichtshof noch entschieden, dass die Unionsbürgerschaft keine Ausdehnung der Rechtsstellung bewirken wolle (siehe dazu Lenz/Borchardt, a.a.O., Rn 2 zu Art. 18). Für einen entsprechenden Verzichtswille fehlt es daher zum damaligen Zeitpunkt an einer Grundlage.
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1.2. Konsequenz des dem Kläger nach diesen Ausführungen bei Erlass der Ausweisungsverfügung zustehenden Freizügigkeitsrechts war, dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschranken anzuwenden waren; insbesondere schied im Fall des Klägers eine (nach nationalem Recht zutreffende) Regelausweisung aus und es war Ausweisungsermessen auszuüben. Der Europäische Gerichtshof hat - allerdings erst im Jahr 2004, aber gleichwohl mit Wirkung auch für frühere Ausweisungsfälle (siehe dazu oben 1.1) -entschieden, dass bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern die Tatbestände der zwingenden und der Regelausweisung als Rechtsgrundlagen ausscheiden; solche Ausländer dürfen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden (siehe dazu EuGH, Urteil vom 29.4.2004 - Rs C 482/01 - und C 493/01 - Orfanopoulos und Oliveri, DVBl. 2004, 876), und das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen (Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, NVwZ 2004, 1099). Die frühere - abweichende - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist damit aufgegeben worden. Im Licht dieser - allerdings neueren - Rechtsprechung könnte die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung im Verfahren über den Rücknahmeantrag nur dann als rechtmäßig beurteilt werden, wenn die Behörde die Ausweisung des Klägers nicht nur auf den Tatbestand der Regelausweisung gestützt, sondern hilfsweise Ermessen ausgeübt hätte. Dies ist hier aber nicht geschehen. Die Behörde ging ausdrücklich von einer sog. Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus, die wegen der ausländerrechtlichen Privilegierung des Klägers als Vater zweier deutscher Kinder in eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 AuslG herabgestuft wurde (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG); die Behörde hat danach lediglich noch geprüft, ob eine atypische Fallgestaltung vorliegt, die eine Ermessensausweisung gebietet (S. 9 ff. der Ausweisungsverfügung), und diese Frage verneint. Die Verfügung setzt sich zwar bei der Prüfung, ob eine atypischen Fallgestaltung gegeben ist, mit der bisherigen Lebensführung des Klägers im einzelnen auseinander; diese Gesichtspunkte können aber nicht in eine Ermessensausübung „umgedeutet“ werden, da Rechtserwägungen im Zusammenhang mit der Problematik der Atypik keine Ermessenserwägungen sind (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152). Die Tatsache, dass bei der Prüfung der Atypik alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (siehe BVerwG, Urteil vom 26.2.2002 - 1 C 21/00 -, NVwZ 2002, 1512), begründet daher nicht die Annahme einer Ermessensentscheidung; die Atypik führt erst tatbestandsmäßig zur Ermessensausübung (siehe BVerwG, Urteil vom 31.8.2004 - 1 C 25/03 -, NVwZ 2005, 229).
35 
1.3. Der Senat kann offen lassen, ob die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger nicht nur wegen unterbliebener Ermessensausübung, sondern auch wegen Verletzung des Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen ist (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 13.9.2005, a.a.O. und vom 6.10.2005, a.a.O.), ob der in dieser Richtlinie gebotene verfahrensrechtliche Schutz wegen der Einwilligung des Klägers in seine Ausweisung bzw. Abschiebung entbehrlich war und ob ein gegebenenfalls vorliegender Rechtsverstoß durch den späteren Wegfall der Richtlinie gegenstandslos geworden ist (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 -). Offensichtlich fehlerhaft wäre allerdings die Annahme, es hätten im Weg der sog. Vorwirkung bereits damals (1998) die materiellen Ausweisungsvoraussetzungen der weitaus späteren RL 2004/38/EG gegolten.
36 
2. Aus der wegen Ermessensunterschreitung vorliegenden Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung ergibt sich, dass entgegen der Auffassung der Behörde tatbestandsmäßig eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Betracht kam; die Behörde war dementsprechend verpflichtet, über den Rücknahmeantrag nach Ermessen zu entscheiden. Die Behörde hat jedoch in der Verfügung vom 29.9.2004 den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung aus Rechtsgründen, d.h. wegen fehlender Rechtswidrigkeit der Verfügung, abgelehnt (S. 3 der Verfügung); (wenigstens) hilfsweise Ermessensausübung liegt auch insofern nicht vor, zumal die weiteren Ausführungen der Behörde im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung bzw. Abschiebung nicht als Ermessensausführungen im Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG aufgefasst werden können (siehe dazu auch oben). Das Rücknahme-Ermessen ist auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden; insbesondere liegt kein „Ergänzen“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO vor. Im gerichtlichen Verfahren hat die Behörde an ihrer Auffassung zur Rechtmäßigkeit der Verfügung festgehalten. Sie hat zwar ausgeführt, ihr müsse noch die Möglichkeit der Nachholung des Ermessens gegeben werden, und sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 3.8.2004 (a.a.O.) bezogen; damit verkennt sie aber, dass diese Entscheidung die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung und nicht - wie hier - eine Klage auf Rücknahme dieser Verfügung betrifft. Die Verweisung auf das Befristungsverfahren ist keine Ermessensbetätigung im Rücknahmeverfahren, und eine bestandskräftig gewordene „Alt-Ausweisung“ kann auch nicht in eine nach Voraussetzungen und Struktur unterschiedliche Feststellung nach § 6 FreizügG umgedeutet werden (siehe auch OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 -, InfAuslR 2006, 118, 120). Im übrigen wäre wegen des ursprünglichen Fehlens von Ermessenserwägungen überhaupt eine bloße „Ergänzung“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO nicht zulässig (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 5.9.2006 - 1 C 20.05 -, juris und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.2006 - 13 S 1566/06 -). Die aufgrund der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (Entscheidung Orfanopoulos a.a.O.) vom Bundesverwaltungsgericht über § 114 Satz 2 VwGO hinaus eingeräumte generelle Nachholmöglichkeit ist hier nicht geboten, da die Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung hier nicht auf neuen Erkenntnissen während des Anfechtungsverfahrens beruhte, sondern auf der bereits 2002 eingeleiteten Rechtsprechung zu Art. 18 EG und zur Erstreckung der Freizügigkeit auf Kinder (siehe oben), die ohne weiteres (wenigstens hilfsweise) im Ablehnungsbescheid von 2004 hätte berücksichtigt werden können.
37 
3. Die danach vorliegende Ermessensunterschreitung führt allerdings nur zu einer entsprechenden Bescheidungsverpflichtung des beklagten Landes nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO; eine darüber hinausgehende Verpflichtung des Beklagten zur unmittelbaren Rücknahmeentscheidung kam nicht in Betracht, so dass die auf dieses Ziel gerichtete Klage (teilweise) abzuweisen war. Einen direkt auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung gerichteten Anspruch kann der Kläger nicht unter dem Gesichtspunkt der sog. Ermessensreduzierung auf die Rücknahme als einzig rechtlich zutreffende Entscheidung verlangen (3.1), und eine Pflicht der Behörde zur (in diesem Fall: deklaratorischen) Rücknahme besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Unwirksamkeit der Ausweisungsverfügung (3.2).
38 
3.1. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem beklagten Land, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.
39 
Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann „schlechthin unerträglich“ sein (siehe dazu z.B. BVerwG, Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 -, DÖV 2005, 651 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben; einmal war der Kläger, was für die Ermessensausübung durchaus relevant sein kann, mit seiner Abschiebung zum damaligen Zeitpunkt einverstanden, und zum anderen erscheint die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung auch nicht deswegen im Sinn der oben angeführten Rechtsprechung „schlechthin unerträglich“, weil die zur Annahme der Rechtswidrigkeit führende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum abgeleiteten Freizügigkeitsrecht von Kindern und zum Unionsbürgerrecht erst Jahre nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt wurde. Auch ergibt sich eine Ermessensreduzierung nicht aus dem Verhalten der Behörde selbst oder daraus, dass das Rücknahmeinteresse des Betroffenen eindeutig und offensichtlich schwerer wiegen würde als das öffentliche Interesse an einer Rücknahme (zu diesen Kriterien siehe Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn 55 zu § 48). Im übrigen käme es in diesem Zusammenhang bei der Ermessensausübung auch auf die Frage an, ob der Kläger in der Tat zum Entscheidungszeitpunkt drogenfrei ist und wie die Rückfallprognose aussieht.
40 
Auch Gemeinschaftsrecht verpflichtet den Beklagten zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung nicht. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
41 
Dass Gemeinschaftsrecht in Fällen der vorliegenden Art keinen unbedingten Rücknahmeanspruch begründet, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seiner bisherigen Rechtsprechung ausgeführt (siehe z.B. Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -), und dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 - a.a.O.). Vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung - mit der Folge der Bestandskraft bei Nichteinhaltung dieser Fristen - sind nämlich deswegen grundsätzlich mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil sie ein Anwendungsfall des auch für das Gemeinschaftsrecht grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sind (siehe EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask, Slg I O6783, Rn 45; Urteil vom 13.1.2004 - C 453/00 -, Kühne und Heitz, DVBl. 2004, 373, Rn 24 und zuletzt Urteil vom 19.9.2006 - C 392/04 -und - C 422/0C 422/04 -, I 21, NVwZ 2006, 1277 Rn 51). Während die frühere Rechtsprechung des EuGH die Frage der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte nicht problematisiert hatte (siehe dazu die Nachweise bei Gärditz, NWVBl. 2006, 442 Fn 34 f. und beispielhaft EuGH, Urteil vom 2.12.1997, a.a.O.), hat erstmals die Entscheidung Kühne und Heitz (a.a.O.) bestimmte Voraussetzungen für eine behördliche Pflicht zur Überprüfung bestandskräftiger gemeinschaftswidriger Verwaltungsakte formuliert (siehe dazu auch Epiney, NVwZ 2006, 410 f.). Diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall nicht (kumulativ) erfüllt: Zwar ist die Behörde nach nationalem Recht (hier: § 48 VwVfG) zur Rücknahme befugt, die Bestandskraft der Entscheidung beruht aber nicht wie im Fall Kühne/Heitz auf einem nationalen Gerichtsurteil, das die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG verletzt hat, und der Betroffene hat sich auch nicht unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung (hier: Urteile Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) an die Behörde gewandt und Rücknahme beantragt. Ganz unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Entscheidung Kühne/Heitz nicht explizit die Frage der Rücknahmepflicht, sondern nur die Frage der Prüfungspflicht war (siehe dazu im einzelnen Gärditz a.a.O. S. 448). Eine Pflicht zur Überprüfung des bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts bedeutet noch nicht die Pflicht zur Aufhebung (Gärditz a.a.O. Rn 105 m.w.N.). Die anlässlich der Entscheidung Kühne/Heitz in Literatur und Rechtsprechung aufgetretenen Unklarheiten (siehe dazu, Epiney a.a.O. S. 410 und Pache/Bieletz, DVBl. 2006, S. 331) sind im übrigen durch die weitere Rechtsprechung des EuGH im wesentlichen beseitigt worden. Die Entscheidung vom 16.3.2006 (- C 234/04 - Kapferer, DVBl. 2006, 569), die allerdings nicht (nur) bestandskräftige, sondern rechtskräftige Entscheidungen betrifft, hat bereits das vorangegangene Urteil Kühne/Heitz relativiert, und der EuGH hat im Urteil vom 19.9.2006 (I 21, a.a.O.) schließlich ausdrücklich ausgeführt, dass - von der Anerkennung der Bestandskraft ausgehend - (Rn 51) eine Überprüfungspflicht der Behörde bei Nichtausschöpfung des Rechtsbehelfsverfahrens grundsätzlich nicht besteht (Rn 53) und dass es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung ist, die Modalitäten einer Rücknahme bzw. einer erneuten Überprüfung festzulegen. Die Überprüfungs- und Rücknahmepflicht nach nationalem Recht (hier: § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) wird damit mit der gemeinschaftsrechtlichen Überprüfungs- und Rücknahmepflicht parallelisiert (EuGH, I 21, a.a.O. Rn 63 f. und Gärditz a.a.O. S. 446 f.); wo das nationale Recht keine Rücknahmepflicht ergibt, lässt sie sich also nicht zusätzlich aus Gemeinschaftsrecht herleiten. Bereits oben ist ausgeführt worden, dass unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergangenen Ausweisung nicht „schlechthin unerträglich“ ist, eine Rücknahmepflicht insoweit also nicht besteht, und diese Überlegungen gelten auch im hier interessierenden Zusammenhang. Der Verzicht des Klägers auf Rechtsbehelfe und die Tatsache, dass der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht keineswegs offensichtlich war - die die Freizügigkeit begründende Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs stammt wie ausgeführt aus einem Zeitraum nach Erlass der Ausweisungsverfügung - stehen auch hier der Annahme einer
Rechts verpflichtung entgegen. Von besonderer Gravität oder gar (zusätzlicher) Offensichtlichkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes kann unter diesen Gesichtspunkten ohnehin nicht ausgegangen werden. Nach den Grundsätzen der I 21-Entscheidung des EuGH (a.a.O.) ist es vielmehr auch gemeinschaftsrechtlich zu akzeptieren, wenn sich das nationale Recht (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) angesichts der hier widerstreitenden Interessen (Rechtssicherheit einerseits, materielle Rechtmäßigkeit andererseits) mit einer Ermessensentscheidung der Behörde begnügt.

42 
3.2 Der Kläger kann die Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der (deklaratorischen) Aufhebung einer unwirksamen oder unwirksam gewordenen Verfügung erreichen; die Voraussetzungen eines solchen „Rücknahme“-Anspruchs (zur Zulässigkeit einer solchen Rücknahme siehe oben vor 1.) sind nämlich nicht gegeben.
43 
Bei Erlass der Ausweisungsverfügung und auch in der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des FreizügG/EU lag kein Grund für die Annahme von Unwirksamkeit (siehe § 43 Abs. 1 und 2 VwVfG) oder gar von Nichtigkeit (§ 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 VwVfG) der Ausweisungsverfügung vor; dies liegt für den Senat auf der Hand und bedarf keiner näheren Ausführungen; sie folgt insbesondere nicht aus dem vom Kläger in diesem Zusammenhang für sich in Anspruch genommenen Urteil des EuGH vom 29.4.1999 (- C 224/97 -, Ciola), das sich lediglich mit strafrechtlichen Folgen des Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtswidrige Verfügungen auseinandersetzt. Die Ausweisungsverfügung ist aber auch nicht durch Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes zum 1.1.2005 unwirksam geworden. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
44 
Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes hätten die nach früherem Recht ergangenen Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern ihre Rechtsgrundlage verloren (so für nicht bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügungen Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, NVwZ 2005, 837; für bestandskräftige Verfügungen OVG Berlin, Beschluss vom 15.3.2006 - 8 S 823/05 -, NVwZ 2006, 953), ist diese Rechtsprechung teilweise nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall Bestandskraft gegeben ist; teilweise kann der Senat ihr aus anderen Gründen nicht folgen. Er schließt sich vielmehr der Gegenmeinung an, die die (fortdauernde) Wirksamkeit bestandskräftig gewordener Ausweisungen bejaht (siehe dazu OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, EzAR; OVG Lüneburg, Beschluss vom 30.6.2006 - 11 LA 147.05 -, AuAS 2006, 185, ebenso schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1885/05 - und Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 -). Das bloße Fehlen einer für Verfügungen nach dem damaligen AufenthG/EWG ergangenen Ausweisung geltenden Übergangsvorschrift bzw. das Fehlen einer Verweisung auf § 102 Abs. 1 AufenthG in § 11 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU begründet fehlende Fortgeltung bereits deswegen nicht, weil sich im vorliegenden Fall die Fortdauer der Wirkungen der Ausweisung bereits unmittelbar aus § 102 Abs. 1 AufenthG ergibt. Die Vorschrift erfasst nämlich im Anwendungsbereich jedenfalls die auf das frühere Ausländergesetz gestützten Ausweisungsverfügungen, und um eine solche Verfügung handelt es sich im vorliegenden Fall, weil die Freizügigkeitsberechtigung und damit die Anwendung des AufenthG/EWG ausdrücklich verneint worden sind und Rechtsgrundlage der Ausweisung gerade das AuslG war. Außerdem ist der Anwendungsbereich des (späteren) FreizügG/EU und damit auch dessen § 11 Abs. 1 noch aus einem anderen Grund nicht gegeben; dieses Gesetz stellt durch die Bezugnahme auf § 1 FreizügG/EU auch in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 auf die Freizügigkeitsberechtigung als Voraussetzung ab. Diese ist aber durch die Bestandskraft der auf das allgemeine Ausländergesetz gestützten Ausweisung entfallen (siehe auch Funke-Kaiser, Rn 2 zu § 102; OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2005 - Bs 79/05 -, InfAuslR 2006, 305; Lüdke, InfAuslR 2005, S. 178; a.A. Gutmann, InfAuslR 2005, 125). Aus der fehlenden Verweisung auf § 102 AufenthG in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU kann daher kein Argument zugunsten des Klägers hergeleitet werden. Im Übrigen hätte es wegen der bereits im Jahr 1998 eingetretenen Bestandskraft der Ausweisungsverfügung einer entsprechend klaren gesetzlichen Regelung bedurft, um die seit Bekanntgabe bestehende und durch die Bestandskraft verstärkte Wirksamkeit des Verwaltungsakts nach § 43 Abs. 2 VwVfG zu beseitigen; Die amtliche Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes lässt eine so weitgehende Absicht nicht erkennen (BT-Drs. 15/420, S. 101 ff. S. 105 f.; siehe auch OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005, a.a.O.).
45 
Die Bestandskraft und die damit eingetretene Wirkung der Ausweisungsverfügung ist auch nicht kraft Gemeinschaftsrechts entfallen; dies ergibt sich bereits daraus, dass das Gemeinschaftsrecht - wie oben ausgeführt - das Institut der Bestandskraft durchaus anerkennt und bei Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eigene Instrumente - wie das Recht zur Überprüfung der Verfügung - entwickelt hat, um gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dieser rechtlichen Instrumente hätte es nicht bedurft, wenn gemeinschaftsrechtlich sogar von der Unwirksamkeit (oder vom Unwirksamwerden) solcher Verfügungen auszugehen wäre. Dass in der Rechtsprechung der Strafgerichte bei Verstößen gegen solche Verfügungen unter Berufung auf den EuGH (Ciola a.a.O.) Strafbarkeit z.T. nicht mehr angenommen wird (siehe OLG Hamburg a.a.O. und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6.12.2006 3 Ws 346/05), steht dem nicht entgegen; insoweit handelt es sich um eine speziell strafrechtliche Fragestellung, die der Senat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zu beantworten braucht.
46 
4. Da der Kläger damit mit der Klage lediglich einen Teil seines mit dem Hauptantrag verfolgten Begehrens erreicht hat, waren ihm die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge teilweise aufzuerlegen (siehe § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO); der Senat geht dabei davon aus, dass der Kläger zu einem Drittel im Berufungsverfahren unterlegen ist.
47 
Die Revision war zuzulassen, da insbesondere die Frage der Wirksamkeit sog. altrechtlicher Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern in der obergerichtlichen Rechtsprechung strittig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist (siehe § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
48 
Beschluss
49 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 wird wiederhergestellt, soweit der Antragsteller aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und angeordnet, soweit ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht worden ist.

2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

 
Das Begehren des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs.5 VwGO mit dem wie folgt sachdienlich zu fassenden Antrag,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 wiederherzustellen, soweit er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und anzuordnen, soweit ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht worden ist,
ist zulässig und begründet.
1. Das Gericht sieht sich veranlasst, dem Antragsteller, einem bislang nicht vorbestraften 30-jährigen türkischen Staatsangehörigen, welcher durch Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 19.01.2006 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden ist, vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs.5 VwGO gegen dessen für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung aus dem Bundesgebiet durch Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006 (dort Ziffer 1) zu gewähren. Denn das private Interesse des Antragstellers, vorläufig von der Vollstreckung dieser ausländerrechtlichen Maßnahme verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung der verfügten Ausweisung. Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Betrachtung der Sach- und Rechtslage bestehen für das Gericht durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 08.11.2006. Es besteht daher Anlass dazu, der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsverfügung (VG Karlsruhe, Az.: 6 K 2822/06) - wie dies auch der gesetzlichen Grundregel des § 80 Abs.1 Satz 1 VwGO entspricht - aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen.
Die durchgreifenden Zweifel des Gerichts an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Regierungspräsidiums vom 08.11.2006 knüpfen daran an, dass die Behörde bei ihrer Entscheidung über die Ausweisung des Antragstellers die Regelung des Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30.04.2004, L 158/ 77) unbeachtet gelassen hat. Es spricht aber viel dafür, dass sich der Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner gerade auf eine entsprechende Anwendung der Ausweisungsschutzvorschrift des Art. 28 Abs.3 dieser Richtlinie berufen kann.
Unstreitig rechnet der Antragsteller, der in Deutschland geboren, aufgewachsen und ausgebildet worden ist, und der während seines ganzen Lebens im Bundesgebiet wohnhaft gewesen ist, zu dem durch die Regelungen des Beschlusses Nr.1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei begünstigten Personenkreis. Die Zulässigkeit einer Ausweisung aus dem Bundesgebiet bestimmt sich danach bei ihm in erster Linie nach der Reglung in Artikel 14 dieses Beschlusses, dessen Auslegung und Anwendung durch die langjährige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zwischenzeitlich auch durch das Bundesverwaltungsgericht nachvollzogen worden ist (vgl. insbesondere die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29/02 -, BVerwGE 121, 315 = NVwZ 2005, 224, vom 15.03.2005 - 1 C 2/04 -, NVwZ 2005, 274 und vom 28.06.2006 - 1 C 4/06 -, juris). Hiernach ist insbesondere aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 29.04.2004 (Rechtssachen C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri -, DVBl. 2004, 876) auch bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr.1/80 berufen können, von besonderen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine Ausweisung auszugehen. Gerade auch die materiell-rechtlichen Grundsätze, die bei einer Aufenthaltsbeendigung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger gelten, sind danach auf türkische Staatsangehörige zu übertragen, welche ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 besitzen. Als Beispiel nennt das Bundesverwaltungsgericht etwa Art. 39 Abs.3 EG und den diese Norm konkretisierenden Artikel der - zwischenzeitlich aufgehobenen - Richtlinie 64/221/EWG, wonach jeder Anschein zu vermeiden ist, dass strafrechtliche Verurteilungen einer privilegierten Person keine andere Rechtsfolge zulassen als ihre Ausweisung oder jedenfalls eine gewisse „Vermutung“ zugunsten ihrer Ausweisung begründen, woraus folgt, dass eine Ausweisung allein aufgrund einer Ermessensentscheidung vorgenommen werden darf.
Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat mit der von dem Antragsteller angegriffenen Entscheidung vom 08.11.2006 zwar diese mittlerweile ständige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung berücksichtigt und insbesondere eine Ermessensentscheidung getroffen, welche zu Lasten des Antragstellers auch lediglich auf spezialpräventive Gesichtspunkte abstellt. Unberücksichtigt gelassen hat das Regierungspräsidium indes, dass zwischenzeitlich die Unionsbürger betreffenden Regelungen nochmals geändert wurden und insbesondere die bisherige Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG, welche mit Ablauf der Frist für die Umsetzung in nationales Recht am 30.04.2006 nunmehr unmittelbar Geltung beansprucht, aufgehoben und ersetzt worden ist. Es spricht nach der Einschätzung des Gerichts vieles dafür, dass nunmehr insbesondere die Ausweisungsvorschrift des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG auch auf assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige entsprechende Anwendung findet (so ausdrücklich bejahend: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 -, juris, HessVGH, Beschl. v. 12.07.2006, AuAS 2006, 232, VG Karlsruhe, Urt. v. 09.11.2006 - 2 K 1559/06 -, juris; offen gelassen: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 01.12.2006 - 18 B 2219/06 -, juris, VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.06.2006 - 11 S 2299/05 -, juris und Niedersächs. OVG, Urt. v. 16.05.2006, InfAuslR 2006, 350; vgl. im Übrigen den auch die einschlägige Frage betreffenden Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof des VG Darmstadt vom 16.08.2006 - 8 E 1364/05 -, juris; zum Streitstand allgemein vgl. die Erläuterungen des HTK-AuslR unter 3.2 zu Artikel 14 ARB 1/80). Dabei dürfte es nach Auffassung des Gerichts - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - keine Rolle spielen, dass die Richtlinie 2004/38/EG ausdrücklich nur das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen betrifft und assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige nicht erwähnt. Denn dasselbe galt auch für die Vorgängerrichtlinie 64/221/EWG, und nach der Auffassung des Gerichts kann jedenfalls nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in ständiger Rechtsprechung aus dem Wortlaut des Artikels 12 des Assoziierungsabkommens und des Artikel 36 des Zusatzprotokolls sowie aus dem Zweck des Assoziationsratsbeschlusses Nr.1/80 herleitet, dass die für Unionsbürger geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf die türkischen Staatsangehörigen, die die im Beschluss Nr.1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragen werden sollen (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 10.02.2000 - Nazli -, NVwZ 2000, 1029), woraus der Gerichtshof folgert, dass bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs.1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung darauf abzustellen ist, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird, zumal die genannte Vorschrift nahezu denselben Wortlaut wie Art. 39 Abs.3 EG hat. Dass dabei etwaige im Rahmen einer Weiterentwicklung des Rechts zu Gunsten von Unionsbürgern erfolgte Änderungen nicht auch den assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen zukommen sollen, wie dies offenbar der Antragsgegner meint, erscheint dem Gericht nicht schlüssig.
Bei einer Berücksichtigung von Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG dürfte aber der Antragsteller, weil er seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland hatte, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden. Diese Regelung stellt im Rahmen der Stufenfolge des Art. 28 eine Begünstigung gegenüber Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dar, welche zwar das Recht zum Daueraufenthalt in einem Aufnahmemitgliedsstaat genießen, sich jedoch dort zuletzt noch nicht 10 Jahre lang aufgehalten haben. Jener Personenkreis darf gem. Art. 28 Abs. 2 aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausgewiesen werden. Ersichtlich reicht daher der Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs.3 der Richtlinie weiter als derjenige, den das Regierungspräsidium Karlsruhe in seiner Entscheidung vom 08.11.2006 hinsichtlich des Antragstellers bereits aus Art. 14 ARB 1/80, § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG sowie Art. 3 Abs.3 des Europäischen Niederlassungsabkommens zu Gunsten des Antragstellers abgeleitet hat. Dem entsprechend sieht auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union bezüglich einer beabsichtigten Änderung von § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vor, dass eine Feststellung nach § 6 Abs.1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden darf. Entsprechend dem Gesetzentwurf können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
Auch wenn das erwähnte Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union bislang noch nicht verabschiedet und in Kraft getreten ist, dürfte jedenfalls in dem Fall des Antragstellers, der zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist, von dem Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs.3 der Richtlinie 2004/38/EG nicht ausgegangen werden können, obgleich auch nicht der Auffassung der Antragstellerseite zu folgen sein dürfte, nach welcher diese Regelung eine Ausweisung nur noch aus Gründen der Sicherheit des Staates zulässt.
10 
Wegen der sonach bestehenden durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe hält das Gericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsentscheidung für sachgerecht.
11 
2. In der Folge der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsentscheidung ist auch die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die verfügte Androhung seiner Abschiebung in die Türkei (Ziff. 3 der Verfügung vom 08.11.2006) gemäß § 80 Abs.5 Satz 1 VwGO anzuordnen. Denn aufgrund der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisungsentscheidung fehlt es an dem Bestehen einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers (vgl. § 58 Abs.2 AufenthG), welche ihrerseits Voraussetzung für den Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung des verfügten Inhalts ist (vgl. §§ 58 Abs.1, 59 AufenthG).
12 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO.
13 
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus den §§ 53 Abs.3 Nr.2, 52 Abs.1, 39 Abs.1 GKG.

Tenor

1. Soweit die Beteiligten bezüglich Ziff. 2 der Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt.

2. Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006 wird unter Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung) aufgehoben.

3. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

 
Mit der Klage wendet sich der Kläger zuletzt gegen seine Ausweisung.
Der am ... im Bundesgebiet geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er besitzt einen im Berufsvorbereitungsjahr erworbenen Hauptschulabschluss und hat eine Lehre als Maler und Lackierer erfolgreich im Juli ... abgeschlossen. Der Kläger lebt nicht mehr bei seiner Familie, ist ledig und hat keine Kinder. Nach Abschluss seiner Lehre arbeitete er, mit kurzen Zeiten von Arbeitslosigkeit, allerdings nicht in seinem erlernten Beruf. Zuletzt war er bis zum Jahresende 2005 befristet im Gartenbau als Hilfsarbeiter beschäftigt. Seine Eltern leben im Bundesgebiet. Sein Vater, zwischenzeitlich Rentner, ist nach einem Schlaganfall behindert und sitzt im Rollstuhl.
Der Kläger ist im Bundesgebiet wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
1. Amtsgericht ... - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 03.03.1998, Straftat: Gefährliche Körperverletzung, Strafmaß: Verwarnung.
2. Amtsgericht ... - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 29.04.1998, Straftaten: zwei Vergehen des gemeinschaftlichen Diebstahls, ein Vergehen des gemeinschaftlichen Diebstahls in einem erschwerten Fall, Strafmaß: 50 Stunden Arbeit nach Weisung des Jugendamtes.
3. Amtsgericht ..., Urteil vom 05.01.2000, Straftat: Körperverletzung; die Entscheidung über die Verhängung von Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
4. Amtsgericht ..., Urteil vom 18.10.2000, Straftaten: unerlaubter Erwerb von Betäubungsmittel in 16 Fällen, vorsätzliche Körperverletzung, Strafmaß: 1 Jahr Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
5. Amtsgericht ..., - Jugendschöffengericht -, Urteil vom 30.08.2001, Straftaten: Diebstahl, Computerbetrug, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Strafmaß: 1 Jahr und 6 Monate Einheitsjugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die nachfolgenden Straftaten wurden der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung zugrunde gelegt:
10 
1. Amtsgericht ..., Urteil vom 19.07.2005, Straftaten: unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen und unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, Strafmaß: 9 Monate Gesamtfreiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
11 
Die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung wurde durch Beschluss des Amtsgerichts ... vom 07.11.2005 widerrufen, nachdem der Kläger keinen Kontakt zu seinem Bewährungshelfer aufgenommen, auf Anschreiben nicht reagiert und zur Drogenberatung keine Verbindung aufgenommen hatte sowie seiner Zahlungsauflage hinsichtlich der Drogenhilfe nicht nachgekommen war.
12 
2. Amtsgericht ..., Urteil vom 22.12.2005, Straftaten: unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Strafmaß 1 Jahr und 3 Monate Freiheitsstrafe.
13 
Eine Strafaussetzung zur Bewährung erfolgte wegen einer vom Strafgericht als schlecht erachteten Legal- und Kriminalprognose des Klägers nicht.
14 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, wies den Kläger mit Verfügung vom 03.05.2006 unter gleichzeitiger Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und unter Beifügung einer Abschiebungsandrohung bezüglich der Türkei aus der Bundesrepublik Deutschland aus.
15 
Die Verfügung wurde im Wesentlichen damit begründet, der Kläger könne sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 berufen, weshalb seine Ausweisung nur aus spezialpräventiven Gründen nach Ermessen gem. § 55 AufenthG erfolgen könne. Der weitere Aufenthalt des Klägers stelle eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Denn bei Würdigung des Lebenslaufes des Klägers und seiner kriminellen Energie, die durch die Straftaten zum Ausdruck gekommen sei, bestehe die erhebliche Besorgnis, dass der Kläger weiterhin, vor allem im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, Straftaten begehen werde. Die wirtschaftliche Situation des Klägers biete Anlass zur Sorge, nachdem er nicht in seinem erlernten Beruf gearbeitet habe, seit Dezember 2004 arbeitslos sei und im Jahr 2005 nur für drei Monate befristet in einem Gärtnereibetrieb Arbeit gefunden habe. Die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet hätten ihn nicht davon abhalten können, Straftaten zu begehen. Insbesondere sei herauszuheben, dass der Kläger bereits 10 Tage nach seiner strafgerichtlichen Verurteilung durch das Amtsgericht ... am 19.07.2005 wiederum einschlägig in Erscheinung getreten sei. Auch der langjährige eigene Drogenkonsum des Klägers erhärte die negative Prognose. Der Ausweisung stehe weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK entgegen. Der Kläger sei im Bundesgebiet auf ein Zusammenleben mit den Eltern nicht angewiesen und habe darüber hinaus keine festen Bindungen. Der Kläger könne auch nicht als „faktischer Inländer“ angesehen werden. Es sei aufgrund der Erziehung durch seine Eltern davon auszugehen, dass er der türkischen Sprache mächtig sei und sich in die türkischen Lebensverhältnisse integrieren könne. Zwar könne sich der Kläger auf Art. 3 Abs. 3 ENA berufen, doch dürfe er nach dieser Bestimmung ausgewiesen werden, weil hierfür besonders schwerwiegende Gründe vorlägen.
16 
Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei abzulehnen gewesen, nachdem der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei (§ 11 Abs. 1 AufenthG).
17 
Die ordnungsgemäße Zustellung der Ausweisungsverfügung lässt sich den vorgelegten Behördenakten nicht entnehmen.
18 
Am 20.06.2006 hat der Kläger Klage erhoben und zuletzt beantragt,
19 
die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziff. 1 und 3, aufzuheben.
20 
Die Klagebegründung wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass der Kläger bei Begehung der Straftaten suchtkrank gewesen sei. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger, der unter keinen Entzugserscheinungen leide, seine Sucht infolge seiner Inhaftierung in Griff bekommen habe und nunmehr „clean“ sei. Der Kläger verfüge über keine persönlichen Bindungen zur Türkei und spreche nahezu kein Türkisch.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Klage abzuweisen.
23 
Die Klageerwiderung stützt sich im Wesentlichen darauf, allein der Hinweis des Klägers, er leide nicht unter Entzugserscheinungen, rechtfertige nicht die Annahme, er sei zwischenzeitlich nicht mehr suchtkrank. In diesem Zusammenhang sei beachtlich, dass die Strafvollstreckungsbehörde die Strafvollstreckung zur Aufnahme einer Therapie gem. § 35 BtmG nicht zurückgestellt habe. Gegen eine günstige Zukunftsprognose des Klägers spreche auch seine desolate wirtschaftliche Lage. Außer Einkünften aus den Drogengeschäften habe er über kein ausreichendes legales Einkommen verfügt, so dass zwischenzeitlich Schulden aufgelaufen seien. Aufgrund dessen habe er seine Wohnung aufgeben müssen. Es bestehe daher die erhebliche Besorgnis, dass der Kläger nach der Haftentlassung wiederum von illegalen Einkünften aus dem Drogenhandel lebe. Der Kläger sei volljährig, Malergeselle und besitze zumindest noch Grundkenntnisse des Türkischen. Es sei ihm zuzumuten, sich eingehendere Kenntnisse seiner Muttersprache anzueignen und sich zumindest eine gewisse Zeit ohne direkte persönliche Unterstützung durch seine Familie im Ausland aufzuhalten. Die Schaffung einer eigenen wirtschaftlichen Existenz in der Türkei könne dem Kläger bei entsprechender Anstrengung gelingen.
24 
In der mündlichen Verhandlung ist die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziff. 2 der Verfügung vom 03.05.2006) aufgehoben worden.
25 
Des Weiteren wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, die vorgelegten Behördenakten (1 Heft Ausländerakte, 1 Heft des Beklagten), die Strafakten der Verfahren 8 Ds 91 Js 16570/04 und 2 Ls 91 Js 9926/05 sowie auf die Niederschrift über die mündlichen Verhandlung vom 09.11.2006 verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
26 
Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet.
27 
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 VwGO analog).
28 
Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung), ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; sie war deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
29 
Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 ARB 1/80 zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm zu ziehen“ in Art. 7 S. 1 ARB 1/80), dass der Kläger hier geboren ist und im Bundesgebiet stets gelebt hat; auch durch die verhängte und derzeit verbüßte Freiheitsstrafe gehen dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verlustig (EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C - 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Auch dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei seinen Eltern hatte, von denen er sein aus Art. 7 ARB 1/80 resultierendes Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, berührt sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 -). Für die nach der Haftentlassung beabsichtigte Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ist der Kläger über die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 hinaus auch nicht gehalten, die strengeren Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03).
30 
Zwar erfüllt der Kläger aufgrund seiner im Tatbestand aufgeführten letzten Straftat den grundsätzlich zu einer zwingenden Ausweisung führenden Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger jedoch den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des BVerwG nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. BVerwG, Urteile v. 03.08.2004 - 1 C 30/02 - u. 1 C 29/02 -; 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).
31 
Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagte die Ausweisung des Klägers ermessensfehlerfrei verfügt und die Vorgaben des EuGH und des BVerwG, die bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu berücksichtigen sind, beachtet hat (vgl. die vorstehenden Urteilszitate). Denn die Ausweisungsverfügung beachtet nicht, dass der Kläger nach Art. 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (nachfolgend: RL) hätte nicht ausgewiesen werden dürfen. Art. 28 Abs. 3 lit.a RL bestimmt, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben.
32 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese auch unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; m.w.N.).
33 
Art. 28 RL gilt auch für türkische Staatsangehörige, die, wie der Kläger, ein direkt aus Art. 6, 7 ARB 1/ 80 resultierendes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der EG haben (§ 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert dieses Aufenthaltsrecht nur durch die Ausstellung einer - deklaratorischen - Aufenthaltserlaubnis, vgl. Hailbronner, AuslR, § 4 AufenthG, Rd.Nr. 61 ff, m.w.N.). Denn da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren ( EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (vgl. Urteile v. 02.06.2005 - C-138/03 -; v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ( BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 RL mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).
34 
Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien, u.a. die Richtlinie 64/221 EWG - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden.
35 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL, der einen gestuften Schutz vor Ausweisung vorsieht, der darin mündet, dass nach dessen Abs. 3 gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (lit. a) oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig (lit. b).
36 
Der EuGH hat auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil v. 30.09.2004 - C-275/02 - [Ayaz]) oder in Art. 3 der Richtlinie 64/221 (Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]; oder in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG (Urteil v. 02.06.2005 - C-163/03 - [Dörr und Ünal]) ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen und spricht von einer Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistung durch Richtlinien der EU, die deshalb auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden seien (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004, a.a.O.).
37 
Die Kammer folgt der im Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - vertretenen Auffassung, es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die in der Richtlinie 2004/38/EG vorgenommene Ausgestaltung und Konkretisierung der EU-Angehörigen zukommenden Freizügigkeitsgewährleistungen nicht auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörig anzuwenden seien. Der Hess. VGH hat in seinem o.g. Beschluss zutreffend herausgearbeitet, dass die "Stufenfolge" der Ausweisungseinschränkungen, die Art. 28 RL vorsehe, als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes naheliegender und zwangloser aus Art. 39 Abs. 3 EG und der Ermächtigung in Art. 40 EG ableitbar sei, als die verfahrensrechtliche Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 9 Richtlinie 64/221 EWG. Dem würden die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; Beschluss v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05-), das eine gegenteilige Auffassung vertrete, nicht hinreichend Rechnung tragen. Dies hat auch für den im Ergebnis mit der in den vorgenannten Entscheidungen des Nieders. OVG vertretenen Auffassung identischen Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.03.2005 - 18 B 1751/04 - zu gelten.
38 
Der Ausweisung des Klägers, der in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet seinen Aufenthalt gehabt hat, ist damit Art. 28 Abs. 3 RL zugrundezulegen. Seine Ausweisung darf danach nicht mehr verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Aus den in der Richtlinie verwendeten Begriffen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit lässt sich der Schluss ziehen, dass mit dem letzteren Begriff eine über die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit hinausgehende Voraussetzung für eine zulässige Ausweisung vorliegen muss. Hierfür ist beim Kläger nichts erkennbar. Die Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten und das Begehen einer weiteren einschlägigen Straftat nach dem BtMG nur wenige Tage nach seiner Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe würde nach Ansicht der Kammer aller Voraussicht nach die Ausweisung des Klägers tragen, wenn man dieser den bisher gültigen Maßstab für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die sich zudem noch auf Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen - wie beim Kläger gegeben - berufen können (vgl. BVerwG, Urte. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 und v. 29.09.1998 - 1 C 8/96 -; m.w.N.), zugrundezulegen hätte. Das Verhalten des Klägers vermag aber nicht die nunmehr von Art. 28 Abs. 3 RL einer Ausweisung entgegen gestellte höhere Hürde zu nehmen; sie ist nicht aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich. Der Bundesgesetzgeber ist noch nicht der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 RL nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Die Kammer hat daher die im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vorgesehene Konkretisierung zu Grunde gelegt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen hiernach nur dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06). Diesen Rahmen sprengt das strafrechtliche Verhalten des Klägers (bisher) nicht. Die Ausweisungsverfügung des Beklagten war demzufolge aufzuheben.
39 
Da die Ausweisung rechtswidrig ist, ist die Abschiebungsandrohung ebenfalls aufzuheben (§§ 58 Abs. 1, 2; 59 Abs. 1 AufenthG).
40 
Die Berufung ist nach § 124a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Fragen der Anwendung der Richtlinie 38/2004 EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige und der Konkretisierung der dort unter Art. 28 Abs. 3 RL vorgenommenen Beschränkung einer Ausweisung auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ zuzulassen.
41 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO.
42 
Beschluss
43 
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO auf EUR 10.000,00 festgesetzt.
44 
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs. 1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

Gründe

 
26 
Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet.
27 
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt (§ 92 Abs. 3 VwGO analog).
28 
Die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe, Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge, vom 03.05.2006, Ziffer 1 (Ausweisung) und Ziffer 3 (Abschiebungsandrohung), ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten; sie war deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
29 
Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 ARB 1/80 zugute kommt. Dem steht nicht entgegen (vgl. „zu ihm zu ziehen“ in Art. 7 S. 1 ARB 1/80), dass der Kläger hier geboren ist und im Bundesgebiet stets gelebt hat; auch durch die verhängte und derzeit verbüßte Freiheitsstrafe gehen dem Kläger die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 nicht verlustig (EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - C - 467/02 -, NVwZ 2005, 198; BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 -). Auch dass der Kläger im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung volljährig war und seinen Wohnsitz nicht mehr bei seinen Eltern hatte, von denen er sein aus Art. 7 ARB 1/80 resultierendes Aufenthaltsrecht ursprünglich abgeleitet hat, berührt sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03 -). Für die nach der Haftentlassung beabsichtigte Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit ist der Kläger über die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 7 ARB 1/80 hinaus auch nicht gehalten, die strengeren Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80 zu erfüllen (EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - C-373/03).
30 
Zwar erfüllt der Kläger aufgrund seiner im Tatbestand aufgeführten letzten Straftat den grundsätzlich zu einer zwingenden Ausweisung führenden Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger jedoch den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des BVerwG nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. BVerwG, Urteile v. 03.08.2004 - 1 C 30/02 - u. 1 C 29/02 -; 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).
31 
Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagte die Ausweisung des Klägers ermessensfehlerfrei verfügt und die Vorgaben des EuGH und des BVerwG, die bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu berücksichtigen sind, beachtet hat (vgl. die vorstehenden Urteilszitate). Denn die Ausweisungsverfügung beachtet nicht, dass der Kläger nach Art. 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (nachfolgend: RL) hätte nicht ausgewiesen werden dürfen. Art. 28 Abs. 3 lit.a RL bestimmt, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben.
32 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese auch unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; m.w.N.).
33 
Art. 28 RL gilt auch für türkische Staatsangehörige, die, wie der Kläger, ein direkt aus Art. 6, 7 ARB 1/ 80 resultierendes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der EG haben (§ 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert dieses Aufenthaltsrecht nur durch die Ausstellung einer - deklaratorischen - Aufenthaltserlaubnis, vgl. Hailbronner, AuslR, § 4 AufenthG, Rd.Nr. 61 ff, m.w.N.). Denn da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren ( EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (vgl. Urteile v. 02.06.2005 - C-138/03 -; v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ( BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 RL mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).
34 
Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien, u.a. die Richtlinie 64/221 EWG - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden.
35 
Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL, der einen gestuften Schutz vor Ausweisung vorsieht, der darin mündet, dass nach dessen Abs. 3 gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (lit. a) oder minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig (lit. b).
36 
Der EuGH hat auch die Ausgestaltungen und Konkretisierungen der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 10 der VO 1612/68 (Urteil v. 30.09.2004 - C-275/02 - [Ayaz]) oder in Art. 3 der Richtlinie 64/221 (Urteil v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]; oder in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG (Urteil v. 02.06.2005 - C-163/03 - [Dörr und Ünal]) ebenfalls auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen und spricht von einer Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistung durch Richtlinien der EU, die deshalb auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anzuwenden seien (BVerwG, Urteil v. 03.08.2004, a.a.O.).
37 
Die Kammer folgt der im Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - vertretenen Auffassung, es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die in der Richtlinie 2004/38/EG vorgenommene Ausgestaltung und Konkretisierung der EU-Angehörigen zukommenden Freizügigkeitsgewährleistungen nicht auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörig anzuwenden seien. Der Hess. VGH hat in seinem o.g. Beschluss zutreffend herausgearbeitet, dass die "Stufenfolge" der Ausweisungseinschränkungen, die Art. 28 RL vorsehe, als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes naheliegender und zwangloser aus Art. 39 Abs. 3 EG und der Ermächtigung in Art. 40 EG ableitbar sei, als die verfahrensrechtliche Konkretisierung der Freizügigkeitsgewährleistungen etwa in Art. 9 Richtlinie 64/221 EWG. Dem würden die Entscheidungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Beschluss v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; Beschluss v. 06.06.2005 - 11 ME 39/05-), das eine gegenteilige Auffassung vertrete, nicht hinreichend Rechnung tragen. Dies hat auch für den im Ergebnis mit der in den vorgenannten Entscheidungen des Nieders. OVG vertretenen Auffassung identischen Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 16.03.2005 - 18 B 1751/04 - zu gelten.
38 
Der Ausweisung des Klägers, der in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet seinen Aufenthalt gehabt hat, ist damit Art. 28 Abs. 3 RL zugrundezulegen. Seine Ausweisung darf danach nicht mehr verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden. Aus den in der Richtlinie verwendeten Begriffen der schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit und der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit lässt sich der Schluss ziehen, dass mit dem letzteren Begriff eine über die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit hinausgehende Voraussetzung für eine zulässige Ausweisung vorliegen muss. Hierfür ist beim Kläger nichts erkennbar. Die Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten und das Begehen einer weiteren einschlägigen Straftat nach dem BtMG nur wenige Tage nach seiner Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe würde nach Ansicht der Kammer aller Voraussicht nach die Ausweisung des Klägers tragen, wenn man dieser den bisher gültigen Maßstab für Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, die sich zudem noch auf Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen - wie beim Kläger gegeben - berufen können (vgl. BVerwG, Urte. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 und v. 29.09.1998 - 1 C 8/96 -; m.w.N.), zugrundezulegen hätte. Das Verhalten des Klägers vermag aber nicht die nunmehr von Art. 28 Abs. 3 RL einer Ausweisung entgegen gestellte höhere Hürde zu nehmen; sie ist nicht aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erforderlich. Der Bundesgesetzgeber ist noch nicht der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 RL nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter „zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit“ zu verstehen ist. Die Kammer hat daher die im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vorgesehene Konkretisierung zu Grunde gelegt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen hiernach nur dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06). Diesen Rahmen sprengt das strafrechtliche Verhalten des Klägers (bisher) nicht. Die Ausweisungsverfügung des Beklagten war demzufolge aufzuheben.
39 
Da die Ausweisung rechtswidrig ist, ist die Abschiebungsandrohung ebenfalls aufzuheben (§§ 58 Abs. 1, 2; 59 Abs. 1 AufenthG).
40 
Die Berufung ist nach § 124a Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Fragen der Anwendung der Richtlinie 38/2004 EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige und der Konkretisierung der dort unter Art. 28 Abs. 3 RL vorgenommenen Beschränkung einer Ausweisung auf „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ zuzulassen.
41 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO.
42 
Beschluss
43 
Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. § 5 ZPO auf EUR 10.000,00 festgesetzt.
44 
Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs. 1 Satz 1 und 3 GKG verwiesen.

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 05. September 2005 - 3 K 3786/04 - wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und die Androhung der Abschiebung in die Türkei.
Der 1970 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. 1991 heiratete er eine türkische Staatsangehörige, die seit 1975 in Deutschland lebt, 1990 eine Aufenthaltsberechtigung erhalten hatte und als angestellte Friseurin beschäftigt war. Nach der Eheschließung reiste der Kläger mit einem Visum zur Familienzusammenführung zu seiner in Köln lebenden Ehefrau in das Bundesgebiet ein. Am 06.11.1992 erteilte ihm die Stadt Köln erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit verlängert wurde. Am 19.07.1993 wurde der gemeinsame Sohn der Eheleute geboren. Am 25.11.1997 erhielt der Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seit 1998 lebt der Kläger von seiner Ehefrau getrennt; mittlerweile ist die Ehe geschieden.
Von Juli 1993 bis März 1995 arbeitete der Kläger bei der Firma .... Ab April 1995 bis Dezember 2002 war der Kläger bei der Firma A. G. ... als Metallputzer beschäftigt. Als die Gießerei Ende 2002 ihren Betrieb aufgab, wurde er arbeitslos.
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 - 14 K Ls 203 Js 79186/02 - wurde der Kläger wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen unerlaubten bewaffneten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Selbstladewaffe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zur Schaffung einer Einnahmequelle hatte der Kläger im Januar/Februar 2003 zusammen mit anderen Mittätern 500 g aus den Niederlanden eingeführtes Kokain an einen verdeckten Ermittler der Polizei verkauft sowie darüber hinaus versucht, an diesen Ermittler weitere 5 kg Kokain (bzw. Kokainimitat) zu verkaufen. Das Strafgericht hat die Taten bei allen Tatbeteiligten als minder schweren Fall angesehen, weil von vornherein auf der Käuferseite bei beiden Geschäften verdeckte Ermittler eingeschaltet gewesen seien. Bei der Strafzumessung ist das Strafgericht beim Kläger von einem erheblichen Maß an krimineller Energie ausgegangen und hat berücksichtigt, dass der Kläger bei der zweiten Tat eine Waffe mit sich geführt sowie im wesentlichen den telefonischen Kontakt aus Deutschland zu den Lieferanten aus Holland gehalten habe.
Wegen der genannten Straftat wurde der Kläger am 09.02.2003 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt in Untersuchungshaft in die JVA Mannheim genommen. Als Anschrift des Klägers war in diesem Haftbefehl die K. ... in K. angegeben, von wo der Kläger allerdings nach den Daten des Ausländerzentralregisters am 29.05.2000 „nach unbekannt“ abgemeldet worden war. Mit Schreiben vom 28.02.2003 hörte das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger zu seiner beabsichtigten Ausweisung an. Der Kläger machte sinngemäß (nur) geltend, mit einer Ausweisung nicht einverstanden zu sein.
Mit Schreiben vom 06.03.2003 und 14.03.2003 teilte die Stadtverwaltung Köln dem Regierungspräsidium Karlsruhe mit, dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe, von seiner Ehefrau getrennt lebe und die Wohnung K. ... leer stehe.
Am 23.06.2003 ging beim Regierungspräsidium Karlsruhe die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 11.06.2003 ein, aus der sich ergibt, dass der Kläger von April 1999 bis zu seiner Inhaftierung bei seiner (seinerzeit noch anderweitig verheirateten) Lebensgefährtin L. B. in deren Wohnung in der O. Straße ... K. gewohnt habe, ohne dort gemeldet gewesen zu sein.
Im September 2004 wurde der Kläger in die JVA Köln verlegt.
Mit Verfügung vom 12.10.2004 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt: Der Kläger erfülle die Ist-Ausweisungstatbestände des § 47 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AuslG. Besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 AuslG stehe dem Kläger nicht zu, da er zwar über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfüge, aber nicht als Minderjähriger, sondern erst als Erwachsener in das Bundesgebiet eingereist sei. Er könne aber auch dann ausgewiesen werden, wenn er diesen Schutz genieße. Aufgrund der am 11.03.2004 abgeurteilten Straftat liege ein schwerwiegender spezialpräventiver Ausweisungsgrund vor. Vom Kläger gehe auch nach wie vor eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Bei schwerwiegenden Straftaten wie dem unerlaubten bandenmäßigen Handeltreiben mit Kokain in nicht geringer Menge dürfe im allgemeinen allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens eine hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen bejaht werden. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger bis zu seiner Verurteilung vom 11.03.2004 nicht vorbestraft gewesen sei. Bei der begangenen schweren Betäubungsmittelstraftat habe der Kläger eine erhebliche kriminelle Energie offenbart, die auch in Zukunft - zur eigenen Bereicherung - die Begehung schwerer Betäubungsmittelstraftaten erwarten lasse. Weder die Ehe noch die Geburt eines Kindes noch der Umstand, dass der Kläger in Deutschland bei verschiedenen Firmen erwerbstätig gewesen sei, habe ihn von der Begehung der schweren Betäubungsmittelstraftaten abhalten können. Angesichts des hohen Ranges der durch den Kläger gefährdeten Rechtsgüter seien geringere Anforderungen an den Grad der bestehenden Wiederholungsgefahr zu stellen. Es könne deshalb dahingestellt bleiben, ob die Ausweisung des Klägers auch allein aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt wäre. Dies dürfe aber wohl der Fall sein, denn es bestehe ein dringendes Bedürfnis dafür, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass insbesondere schwere Betäubungsmittelstraftaten nicht nur strafrechtliche Konsequenzen hätten.
10 
Eine Ausweisung aus rein generalpräventiven Gründen sei aber nur dann rechtlich zulässig, wenn der Kläger keine Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 habe. Sollte der Kläger (noch) assoziationsrechtlich privilegiert sein, wovon zu seinen Gunsten ausgegangen werde, könne er nur im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung nach §§ 45 Abs. 1, 46 Nr. 2 AuslG ausgewiesen werden. Im vorliegenden Fall sei es unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich, den Kläger zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Die Ausweisung verstoße insbesondere nicht gegen Art. 6 GG, da der Kläger von Ehefrau und Sohn getrennt lebe. Es sei davon auszugehen, dass zu dem Sohn keine Lebens- und Beistandsgemeinschaft mehr, sondern nur noch eine bloße Begegnungsgemeinschaft bestanden habe. Selbst wenn der Kläger seinem Sohn bis zu seiner Inhaftierung Lebenshilfe im Sinne einer Beistandsgemeinschaft geleistet hätte, stünde in Anbetracht der schweren Betäubungsmittelstraftaten und der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr die Vater-Kind-Beziehung der Ausweisung nicht entgegen. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Sohn des Klägers durch die Ausweisung und Abschiebung in die Türkei nennenswerte Schäden davontragen werde, da er bei seiner Mutter lebe und von dieser ausreichend versorgt werde. Außerdem könnten die privaten Belange des Klägers und seines Sohnes auch im Rahmen einer Befristungsentscheidung nach § 8 Abs. 2 AuslG angemessen berücksichtigt werden. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen supranationale Rechtsvorschriften. Da spezialpräventive Gründe vorlägen, die nach Art. 14 ARB 1/80 eine Ausweisung rechtfertigten, könne insbesondere der Assoziationsratsbeschluss 1/80 keine Ausweisungsbeschränkung darstellen. Auch Art. 8 EMRK stehe einer Ausweisung nicht entgegen. Es sei insbesondere in keiner Weise ersichtlich, dass der Kläger zu einem seinem Heimatland völlig entfremdeten „faktischen Inländer“ geworden sei, dem eine Rückkehr in die Türkei nicht zugemutet werden könne.
11 
Im Zusammenhang mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ausweisungsverfügung führte das Regierungspräsidium Folgendes aus: Es bestehe die begründete Besorgnis, dass der Kläger während eines Klageverfahrens, welches erfahrungsgemäß mehrere Jahre in Anspruch nehmen könne, erneut strafbare Handlungen begehen werde. Die fortbestehende qualifizierte Wiederholungsgefahr bestehe nicht nur für die Zeit nach der Haftentlassung, sondern auch - wenn auch abgeschwächt - für die Zeit des Strafvollzuges; auch im Strafvollzug würden erwiesenermaßen viele Straftaten, insbesondere auch Betäubungsmittelstraftaten, begangen. Es liege daher im besonderen öffentlichen Interesse - auch allein aufgrund der bekanntermaßen völlig überfüllten Strafanstalten -, dass das gesetzliche Abschiebegebot nach § 49 AuslG zum rechtlich frühestmöglichen Zeitpunkt vollzogen werde. Eine Freigabe zur Abschiebung sei bereits zum Halbstrafentermin möglich bzw. werde - wie andere Entscheidungen von Strafvollstreckungskammern bzw. Strafvollstreckungsbehörden zeigten - im Ausnahmefall auch schon vor dem Halbstrafentermin erteilt. Darüber hinaus dürfe die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisung auch aus Gründen der Generalprävention gerechtfertigt sein. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass eine möglichst zeitnah zu der Anlasstat getroffene und vollzogene Sanktion besonders wirksam sei. Je dringender das Bedürfnis sei, andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Tat und Schwere abzuhalten, um so eher bedürfe es einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung. Die durch die Ausweisung angestrebte Generalprävention verliere gerade dann erheblich an Wirkung, wenn der Ausgewiesene auch nach der Begehung schwerwiegender Straftaten wegen der Dauer der Rechtsbehelfsverfahren unter Umständen noch mehrere Jahre im Bundesgebiet verbleibe.
12 
Gegen die Ausweisung hat der Kläger Klage erhoben und im Klageverfahren zur Begründung ausgeführt, das Regierungspräsidium Karlsruhe sei für den Erlass der Verfügung nicht zuständig gewesen. Örtlich zuständig sei die Behörde, in deren Bezirk der Ausländer seinen Aufenthalt habe oder zuletzt gehabt habe. Der Kläger sei seit September 2004 in Köln gemeldet und habe seinen Lebensmittelpunkt schon seit seiner Einreise in das Bundesgebiet in Köln gehabt. Durch die Verbüßung einer Untersuchungshaft werde typischerweise kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet. Außerdem habe der Kläger zum Zeitpunkt der Verfügung bereits nicht mehr in der JVA Mannheim, sondern in der JVA Köln eingesessen. Die Ausweisung verstoße außerdem gegen den Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80. Der Kläger sei 1992 im Zuge der Familienzusammenführung zu seiner assoziationsberechtigten türkischen Ehefrau in das Bundesgebiet eingereist und habe bis zu seiner Inhaftierung seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland gelebt. Danach sei er im Sinne des Art. 7 ARB 1/80 assoziationsrechtlich privilegiert. Die für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern entwickelten Grundsätze müssten auf die Ausweisung von Assoziationsberechtigten übertragen werden. Dies sei vorliegend nicht erfolgt. Die für eine Ermessensentscheidung erforderlichen spezialpräventiven Gründe lägen nicht vor. Der Kläger habe einen Schlussstrich unter seine strafrechtliche Vergangenheit gezogen. Eine Wiederholungsgefahr sei nicht mehr gegeben. Auch liege ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Die Beziehung des Klägers zu seinem Sohn sei nicht ausreichend berücksichtigt worden.
13 
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat ergänzend geltend gemacht, das Regierungspräsidium Karlsruhe sei für die Ausweisungsentscheidung zuständig gewesen, weil der Kläger zum Zeitpunkt der Verfügung schon seit längerem in der JVA Mannheim eingesessen sei. Eine spätere Verlegung nach Köln sei nicht bekannt gewesen und auch unerheblich.
14 
Mit Beschluss vom 02.12.2004, dem Regierungspräsidium Karlsruhe zugegangen am 20.12.2004, hat die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Ausweisung des Klägers ab dem 09.05.2005 (d.h. nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe) von einer weiteren Strafvollstreckung abgesehen.
15 
Während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens hat die Stadt Köln mit Schriftsatz vom 02.09.2005 - auch rückwirkend - der Fortführung des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe zugestimmt.
16 
Mit Urteil vom 05.09.2005 (3 K 3786/04) hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe die Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 aufgehoben. Das Verwaltungsgericht hat dabei seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die Frage, ob das Regierungspräsidium Karlsruhe für das Ausweisungsverfahren örtlich zuständig gewesen sei, könne dahingestellt bleiben, denn die Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 sei jedenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben, weil sie gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 verstoße. Der Kläger habe, wie zwischen den Beteiligten unstreitig sei, durch seine Erwerbstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben und diesen Status auch nicht dadurch verloren, dass er zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine zeitliche Freiheitsstrafe verbüße. Es könne dahingestellt bleiben, ob die erworbene Rechtsstellung in Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 materiell-rechtlich beendet werden dürfe, denn für den Kläger fänden die für freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe Anwendung, denen vorliegend nicht Rechnung getragen worden sei. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) seien im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auch die für EU-Bürger geltenden verfahrensrechtlichen Maßstäbe anzuwenden. Die Ausweisung des Klägers verstoße gegen Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850; im Folgenden: RL 64/221/EWG). Nach dieser Vorschrift habe, sofern keine Rechtsmittel gegeben seien oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Verwaltungsbehörde über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, außer in dringenden Fällen, erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes zu entscheiden, wobei diese Stelle eine andere sein müsse als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig sei. In Baden-Württemberg regele § 6a Abs. 1 AGVwGO in Fällen, in denen - wie beim Kläger - die Ausweisung vom Regierungspräsidium verfügt worden sei, den Wegfall des in § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgesehenen Vorverfahrens, das der Nachprüfung von Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsaktes diene. Damit könne eine vom Regierungspräsidium verfügte Ausweisung nur noch unmittelbar mit der verwaltungsgerichtlichen Klage angegriffen werden. In diesem Verfahren werde die Ausweisung jedoch im Sinne von Art. 9 RL 64/221/EWG nur auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüft. Die angefochtene Ausweisungsverfügung erweise sich damit als rechtswidrig, weil es an der für diesen Fall von der Richtlinie geforderten gesonderten Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ vor Erlass der Verfügung fehle. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren erfülle nicht die Anforderungen an ein Rechtsmittelverfahren, welche nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erfüllt sein müssten, damit vor einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf eine vorherige Stellungnahme durch eine gesonderte Stelle verzichtet werden könne, da in einem solchen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsüberprüfung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht stattfinde. Ohne das in § 68 VwGO geregelte Vorverfahren entspreche damit das deutsche verwaltungsgerichtliche Verfahren, welches auf eine bloße Überprüfung der Grenzen einer fremden Ermessensentscheidung (§ 114 VwGO) beschränkt und zudem erst zeitlich nach dem Erlass einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme stattfinde, den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nicht.
17 
Im vorliegenden Fall sei auch nicht der Ausnahmefall des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG gegeben, wonach „in dringenden Fällen“ die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ unterbleiben könne. Zwar habe das Regierungspräsidium die Ausweisungsverfügung für sofort vollziehbar erklärt, weil die Besorgnis bestehe, der Kläger werde während eines erfahrungsgemäß mehrere Jahre dauernden Klageverfahrens erneut strafbare Handlungen begehen. Zudem bestehe die Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten - wenn auch abgeschwächt - für die Zeit des Strafvollzuges. Diese Bewertung halte das Gericht, bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004, für nicht zutreffend. Zu diesem Zeitpunkt sei für die Behörde nicht ersichtlich gewesen, dass eine Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet in absehbarer Zeit möglich sei. Der Kläger sei mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Ein Verzicht der Vollstreckungsbehörde gemäß § 456a StPO auf die Vollstreckung der Rest-Freiheitsstrafe unter der Bedingung einer Abschiebung sei zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung noch nicht erteilt worden und habe auch noch nicht im Raum gestanden. Angesichts dessen rechtfertige auch die von Seiten der Beklagten angeführte abstrakte Möglichkeit, dass der Kläger auch in der JVA weitere Straftaten begehen könne, keine andere Beurteilung. Darauf, ob zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen eines besonderen Sofortvollzugsinteresses bejaht werden könne, insbesondere nachdem die Staatsanwaltschaft am 02.12.2004 die Freigabe zur Abschiebung ab dem 09.05.2005 erklärt habe, komme es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ im Sinne von Art. 9 RL 64/221/EWG vorliege, nach Auffassung der Kammer nicht an. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung sei der Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung. Da Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetze, könne die Frage, ob ein dringender Fall vorliege und somit das in Art. 9 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelfsverfahren vor einer „zuständigen Stelle“ der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise nicht vorauszugehen habe, nur nach der sich zum Zeitpunkt dieser Entscheidung darstellenden Sachlage beurteilt werden.
18 
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat die Berufung gegen dieses Urteil gemäß §§ 124a Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zugelassen, weil die Kammer bezüglich der Frage, ob Art. 9 RL 64/221/EWG verletzt sei, von den Urteilen des erkennenden Senats vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 (VBlBW 2004, 481 ff.) - und vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 - abweiche. Das Urteil wurde dem Beklagten am 12.10.2005 zugestellt.
19 
Mit Schriftsatz vom 18.10.2005, beim Verwaltungsgericht Karlsruhe eingegangen am 09.11.2005, hat der Beklagte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe Berufung eingelegt und die Berufung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Beurteilung der Frage der Dringlichkeit sei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 05.03.1980, NJW 1980, 2630 ff.) allein Sache der Verwaltung. Durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme solle den Gerichten im Rahmen der verfahrensrechtlichen Überprüfung nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet verliehen werden. Das Regierungspräsidium Karlsruhe habe darüber hinaus die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet. Insofern liege nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 - ) ein dringender Fall i.S.d. RL 64/221/EWG vor. Die (andere) ex-post-Beurteilung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe sei diesbezüglich unbeachtlich. Zudem bestehe im vorliegenden Fall auch angesichts der hohen Rückfallgefahr des Klägers am Vorliegen eines dringenden Falles im Sinne der genannten Bestimmung kein Zweifel. Es sei schlicht falsch, dass für das Regierungspräsidium Karlsruhe zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 nicht ersichtlich gewesen sei, dass eine Entfernung des Klägers aus dem Bundesgebiet in absehbarer Zeit möglich gewesen sei, weil noch keine Freigabeentschließung der Staatsanwaltschaft erteilt worden sei. Denn dann könne nie ein dringender Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bejaht werden, weil die Strafvollstreckungsbehörde in Ausweisungsfällen die für den Vollzug der Ausweisung (Abschiebung) erforderliche Freigabe erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung bzw. frühestens dann erteile, wenn der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig sei, was erst mit Zustellung der vollziehbaren Ausweisungsverfügung der Fall sei. Die für die Abschiebung erforderliche Entschließung nach § 456a StPO werde von der Ausländerbehörde sinnvollerweise erst dann bei der zuständigen Strafvollstreckungsbehörde beantragt, wenn der Betroffene ausgewiesen worden bzw. vollziehbar ausreisepflichtig sei. Die besondere Dringlichkeit habe sich im vorliegenden Fall bereits aus der Besorgnis ergeben, die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Das Regierungspräsidium habe von der Tatsache ausgehen müssen, dass die Freigabe zur Abschiebung von der Strafvollstreckungsbehörde bei vollziehbarer Ausreisepflicht in der Regel zum Halbstrafenzeitpunkt oder spätestens zwischen dem Halbstrafenzeitpunkt und dem Zweidrittel-Zeitpunkt erteilt werde. Aus der Sicht von Oktober 2004 sei deshalb bei realistischer Betrachtungsweise, ausgehend vom bekannten Beginn der Untersuchungshaft des Klägers und der ebenfalls bekannten Verurteilung zu vier Jahren und sechs Monaten, eine Freigabe zur Abschiebung bereits innerhalb eines Zeitraumes von weit unter einem Jahr (Mai 2005) in Betracht gekommen, bzw. bei vorzeitiger Haftentlassung nach zwei Dritteln der verhängten Strafe innerhalb eines Zeitraums von knapp eineinhalb Jahren (Februar 2006). Die Freigabe sei tatsächlich erwartungsgemäß zum 09.05.2005 erteilt worden. Bei realistischer Betrachtungsweise habe daher im Oktober 2004 die begründete Besorgnis bestanden, dass sich die vom Kläger ausgehende Gefahr vor Rechtskraft einer abschließenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung über die von ihm erhobene Anfechtungsklage realisieren werde, so dass das Regierungspräsidium bei Erlass der Ausweisungsverfügung zu Recht vom Vorliegen eines dringenden Falles ausgegangen sei.
20 
Das Verwaltungsgericht gehe schließlich zu Unrecht davon aus, dass bei der Beurteilung, ob ein dringender Fall vorliege, der Zeitpunkt des Verwaltungshandelns - allein - maßgeblich sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 (- 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224) sei für türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach ARB 1/80 inne hätten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts bestehende Sach- und Rechtslage maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt sei die Freigabe bereits erteilt gewesen, so dass eine Dringlichkeit unzweifelhaft zu bejahen sei.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 05.09.2005 - 3 K 3786/04 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
23 
Der Kläger beantragt,
24 
die Berufung zurückzuweisen.
25 
Er trägt vor, das Bundesverwaltungsgericht habe mit seinen Urteilen vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - (InfAuslR 2006, 110 ff.) und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - (InfAuslR 2006, 114 ff.) ausgeführt, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen von Regierungspräsidien in Baden-Württemberg die in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) nicht mehr gewährleistet sei. Die Ausweisung des Klägers sei daher wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig, da für die Annahme eines dringenden Falls im Sinne der Richtlinie keine Anhaltspunkte vorlägen. Die angegriffene Verfügung berücksichtige zudem nicht in ausreichendem Maße das Verhältnis des Klägers zu seinem in Deutschland lebenden Sohn und den durch Art. 6 GG garantierten Schutz durch den Staat. Durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts von 1997 sei das Kindeswohl in den Mittelpunkt gestellt und die Beziehung jeden Elternteils zu seinem Kind als grundsätzlich schutz- und förderungswürdig anerkannt worden.
26 
Das Landgericht Köln hat während des Berufungsverfahrens mit Beschluss vom 02.03.2006 - StVK 2/06 3252 VRs 203 Js 79186/02 - nach Verbüßung von mehr als zwei Drittel der durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.03.2004 verhängten Freiheitsstrafe die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. In der Begründung heißt es, der vom Gericht beauftragte Sachverständige habe nachvollziehbar ausgeführt, dass beim Kläger keine Gefahr mehr bestehe, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fort bestehe. Zwar bestehe bei Drogendelinquenz eine Rückfallwahrscheinlichkeit von 50 %; letzteres müsse allerdings relativiert werden, da der Kläger selbst nicht drogenabhängig sei. Positiv für den Kläger spreche, dass es sich bei dem Delikt und der gezeigten Kriminalität um einen Ausdruck einer lebensphasischen Veränderung gehandelt habe und Kriminalität kein eingeschliffenes Verhaltensmuster in der Biographie des Klägers sei. Der Kläger sei auch von der Haft deutlich beeindruckt und habe Reue gezeigt. Das Verhalten des Klägers während der Haft sei weit überwiegend positiv gewesen; er werde als freundlicher, ruhiger und unauffälliger Gefangener geschildert. Für eine positive Prognose spreche schließlich, dass der Kläger über feste soziale Bindungen verfüge. Er sei seit 1999 mit seiner Freundin/Verlobten L. B. zusammen, in deren Wohnung er nach seiner Entlassung auch wohnen werde. Der Kontakt zu seinem Sohn aus der mittlerweile geschiedenen Ehe habe auch während der Haftzeit aufrecht erhalten werden können. Der Kläger verfüge schließlich über eine Arbeitsstelle für die Zeit nach seiner Haftentlassung. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und nach dem vom Verurteilten im Anhörungstermin gewonnenen persönlichen Eindruck könne erwartet werden, dass er unter dem Eindruck der Aussetzung der Reststrafe künftig keine Straftaten mehr begehen werde.
27 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Behördenakten des Regierungspräsidiums Karlsruhe sowie der Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
28 
Die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe zugelassene Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) und den inhaltlichen Anforderungen entsprechend fristgerecht begründet worden (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).
29 
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 zu Recht aufgehoben, denn diese ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar war entgegen der Auffassung des Klägers das Regierungspräsidium Karlsruhe für die Ausweisungsentscheidung örtlich zuständig (dazu unter I.). Die Entscheidung verstößt jedoch gegen die auch für den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, die sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 ff.) erfahren hat und der sich der Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anschließt (dazu unter II.). Die unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung ist wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig; daran ändert sich auch nichts dadurch, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist (dazu unter III).
I.
30 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe war für den Erlass der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 örtlich zuständig, obwohl der Kläger vor seiner Inhaftierung (U-Haft in der JVA Mannheim) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Köln hatte und auch bereits vor Erlass der Ausweisungsverfügung in die JVA Köln verlegt wurde.
31 
Weder im während des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Ausländergesetz noch in dem seit dem 01.01.2005 geltenden Aufenthaltsgesetz waren bzw. sind Regelungen über die örtliche Behördenzuständigkeit enthalten (vgl. § 63 AuslG, § 71 AufenthG). Diese richtet sich vielmehr nach dem Verfahrensrecht der Länder, die die Bundesgesetze gemäß Art. 83 GG als eigene Angelegenheiten ausführen (vgl. auch Nr. 63.1.2.1 der nach Art. 84 Abs. 2 GG erlassenen AuslG-VwV vom 28.06.2000 des BMI, GMBl. 2000, S. 618 ff.). Die örtliche Zuständigkeit im Ausländerrecht richtet sich mithin in Baden-Württemberg nach der Aufenthalts- und Asyl- Zuständigkeitsverordnung (im Folgenden: AAZuVO) in der jeweils maßgeblichen Fassung und ergänzend nach § 3 LVwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 LVwVfG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AAZuVO in der bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Fassung vom 19.07.1995 (GBl. S. 586 ff, mit Änderungen vom 21.10.1996, GBl. S. 649 ff., und vom 23.03.1998, GBl. S. 187) bleibt, wenn der Ausländer sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, die Ausländerbehörde - örtlich - zuständig, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer vor der Hafteinweisung oder der Ingewahrsamnahme gewöhnlich aufgehalten hat. Ist der vorige gewöhnliche Aufenthalt nicht bekannt , ist die Ausländerbehörde, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, zuständig (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO). Eine nach Satz 2 begründete Zuständigkeit bleibt erhalten, wenn der Ausländer während der Haft in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde verlegt wird (§ 4 Abs. 3 Satz 3 AAZuVO).
32 
Im vorliegenden Fall war bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens dem Regierungspräsidium Karlsruhe der gewöhnliche Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung nicht bekannt. Der Kläger befand sich auf Grund des Beschlusses des Amtsgerichts Stuttgart vom 07.02.2003 in Untersuchungshaft in der JVA Mannheim im Zuständigkeitsbereich des Regierungspräsidiums Karlsruhe. Unter der in dem o.g. Beschluss angegebenen Wohnanschrift K. ... in K. hat der Kläger sich vor seiner Inhaftierung unstreitig nicht aufgehalten. Anhaltspunkte für eine andere Wohnanschrift lagen dem Regierungspräsidium bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens nicht vor. Vielmehr ergab sich aus dem Ausländerzentralregister, dass der Kläger am 29.05.2000 „nach unbekannt“ verzogen war. Auch die Stadtverwaltung der Stadt Köln hat dem Regierungspräsidium auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt (Schreiben vom 06.03.2003), dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe. Entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung bestand für das Regierungspräsidium auch keine Veranlassung für weitere Nachforschungen, nachdem selbst der Kläger bei seiner Anhörung vor Erlass der Ausweisungsverfügung keine weitergehenden Angaben zu seinem Aufenthalt vor der Inhaftierung oder zu seinen persönlichen Bindungen gemacht hat.
33 
Danach war das Regierungspräsidium Karlsruhe zumindest bis zur Übersendung der Anklageschrift vom 06.06.2003, aus der sich der frühere tatsächliche Aufenthalt des Klägers bei seiner Lebensgefährtin in der O. Straße ... in K. ergab, nach § 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO für das Ausweisungsverfahren zuständig. Daran hätte auch die vor Erlass der Ausweisungsverfügung erfolgte Verlegung des Klägers in die JVA Köln nichts geändert (vgl. § 4 Abs. 3 S. 3 AAZuVO).
34 
Nachdem durch die Übersendung der Anklageschrift der Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung (d.h. von April 1999 bis Februar 2003) bekannt war, ist das Regierungspräsidium Karlsruhe im laufenden Ausweisungsverfahren allerdings örtlich unzuständig geworden. Gemäß § 3 Abs. 3 LVwVfG kann jedoch, wenn sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens die die Zuständigkeit begründenden Umstände ändern, die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, nachdem die Stadt Köln mit Erklärung vom 02.09.2005 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens rückwirkend zugestimmt hat.
35 
Eine Änderung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände liegt typischerweise bei einer Änderung äußerer Umstände, etwa bei einem Wohnsitzwechsel, vor. Nachdem im vorliegenden Fall aber gerade die Unkenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers der die Zuständigkeit begründende Umstand war, stellt umgekehrt dessen spätere Kenntnis eine Änderung der zuständigkeitsbegründenden Umstände dar. Geht man davon aus, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe örtlich unzuständig geworden ist, lag auch kein sog. positiver Kompetenzkonflikt, d.h. eine Zuständigkeit von Ausländerbehörden mehrerer Länder nach landesrechtlichen Vorschriften, vor, der ein Zurückgreifen auf die zu § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ergangenen Regelungen in der AuslG-VwV (a.a.O., Nr. 63.2.2, insbes. Nr. 63.2.2.1 und 63.2.2.2.1) erfordert hätte. Für die Anwendung des § 3 Abs. 3 LVwVfG genügt auch die Zustimmungserklärung der Behörde eines anderen Bundeslandes(Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 3 Rn. 44, Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38, jeweils m.w.N.). Auch die Tatsache, dass die Stadt Köln der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - rückwirkend -zugestimmt hat, steht der Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 LVwVfG nicht entgegen. Zwar wird teilweise (vgl. etwa Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38) die Auffassung vertreten, die Zustimmung könne wirksam bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erklärt werden. In dem als Beleg dafür angeführten Fall des Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 18.04.1986 - 8 C 81/83 -, NVwZ 1987, 224 f.) war streitig, ob die im Widerspruchsverfahren erklärte Zustimmung zu berücksichtigen war, was das Bundesverwaltungsgericht bejaht hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Zustimmungserklärung nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erteilt werden kann, zumal § 45 Abs. 1 Nr. 5 LVwVfG die Nachholung erforderlicher Mitwirkungshandlungen grundsätzlich bis zur letzten Tatsacheninstanz zulässt.
36 
Schließlich ist die Fortführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe auch unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall war es aus Sicht der Behörden zweckmäßig, trotz Kenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers das Ausweisungsverfahren durch das Regierungspräsidium Karlsruhe fortführen zu lassen, nachdem dieses dort bereits eingeleitet worden sowie die Anhörung erfolgt war und die Akten entscheidungsreif vorlagen. Auch die Interessen des Klägers sind dadurch nicht unzumutbar beeinträchtigt worden. Zwar ist die Rechtsverfolgung für den Kläger durch die räumliche Entfernung der für das Klage- und Berufungsverfahren zuständigen Gerichte (VG Karlsruhe bzw. VGH Mannheim) erschwert. Andererseits hängt die Durchführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe ursächlich damit zusammen, dass der Kläger offensichtlich seine alte Wohnanschrift ohne Abmeldung verlassen hat und „nach unbekannt“ verzogen ist, so dass jedenfalls der Ausländerbehörde der tatsächliche Aufenthalt des Klägers unbekannt war; diesen Umstand muss der Kläger sich zurechnen lassen.
II.
37 
Letztlich kommt es jedoch auf die zwischen den Parteien umstrittene Frage der örtlichen Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe nicht entscheidungserheblich an. Denn die Verfügung des Regierungspräsidiums verstößt jedenfalls gegen die auch für den Kläger - ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, wie sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 und vom 06.10.2005, a.a.O.) vorgenommen worden ist. Sie ist damit wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig.
38 
1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts in den o.g. Urteilen vom 13.09.2005 und 06.10.2005 sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
39 
Der Kläger war von Juli 1993 bis März 1995 bei der Fa. ... und von April 1995 bis Dezember 2002 bei der Firma A.-... ordnungsgemäß, d.h. mit Besitz von Aufenthaltserlaubnissen, beschäftigt. Damit hat er - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Diesen Rechtsstatus hat er seither auch nicht verloren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 07.07.2005 - C 383/03 - , InfAuslR 2005, 350 ff.) ist ein Verlust dieser Rechtsstellung insbesondere nicht dadurch eingetreten, dass der Kläger eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat.
40 
Möglicherweise hat der Kläger als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers nach drei- bzw. fünfjährigem Aufenthalt auch den Rechtsstatus nach Art. 7 Satz 1 1. oder 2. Spiegelstrich erworben. Der Kläger ist 1992 im Wege des Familiennachzugs zu seiner türkischen Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ausweislich der beigezogenen Behördenakten war die Ehefrau des Klägers - jedenfalls zum Zeitpunkt der Einreise - als angestellte Friseurin bei der Firma F. beschäftigt. Wie lange die Ehefrau der Klägers danach noch dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat, ist den Akten nicht zu entnehmen, kann aber - da nicht entscheidungserheblich - auch auf sich beruhen.
41 
2. Nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG trifft, „sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben“, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen „außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes“, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, wobei „diese Stelle eine andere sein muss als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig ist“.
42 
Nach der vom EuGH in der Rechtssache Dörr und Ünal (Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 47) getroffenen Auslegung muss die gesonderte Stelle i.S.d. Richtlinie zur Gewährleistung eines hinreichend effektiven Schutzes eine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme geben. Nach der im Anschluss daran ergangenen o.g. Rechtsprechung des BVerwG (Urteile vom 13.09.2005 und 06.10.2005, a.a.O.) wird in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren i.S.d. § 68 VwGO). Das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren, welches lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vorsehe, insbesondere bei behördlichen Ermessenserwägungen auf die Überprüfung beschränkt sei, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien bzw. von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei, genüge den Anforderungen an eine zweite zuständige Stelle nicht. Daraus folge, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei von den Regierungspräsidien verfügten Ausweisungen (vgl. § 6a S. 1 AGVwGO; eingefügt durch das Gesetz zur Entlastung der Regierungspräsidien vom 10.05.1999, GBl. S. 173, in Kraft getreten am 01.07.1999) die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) entfallen sei. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen seien daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es habe ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.
43 
Der Senat hatte demgegenüber in der Vergangenheit in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass im Hinblick auf den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht vom deutschen Rechtsverständnis dieses Begriffes - etwa im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeitskontrolle im Widerspruchsverfahren, § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO - auszugehen sei und die vom EuGH geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde (Urteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481 ff.; unter Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -; ebenso Senatsurteil vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 -). Im Hinblick auf die o.g. Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005 hat der Senat im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung diese Rechtsprechung zwischenzeitlich aufgegeben. Dies gilt weiterhin und ungeachtet der Tatsache, dass Art. 31 der seit dem 01.05.2006 unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/38/EG (vgl. dazu Groß, ZAR 2006, 61 ff., 64), die u.a. eine „genauere Definition der Verfahrensgarantien“ bei der Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bezweckt (vgl. 22. Erwägungsgrund), - deren Anwendbarkeit auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige unterstellt - nicht die Einschaltung einer zweiten außergerichtlichen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens verlangt, sondern den gerichtlichen Rechtsbehelf ausreichen lässt (vgl. dazu im einzelnen unter III).
44 
3. Die vom Regierungspräsidium Karlsruhe am 12.10.2004 verfügte Ausweisung erfolgte im Hinblick auf § 6a AGVwGO ohne vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens und damit ohne Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens. Dies ist auch nicht deshalb unschädlich, weil ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen hätte, bei dem die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ entbehrlich gewesen wäre.
45 
a) Entgegen der Ansicht des Beklagten unterliegt die Beurteilung, ob von einem „dringender Fall“ i. S. von Art. 9 RL 64/221/EWG auszugehen ist, der gerichtlichen Überprüfung und ist nicht allein Sache der Verwaltung. In dem vom Beklagten für seine Auffassung herangezogenen Urteil des EuGH vom 05.03.1980 (Rs 98/79 , NJW 1980, 2630 ff.) heißt es zwar, dass durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme den Gerichten nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet habe verliehen werden sollen. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Prüfung auch nach nationalem Recht nicht zu erfolgen hat. Das verdeutlicht der Gerichtshof im Übrigen in derselben Entscheidung dadurch, dass er für die Ausübung derartiger Befugnisse durch die einzelstaatlichen Gerichte auf Art. 8 RL 64/221EWG und damit auf die nationale Rechtsordnung verweist. Nach der deutschen Rechtsordnung unterliegen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm grundsätzlich der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, ohne dass eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Bewertungen besteht. Dies gilt auch für Prognoseentscheidungen wie z.B. die Beurteilung einer polizeirechtlichen Gefahr oder der Wiederholungsgefahr im Ausländerrecht. Eine Ausnahme von der eigenständigen Beurteilungspflicht der Verwaltungsgerichte muss sich aus dem jeweiligen materiellen Recht eindeutig ergeben, was hier nicht der Fall ist (vgl. zu dem Problemkreis etwa Kuntze in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 114 Rn. 30 ff.).
46 
Die Auffassung, die Überprüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme sei allein Sache der Verwaltung, ist im übrigen nach der eigenen Rechtsprechung des EuGH überholt. Der EuGH hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 29.04.2004 (verb. Rs. C 482/01 und C 493/01 , NVwZ 2004, 1099 ff.) nicht wieder aufgegriffen und hat in seinem Urteil vom 02.06.2005 (, a.a.O., Rn. 56) das Vorliegen eines dringenden Falles selbst geprüft und ausdrücklich verneint (vgl. dazu auch Gutmann, GK zum AufenthG, Bd. 5, IX-1 Art. 14 Rn. 124.6). Auch das Bundesverwaltungsgericht geht von einer vollen gerichtlichen Überprüfung der Dringlichkeit der Maßnahme aus. So hat es in seinem Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) Kriterien zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Begriffs des „dringenden Falls“ entwickelt und die Rechtssache zur erneuten Überprüfung an Hand dieser Kriterien an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
47 
b) Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner o.g. Entscheidung ausgeführt, das Merkmal der Dringlichkeit sei als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“. Ein dringender Fall könne sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern könne erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten sei. Ein dringender Fall komme demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Dann sei auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles ähnelten damit den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa in BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053). Ein dringender Fall sei danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet habe und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt werde. Vielmehr müsse ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen sei, müsse nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung sei hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese werde in der Regel entfallen, wenn und solange der Ausländer sich in Haft befinde. Die Annahme eines dringenden Falles komme unter solchen Umständen nur für den Fall in Frage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden solle. Zu berücksichtigen sei ferner, ob die Ausländerbehörde selbst den Fall als dringlich erachte und behandele. Die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordne oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch mache.
48 
c) Nach dieser Rechtsprechung, der auch der Senat im Grundsatz folgt, ist ein dringender Fall entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon dann - gewissermaßen als Automatismus - anzunehmen, wenn wie im vorliegenden Fall die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet wurde. Die in diesem Zusammenhang vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des 13. Senats des erkennenden Gerichtshofs (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 -) dürfte durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überholt sein. Insgesamt ergibt sich bei der - auch nach Ansicht des Senats gebotenen - besonders engen Auslegung, dass ein dringender Fall grundsätzlich erst dann angenommen werden kann, wenn wegen der vom Ausländer ausgehenden Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Die vom Ausländer ausgehende Gefahr entfällt in der Regel, wenn und solange er sich in Haft befindet. Davon sind wiederum Ausnahmen in den Fällen denkbar, in denen konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten in der Haft vorliegen bzw. der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll und die Einschaltung einer zweiten Verwaltungsstelle - auch bei der gebotenen zügigen Bearbeitung - nicht durchführbar ist. Zu beachten ist dabei allerdings auch, dass bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einem zu erwartenden Absehen von der Strafvollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde nach § 456a StPO (etwa nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Dritteln einer gegen den Ausländer verhängten zeitigen Freiheitsstrafe) der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und diese den Termin nicht so festlegen darf, dass die dem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen grundsätzlich zustehenden Verfahrensgarantien unterlaufen werden, ohne dass eine besondere Gefahrensituation vorliegt.
49 
Fraglich ist, wie - insbesondere in Haftfällen - die Erwägung des Bundesverwaltungsgerichts zu verstehen ist, ein dringender Fall komme (nur) in Betracht, wenn die Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Mit „Hauptverfahren“ dürfte wohl das gerichtliche Hauptsache verfahren (vgl. auch den 3. Leitsatz zum Urteil vom 13.09.2005, a.a.O., wo vom „gerichtlichen Hauptverfahren“ die Rede ist). Nach dem Sinn und Zweck der Regelung in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, vor der behördlichen Ausweisungsentscheidung grundsätzlich eine Überprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle zu gewährleisten, unddavon in dringenden Fällen eine Ausnahme zuzulassen, kann es nach Ansicht des Senats bei der Dringlichkeitsprüfung aber nur darauf ankommen, ob eine Verzögerung durch die Einschaltung einer zweiten Stelle hinnehmbar ist oder die Gefahr besteht, dass sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einschließlich des Kontrollverfahrens bei der anderen Stelle realisiert. Dies gilt umso mehr, als auch im Anschluss an die Einschaltung einer zweiten Stelle noch eine Ausweisungsentscheidung mit Sofortvollzug ergehen kann. Die aufgeworfene Frage ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen der Ausländer sich in Haft befindet und vor seiner bevorstehenden Entlassung oder seiner beabsichtigten Abschiebung aus der Haft noch ausreichend Zeit besteht, eine Überprüfung der Ausweisungsentscheidung durch eine zweite Stelle vornehmen zu lassen. Wenn nicht ersichtlich ist, dass in diesem Zeitraum vom Ausländer eine erhebliche Gefahr ausgeht, liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles nach Auffassung des Senats nicht vor. Auf die Frage, ob sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert, kommt es dann nur für die Entscheidung über die Anordnung des Sofortvollzuges an, deren Voraussetzungen aber - wie das Bundesverwaltungsgericht selbst ausgeführt hat - nicht identisch sind mit denen der besonderen Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Gegenstand der Dringlichkeitsprüfung nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist vielmehr ausschließlich das „Hauptverfahren“ auf Verwaltungsebene einschließlich der Kontrollentscheidung der „anderen Stelle“.
50 
d) Ebenso wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ist auch der Senat der Auffassung, dass es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliegt, auf die Sachlage zu dem Zeitpunkt ankommt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung zu treffen hat.
51 
Bereits die Verwendung der Gegenwartsform im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie („ … trifft die Verwaltungsbehörde …“) legt es nahe, für die Beurteilung eines „dringenden Falles“ auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung abzustellen. Die Tatsache, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dievorherige Einschaltung einer zuständigen Stelle vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetzt, spricht ebenfalls für eine solche Auslegung (ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ). Schließlich dient eine solche Auslegung auch der Verfahrenssicherheit, da sich allein aus der Beurteilung der Dringlichkeit bei Erlass der Ausweisungsverfügung ergibt, welches Verfahren im Einzelfall einzuhalten ist, d.h. ob vor dem Erlass noch eine zweite Stelle einzuschalten ist oder nicht.
52 
Diese Auslegung führt entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Hinblick auf die Regelung in § 456a Abs. 1 StPO nicht zu sachwidrigen Ergebnissen. Nach dieser Vorschrift kann die Vollstreckungsbehörde u.a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte ausgewiesen wird. Der Beklagte trägt in diesem Zusammenhang sinngemäß vor, zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung stehe noch nicht fest, ob und wann der Ausländer aus der Haft abgeschoben werden könne (mithin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein dringender Fall anzunehmen sei), da die Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung nach § 456a StPO erst treffe, nachdem die Ausweisung erfolgt und der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig sei.
53 
Dieses vom Beklagten geschilderte Prozedere erscheint dem Senat aber nicht zwingend. Die Vollstreckungsbehörde kann unter den Voraussetzungen des § 456a StPO nach ihrem Ermessen auf Antrag oder von Amts wegen ganz oder teilweise von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen. Nach den für das Land Baden-Württemberg dazu erlassenen Richtlinien (AV d. JuM vom 17. Oktober 1996 - Die Justiz S. 500) prüft die Vollstreckungsbehörde von Amts wegen, ob von der Vollstreckung abzusehen ist. Sie setzt sich hierzu mit der Ausländerbehörde in Verbindung, um festzustellen, ob gegen den Verurteilten eine Ausweisungsverfügung ergangen ist oder ob mit dem Erlass einer solchen Verfügung gerechnet werden kann (Ziffer III 2. a der Richtlinien). Die Maßnahme nach § 456a StPO wird regelmäßig bereits unmittelbar nach Rechtskraft bei Einleitung der Vollstreckung und ohne Rücksicht darauf getroffen werden können, ob bereits eine Ausweisungsverfügung vorliegt (Ziffer III 2 b Satz 1). In jedem Fall soll die Maßnahme nach § 456a StPO so frühzeitig angeordnet werden, dass die u.a. zur Ausweisung notwendigen Vorbereitungen der Ausländerbehörde rechtzeitig getroffen werden können (Ziffer III 2 b Satz 2). In der Regel ist nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe von der weiteren Vollstreckung abzusehen; bei besonderen, in der Tat oder der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder zur Verteidigung der Rechtsordnung kann nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit von der weiteren Vollstreckung abgesehen werden (Ziffer III 1. c).
54 
Daraus ergibt sich für den Senat, dass auch schon vor Erlass einer Ausweisungsverfügung eine Entscheidung nach § 456a StPO möglich und nach den o.g. Richtlinien sogar geboten ist. Sollte diese trotz entsprechender Bemühungen bei der Strafvollstreckungsbehörde dennoch nicht erwirkt werden können, wird man möglicherweise eine Prognoseentscheidung auf der Basis einer zu erwartenden Freigabe nach der Hälfte bzw. zwei Dritteln der verhängten Strafe ausreichen lassen können. Zu berücksichtigen ist aber auch hier, dass selbst bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einer zu erwartenden Freigabeentscheidung nach § 456a StPO der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und insoweit eine Abschiebung vor Einschaltung einer zweiten Stelle häufig nicht zwingend ist.
55 
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem o.g. Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Dringlichkeit nicht ausdrücklich entschieden. Zwar führt auch das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „ … wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird“ und beendet seine diesbezüglichen Ausführungen mit der Feststellung, dass ein Verstoß - vorbehaltlich des Vorliegens eines dringenden Falles - zu einem unheilbaren Verfahrensfehler führt (Rn. 13 a.E. des amtl. Urteilsabdrucks). Diese Ausführungen sprechen ebenfalls dafür, maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung abzustellen und später eintretende Veränderungen unberücksichtigt zu lassen. In seinen weiteren Erwägungen (vgl. Rn. 19 des Abdrucks) ermöglicht das Bundesverwaltungsgericht allerdings (auch) die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung, etwa indem es ausführt, die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und von der Anordnung des Sofortvollzuges - ggf. nach gerichtlicher Bestätigung - nicht unverzüglich Gebrauch mache. Insoweit dürfte es sich allerdings eher um einen Fall widersprüchlichen Verhaltens handeln, der eine Berufung auf das Vorliegen eines dringenden Falles durch die Behörde als unzulässig erscheinen lassen kann.
56 
d) Wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, lag zum danach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe über die Ausweisung des Klägers ein „dringender Fall“, der ausnahmsweise die Einschaltung einer zweiten Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entbehrlich gemacht hätte, nicht vor. Die Ausweisungsverfügung ist damit unter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften ergangen.
57 
Für die Annahme eines dringenden Falles sprach zwar, dass der Kläger eine besonders schwerwiegende Betäubungsmittelstraftat mit „harten“ Drogen begangen und dabei - wie auch vom Strafgericht zu Recht betont - eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt hat. Das Regierungspräsidium hat das Verfahren auch zügig betrieben (nach Eingang des rechtskräftigen Strafurteils am 20.09.2004 erging bereits am 12.10.2004 die Ausweisungsverfügung) und seinerseits den Sofortvollzug angeordnet. Im Ergebnis zu Recht ist das Regierungspräsidium bei seiner Entscheidung auch davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers mit einer Freigabeentscheidung gemäß § 456a StPO nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe gerechnet werden konnte und eine Abschiebung aus der Haft in Frage kam.
58 
Diese Gesichtspunkte reichen jedoch nicht aus, im Falle des Klägers eine besondere Dringlichkeit zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung zu begründen.
59 
Wie dargelegt ist diese Merkmal als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders eng auszulegen und erfordert eine Situation, bei der wegen der vom Ausländer unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Ausweisung bzw. deren Vollzug nicht zu verantworten ist. Diese engen Voraussetzungen waren beim Kläger nicht gegeben. Der Kläger war zu einer viereinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden und befand sich seit dem 09.02.2003 in Strafhaft. Selbst eine Freigabeentscheidung nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Haftstrafe (deren Erteilung zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung allerdings keineswegs feststand), war frühestens zum 09.05.2005 zu erwarten; konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Freigabe bereits vor diesem Termin lagen nicht vor. Es stand mithin bei Erlass der Ausweisungsentscheidung vom 12.10.2004 bis zu einer eventuell möglichen Abschiebung aus der Haft (die ihrerseits nicht zwingend unmittelbar nach Freigabe zu erfolgen hatte) noch ein Zeitraum von sieben Monaten zur Verfügung. Nach Auffassung des Senats ist ein solcher Zeitraum - unter Berücksichtigung der grundsätzlich bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien und der gebotenen zügigen Bearbeitung - ausreichend, eine beabsichtigte Ausweisungsverfügung durch eine zweite Verwaltungsstelle überprüfen zu lassen. Zu berücksichtigen war schließlich auch, dass im vorliegenden Fall die persönlichen Belange des Klägers (insbesondere sein lang dauernder Aufenthalt in der Bundesrepublik, davon seit 1997 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, sowie sein Umgangsrecht mit seinem 1993 hier geborener Sohn) ein nicht unerhebliches Gewicht haben. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund die bloß abstrakte Möglichkeit, der Kläger könne in der Strafhaft weitere Straftaten begehen, keine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt.
60 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat noch darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Rechtsauffassung des Beklagten, für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei (ebenso wie bei der Beurteilung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen, vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224 ff.) auf die Sachlage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, wohl nicht zu einem anderen Ergebnis führen dürfte. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (29.06.2006) war der Kläger auf Grund des Beschlusses des Landgerichts Köln vom 02.03.2006 über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus der Haft entlassen worden. Damit kommt eine Abschiebung aus der Haft nicht mehr in Betracht. Der Entscheidung des Landgerichts lag ein klinisch-forensisches Fachgutachten vom 06.02.2006 zu Grunde, welches zu dem Ergebnis gekommen war, beim Kläger bestehe keine Gefahr mehr, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Ungeachtet der Tatsache, dass dieses im Strafverfahren erstellte und dort auch unter Resozialisierungsgesichtspunkten zu verstehende Gutachten möglicherweise bei der Beurteilung einer qualifizierten Wiederholungsgefahr als materielle Ausweisungsvoraussetzung einer kritischen Würdigung zu unterziehen wäre (zumal das Gutachten davon ausging, dass der Kläger nach Haftentlassung über eine Arbeitsstelle verfüge, wohingegen die mündliche Verhandlung vor dem Senat ergeben hat, dass er arbeitslos ist), dürfte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine unmittelbar drohende erhebliche Gefahr als Voraussetzung für eine besondere Dringlichkeit schwerlich zu begründen sein.
61 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt sei ferner darauf hingewiesen, dass die vom Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung enthaltene Erwägung, eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung sei (auch) aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt, wohl nicht tragfähig sein dürfte, auch wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung als solcher, sondern (nur) im Zusammenhang mit der Anordnung des Sofortvollzuges steht. Bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist bei Beschränkungen der Freizügigkeit zur Gefahrenabwehr nur auf die auf Grund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen vorliegende Gefährdung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.). Es spricht einiges dafür, dass dies auch im Hinblick auf die Begründung des Sofortvollzuges (d.h. die sofortige Aufenthaltsbeendigung und damit unmittelbare Beschränkung der Freizügigkeit) gelten dürfte.
62 
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt eine Heilung des Verfahrensmangels nach § 46 LVwVfG nicht in Betracht.
63 
Nach § 46 LVwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, ein eventueller Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei nach § 46 LVwVfG letztlich unbeachtlich, da die Stellungnahme einer im Vorfeld der Maßnahme zu beteiligenden Stelle angesichts der massiven kriminellen Energie des Antragstellers unter Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe im Ergebnis offensichtlich nicht hätte beeinflussen können.
64 
a) Fraglich ist bereits, ob § 46 LVwVfG auf die Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften Anwendung findet. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seinen Urteilen vom 13.09.2005 und 06.12.2005 (a.a.O.) nicht aufgeworfen, geht allerdings im Ergebnis - ohne nähere Begründung - von einem unheilbaren Verfahrensmangel aus.
65 
§ 46 LVwVfG findet keine Anwendung bei sog. absoluten Verfahrensfehlern (vg. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 46 Rn. 18 m.w.N., Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 46 Rn. 22). Dies ist bei einem Verstoß gegen solche Vorschriften anzunehmen, die nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs dienen, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325 ff., Rn. 25). Wegen des Erfordernisses effektiver, einheitlicher Wirkung des EU-Rechts in allen Mitgliedsländern (sog. „effet utile“, vgl. dazu etwa Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76) werden nach wohl überwiegender Meinung die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt mit der Folge, dass eine Heilung nach § 46 LVwVfG ausscheidet (ebenso Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 20; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. § 46 Rn. 9, § 45 Rn. 187; VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ; z.T. a.A. Papier, DVBl 1993, 809 ff., 814). Für diese Auffassung spricht auch, dass die Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Heilung von Verfahrensmängeln von äußerster Zurückhaltung geprägt ist (vgl. dazu ausführlich Wahl, DVBl. 2003, 1285 ff, 1290, und Kment, ArchöR 2005, 571 ff., 584, 612, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH). Es zeigt sich darin ein vom deutschen Verwaltungsverfahrensrecht grundlegend abweichendes Verständnis vom Verwaltungsverfahren in dem Sinn, dass Verfahrensregelungen nicht nur der wirksamen Durchsetzung materiellen Rechts dienen, sondern zugleich auch eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung bieten sollen.
66 
b) Im Ergebnis kann die Frage der Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften aber offen bleiben, denn selbst seine Anwendbarkeit unterstellt würde er im vorliegenden Fall nicht zu einer Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führen. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nämlich nach § 46 LVwVfG nur dann unbeachtlich, wenn „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.“ Eröffnet das materielle Recht im konkreten Einzelfall Ermessen, so ist im Regelfall nicht auszuschließen, dass sich die Verletzung der in § 46 LVwVfG genannten Vorschriften auf die Entscheidung in der Sache ausgewirkt hat. Deswegen sind in diesen Fällen Fehler grundsätzlich relevant (vgl. Kopp-Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 32 m.w.N.; Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 46 Rn. 66).
67 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O.) dürfen türkische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Der Senat hat seine gegenteilige Auffassung, es lasse sich dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger - und entsprechend assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - ausschließlich im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289 f.; ebenso zuletzt Renner, ZAR 2005, 295 ff.) im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung aufgegeben. Nach der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei der zu treffenden Ermessensentscheidung neben der Art und Schwere der begangenen Straftat die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und die privaten Belange des Betroffenen umfassend abzuwägen. Hat der Betroffene Ausweisungsgründe nach §§ 53, 54 AufenthG (ehemals § 47 Abs. 1 und 2 AuslG - sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestände -) verwirklicht, darf dies zwar in die Abwägung einbezogen werden, jedoch nicht im Sinne einer Regelvermutung oder sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist auch hier stets auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
68 
Bei einer danach für die Ausweisung des Klägers erforderliche Ermessensentscheidung unter umfassender Berücksichtigung einer Vielzahl von Gesichtspunkten und ohne isolierte Betrachtung der Art und Schwere der vom Kläger verwirklichten Straftat kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine zweite Stelle zu einer anderen Entscheidung in der Sache gekommen wäre. Unter diesen Umstände scheidet eine Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nach § 46 LVwVfG aus.
69 
5. Eine Heilung des Verfahrensverstoßes nach § 45 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 LVwVfG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach den genannten Vorschriften ist die Verletzung von Verfahrensvorschriften unbeachtlich, wenn die erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird. Bereits der Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeitvor der Ausweisungsentscheidung sicherzustellen, sprechen dagegen, die fehlende Prüfung durch eine zweite zuständige Stelle im Laufe des Gerichtsverfahrens noch nachholen zu können. Auch das o.g. gemeinschaftsrechtliche Prinzip des „effet utile“ dürfte der nachträglichen Heilung auf Grund nationaler Verfahrensvorschriften entgegenstehen. Der Senat hat vor diesem Hintergrund keine Veranlassung gesehen, das Rechtsmittelverfahren etwa entsprechend § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen, um Gelegenheit zur Nachholung der fehlenden Prüfung zu geben. Auch von der Beklagten wurde während des anhängigen Verfahrens nicht nachträglich eine zweite zuständige Stelle eingeschaltet. Eine solche Möglichkeit ist auch zwischenzeitlich entfallen, da die Änderung der AAZuVO vom 04.10.2005 (GBl. S. 678), mit der in § 10 Abs. 7 für Ausweisungsentscheidungen des Regierungspräsidiums Karlsruhe das Regierungspräsidium Freiburg als zweite zuständige Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bestimmt wurde, mit Ablauf des 30.04.2006 wieder außer Kraft getreten ist.
III.
70 
Die unter Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ergangene Ausweisungsverfügung des Klägers wird nicht dadurch rechtmäßig, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O., und - 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Denn dieser Zeitpunkt ist (nur) für die Überprüfung der materiellen Voraussetzungen der Ausweisung maßgeblich, nicht aber dafür, welches Verfahrensrecht im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist.
71 
1. Gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog. Freizügigkeitsrichtlinie, im Folgenden RL 2004/38/EG; ABl. L 229/35 vom 29.06.2005, in Kraft getreten am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, vgl. Art. 41;) ist die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist zum 30.04.2006 auch Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG entfallen.
72 
a) Ob und in welchen Teilen die neue Richtlinie, die nach ihrem Wortlaut nur für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt und anders als die Richtlinie 64/221/EWG nicht nur Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, enthält, auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar ist, ist bisher ungeklärt (offen gelassen von Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -; bzgl. der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 Abs. 3 verneint, bzgl. Art. 30 Abs. 3 bejaht von VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.; aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der RL 2004/38/EG vgl. auch folgende Entscheidungen, die sich im Wesentlichen mit einer evt. Vorwirkung und der Geltung der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 beschäftigen: Hess. VGH, Beschluss vom 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295 ff.; Nieders. OVG, Beschlüsse vom 06.06.2005 - 11 ME 39,05, NVwZ-RR 2005, 654 f. und vom 05.10.2005 - 11 ME 247/04 -, InfAuslR 2005, 453 ff.; zum Ganzen s. auch Gutmann, Die neue Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG und ihr Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, InfAuslR 2005, 401 ff.). Für die Anwendung zumindest der Verfahrensvorschriften könnte sprechen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die im Rahmen des Art. 39 geltenden Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden sollen (vgl. zuletzt Urteil vom 11.11.2004 , InfAuslR 2005, 13 ff.) und die verfahrensrechtlichen Garantien untrennbar mit dem materiellen Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit verbunden sind (vgl. Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 67).
73 
b) Die in der RL 2004/38/EG enthaltenen Verfahrensvorschriften verlangen jedenfalls nicht (mehr) die Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde vor Abschluss des behördlichen Verfahrens (ebenso Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006, a.a.O.). Nach der Richtlinie ist lediglich erforderlich, dass gegen eine Ausweisungsentscheidung „ein Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedsstaates eingelegt werden kann (Art. 31 Abs. 1). Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen; dabei ist zu gewährleisten, dass die Entscheidung insbesondere (im Hinblick auf die gemäß Art. 28 Abs. 1 zu berücksichtigenden Gesichtspunkte) nichtunverhältnismäßig ist.
74 
Aus alledem ergibt sich die Erforderlichkeit eines behördlichen „Vier-Augen-Prinzips“ nicht mehr, so dass es ab dem 01.05.2006 gemeinschaftsrechtlich unbedenklich sein dürfte, wenn das Widerspruchsverfahren gesetzlich ausgeschlossen ist. Durch den gerichtlichen Rechtsschutz (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes, vgl. dazu Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie), der in Deutschland entsprechend den o.g. Vorgaben eine umfassende Prüfung der tatsächlichen Grundlagen der Ausweisungsentscheidung sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beinhaltet, wird den gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien genügt (Dass die vom Gemeinschaftsrecht geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde, war vom Senat bereits unter der Geltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG angenommen worden - vgl. Senatsurteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, a.a.O.; er hat diese Rechtsprechung aber im Hinblick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005, (a.a.O.) aufgegeben, vgl dazu unter II. 2. ).
75 
2. Die Tatsache, dass damit ab dem 01.05.2006 das gemeinschaftsrechtliche Erfordernis der Nachprüfung einer Ausweisungsentscheidung durch eine zweite behördliche Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) ersatzlos weggefallen ist, führt allerdings nicht dazu, dass die gegen den Kläger unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung nunmehr als rechtmäßig anzusehen wäre. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), wonach für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist.
76 
a) Ob und inwieweit eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretene Veränderung der Sach- oder Rechtslage das Urteil über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beeinflusst, ist keine Frage des Prozessrechts-, sondern des zu Grunde liegenden materiellen Rechts (vgl. ausführlich zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage etwa Kopp/Schenke, 14. Aufl., § 113, Rn. 34 ff. und Rn. 47 ff., und Kleinlein, Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, VerwArch 1990, 149 ff., jeweils m.w.N.).
77 
Die o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruht auf der Anwendung materiellen Gemeinschaftsrechts über die Voraussetzungen der Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern bzw. assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 29.04.2004 , a.a.O.), wonach Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann. Da die Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit nach Art. 39 EG eng auszulegen seien, müssten die Voraussetzungen der gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein, zu dem die Ausweisung erfolge. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts gefolgt und hat - möglicherweise sogar darüber hinausgehend - entschieden, dass für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger bzw. assoziationsberechtigter Türken in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nunmehr insgesamt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sei. Aus dem Erfordernis, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt bestehen müsse, zu dem die Ausweisung erfolge, ergebe sich darüber hinaus, dass entscheidungserhebliche neue Tatsachen umfassend zu berücksichtigen seien.
78 
c) Aus dieser zu den materiellen Ausweisungsvoraussetzungen ergangenen Rechtsprechung lässt sich nichts dafür herleiten, dass eine ursprünglich unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften von der Behörde rechtswidrig erlassene Ausweisungsverfügung durch eine spätere Änderung der Verfahrensvorschriften nachträglich als rechtmäßig zu behandeln wäre (a.A., allerdings ohne nähere Begründung, Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -). Ob ein behördlicher Verfahrensfehler vorliegt, der zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung führt, richtet sich vielmehr nach dem während des Verwaltungsverfahrens geltenden Verfahrensrecht, mithin nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.
79 
Die (Übergangs-)Regelung in Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG bestimmt, dass die RL 64/221/EWG (erst) zum 30.04.2006 und damit nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden soll. Bereits dies spricht dagegen, dass die Regelungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG durch das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG auch für ergangene Ausweisungsentscheidungen überholt sind (ebenso VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2005 - 4 K 743/03 - ).
80 
Darüber hinaus entspricht es allgemeinen, aus dem Wesen und der Funktion des Rechts hergeleiteten Grundsätzen, dass neue Rechtsnormen grundsätzlich für die Zukunft gelten, sofern nicht spezielle Übergangsvorschriften ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Neues Verfahrensrecht gilt damit im Zweifel, d.h. mangels Vorliegens anders lautender Überleitungsvorschriften, vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an, und zwar i.d.R. (auch) für bereits anhängige, nicht jedoch für bereits abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte; letztere können nur nach dem im Zeitpunkt ihres Ergehens geltenden Recht beurteilt werden (vgl. dazu etwa Nieders. OVG, Urteil vom 15.03.2006 - 10 LB 7/06 -, m.w.N.; das Nieders. OVG bejaht in dieser Entscheidung die Anwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem Inkrafttreten der Norm - 01.01.2005 - in das Bundesgebiet eingereiste oder geborene Kinder, weil mit der Antragstellung das Verwaltungsverfahren erst eingeleitet werde; vgl. demgegenüber BverwG - Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21/04 -, InfAuslR 2006, 244 ff., wonach § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 ergangene Widerrufsentscheidungen, d.h. bereits abgeschlossene Verfahren, keine Anwendung findet). Ist ein belastender Verwaltungsakt unter Verletzung einer zur Zeit seines Erlasses geltenden Verfahrensvorschrift ergangenen und damit rechtswidrig, führt grundsätzlich der spätere Wegfall der Verfahrensvorschrift nicht zu einer Umwandlung eines rechtswidrigen in einen rechtmäßigen Verwaltungsakt (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 47, der davon spricht, dass der spätere Wegfall nicht eine „Metamorphose“ eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in einen rechtmäßigen bewirke). Allenfalls kann der Gesetzgeber (unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze) die Verletzung der Verfahrensvorschrift für unbeachtlich erklären, wie dies etwa in §§ 45, 46 LVwVfG geschehen ist, mit der Folge, dass der Verwaltungsakt trotz seines rechtswidrigen Zustandekommens als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. Kleinlein, a.a.O., S. 161). Die Voraussetzungen für eine Heilung nach §§ 45, 46 LVwVfG sind aber im vorliegenden Fall gerade nicht gegeben (vgl unter II. 4. und 5.).
81 
Im Ergebnis hat daher das Außerkrafttreten der RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 und das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG zum 01.05.2006 keinen entscheidungserheblichen Einfluss auf die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004. Diese ist vielmehr wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben worden.
IV.
82 
Ob die Ausweisung auch gegen materielles Gemeinschaftsrecht verstößt, ob insbesondere zum diesbezüglich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch von einer qualifizierten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann und die Verfügung im übrigen den an eine Ermessensausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. dazu im einzelnen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), kann danach offen bleiben. Offen bleiben kann damit auch, ob das Regierungspräsidium im Hinblick auf das Umgangsrecht des Klägers mit seinem 1993 in der Bundesrepublik geborenen Sohn bei seiner Entscheidung die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG (vgl. dazu insbes. Kammerbeschluss des BVerfG vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122 ff.) ausreichend gewichtet hat.
V.
83 
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht schließlich davon ausgegangen, dass bei einer Aufhebung der Ausweisung auch die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben kann.
VI.
84 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
VII.
85 
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das Außerkrafttreten des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 auf in der Vergangenheit unter Verstoß gegen diese Vorschrift erlassene Ausweisungsverfügungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen hat, gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Die Frage ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht geklärt; das Nieders. OVG hat in seinem - noch unveröffentlichten - Urteil vom 16.05.2006 (11 LC 324/05) eine von der Ansicht des zulassenden Gerichtshofs abweichende Rechtsauffassung vertreten; ebenso das VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.). Zwar handelt es sich bei Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG um außer Kraft getretenes Recht; die aufgeworfene Frage ist aber angesichts der Vielzahl der unter der Geltung dieser Vorschrift erlassenen und noch nicht bestandkräftig gewordenen Ausweisungen für einen nicht überschaubaren Personenkreis auf unabsehbare Zeit noch von Bedeutung; darüber hinaus kann die Frage auch Bedeutung haben für die Vielzahl der bei den Ausländerbehörden und Gerichten bereits anhängigen - sowie ggf. noch zu erwartenden - Verfahren auf Wiederaufgreifen von gemeinschaftsrechtswidrig erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen (zur Zulassung der Revision bei auslaufendem oder außer Kraft getretenen Recht vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.10.1994 - 9 B 83.94 - , DVBl 1995, 569, und vom 20.10.1995 - 6 B 35/95 -, NVwZ-RR 1996, 712, jeweils m.w.N.). Das Revisionsverfahren bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Frage des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu klären sowie die entstandenen Unklarheiten im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes „Hauptverfahren“ im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.09.2005 (a.a.O.) zu beseitigen.
86 
Beschluss
87 
vom 29. Juni 2006
88 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt der nur im Zuge der Anfechtung einer Ausweisung angefochtenen Abschiebungsandrohung keine selbständige wirtschaftliche Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28.04.1982 - 1 B 38.82 -, InfAuslR 1982, 167 und vom 29.01.1982 - 1 B 1.92 -, BayVBl. 1982, 380). Das gilt unabhängig von der Relevanz des angedrohten Zielstaats oder des ausländerrechtlichen Status des Betroffenen (vgl. Beschluss des Senats vom 24.06.2004 - 11 S 1168/04 -) und ungeachtet dessen, dass bei der Anfechtung einer isolierten Abschiebungsandrohung der volle Regelstreitwert anzusetzen ist.
89 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Gründe

 
28 
Die vom Verwaltungsgericht Karlsruhe zugelassene Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (vgl. § 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) und den inhaltlichen Anforderungen entsprechend fristgerecht begründet worden (vgl. § 124a Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).
29 
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 12.10.2004 zu Recht aufgehoben, denn diese ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar war entgegen der Auffassung des Klägers das Regierungspräsidium Karlsruhe für die Ausweisungsentscheidung örtlich zuständig (dazu unter I.). Die Entscheidung verstößt jedoch gegen die auch für den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, die sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., und vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 ff.) erfahren hat und der sich der Senat zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anschließt (dazu unter II.). Die unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung ist wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig; daran ändert sich auch nichts dadurch, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist (dazu unter III).
I.
30 
Das Regierungspräsidium Karlsruhe war für den Erlass der Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004 örtlich zuständig, obwohl der Kläger vor seiner Inhaftierung (U-Haft in der JVA Mannheim) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Köln hatte und auch bereits vor Erlass der Ausweisungsverfügung in die JVA Köln verlegt wurde.
31 
Weder im während des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Ausländergesetz noch in dem seit dem 01.01.2005 geltenden Aufenthaltsgesetz waren bzw. sind Regelungen über die örtliche Behördenzuständigkeit enthalten (vgl. § 63 AuslG, § 71 AufenthG). Diese richtet sich vielmehr nach dem Verfahrensrecht der Länder, die die Bundesgesetze gemäß Art. 83 GG als eigene Angelegenheiten ausführen (vgl. auch Nr. 63.1.2.1 der nach Art. 84 Abs. 2 GG erlassenen AuslG-VwV vom 28.06.2000 des BMI, GMBl. 2000, S. 618 ff.). Die örtliche Zuständigkeit im Ausländerrecht richtet sich mithin in Baden-Württemberg nach der Aufenthalts- und Asyl- Zuständigkeitsverordnung (im Folgenden: AAZuVO) in der jeweils maßgeblichen Fassung und ergänzend nach § 3 LVwVfG (vgl. § 1 Abs. 1 LVwVfG). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AAZuVO in der bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens des Klägers geltenden Fassung vom 19.07.1995 (GBl. S. 586 ff, mit Änderungen vom 21.10.1996, GBl. S. 649 ff., und vom 23.03.1998, GBl. S. 187) bleibt, wenn der Ausländer sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, die Ausländerbehörde - örtlich - zuständig, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer vor der Hafteinweisung oder der Ingewahrsamnahme gewöhnlich aufgehalten hat. Ist der vorige gewöhnliche Aufenthalt nicht bekannt , ist die Ausländerbehörde, in deren Dienstbezirk sich der Ausländer in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet, zuständig (§ 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO). Eine nach Satz 2 begründete Zuständigkeit bleibt erhalten, wenn der Ausländer während der Haft in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde verlegt wird (§ 4 Abs. 3 Satz 3 AAZuVO).
32 
Im vorliegenden Fall war bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens dem Regierungspräsidium Karlsruhe der gewöhnliche Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung nicht bekannt. Der Kläger befand sich auf Grund des Beschlusses des Amtsgerichts Stuttgart vom 07.02.2003 in Untersuchungshaft in der JVA Mannheim im Zuständigkeitsbereich des Regierungspräsidiums Karlsruhe. Unter der in dem o.g. Beschluss angegebenen Wohnanschrift K. ... in K. hat der Kläger sich vor seiner Inhaftierung unstreitig nicht aufgehalten. Anhaltspunkte für eine andere Wohnanschrift lagen dem Regierungspräsidium bei Einleitung des Ausweisungsverfahrens nicht vor. Vielmehr ergab sich aus dem Ausländerzentralregister, dass der Kläger am 29.05.2000 „nach unbekannt“ verzogen war. Auch die Stadtverwaltung der Stadt Köln hat dem Regierungspräsidium auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt (Schreiben vom 06.03.2003), dass der Kläger seine letzte Meldeanschrift ohne Abmeldung verlassen habe. Entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung bestand für das Regierungspräsidium auch keine Veranlassung für weitere Nachforschungen, nachdem selbst der Kläger bei seiner Anhörung vor Erlass der Ausweisungsverfügung keine weitergehenden Angaben zu seinem Aufenthalt vor der Inhaftierung oder zu seinen persönlichen Bindungen gemacht hat.
33 
Danach war das Regierungspräsidium Karlsruhe zumindest bis zur Übersendung der Anklageschrift vom 06.06.2003, aus der sich der frühere tatsächliche Aufenthalt des Klägers bei seiner Lebensgefährtin in der O. Straße ... in K. ergab, nach § 4 Abs. 3 Satz 2 AAZuVO für das Ausweisungsverfahren zuständig. Daran hätte auch die vor Erlass der Ausweisungsverfügung erfolgte Verlegung des Klägers in die JVA Köln nichts geändert (vgl. § 4 Abs. 3 S. 3 AAZuVO).
34 
Nachdem durch die Übersendung der Anklageschrift der Aufenthaltsort des Klägers vor seiner Inhaftierung (d.h. von April 1999 bis Februar 2003) bekannt war, ist das Regierungspräsidium Karlsruhe im laufenden Ausweisungsverfahren allerdings örtlich unzuständig geworden. Gemäß § 3 Abs. 3 LVwVfG kann jedoch, wenn sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens die die Zuständigkeit begründenden Umstände ändern, die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben, nachdem die Stadt Köln mit Erklärung vom 02.09.2005 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens rückwirkend zugestimmt hat.
35 
Eine Änderung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Umstände liegt typischerweise bei einer Änderung äußerer Umstände, etwa bei einem Wohnsitzwechsel, vor. Nachdem im vorliegenden Fall aber gerade die Unkenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers der die Zuständigkeit begründende Umstand war, stellt umgekehrt dessen spätere Kenntnis eine Änderung der zuständigkeitsbegründenden Umstände dar. Geht man davon aus, dass das Regierungspräsidium Karlsruhe örtlich unzuständig geworden ist, lag auch kein sog. positiver Kompetenzkonflikt, d.h. eine Zuständigkeit von Ausländerbehörden mehrerer Länder nach landesrechtlichen Vorschriften, vor, der ein Zurückgreifen auf die zu § 63 Abs. 2 Nr. 2 AuslG ergangenen Regelungen in der AuslG-VwV (a.a.O., Nr. 63.2.2, insbes. Nr. 63.2.2.1 und 63.2.2.2.1) erfordert hätte. Für die Anwendung des § 3 Abs. 3 LVwVfG genügt auch die Zustimmungserklärung der Behörde eines anderen Bundeslandes(Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 3 Rn. 44, Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38, jeweils m.w.N.). Auch die Tatsache, dass die Stadt Köln der (Fort-)Führung des Ausweisungsverfahrens erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren - rückwirkend -zugestimmt hat, steht der Anwendbarkeit des § 3 Abs. 3 LVwVfG nicht entgegen. Zwar wird teilweise (vgl. etwa Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 3 Rn. 38) die Auffassung vertreten, die Zustimmung könne wirksam bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erklärt werden. In dem als Beleg dafür angeführten Fall des Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 18.04.1986 - 8 C 81/83 -, NVwZ 1987, 224 f.) war streitig, ob die im Widerspruchsverfahren erklärte Zustimmung zu berücksichtigen war, was das Bundesverwaltungsgericht bejaht hat. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Zustimmungserklärung nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens erteilt werden kann, zumal § 45 Abs. 1 Nr. 5 LVwVfG die Nachholung erforderlicher Mitwirkungshandlungen grundsätzlich bis zur letzten Tatsacheninstanz zulässt.
36 
Schließlich ist die Fortführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe auch unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten nicht zu beanstanden. Im vorliegenden Fall war es aus Sicht der Behörden zweckmäßig, trotz Kenntnis des früheren Aufenthalts des Klägers das Ausweisungsverfahren durch das Regierungspräsidium Karlsruhe fortführen zu lassen, nachdem dieses dort bereits eingeleitet worden sowie die Anhörung erfolgt war und die Akten entscheidungsreif vorlagen. Auch die Interessen des Klägers sind dadurch nicht unzumutbar beeinträchtigt worden. Zwar ist die Rechtsverfolgung für den Kläger durch die räumliche Entfernung der für das Klage- und Berufungsverfahren zuständigen Gerichte (VG Karlsruhe bzw. VGH Mannheim) erschwert. Andererseits hängt die Durchführung des Ausweisungsverfahrens durch das Regierungspräsidium Karlsruhe ursächlich damit zusammen, dass der Kläger offensichtlich seine alte Wohnanschrift ohne Abmeldung verlassen hat und „nach unbekannt“ verzogen ist, so dass jedenfalls der Ausländerbehörde der tatsächliche Aufenthalt des Klägers unbekannt war; diesen Umstand muss der Kläger sich zurechnen lassen.
II.
37 
Letztlich kommt es jedoch auf die zwischen den Parteien umstrittene Frage der örtlichen Zuständigkeit des Regierungspräsidiums Karlsruhe nicht entscheidungserheblich an. Denn die Verfügung des Regierungspräsidiums verstößt jedenfalls gegen die auch für den Kläger - ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger - zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung geltenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in der Auslegung, wie sie durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteile vom 13.09.2005 und vom 06.10.2005, a.a.O.) vorgenommen worden ist. Sie ist damit wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels rechtswidrig.
38 
1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 02.06.2005 , InfAuslR 2005, 289 ff.) und des Bundesverwaltungsgerichts in den o.g. Urteilen vom 13.09.2005 und 06.10.2005 sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
39 
Der Kläger war von Juli 1993 bis März 1995 bei der Fa. ... und von April 1995 bis Dezember 2002 bei der Firma A.-... ordnungsgemäß, d.h. mit Besitz von Aufenthaltserlaubnissen, beschäftigt. Damit hat er - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - die Rechtsstellung nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Diesen Rechtsstatus hat er seither auch nicht verloren. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 07.07.2005 - C 383/03 - , InfAuslR 2005, 350 ff.) ist ein Verlust dieser Rechtsstellung insbesondere nicht dadurch eingetreten, dass der Kläger eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt hat.
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Möglicherweise hat der Kläger als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers nach drei- bzw. fünfjährigem Aufenthalt auch den Rechtsstatus nach Art. 7 Satz 1 1. oder 2. Spiegelstrich erworben. Der Kläger ist 1992 im Wege des Familiennachzugs zu seiner türkischen Ehefrau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ausweislich der beigezogenen Behördenakten war die Ehefrau des Klägers - jedenfalls zum Zeitpunkt der Einreise - als angestellte Friseurin bei der Firma F. beschäftigt. Wie lange die Ehefrau der Klägers danach noch dem regulären Arbeitsmarkt angehört hat, ist den Akten nicht zu entnehmen, kann aber - da nicht entscheidungserheblich - auch auf sich beruhen.
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2. Nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG trifft, „sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben“, die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen „außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes“, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann, wobei „diese Stelle eine andere sein muss als diejenige, welche für die aufenthaltsbeendende Maßnahme zuständig ist“.
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Nach der vom EuGH in der Rechtssache Dörr und Ünal (Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 47) getroffenen Auslegung muss die gesonderte Stelle i.S.d. Richtlinie zur Gewährleistung eines hinreichend effektiven Schutzes eine sichere Garantie einer erschöpfenden Prüfung der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme geben. Nach der im Anschluss daran ergangenen o.g. Rechtsprechung des BVerwG (Urteile vom 13.09.2005 und 06.10.2005, a.a.O.) wird in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren i.S.d. § 68 VwGO). Das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren, welches lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung vorsehe, insbesondere bei behördlichen Ermessenserwägungen auf die Überprüfung beschränkt sei, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten seien bzw. von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden sei, genüge den Anforderungen an eine zweite zuständige Stelle nicht. Daraus folge, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei von den Regierungspräsidien verfügten Ausweisungen (vgl. § 6a S. 1 AGVwGO; eingefügt durch das Gesetz zur Entlastung der Regierungspräsidien vom 10.05.1999, GBl. S. 173, in Kraft getreten am 01.07.1999) die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde („Vier-Augen-Prinzip“) entfallen sei. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen seien daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es habe ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.
43 
Der Senat hatte demgegenüber in der Vergangenheit in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass im Hinblick auf den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht vom deutschen Rechtsverständnis dieses Begriffes - etwa im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeitskontrolle im Widerspruchsverfahren, § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO - auszugehen sei und die vom EuGH geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde (Urteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, VBlBW 2004, 481 ff.; unter Fortführung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -; ebenso Senatsurteil vom 15.05.2005 - 11 S 2966/04 -). Im Hinblick auf die o.g. Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005 hat der Senat im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung diese Rechtsprechung zwischenzeitlich aufgegeben. Dies gilt weiterhin und ungeachtet der Tatsache, dass Art. 31 der seit dem 01.05.2006 unmittelbar geltenden Richtlinie 2004/38/EG (vgl. dazu Groß, ZAR 2006, 61 ff., 64), die u.a. eine „genauere Definition der Verfahrensgarantien“ bei der Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen bezweckt (vgl. 22. Erwägungsgrund), - deren Anwendbarkeit auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige unterstellt - nicht die Einschaltung einer zweiten außergerichtlichen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens verlangt, sondern den gerichtlichen Rechtsbehelf ausreichen lässt (vgl. dazu im einzelnen unter III).
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3. Die vom Regierungspräsidium Karlsruhe am 12.10.2004 verfügte Ausweisung erfolgte im Hinblick auf § 6a AGVwGO ohne vorherige Durchführung eines Widerspruchsverfahrens und damit ohne Einschaltung einer zweiten unabhängigen Stelle vor Abschluss des behördlichen Verfahrens. Dies ist auch nicht deshalb unschädlich, weil ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen hätte, bei dem die vorherige Einschaltung einer „zuständigen Stelle“ entbehrlich gewesen wäre.
45 
a) Entgegen der Ansicht des Beklagten unterliegt die Beurteilung, ob von einem „dringender Fall“ i. S. von Art. 9 RL 64/221/EWG auszugehen ist, der gerichtlichen Überprüfung und ist nicht allein Sache der Verwaltung. In dem vom Beklagten für seine Auffassung herangezogenen Urteil des EuGH vom 05.03.1980 (Rs 98/79 , NJW 1980, 2630 ff.) heißt es zwar, dass durch das in Art. 9 RL 64/221/EWG vorgesehene Verfahren zur Prüfung und Stellungnahme den Gerichten nicht das Recht zur Prüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme zur Entfernung aus dem Hoheitsgebiet habe verliehen werden sollen. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Prüfung auch nach nationalem Recht nicht zu erfolgen hat. Das verdeutlicht der Gerichtshof im Übrigen in derselben Entscheidung dadurch, dass er für die Ausübung derartiger Befugnisse durch die einzelstaatlichen Gerichte auf Art. 8 RL 64/221EWG und damit auf die nationale Rechtsordnung verweist. Nach der deutschen Rechtsordnung unterliegen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm grundsätzlich der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle, ohne dass eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Bewertungen besteht. Dies gilt auch für Prognoseentscheidungen wie z.B. die Beurteilung einer polizeirechtlichen Gefahr oder der Wiederholungsgefahr im Ausländerrecht. Eine Ausnahme von der eigenständigen Beurteilungspflicht der Verwaltungsgerichte muss sich aus dem jeweiligen materiellen Recht eindeutig ergeben, was hier nicht der Fall ist (vgl. zu dem Problemkreis etwa Kuntze in Bader u.a., VwGO, 3. Aufl., § 114 Rn. 30 ff.).
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Die Auffassung, die Überprüfung der Dringlichkeit einer Maßnahme sei allein Sache der Verwaltung, ist im übrigen nach der eigenen Rechtsprechung des EuGH überholt. Der EuGH hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 29.04.2004 (verb. Rs. C 482/01 und C 493/01 , NVwZ 2004, 1099 ff.) nicht wieder aufgegriffen und hat in seinem Urteil vom 02.06.2005 (, a.a.O., Rn. 56) das Vorliegen eines dringenden Falles selbst geprüft und ausdrücklich verneint (vgl. dazu auch Gutmann, GK zum AufenthG, Bd. 5, IX-1 Art. 14 Rn. 124.6). Auch das Bundesverwaltungsgericht geht von einer vollen gerichtlichen Überprüfung der Dringlichkeit der Maßnahme aus. So hat es in seinem Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) Kriterien zur Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Begriffs des „dringenden Falls“ entwickelt und die Rechtssache zur erneuten Überprüfung an Hand dieser Kriterien an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
47 
b) Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner o.g. Entscheidung ausgeführt, das Merkmal der Dringlichkeit sei als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit „besonders eng auszulegen“. Ein dringender Fall könne sich daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ergeben, sondern könne erst dann angenommen werden, wenn ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten sei. Ein dringender Fall komme demnach nur in Betracht, wenn die begründete Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Dann sei auch eine Verzögerung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles ähnelten damit den Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa in BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 2 BvR 485/05 -, NVwZ 2005, 1053). Ein dringender Fall sei danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet habe und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt werde. Vielmehr müsse ein besonderes öffentliches Interesse daran festgestellt sein, das „Hauptverfahren“ nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer „weiteren, unmittelbar drohenden erheblichen Gefährdung“ der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen. Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen sei, müsse nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentlichen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung sei hierbei vorrangig die Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese werde in der Regel entfallen, wenn und solange der Ausländer sich in Haft befinde. Die Annahme eines dringenden Falles komme unter solchen Umständen nur für den Fall in Frage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden solle. Zu berücksichtigen sei ferner, ob die Ausländerbehörde selbst den Fall als dringlich erachte und behandele. Die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordne oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch mache.
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c) Nach dieser Rechtsprechung, der auch der Senat im Grundsatz folgt, ist ein dringender Fall entgegen der Auffassung des Beklagten nicht schon dann - gewissermaßen als Automatismus - anzunehmen, wenn wie im vorliegenden Fall die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet wurde. Die in diesem Zusammenhang vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des 13. Senats des erkennenden Gerichtshofs (Beschlüsse vom 22.03.2004 - 13 S 585/04 -, InfAuslR 2004, 284 ff., und vom 26.08.2005 - 13 S 1482/05 -) dürfte durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überholt sein. Insgesamt ergibt sich bei der - auch nach Ansicht des Senats gebotenen - besonders engen Auslegung, dass ein dringender Fall grundsätzlich erst dann angenommen werden kann, wenn wegen der vom Ausländer ausgehenden Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten ist. Die vom Ausländer ausgehende Gefahr entfällt in der Regel, wenn und solange er sich in Haft befindet. Davon sind wiederum Ausnahmen in den Fällen denkbar, in denen konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von Straftaten in der Haft vorliegen bzw. der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll und die Einschaltung einer zweiten Verwaltungsstelle - auch bei der gebotenen zügigen Bearbeitung - nicht durchführbar ist. Zu beachten ist dabei allerdings auch, dass bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einem zu erwartenden Absehen von der Strafvollstreckung durch die Vollstreckungsbehörde nach § 456a StPO (etwa nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Dritteln einer gegen den Ausländer verhängten zeitigen Freiheitsstrafe) der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und diese den Termin nicht so festlegen darf, dass die dem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen grundsätzlich zustehenden Verfahrensgarantien unterlaufen werden, ohne dass eine besondere Gefahrensituation vorliegt.
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Fraglich ist, wie - insbesondere in Haftfällen - die Erwägung des Bundesverwaltungsgerichts zu verstehen ist, ein dringender Fall komme (nur) in Betracht, wenn die Besorgnis bestehe, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich schon vor Abschluss des „Hauptverfahrens“ realisieren. Mit „Hauptverfahren“ dürfte wohl das gerichtliche Hauptsache verfahren (vgl. auch den 3. Leitsatz zum Urteil vom 13.09.2005, a.a.O., wo vom „gerichtlichen Hauptverfahren“ die Rede ist). Nach dem Sinn und Zweck der Regelung in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, vor der behördlichen Ausweisungsentscheidung grundsätzlich eine Überprüfung durch eine zweite unabhängige Stelle zu gewährleisten, unddavon in dringenden Fällen eine Ausnahme zuzulassen, kann es nach Ansicht des Senats bei der Dringlichkeitsprüfung aber nur darauf ankommen, ob eine Verzögerung durch die Einschaltung einer zweiten Stelle hinnehmbar ist oder die Gefahr besteht, dass sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens einschließlich des Kontrollverfahrens bei der anderen Stelle realisiert. Dies gilt umso mehr, als auch im Anschluss an die Einschaltung einer zweiten Stelle noch eine Ausweisungsentscheidung mit Sofortvollzug ergehen kann. Die aufgeworfene Frage ist insbesondere in den Fällen von Bedeutung, in denen der Ausländer sich in Haft befindet und vor seiner bevorstehenden Entlassung oder seiner beabsichtigten Abschiebung aus der Haft noch ausreichend Zeit besteht, eine Überprüfung der Ausweisungsentscheidung durch eine zweite Stelle vornehmen zu lassen. Wenn nicht ersichtlich ist, dass in diesem Zeitraum vom Ausländer eine erhebliche Gefahr ausgeht, liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines dringenden Falles nach Auffassung des Senats nicht vor. Auf die Frage, ob sich die vom Ausländer ausgehende Gefahr vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens realisiert, kommt es dann nur für die Entscheidung über die Anordnung des Sofortvollzuges an, deren Voraussetzungen aber - wie das Bundesverwaltungsgericht selbst ausgeführt hat - nicht identisch sind mit denen der besonderen Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Gegenstand der Dringlichkeitsprüfung nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ist vielmehr ausschließlich das „Hauptverfahren“ auf Verwaltungsebene einschließlich der Kontrollentscheidung der „anderen Stelle“.
50 
d) Ebenso wie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil ist auch der Senat der Auffassung, dass es für die Beurteilung, ob ein „dringender Fall“ i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorliegt, auf die Sachlage zu dem Zeitpunkt ankommt, zu dem die Behörde ihre Ausweisungsentscheidung zu treffen hat.
51 
Bereits die Verwendung der Gegenwartsform im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie („ … trifft die Verwaltungsbehörde …“) legt es nahe, für die Beurteilung eines „dringenden Falles“ auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung abzustellen. Die Tatsache, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dievorherige Einschaltung einer zuständigen Stelle vor der Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, d.h. vor Erlass der Ausweisungsverfügung, voraussetzt, spricht ebenfalls für eine solche Auslegung (ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ). Schließlich dient eine solche Auslegung auch der Verfahrenssicherheit, da sich allein aus der Beurteilung der Dringlichkeit bei Erlass der Ausweisungsverfügung ergibt, welches Verfahren im Einzelfall einzuhalten ist, d.h. ob vor dem Erlass noch eine zweite Stelle einzuschalten ist oder nicht.
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Diese Auslegung führt entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Hinblick auf die Regelung in § 456a Abs. 1 StPO nicht zu sachwidrigen Ergebnissen. Nach dieser Vorschrift kann die Vollstreckungsbehörde u.a. von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen, wenn der Verurteilte ausgewiesen wird. Der Beklagte trägt in diesem Zusammenhang sinngemäß vor, zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung stehe noch nicht fest, ob und wann der Ausländer aus der Haft abgeschoben werden könne (mithin nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein dringender Fall anzunehmen sei), da die Vollstreckungsbehörde eine Entscheidung nach § 456a StPO erst treffe, nachdem die Ausweisung erfolgt und der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig sei.
53 
Dieses vom Beklagten geschilderte Prozedere erscheint dem Senat aber nicht zwingend. Die Vollstreckungsbehörde kann unter den Voraussetzungen des § 456a StPO nach ihrem Ermessen auf Antrag oder von Amts wegen ganz oder teilweise von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe absehen. Nach den für das Land Baden-Württemberg dazu erlassenen Richtlinien (AV d. JuM vom 17. Oktober 1996 - Die Justiz S. 500) prüft die Vollstreckungsbehörde von Amts wegen, ob von der Vollstreckung abzusehen ist. Sie setzt sich hierzu mit der Ausländerbehörde in Verbindung, um festzustellen, ob gegen den Verurteilten eine Ausweisungsverfügung ergangen ist oder ob mit dem Erlass einer solchen Verfügung gerechnet werden kann (Ziffer III 2. a der Richtlinien). Die Maßnahme nach § 456a StPO wird regelmäßig bereits unmittelbar nach Rechtskraft bei Einleitung der Vollstreckung und ohne Rücksicht darauf getroffen werden können, ob bereits eine Ausweisungsverfügung vorliegt (Ziffer III 2 b Satz 1). In jedem Fall soll die Maßnahme nach § 456a StPO so frühzeitig angeordnet werden, dass die u.a. zur Ausweisung notwendigen Vorbereitungen der Ausländerbehörde rechtzeitig getroffen werden können (Ziffer III 2 b Satz 2). In der Regel ist nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe von der weiteren Vollstreckung abzusehen; bei besonderen, in der Tat oder der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder zur Verteidigung der Rechtsordnung kann nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit von der weiteren Vollstreckung abgesehen werden (Ziffer III 1. c).
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Daraus ergibt sich für den Senat, dass auch schon vor Erlass einer Ausweisungsverfügung eine Entscheidung nach § 456a StPO möglich und nach den o.g. Richtlinien sogar geboten ist. Sollte diese trotz entsprechender Bemühungen bei der Strafvollstreckungsbehörde dennoch nicht erwirkt werden können, wird man möglicherweise eine Prognoseentscheidung auf der Basis einer zu erwartenden Freigabe nach der Hälfte bzw. zwei Dritteln der verhängten Strafe ausreichen lassen können. Zu berücksichtigen ist aber auch hier, dass selbst bei einer beabsichtigten Abschiebung aus der Haft und einer zu erwartenden Freigabeentscheidung nach § 456a StPO der konkrete Abschiebungstermin regelmäßig durch die Ausländerbehörde selbst bestimmt wird und insoweit eine Abschiebung vor Einschaltung einer zweiten Stelle häufig nicht zwingend ist.
55 
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem o.g. Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Dringlichkeit nicht ausdrücklich entschieden. Zwar führt auch das Bundesverwaltungsgericht in diesem Urteil aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „ … wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird“ und beendet seine diesbezüglichen Ausführungen mit der Feststellung, dass ein Verstoß - vorbehaltlich des Vorliegens eines dringenden Falles - zu einem unheilbaren Verfahrensfehler führt (Rn. 13 a.E. des amtl. Urteilsabdrucks). Diese Ausführungen sprechen ebenfalls dafür, maßgeblich auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung abzustellen und später eintretende Veränderungen unberücksichtigt zu lassen. In seinen weiteren Erwägungen (vgl. Rn. 19 des Abdrucks) ermöglicht das Bundesverwaltungsgericht allerdings (auch) die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung, etwa indem es ausführt, die Annahme eines dringenden Falles scheide aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibe und von der Anordnung des Sofortvollzuges - ggf. nach gerichtlicher Bestätigung - nicht unverzüglich Gebrauch mache. Insoweit dürfte es sich allerdings eher um einen Fall widersprüchlichen Verhaltens handeln, der eine Berufung auf das Vorliegen eines dringenden Falles durch die Behörde als unzulässig erscheinen lassen kann.
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d) Wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, lag zum danach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe über die Ausweisung des Klägers ein „dringender Fall“, der ausnahmsweise die Einschaltung einer zweiten Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG entbehrlich gemacht hätte, nicht vor. Die Ausweisungsverfügung ist damit unter Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften ergangen.
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Für die Annahme eines dringenden Falles sprach zwar, dass der Kläger eine besonders schwerwiegende Betäubungsmittelstraftat mit „harten“ Drogen begangen und dabei - wie auch vom Strafgericht zu Recht betont - eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt hat. Das Regierungspräsidium hat das Verfahren auch zügig betrieben (nach Eingang des rechtskräftigen Strafurteils am 20.09.2004 erging bereits am 12.10.2004 die Ausweisungsverfügung) und seinerseits den Sofortvollzug angeordnet. Im Ergebnis zu Recht ist das Regierungspräsidium bei seiner Entscheidung auch davon ausgegangen, dass im Falle des Klägers mit einer Freigabeentscheidung gemäß § 456a StPO nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe gerechnet werden konnte und eine Abschiebung aus der Haft in Frage kam.
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Diese Gesichtspunkte reichen jedoch nicht aus, im Falle des Klägers eine besondere Dringlichkeit zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung zu begründen.
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Wie dargelegt ist diese Merkmal als Ausnahme vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders eng auszulegen und erfordert eine Situation, bei der wegen der vom Ausländer unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr ein weiteres Zuwarten mit der Ausweisung bzw. deren Vollzug nicht zu verantworten ist. Diese engen Voraussetzungen waren beim Kläger nicht gegeben. Der Kläger war zu einer viereinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden und befand sich seit dem 09.02.2003 in Strafhaft. Selbst eine Freigabeentscheidung nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Haftstrafe (deren Erteilung zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung allerdings keineswegs feststand), war frühestens zum 09.05.2005 zu erwarten; konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Freigabe bereits vor diesem Termin lagen nicht vor. Es stand mithin bei Erlass der Ausweisungsentscheidung vom 12.10.2004 bis zu einer eventuell möglichen Abschiebung aus der Haft (die ihrerseits nicht zwingend unmittelbar nach Freigabe zu erfolgen hatte) noch ein Zeitraum von sieben Monaten zur Verfügung. Nach Auffassung des Senats ist ein solcher Zeitraum - unter Berücksichtigung der grundsätzlich bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien und der gebotenen zügigen Bearbeitung - ausreichend, eine beabsichtigte Ausweisungsverfügung durch eine zweite Verwaltungsstelle überprüfen zu lassen. Zu berücksichtigen war schließlich auch, dass im vorliegenden Fall die persönlichen Belange des Klägers (insbesondere sein lang dauernder Aufenthalt in der Bundesrepublik, davon seit 1997 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, sowie sein Umgangsrecht mit seinem 1993 hier geborener Sohn) ein nicht unerhebliches Gewicht haben. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund die bloß abstrakte Möglichkeit, der Kläger könne in der Strafhaft weitere Straftaten begehen, keine andere rechtliche Beurteilung rechtfertigt.
60 
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat noch darauf hin, dass im vorliegenden Fall die Rechtsauffassung des Beklagten, für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei (ebenso wie bei der Beurteilung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen, vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, NVwZ 2005, 224 ff.) auf die Sachlage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, wohl nicht zu einem anderen Ergebnis führen dürfte. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (29.06.2006) war der Kläger auf Grund des Beschlusses des Landgerichts Köln vom 02.03.2006 über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aus der Haft entlassen worden. Damit kommt eine Abschiebung aus der Haft nicht mehr in Betracht. Der Entscheidung des Landgerichts lag ein klinisch-forensisches Fachgutachten vom 06.02.2006 zu Grunde, welches zu dem Ergebnis gekommen war, beim Kläger bestehe keine Gefahr mehr, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Ungeachtet der Tatsache, dass dieses im Strafverfahren erstellte und dort auch unter Resozialisierungsgesichtspunkten zu verstehende Gutachten möglicherweise bei der Beurteilung einer qualifizierten Wiederholungsgefahr als materielle Ausweisungsvoraussetzung einer kritischen Würdigung zu unterziehen wäre (zumal das Gutachten davon ausging, dass der Kläger nach Haftentlassung über eine Arbeitsstelle verfüge, wohingegen die mündliche Verhandlung vor dem Senat ergeben hat, dass er arbeitslos ist), dürfte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine unmittelbar drohende erhebliche Gefahr als Voraussetzung für eine besondere Dringlichkeit schwerlich zu begründen sein.
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Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt sei ferner darauf hingewiesen, dass die vom Regierungspräsidium in der angefochtenen Verfügung enthaltene Erwägung, eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung sei (auch) aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt, wohl nicht tragfähig sein dürfte, auch wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Ausweisungsentscheidung als solcher, sondern (nur) im Zusammenhang mit der Anordnung des Sofortvollzuges steht. Bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen ist bei Beschränkungen der Freizügigkeit zur Gefahrenabwehr nur auf die auf Grund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen vorliegende Gefährdung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, a.a.O.). Es spricht einiges dafür, dass dies auch im Hinblick auf die Begründung des Sofortvollzuges (d.h. die sofortige Aufenthaltsbeendigung und damit unmittelbare Beschränkung der Freizügigkeit) gelten dürfte.
62 
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt eine Heilung des Verfahrensmangels nach § 46 LVwVfG nicht in Betracht.
63 
Nach § 46 LVwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, ein eventueller Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei nach § 46 LVwVfG letztlich unbeachtlich, da die Stellungnahme einer im Vorfeld der Maßnahme zu beteiligenden Stelle angesichts der massiven kriminellen Energie des Antragstellers unter Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen die Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe im Ergebnis offensichtlich nicht hätte beeinflussen können.
64 
a) Fraglich ist bereits, ob § 46 LVwVfG auf die Verletzung von gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften Anwendung findet. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage in seinen Urteilen vom 13.09.2005 und 06.12.2005 (a.a.O.) nicht aufgeworfen, geht allerdings im Ergebnis - ohne nähere Begründung - von einem unheilbaren Verfahrensmangel aus.
65 
§ 46 LVwVfG findet keine Anwendung bei sog. absoluten Verfahrensfehlern (vg. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl., § 46 Rn. 18 m.w.N., Knack, VwVfG, 8. Aufl., § 46 Rn. 22). Dies ist bei einem Verstoß gegen solche Vorschriften anzunehmen, die nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs dienen, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325 ff., Rn. 25). Wegen des Erfordernisses effektiver, einheitlicher Wirkung des EU-Rechts in allen Mitgliedsländern (sog. „effet utile“, vgl. dazu etwa Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76) werden nach wohl überwiegender Meinung die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf Gemeinschaftsrecht beruhen, wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt mit der Folge, dass eine Heilung nach § 46 LVwVfG ausscheidet (ebenso Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 20; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. § 46 Rn. 9, § 45 Rn. 187; VG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2006 - 5 K 5146/04 -, ; z.T. a.A. Papier, DVBl 1993, 809 ff., 814). Für diese Auffassung spricht auch, dass die Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Heilung von Verfahrensmängeln von äußerster Zurückhaltung geprägt ist (vgl. dazu ausführlich Wahl, DVBl. 2003, 1285 ff, 1290, und Kment, ArchöR 2005, 571 ff., 584, 612, jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH). Es zeigt sich darin ein vom deutschen Verwaltungsverfahrensrecht grundlegend abweichendes Verständnis vom Verwaltungsverfahren in dem Sinn, dass Verfahrensregelungen nicht nur der wirksamen Durchsetzung materiellen Rechts dienen, sondern zugleich auch eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung bieten sollen.
66 
b) Im Ergebnis kann die Frage der Anwendbarkeit des § 46 VwVfG auf gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften aber offen bleiben, denn selbst seine Anwendbarkeit unterstellt würde er im vorliegenden Fall nicht zu einer Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führen. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nämlich nach § 46 LVwVfG nur dann unbeachtlich, wenn „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.“ Eröffnet das materielle Recht im konkreten Einzelfall Ermessen, so ist im Regelfall nicht auszuschließen, dass sich die Verletzung der in § 46 LVwVfG genannten Vorschriften auf die Entscheidung in der Sache ausgewirkt hat. Deswegen sind in diesen Fällen Fehler grundsätzlich relevant (vgl. Kopp-Ramsauer, a.a.O., § 46 Rn. 32 m.w.N.; Stelkens/Bonk/Sachs, a.a.O., § 46 Rn. 66).
67 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O.) dürfen türkische Staatsangehörige, die - wie der Kläger - ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nach den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen nur auf der Grundlage einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung gemäß §§ 45, 46 AuslG ausgewiesen werden. Der Senat hat seine gegenteilige Auffassung, es lasse sich dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nicht entnehmen, dass freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger - und entsprechend assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - ausschließlich im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden dürfen (vgl. etwa Senatsurteil vom 28.11.2002 - 11 S 1270/02 -, VBlBW 2003, 289 f.; ebenso zuletzt Renner, ZAR 2005, 295 ff.) im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung aufgegeben. Nach der o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind bei der zu treffenden Ermessensentscheidung neben der Art und Schwere der begangenen Straftat die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu berücksichtigen und die privaten Belange des Betroffenen umfassend abzuwägen. Hat der Betroffene Ausweisungsgründe nach §§ 53, 54 AufenthG (ehemals § 47 Abs. 1 und 2 AuslG - sog. Ist- oder Regelausweisungstatbestände -) verwirklicht, darf dies zwar in die Abwägung einbezogen werden, jedoch nicht im Sinne einer Regelvermutung oder sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist auch hier stets auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
68 
Bei einer danach für die Ausweisung des Klägers erforderliche Ermessensentscheidung unter umfassender Berücksichtigung einer Vielzahl von Gesichtspunkten und ohne isolierte Betrachtung der Art und Schwere der vom Kläger verwirklichten Straftat kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass eine zweite Stelle zu einer anderen Entscheidung in der Sache gekommen wäre. Unter diesen Umstände scheidet eine Heilung des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG nach § 46 LVwVfG aus.
69 
5. Eine Heilung des Verfahrensverstoßes nach § 45 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 LVwVfG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Nach den genannten Vorschriften ist die Verletzung von Verfahrensvorschriften unbeachtlich, wenn die erforderliche Mitwirkung einer anderen Behörde bis zum Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird. Bereits der Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeitvor der Ausweisungsentscheidung sicherzustellen, sprechen dagegen, die fehlende Prüfung durch eine zweite zuständige Stelle im Laufe des Gerichtsverfahrens noch nachholen zu können. Auch das o.g. gemeinschaftsrechtliche Prinzip des „effet utile“ dürfte der nachträglichen Heilung auf Grund nationaler Verfahrensvorschriften entgegenstehen. Der Senat hat vor diesem Hintergrund keine Veranlassung gesehen, das Rechtsmittelverfahren etwa entsprechend § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen, um Gelegenheit zur Nachholung der fehlenden Prüfung zu geben. Auch von der Beklagten wurde während des anhängigen Verfahrens nicht nachträglich eine zweite zuständige Stelle eingeschaltet. Eine solche Möglichkeit ist auch zwischenzeitlich entfallen, da die Änderung der AAZuVO vom 04.10.2005 (GBl. S. 678), mit der in § 10 Abs. 7 für Ausweisungsentscheidungen des Regierungspräsidiums Karlsruhe das Regierungspräsidium Freiburg als zweite zuständige Stelle i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bestimmt wurde, mit Ablauf des 30.04.2006 wieder außer Kraft getreten ist.
III.
70 
Die unter Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ergangene Ausweisungsverfügung des Klägers wird nicht dadurch rechtmäßig, dass - nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens - die RL 64/221/EWG durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - , a.a.O., und - 1 C 30.02 -, NVwZ 2005, 220 ff.) für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Denn dieser Zeitpunkt ist (nur) für die Überprüfung der materiellen Voraussetzungen der Ausweisung maßgeblich, nicht aber dafür, welches Verfahrensrecht im Verwaltungsverfahren anzuwenden ist.
71 
1. Gemäß Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (sog. Freizügigkeitsrichtlinie, im Folgenden RL 2004/38/EG; ABl. L 229/35 vom 29.06.2005, in Kraft getreten am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, vgl. Art. 41;) ist die RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden. Damit ist zum 30.04.2006 auch Art. 9 Abs. 1 der RL 64/221/EWG entfallen.
72 
a) Ob und in welchen Teilen die neue Richtlinie, die nach ihrem Wortlaut nur für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen gilt und anders als die Richtlinie 64/221/EWG nicht nur Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, enthält, auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar ist, ist bisher ungeklärt (offen gelassen von Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -; bzgl. der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 Abs. 3 verneint, bzgl. Art. 30 Abs. 3 bejaht von VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.; aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der RL 2004/38/EG vgl. auch folgende Entscheidungen, die sich im Wesentlichen mit einer evt. Vorwirkung und der Geltung der materiell-rechtlichen Grundsätze des Art. 28 beschäftigen: Hess. VGH, Beschluss vom 02.05.2005 - 12 TG 1205/05 -, InfAuslR 2005, 295 ff.; Nieders. OVG, Beschlüsse vom 06.06.2005 - 11 ME 39,05, NVwZ-RR 2005, 654 f. und vom 05.10.2005 - 11 ME 247/04 -, InfAuslR 2005, 453 ff.; zum Ganzen s. auch Gutmann, Die neue Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG und ihr Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80, InfAuslR 2005, 401 ff.). Für die Anwendung zumindest der Verfahrensvorschriften könnte sprechen, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die im Rahmen des Art. 39 geltenden Grundsätze über die Freizügigkeit der Unionsbürger so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden sollen (vgl. zuletzt Urteil vom 11.11.2004 , InfAuslR 2005, 13 ff.) und die verfahrensrechtlichen Garantien untrennbar mit dem materiellen Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit verbunden sind (vgl. Urteil vom 02.06.2005, a.a.O., Rn. 67).
73 
b) Die in der RL 2004/38/EG enthaltenen Verfahrensvorschriften verlangen jedenfalls nicht (mehr) die Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde vor Abschluss des behördlichen Verfahrens (ebenso Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006, a.a.O.). Nach der Richtlinie ist lediglich erforderlich, dass gegen eine Ausweisungsentscheidung „ein Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedsstaates eingelegt werden kann (Art. 31 Abs. 1). Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen; dabei ist zu gewährleisten, dass die Entscheidung insbesondere (im Hinblick auf die gemäß Art. 28 Abs. 1 zu berücksichtigenden Gesichtspunkte) nichtunverhältnismäßig ist.
74 
Aus alledem ergibt sich die Erforderlichkeit eines behördlichen „Vier-Augen-Prinzips“ nicht mehr, so dass es ab dem 01.05.2006 gemeinschaftsrechtlich unbedenklich sein dürfte, wenn das Widerspruchsverfahren gesetzlich ausgeschlossen ist. Durch den gerichtlichen Rechtsschutz (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes, vgl. dazu Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie), der in Deutschland entsprechend den o.g. Vorgaben eine umfassende Prüfung der tatsächlichen Grundlagen der Ausweisungsentscheidung sowie der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme beinhaltet, wird den gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien genügt (Dass die vom Gemeinschaftsrecht geforderte rechtliche Prüfungsdichte in Deutschland durch die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang garantiert werde, war vom Senat bereits unter der Geltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG angenommen worden - vgl. Senatsurteil vom 21.07.2004 - 11 S 535/04 -, a.a.O.; er hat diese Rechtsprechung aber im Hinblick auf die Entscheidungen des BVerwG vom 13.09.2005 und 06.10.2005, (a.a.O.) aufgegeben, vgl dazu unter II. 2. ).
75 
2. Die Tatsache, dass damit ab dem 01.05.2006 das gemeinschaftsrechtliche Erfordernis der Nachprüfung einer Ausweisungsentscheidung durch eine zweite behördliche Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) ersatzlos weggefallen ist, führt allerdings nicht dazu, dass die gegen den Kläger unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG erlassene Ausweisungsverfügung nunmehr als rechtmäßig anzusehen wäre. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung des Beklagten auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), wonach für die gerichtliche Überprüfung von Ausweisungen von Unionsbürgern sowie von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist.
76 
a) Ob und inwieweit eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretene Veränderung der Sach- oder Rechtslage das Urteil über die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beeinflusst, ist keine Frage des Prozessrechts-, sondern des zu Grunde liegenden materiellen Rechts (vgl. ausführlich zur maßgeblichen Sach- und Rechtslage etwa Kopp/Schenke, 14. Aufl., § 113, Rn. 34 ff. und Rn. 47 ff., und Kleinlein, Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten, VerwArch 1990, 149 ff., jeweils m.w.N.).
77 
Die o.g. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruht auf der Anwendung materiellen Gemeinschaftsrechts über die Voraussetzungen der Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern bzw. assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 29.04.2004 , a.a.O.), wonach Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG einer innerstaatlichen Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte nicht verpflichtet sind, bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen einen Angehörigen eines anderen Mitgliedsstaates verfügten Ausweisung einen Sachvortrag zu berücksichtigen, der nach der letzten Behördenentscheidung erfolgt ist und der den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen kann. Da die Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit nach Art. 39 EG eng auszulegen seien, müssten die Voraussetzungen der gegenwärtigen Gefährdung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein, zu dem die Ausweisung erfolge. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Auslegung des materiellen Gemeinschaftsrechts gefolgt und hat - möglicherweise sogar darüber hinausgehend - entschieden, dass für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger bzw. assoziationsberechtigter Türken in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nunmehr insgesamt der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sei. Aus dem Erfordernis, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung grundsätzlich zu dem Zeitpunkt bestehen müsse, zu dem die Ausweisung erfolge, ergebe sich darüber hinaus, dass entscheidungserhebliche neue Tatsachen umfassend zu berücksichtigen seien.
78 
c) Aus dieser zu den materiellen Ausweisungsvoraussetzungen ergangenen Rechtsprechung lässt sich nichts dafür herleiten, dass eine ursprünglich unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften von der Behörde rechtswidrig erlassene Ausweisungsverfügung durch eine spätere Änderung der Verfahrensvorschriften nachträglich als rechtmäßig zu behandeln wäre (a.A., allerdings ohne nähere Begründung, Nieders. OVG, Urteil vom 16.05.2006 - 11 LC 324/05 -). Ob ein behördlicher Verfahrensfehler vorliegt, der zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung führt, richtet sich vielmehr nach dem während des Verwaltungsverfahrens geltenden Verfahrensrecht, mithin nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.
79 
Die (Übergangs-)Regelung in Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG bestimmt, dass die RL 64/221/EWG (erst) zum 30.04.2006 und damit nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden soll. Bereits dies spricht dagegen, dass die Regelungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG durch das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG auch für ergangene Ausweisungsentscheidungen überholt sind (ebenso VG Sigmaringen, Urteil vom 14.07.2005 - 4 K 743/03 - ).
80 
Darüber hinaus entspricht es allgemeinen, aus dem Wesen und der Funktion des Rechts hergeleiteten Grundsätzen, dass neue Rechtsnormen grundsätzlich für die Zukunft gelten, sofern nicht spezielle Übergangsvorschriften ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Neues Verfahrensrecht gilt damit im Zweifel, d.h. mangels Vorliegens anders lautender Überleitungsvorschriften, vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an, und zwar i.d.R. (auch) für bereits anhängige, nicht jedoch für bereits abgeschlossene Verfahren oder Verfahrensabschnitte; letztere können nur nach dem im Zeitpunkt ihres Ergehens geltenden Recht beurteilt werden (vgl. dazu etwa Nieders. OVG, Urteil vom 15.03.2006 - 10 LB 7/06 -, m.w.N.; das Nieders. OVG bejaht in dieser Entscheidung die Anwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf vor dem Inkrafttreten der Norm - 01.01.2005 - in das Bundesgebiet eingereiste oder geborene Kinder, weil mit der Antragstellung das Verwaltungsverfahren erst eingeleitet werde; vgl. demgegenüber BverwG - Urteil vom 01.11.2005 - 1 C 21/04 -, InfAuslR 2006, 244 ff., wonach § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor dem 01.01.2005 ergangene Widerrufsentscheidungen, d.h. bereits abgeschlossene Verfahren, keine Anwendung findet). Ist ein belastender Verwaltungsakt unter Verletzung einer zur Zeit seines Erlasses geltenden Verfahrensvorschrift ergangenen und damit rechtswidrig, führt grundsätzlich der spätere Wegfall der Verfahrensvorschrift nicht zu einer Umwandlung eines rechtswidrigen in einen rechtmäßigen Verwaltungsakt (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 47, der davon spricht, dass der spätere Wegfall nicht eine „Metamorphose“ eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in einen rechtmäßigen bewirke). Allenfalls kann der Gesetzgeber (unter Beachtung verfassungsrechtlicher Grundsätze) die Verletzung der Verfahrensvorschrift für unbeachtlich erklären, wie dies etwa in §§ 45, 46 LVwVfG geschehen ist, mit der Folge, dass der Verwaltungsakt trotz seines rechtswidrigen Zustandekommens als rechtmäßig anzusehen ist (vgl. Kleinlein, a.a.O., S. 161). Die Voraussetzungen für eine Heilung nach §§ 45, 46 LVwVfG sind aber im vorliegenden Fall gerade nicht gegeben (vgl unter II. 4. und 5.).
81 
Im Ergebnis hat daher das Außerkrafttreten der RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 und das Inkrafttreten der RL 2004/38/EG zum 01.05.2006 keinen entscheidungserheblichen Einfluss auf die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 12.10.2004. Diese ist vielmehr wegen eines unheilbaren Verfahrensmangels vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben worden.
IV.
82 
Ob die Ausweisung auch gegen materielles Gemeinschaftsrecht verstößt, ob insbesondere zum diesbezüglich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch von einer qualifizierten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden kann und die Verfügung im übrigen den an eine Ermessensausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu stellenden Anforderungen genügt (vgl. dazu im einzelnen die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 und 1 C 30.02 -, a.a.O.), kann danach offen bleiben. Offen bleiben kann damit auch, ob das Regierungspräsidium im Hinblick auf das Umgangsrecht des Klägers mit seinem 1993 in der Bundesrepublik geborenen Sohn bei seiner Entscheidung die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG (vgl. dazu insbes. Kammerbeschluss des BVerfG vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122 ff.) ausreichend gewichtet hat.
V.
83 
Zu Recht ist das Verwaltungsgericht schließlich davon ausgegangen, dass bei einer Aufhebung der Ausweisung auch die Abschiebungsandrohung keinen Bestand haben kann.
VI.
84 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
VII.
85 
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das Außerkrafttreten des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zum 30.04.2006 auf in der Vergangenheit unter Verstoß gegen diese Vorschrift erlassene Ausweisungsverfügungen von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen hat, gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Die Frage ist vom Bundesverwaltungsgericht bisher nicht geklärt; das Nieders. OVG hat in seinem - noch unveröffentlichten - Urteil vom 16.05.2006 (11 LC 324/05) eine von der Ansicht des zulassenden Gerichtshofs abweichende Rechtsauffassung vertreten; ebenso das VG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2006 - 24 L 2122/05 -, InfAuslR 2006, 263 ff.). Zwar handelt es sich bei Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG um außer Kraft getretenes Recht; die aufgeworfene Frage ist aber angesichts der Vielzahl der unter der Geltung dieser Vorschrift erlassenen und noch nicht bestandkräftig gewordenen Ausweisungen für einen nicht überschaubaren Personenkreis auf unabsehbare Zeit noch von Bedeutung; darüber hinaus kann die Frage auch Bedeutung haben für die Vielzahl der bei den Ausländerbehörden und Gerichten bereits anhängigen - sowie ggf. noch zu erwartenden - Verfahren auf Wiederaufgreifen von gemeinschaftsrechtswidrig erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsverfügungen (zur Zulassung der Revision bei auslaufendem oder außer Kraft getretenen Recht vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 24.10.1994 - 9 B 83.94 - , DVBl 1995, 569, und vom 20.10.1995 - 6 B 35/95 -, NVwZ-RR 1996, 712, jeweils m.w.N.). Das Revisionsverfahren bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Frage des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Dringlichkeit i.S.d. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu klären sowie die entstandenen Unklarheiten im Zusammenhang mit der Verwendung des Begriffes „Hauptverfahren“ im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.09.2005 (a.a.O.) zu beseitigen.
86 
Beschluss
87 
vom 29. Juni 2006
88 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt der nur im Zuge der Anfechtung einer Ausweisung angefochtenen Abschiebungsandrohung keine selbständige wirtschaftliche Bedeutung zu (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28.04.1982 - 1 B 38.82 -, InfAuslR 1982, 167 und vom 29.01.1982 - 1 B 1.92 -, BayVBl. 1982, 380). Das gilt unabhängig von der Relevanz des angedrohten Zielstaats oder des ausländerrechtlichen Status des Betroffenen (vgl. Beschluss des Senats vom 24.06.2004 - 11 S 1168/04 -) und ungeachtet dessen, dass bei der Anfechtung einer isolierten Abschiebungsandrohung der volle Regelstreitwert anzusetzen ist.
89 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (BGBl. 1964 II S. 509) (Assoziationsabkommen EWG/Türkei) ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als

1.
Visum im Sinne des § 6 Absatz 1 Nummer 1 und Absatz 3,
2.
Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
2a.
Blaue Karte EU (§ 18b Absatz 2),
2b.
ICT-Karte (§ 19),
2c.
Mobiler-ICT-Karte (§ 19b),
3.
Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder
4.
Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU (§ 9a).
Die für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Rechtsvorschriften werden auch auf die Blaue Karte EU, die ICT-Karte und die Mobiler-ICT-Karte angewandt, sofern durch Gesetz oder Rechtsverordnung nichts anderes bestimmt ist.

(2) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.

(1) Ein Ausländer, gegen den eine Ausweisungsverfügung auf Grund eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a besteht, unterliegt der Verpflichtung, sich mindestens einmal wöchentlich bei der für seinen Aufenthaltsort zuständigen polizeilichen Dienststelle zu melden, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt. Eine dem Satz 1 entsprechende Meldepflicht kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

1.
vollziehbar ausreisepflichtig ist und ein in Satz 1 genanntes Ausweisungsinteresse besteht oder
2.
auf Grund anderer als der in Satz 1 genannten Ausweisungsinteressen vollziehbar ausreisepflichtig ist und die Anordnung der Meldepflicht zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich ist.

(2) Sein Aufenthalt ist auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, soweit die Ausländerbehörde keine abweichenden Festlegungen trifft.

(3) Er kann verpflichtet werden, in einem anderen Wohnort oder in bestimmten Unterkünften auch außerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde zu wohnen, wenn dies geboten erscheint, um

1.
die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden und die Einhaltung vereinsrechtlicher oder sonstiger gesetzlicher Auflagen und Verpflichtungen besser überwachen zu können oder
2.
die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden.

(4) Um die Fortführung von Bestrebungen, die zur Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 2 bis 5, zu einer Anordnung nach Absatz 1 Satz 2 Nummer 1 oder zu einer Abschiebungsanordnung nach § 58a geführt haben, zu erschweren oder zu unterbinden, kann der Ausländer auch verpflichtet werden, zu bestimmten Personen oder Personen einer bestimmten Gruppe keinen Kontakt aufzunehmen, mit ihnen nicht zu verkehren, sie nicht zu beschäftigen, auszubilden oder zu beherbergen und bestimmte Kommunikationsmittel oder Dienste nicht zu nutzen, soweit ihm Kommunikationsmittel verbleiben und die Beschränkungen notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwehren. Um die wiederholte Begehung erheblicher Straftaten, die zu einer Ausweisung nach § 54 Absatz 1 Nummer 1 geführt haben, zu unterbinden, können Beschränkungen nach Satz 1 angeordnet werden, soweit diese notwendig sind, um eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit oder für Leib und Leben Dritter abzuwenden.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen 1 bis 4 ruhen, wenn sich der Ausländer in Haft befindet. Eine Anordnung nach den Absätzen 3 und 4 ist sofort vollziehbar.

(1) Das Urteil ergeht "Im Namen des Volkes". Es ist schriftlich abzufassen und von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterzeichnen. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies mit dem Hinderungsgrund vom Vorsitzenden oder, wenn er verhindert ist, vom dienstältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der ehrenamtlichen Richter bedarf es nicht.

(2) Das Urteil enthält

1.
die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren,
2.
die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben,
3.
die Urteilsformel,
4.
den Tatbestand,
5.
die Entscheidungsgründe,
6.
die Rechtsmittelbelehrung.

(3) Im Tatbestand ist der Sach- und Streitstand unter Hervorhebung der gestellten Anträge seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt darzustellen. Wegen der Einzelheiten soll auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden, soweit sich aus ihnen der Sach- und Streitstand ausreichend ergibt.

(4) Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war, ist vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übermitteln. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übermitteln; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln.

(5) Das Gericht kann von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es der Begründung des Verwaltungsakts oder des Widerspruchsbescheids folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

(6) Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat auf dem Urteil den Tag der Zustellung und im Falle des § 116 Abs. 1 Satz 1 den Tag der Verkündung zu vermerken und diesen Vermerk zu unterschreiben. Werden die Akten elektronisch geführt, hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle den Vermerk in einem gesonderten Dokument festzuhalten. Das Dokument ist mit dem Urteil untrennbar zu verbinden.

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. Oktober 2005 - 6 K 3901/04 - abgeändert; der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29. September 2004 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4. März 1998 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im übrigen werden die Klage und die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Kläger 1/3 und der Beklagte 2/3.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger und im Jahr 1973 in Deutschland geboren, wo auch seine italienische Mutter, der italienische Stiefvater und seine Halbschwester leben. Er hat einen Hauptschulabschluss, ist aber ohne Beruf; begonnene Lehren wurden nicht zu Ende geführt. 1993 bezog er mit seiner damaligen deutschen Freundin - die er später heiratete - eine Wohnung; aus der Beziehung sind zwei Kinder hervorgegangen (geboren 1990 und 1995), deren Vaterschaften er anerkannte. Die ihm zuletzt erteilte befristete Aufenthaltserlaubnis nach dem Ausländergesetz (nicht nach dem AufenthaltsG/EWG), erteilt von der Stadt Stuttgart am 22.4.1996, endete am 22.10.1997; eine Verlängerung wurde nicht beantragt.
Seit 1988 wurde der Kläger im Bundesgebiet mehrfach straffällig und verurteilt. Es handelt sich zunächst u.a. um zahlreiche Diebstahlsdelikte, Urkundenfälschungen, mehrfaches Fahren ohne Fahrerlaubnis, Körperverletzung und Betrugsversuche; später (ab 1992) kamen hinzu: gemeinschaftlicher schwerer Raub, unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln, weitere Diebstähle und Fahren ohne Fahrerlaubnis, fahrlässige und vorsätzliche Straßenverkehrsgefährdung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und weitere Delikte (zuletzt Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten). Im Juli 1997 wurde der Kläger wegen gemeinschaftlichen Betrugs, gemeinschaftlicher Urkundenfälschung und zweier Diebstähle in besonders schwerem Fall zu einem Jahr und 3 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Im Oktober 1996 wurde der Kläger festgenommen und war anschließend in Haft; er flüchtete im Juli 1997 aus der Haftanstalt und wurde im Oktober 1997 erneut in Haft genommen.
Im Juni 1998 wurde er aufgrund einer Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 (Regelausweisung aus schwerwiegenden spezial- und generalpräventiven Gründen und Abschiebungsandrohung) nach Italien abgeschoben. Vor Erlass dieser Ausweisungsverfügung hatte der Kläger mit Schreiben vom 15.2.1998 erklärt:
„Im Schreiben vom 12.1.1998 sieht die Staatsanwaltschaft von der weiteren Vollstreckung der Strafe ab dem 13.6.1998 ab, wenn ich von der Grenzpolizei abgeschoben werde. Darum beantrage ich nun selber meine Abschiebung aus der BRD und ziehe hiermit meine Beschwerde vom 2.2.1997 zurück. Ich habe in der BRD nichts mehr zu suchen, da meine Freundin und meine beiden Kinder mit mir nach Italien gehen ...“
In der Begründung der Ausweisungsverfügung, gegen die der Kläger keinen Widerspruch erhob, war das Regierungspräsidium Stuttgart davon ausgegangen, dass der Kläger mangels Arbeitnehmereigenschaft, ausreichender Krankenversicherung und Existenzmitteln sowie aufgrund seiner Erklärung vom Februar 1998 nicht zu den freiheitsberechtigten Unionsbürgern gehöre. Eine atypische Fallgestaltung wurde verneint; Ermessen wurde nicht (auch nicht hilfsweise) ausgeübt.
Im November 1998 kam der Kläger nach Deutschland zurück; am 13.9.1999 wurde er erneut nach Italien abgeschoben. Im November 1999 reiste er wiederum in das Bundesgebiet ein; am 18.3.2000 kam er wieder in Haft. Er war erneut straffällig geworden (Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 4.8.2000: Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Diebstahls in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit, wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort in zwei Fällen, wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs sowie wegen schwerer räuberischer Erpressung). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB wurde angeordnet. Das Urteil wurde rechtskräftig. Der Maßregelvollzug (ab Juni 2001) in der ... in ... wurde abgebrochen, nachdem der Kläger im November 2001 mit zwei Mitpatienten von dort geflohen war; seit dem 19.12.2001 befindet er sich wieder in Strafhaft in der JVA Heilbronn.
Von 1993 bis ca. 2000 hatte der Kläger mit seinen Kindern und deren Mutter mit den oben genannten Unterbrechungen zusammengelebt; er heiratete die Mutter der Kinder im Jahr 1999 (19.8.1999) in der Strafhaft. Ab März 2000 bewohnte der Kläger mit zwei Mitbewohnern aus dem Drogenmilieu eine Zwei-Zimmer-Wohnung; er selbst war drogenabhängig und konsumierte Drogen aller Art, auch Heroin. Er ist mit HIV und Hepatitis C infiziert.
Der Sohn ... des Klägers (geb 1990) ist wegen Verhaltensauffälligkeit tagsüber in einem Heim untergebracht, die Tochter ... lebt bei der Mutter, zu der der Kläger keinen engen Kontakt mehr hat.
Der Kläger beantragte im April 2001 und erneut im Februar 2004, die Wirkungen seiner Ausweisung und Abschiebung zu befristen. Er machte geltend, er sei mit einer Deutschen verheiratet und habe auch zwei deutsche Kinder. Das Befristungsverfahren wurde im Einverständnis mit dem Kläger zunächst nicht betrieben, weil er erklärte, sich in Italien einer Drogentherapie unterziehen zu wollen. Im Mai 2004 beantragte der Kläger, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen, hilfsweise die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebungen mit sofortiger Wirkung zu befristen.
10 
Mit Verfügung vom 29.9.2004 lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung vom 4.3.1998 und die weiteren Anträge auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebungen ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 LVwVfG für den Erlass einer die Ausweisungsverfügung betreffenden Rücknahmeverfügung lägen nicht vor. Die Ausweisung sei rechtmäßig erlassen worden. Ihr Widerruf scheide aus, weil die Widerrufsvorschrift durch die Befristungsregelung im Ausländergesetz verdrängt sei. Eine Befristung der Wirkungen komme derzeit nicht in Betracht, weil der von § 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG vorausgesetzte Regelfall nicht gegeben sei. Der Fall des Klägers sei atypisch, und es sei gegenwärtig nicht absehbar, dass der spezialpräventive Zweck der Ausweisung überhaupt erreicht werden könne. Auch eine Befristung der Wirkungen der Abschiebung komme derzeit nicht in Betracht, zumal der Kläger die angefallenen Kosten noch nicht bezahlt und im übrigen seine früheren Abschiebungen missachtend schon zweimal illegal nach Deutschland gekommen sei.
11 
Die am 1.10.2004 beim Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage, mit der der Kläger beantragt hat,
12 
die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen, hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung zu befristen,
13 
ist durch Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.10.2005 - 16 K 3901/04 - abgewiesen worden. Das Verwaltungsgericht hat in den Gründen ausgeführt, die Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 verletze den Kläger nicht in seinen Rechten; eine Rücknahme komme nicht in Betracht, da die frühere Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums vom 4.3.1998 rechtmäßig sei. Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ändere nichts daran, dass diese Verfügung rechtmäßig erlassen worden sei. Der Kläger sei zwar Unionsbürger, erfülle aber die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364/EWG vom 28.6.1990 nicht, da das Erfordernis der Krankenversicherung und ausreichender Existenzmittel nicht erfüllt sei. Außerdem habe der Kläger vor Erlass der Ausweisungsverfügung im Anhörungsverfahren wirksam auf ein Freizügigkeitsrecht verzichtet, als er erklärt habe, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen und wolle deshalb mit seiner Freundin und seinen beiden Kindern nach Italien übersiedeln. Auch der Hilfsantrag habe keinen Erfolg, da auf den Kläger nunmehr aufgrund der Ausweisungsverfügung nicht mehr das Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern vielmehr das allgemeine Ausländerrecht anzuwenden sei. Ein Regelfall, der die Befristung nahe legen könne, sei hier nicht gegeben; das Regierungspräsidium habe zu Recht angenommen, hier liege ein Sonderfall vor. Auf die Begründung der Behörde werde Bezug genommen.
14 
Auf den rechtzeitig gestellten und begründeten Zulassungsantrag des Klägers hin hat der Senat mit Beschluss vom 20.2.2006 (Zustellung am 27.2.2006) die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen; mit dem am 2.3.2006 eingegangenen Berufungsbegründungsschriftsatz, der auf das Vorbringen im Zulassungsverfahren Bezug genommen hat, beantragt der Kläger,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12.10.2005 - 16 K 3901/04 - abzuändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 zurückzunehmen,
hilfsweise:
den Beklagten zu verpflichten, unter Aufhebung der Verfügung vom 29.9.2004 die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung zu befristen.
16 
Zur Begründung des Berufungsantrags trägt der Kläger vor, sein Freizügigkeitsrecht könne nicht bestritten werden. Es ergebe sich aus Art. 7 Abs. 2 der RL 68/360/EWG, und das Freizügigkeitsrecht sei auch nicht wegen Fehlens von Unterhaltsgewährung nach Art. 10 der Verordnung 1612/68 untergegangen. Ein Verzicht auf das Freizügigkeitsrecht sei unwirksam und liege auch inhaltlich nicht vor. Das Verwaltungsgericht habe außerdem verkannt, dass auch seine Kinder neben der deutschen Staatsangehörigkeit die italienische Staatsangehörigkeit hätten, so dass er als Vater dieser Kinder ebenfalls ein Aufenthaltsrecht habe. Dass die damalige Ausweisungsverfügung gemeinschaftsrechtswidrig gewesen sei, liege auf der Hand. Einmal habe die Behörde zu Unrecht das Freizügigkeitsrecht verneint und allgemeines Ausländerrecht angewandt. Dies sei bei EU-Bürgern unzulässig. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof inzwischen sogar die entsprechende Regelung des AufenthaltsG/EWG für gemeinschaftswidrig erklärt. Rechtswidrig sei die Ausweisung auch deswegen gewesen, weil sie unbefristet erfolgt sei; dies widerspreche mehreren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Allgemein sei zu bemerken, dass die Europäischen Institutionen die Voraussetzungen der Ausweisung ohnehin enger fassten als die deutschen Behörden und Gerichte. Das der Behörde zustehende Ermessen sei hier wegen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Ausweisung auf die Rücknahme ex tunc reduziert; eine andere Lösung komme nicht in Betracht. Die Bestandskraft einer Verfügung sei geringer zu werten als die Rechtskraft, und der Europäische Gerichtshof habe mehrfach entschieden, dass bei gemeinschaftsrechtswidrigen Verfügungen entweder die Rechtsmittelfrist gehemmt sei oder eine Rücknahmepflicht bestehe. Teilweise werde auch angenommen, solche gemeinschaftsrechtswidrigen Verfügungen würden unwirksam. Jedenfalls sei die neuere Rechtsprechung der Europäischen Gerichte auch auf zurückliegende Sachverhalte anzuwenden. Da die Möglichkeit der Befristung einer Rücknahme ex nunc als Spezialregelung entgegenstehe, bleibe die Rücknahme ex tunc. Mindestens sei diese Rechtsfrage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen.
17 
Der Beklagte beantragt,
18 
die Berufung zurückzuweisen.
19 
Er ist nach wie vor der Auffassung, dass der Kläger die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts im Zeitpunkt der Ausweisung nicht mehr erfüllt habe und daher EU-Recht unbeachtlich sei. Seine Erklärung vom15.2.1998, er wolle mit Freundin und Kindern in Italien leben, belege dies ausreichend. Abgesehen davon seien aber die Voraussetzungen des § 12 AufenthG/EWG und des EU-Rechts für die Ausweisung gegeben gewesen, da der Kläger massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Insofern handle es sich um einen Extremfall im Sinn des Urteils des EuGH vom 29.4.2004, und von einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Behörden könne keine Rede sein. Die bestehende Wiederholungsgefahr habe der Kläger selbst nach seiner Rückkehr in das Bundesgebiet nachhaltig bestätigt. Auch der Vollzug der Strafhaft sei nicht beanstandungsfrei. Die vom Kläger zitierten Urteile des EGMR insbesondere zur Befristungsfrage änderten daran nichts; zumutbar und erforderlich sei jedenfalls, dass ein Befristungsantrag gestellt werde. Die Befristungsvorschriften belegten geradezu, dass die Ausweisung nicht gewissermaßen lebenslänglich sei. Die Ausweisung habe auch nicht gegen Art. 9 der RL 64/221/EWG verstoßen, da der Kläger nach Italien habe zurückkehren wollen. Er habe außerdem keine Klage erhoben, habe sich also gerade nicht verteidigen wollen. Ein Rücknahmeermessen sei damit nicht gegeben; erst recht nicht sei es auf die Rücknahme der Ausweisung reduziert. Auf die Bedeutung der Rechts- und Bestandskraft habe der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 16.3.2006 hingewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht gehe außerdem davon aus, dass eine Ermessensentscheidung auch nachgeholt werden könne. Eine Rücknahme sei regelmäßig ausgeschlossen, wenn ein Verwaltungsakt mit gleichem Inhalt (hier: Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 Freizügigkeitsgesetz/EU) neu erlassen werden müsse. Das sei hier der Fall. Neben dem nachhaltigen und massiven kriminellen Fehlverhalten sei darauf hinzuweisen, dass auch die Drogenproblematik nicht gelöst sei. Es sei daher nicht unverhältnismäßig, an der Ausweisung festzuhalten, sie als Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt anzusehen und dem Rücknahmeantrag nicht zu entsprechen. Es sei nicht ermessensfehlerhaft, den Kläger auf die Möglichkeit der Befristung zu verweisen für den Fall, dass die Wiederholungsgefahr nicht mehr gegeben sei. Mit den Kindern habe der Kläger im übrigen vor seiner Inhaftierung nicht in familiärer Lebensgemeinschaft zusammengewohnt. Möglicherweise werde er von ihnen und von seiner freizügigkeitsberechtigten Mutter noch regelmäßig besucht. Zur Mutter der Kinder habe er aber nur sporadischen und telefonischen Kontakt. Was Art. 8 EMRK angehe, so sei die hohe und konkrete Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen; er sei nicht therapiert. Seine Erkrankung führe nicht dazu, dass sein Interesse an der Rücknahme der Ausweisung überwiege, da er erforderliche Medikamente auch in Italien bekommen könne. Für die ersten Tage nach einer Abschiebung nach Italien könnten ihm auch Medikamente mitgegeben werden. Jedenfalls habe der Kläger keinen Anspruch auf die beantragte Rücknahme, und eine am Zweck des § 48 LVwVfG orientierte Ermessensausübung ergebe, dass die Ablehnung des Antrags nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Soweit hilfsweise die Befristung beantragt werde, werde auf die angegriffene Verfügung vom 29.9.2004 (Fortbestand der Wiederholungsgefahr) verwiesen.
20 
Dem Senat liegen die den Kläger betreffenden Akten des Verwaltungsgerichts und der Behörden (jeweils 1 Heft Akten des RP Stuttgart und der Stadt Fellbach) vor; sie waren Gegenstand der Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe

 
21 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig begründete Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) hat Erfolg, soweit der Kläger neben der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 die Verpflichtung des beklagten Landes zur erneuten Entscheidung über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 begehrt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO); die darüber hinausgehende Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme dieser Verfügung war allerdings abzuweisen, da dem Kläger kein entsprechender Rücknahmeanspruch zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Da die Klage damit im Hauptantrag (teilweise) Erfolg hat und das erstinstanzliche Urteil insofern abzuändern war, braucht über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden (vgl. auch Sodan/Ziekow, VwGO, 2006, Rn 111 vor § 124).
22 
Gegenstand des mit der Berufung in erster Linie verfolgten Hauptantrags ist der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG; die damit verbundene Abschiebungsandrohung ist von dem sich auf die “Ausweisungsanordnung“ beschränkenden Berufungsantrag nicht umfasst, und auch eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Sinn von § 51 VwVfG ist nicht erhoben, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat. Dieser Antrag umfasst allerdings bei sachdienlicher Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) nicht nur einen denkbaren Rücknahmeanspruch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wegen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, sondern es ist auf diesen Antrag hin auch zu prüfen, ob der Beklagte deswegen zur „Rücknahme“ der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung verpflichtet ist, weil diese rechtlich unwirksam ist. Die Unwirksamkeit der Verfügung hat der Kläger in Anlehnung an die Rechtsprechung des Hess. VGH und des OVG Berlin (im einzelnen siehe dazu unten) in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich als Klagegrund geltend gemacht, und es ist anerkannt, dass bei einem unwirksamen - oder: wie hier allenfalls unwirksam gewordenen - Verwaltungsakt eine (klarstellende) behördliche Rücknahme des Verwaltungsakts möglich und aus Gründen der Beseitigung des Rechtsscheins gegebenenfalls auch erforderlich ist (siehe dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 2003, Rn 19a zu § 48; siehe auch Bay. VGH, Urteil vom 12.10.1989 - 26 B 86.02944 -, NVwZ-RR 1991, 117; Hess. VGH, Urteil vom 29.3.2006 - 6 UE 2874/04 - juris und BSG, Urteil vom 23.2.1989 - NVwZ 1989, 902). Bei einer solchen Fallgestaltung ist der Kläger nicht darauf verwiesen, Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 VwGO zu erheben (siehe dazu Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 63 und 71 zu § 43; BSG a.a.O.), was im vorliegenden Fall als Klageänderung im Berufungsverfahren ohnehin prozessual nicht unproblematisch wäre.
23 
Der mit der Berufung verfolgte Anspruch des Klägers auf Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung hat jedoch nur teilweise Erfolg. Da diese Verfügung rechtswidrig war, war das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnet (1); es wurde allerdings weder in der Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 noch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt, so dass der Beklagte zu einer entsprechenden Bescheidung nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten war (2). Ein darüber hinaus gehender unbedingter Rücknahmeanspruch besteht dagegen nicht (3).
24 
1. Der Kläger ist nicht bereits deswegen rechtlich daran gehindert, die nach seiner Auffassung bei Ergehen der Ausweisungsverfügung bestehende Rechtswidrigkeit geltend zu machen, weil er zuvor der Behörde gegenüber am 15.2.1998 erklärt hatte, er beantrage seine Abschiebung und habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, weil er mit Freundin und Kindern nach Italien gehe. Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Rücknahmeverlangen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht darauf abstellt, auf welche Weise der Verwaltungsakt bestandskräftig geworden ist; selbst ein Verzicht auf einen Widerspruch schließt damit ein späteres Rücknahmebegehren nicht aus. Erst recht gilt dies in einem Fall wie dem vorliegenden: Die Einverständniserklärung des Klägers vor Erlass des Verwaltungsakts steht nämlich einem Widerspruchsverzicht nicht gleich (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 20.1.1967 - VII C 191.64 -, NJW 1967, 2027; Kopp/Schenke, VwGO, 2005, Rn 11 zu § 69 und Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 96 zu § 69 Fn 106). Die zur Bestandskraft des Verwaltungsakts führenden konkreten Umstände und insbesondere das Verhalten des Klägers der bevorstehenden Ausweisung gegenüber schließen eine Rücknahme also nicht aus; sie sind allenfalls Gesichtspunkte, die bei der Ausübung des Rücknahmeermessens von Bedeutung sind (siehe auch Senat, Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Kopp/Ramsauer, a.a.O., RN 52 f. zu § 48).
25 
Für die damit im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung des Klägers stellt der Senat auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ab; da der Kläger zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war, kann offen bleiben, inwieweit eine erst später eintretende Rechtswidrigkeit ein Rücknahmeverfahren eröffnen kann (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 - 1 C 13.03 -, NVwZ-RR 2005, 341; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.9.2001 - 8 S 641/01 -, VBlBW 2002, 208, 209).
26 
Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses ergibt sich für den Senat allerdings nicht bereits aus den Vorschriften des damals geltenden Ausländergesetzes selbst - tatbestandlich lag ein Fall der Regelausweisung durchaus vor - und auch nicht aus den einfachrechtlichen Modifikationen der Ausweisung, die das damalige AufenthG/EWG insbesondere in § 12 enthielt; auch diese Vorschriften, insbesondere das Erfordernis einer Wiederholungsgefahr (§ 12 Abs. 3 und 4 AufenthG/EWG) sind eingehalten worden. Der Senat ist auch nicht der Auffassung, dass die Ausweisung des Klägers als eines Ausländers der sog. zweiten Generation aus Gründen des als Gesetzesrecht zu beachtenden Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtswidrig war; angesichts der erheblichen Vorstrafen des Klägers und der jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt offen zu Tage liegenden Wiederholungsgefahr hinsichtlich gravierender Delikte war der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Schutzgut „Familienleben“ im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Verhütung von Straftaten im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig (s. dazu Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts - Grundrechtsschutz, 2006, S. 66, 67 m.w.N. und die Nachweise bei Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 16 Rn 94 m.w.N.) In Fällen wie dem vorliegenden hätte auch nicht notwendigerweise mit der Ausweisung selbst schon über eine Befristung der Wirkungen entschieden werden müssen. Eine solche zusätzliche Entscheidung lag im Fall des Klägers zum damaligen Zeitpunkt bereits wegen dessen vorangegangener Erklärung, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, nicht nahe; sie war aber auch nicht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten. Zwar hat der EGMR in mehreren Entscheidungen eine Ausweisung eines Ausländers also unverhältnismäßig beurteilt, die keine Befristungsentscheidung enthielt (siehe Urteile vom 17.4.2003 - Yilmaz -, NJW 2004, 2147, 2149; Urteil vom 22.4.2004 - Radovanovic -, InfAuslR 2004, 374 und Urteil vom 27.10.2005 - Keles -, InfAuslR 2006, 3); das deutsche Recht wird dem dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit aber dadurch gerecht, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (siehe damals § 8 Abs. 2 AuslG und heute § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG und BVerwG, Beschluss vom 27.6.1997 - 1 B 126/97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 13).
27 
Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben; ein im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG beachtlicher Verstoß der Ausweisungsverfügung gegen Rechtsvorschriften ergibt sich nämlich daraus, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war und dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Bindungen zu beachten waren (1.1). Insbesondere durfte der Kläger nicht nach den Vorschriften der Regelausweisung ausgewiesen werden, sondern es war Ermessen auszuüben (1.2). Auf das Vorliegen weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bindungen und die Frage, ob sie eingehalten sind, kommt es danach nicht mehr an (1.3).
28 
1.1. Ob der Kläger zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt war, ist zweifelhaft, kann letztlich aber offen bleiben. Mangels Arbeitnehmereigenschaft bzw. Arbeitssuche liegen die Voraussetzungen der Verordnungen Nr. 1612/68/EWG und 1251/70/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft nicht vor (siehe Art. 1 und Art. 2 VO 1612/68/EWG); daraus folgt auch das Fehlen eines Freizügigkeitsrechts entsprechend der RL 68/360/EWG (Art. 1 und Art. 4 Abs. 1). Unabhängig von der Frage der Arbeitnehmereigenschaft und Erwerbstätigkeit leitet der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings ein allgemeines Freizügigkeitsrecht bereits aus der (bei dem Kläger als italienischem Staatsangehörigen bestehenden) Unionsbürgerschaft (Art. 18 EG) her; dies gilt jedenfalls seit der Entscheidung Baumbast (siehe EuGH, Urteil vom 17.9.2002 - C 413/99 -, InfAuslR 2002, 463, Rn 84/8Rn 84/85; zur früheren Rechtslage vgl. auch BVerwG, Vorlageentscheidung vom 18.9.2001 - 1 C 17/00 -, NVwZ 2002, 339 m.w.N.). In der Folgezeit hat der EuGH diese Rechtsprechung fortgeführt und bestärkt (siehe Urteil vom 29.4.2004 - Orfanopoulos und Oliveri -, - C 282/01 -, Rn 65, NVwZ 2004, 1099; Urteil vom 15.3.2005 - Bidar -, - C 209/03 -, Rn 36, NJW 2005, 2055; Urteil vom 23.3.2006 - Kommission -, - C 408/03 -, Rn 37, NVwZ 2006, 918), und Literatur und nationale Rechtsprechung sind dem weitgehend gefolgt (siehe Sander, DVBl. 2005, 1014 und Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004, 133; Lenz/Borchardt, EU- und EGV, 2006, RN 2 zu Art. 18; siehe auch Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, AuAS 2005, 74). Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 7.9.2004 - C 456/02 -, -Trojani-, Rn 36, InfAuslR 2004, 417) zu den „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit im Sinn des Art. 18 Abs. 1 EG ausgeführt, bei Fehlen ausreichender Existenzmittel im Sinn der RL 90/364/EWG erwachse dem Unionsbürger kein Recht zum Aufenthalt; diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass bei Nichterfüllung dieser Beschränkungen und Bedingungen die Unionsbürgerschaft allein zur Entstehung des Freizügigkeitsrechts noch nicht ausreicht. Dass im Fall des Klägers ausreichende Existenzmittel im Sinn der genannten Richtlinie im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung nicht vorhanden waren, liegt für den Senat angesichts des Fehlens gesicherter Einkünfte und seiner schweren Erkrankung mehr als nahe; selbst wenn er in gewissem Umfang von seiner damaligen Ehefrau und/oder seinen italienischen Eltern unterstützt worden sein mag, dürfte es jedenfalls an ausreichender Krankheitsvorsorge gefehlt haben (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 19.10.2004 - C 200/02 -, - Chen -, InfAuslR 2004, 413 und vom 23.3.2006, a.a.O.). Hiervon abgesehen geht der EuGH jedenfalls dann vom Fehlen bzw. Erlöschen des Freizügigkeitsrechts aus, wenn die Nichterfüllung der „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) dem Betroffenen „entgegengehalten“ worden ist (siehe EuGH, Bidar, a.a.O., Rn 36). Eine derartige behördliche Entscheidung - zum neuen Recht siehe § 7 Abs. 1 FreizügG/EU - kann hier durchaus in der Ausweisungsverfügung selbst gesehen werden, die dem Kläger ausdrücklich wegen fehlender Existenzmittel und wegen fehlenden Krankenversicherungsschutzes gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit abgesprochen hat (S. 6 f. der Ausweisungsverfügung) und die der Kläger ebenso wie die Ausweisung selbst akzeptiert hat.
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Letztlich kann der Senat jedoch offen lassen, ob der Kläger sich zum damaligen Zeitpunkt auf ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht berufen konnte; er war jedenfalls aus abgeleitetem Recht als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt. Ein solches Recht scheidet nicht bereits deswegen aus, weil der Kläger bereits im Bundesgebiet geboren wurde und es damit „an sich“ an dem erforderlichen grenzüberschreitenden Element fehlt (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 19/20). Ob der Kläger als Familienangehöriger von seiner italienischen Mutter oder von seinem italienischen Stiefvater (siehe dazu EuGH , Urteil vom 30.9.2004 - C 275/02 -, - Ayaz -, InfAuslR 2004, 416 und Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Rn 17 zu § 3 FreizügG) ein Freizügigkeitsrecht ableiten konnte, obwohl er über 21 Jahre alt war, insbesondere ob ausreichende Unterhaltsleistungen der Stammberechtigten vorlagen (siehe dazu EuGH, Chen, a.a.O., und Kommission, a.a.O.), ist angesichts der Einstellung der Eltern des Klägers zu seiner Drogenabhängigkeit fragwürdig; der Senat braucht diese Fragen jedoch nicht zu entscheiden, weil der Kläger jedenfalls von seinen Kindern als Stammberechtigte ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht herleiten konnte. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
30 
Die Kinder des Klägers sind (auch) italienische Staatsangehörige (siehe Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 8 (Italien), S. 6 mit Hinweis auf Art. 1 des italienischen Gesetzes 91/1992 vom 5.2.1992). Die Tatsache, dass sie daneben die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ändert an ihrer Eignung als „Stammberechtigte“ nichts (siehe EuGH, Urteil vom 7.7.1992 - C 369/90 -, - Micheletti -, InfAuslR 1992, 2). Kraft ihrer Rechtsstellung als Unionsbürger konnten die Kinder des Klägers diesem trotz ihrer Geburt in Deutschland ein Freizügigkeitsrecht vermitteln (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O.), und sie selbst waren nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EG freizügigkeitsberechtigt. Dabei ist es ohne rechtliche Bedeutung, dass die maßgebende Rechtsprechung des EuGH sowohl zum Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 EG als auch zur „Erstreckung“ des Freizügigkeitsrechts von Kindern auf Eltern (s. dazu unten) erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt worden ist; sie erfasst auch zurückliegende Tatbestände, die im Sinn der „geläuterten“ Rechtsprechung zu beurteilen sind (siehe dazu EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask -, Slg I 06783, Rn 36,37; vgl. auch die Rechtsprechung des BVerwG zum Verständnis der RL 64/221/EWG, Urteile vom13.9.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110, und vom 6.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 und Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn 35 zu § 48 m.w.N.). Dass die Kinder des Klägers ihrerseits die „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) unter irgendeinem Gesichtspunkt (Existenzmittel, Krankheitsvorsorge) nicht erfüllt hätten, ist nicht ersichtlich; erst recht ist ihnen ein solcher Tatbestand im Sinn der Rechtsprechung des EuGH (Bidar, a.a.O.) auch nicht „entgegengehalten“ worden. Aus dieser Rechtsstellung folgt, dass nicht nur sie selbst im maßgebenden Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung freizügigkeitsberechtigt waren, sondern dass zusätzlich eine Gefährdung ihres Freizügigkeitsrechts durch eine Ausweisung ihres Vaters gemeinschaftsrechtlich zu vermeiden war (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O. Rn 72 f. und Chen, a.a.O. Rn 45). In den genannten Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof nämlich ein den Kindern zustehendes Freizügigkeitsrecht in bestimmten Fällen auf die Eltern erstreckt; er hat sich dabei an der Überlegung orientiert, dass das einem Kind nach der Gemeinschaftsgesetzgebung zustehende Recht verloren gehen könnte, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu verbleiben. Dies gilt nach Auffassung des EuGH jedenfalls für solche Eltern, die die Personensorge tatsächlich wahrnehmen und sich bei dem Kind aufhalten (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O., Rn 71 und 73; siehe auch EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 45). Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser „Erstreckung“ des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Kinder auf die Eltern waren im Fall des Klägers auch gegeben:
31 
Zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung lagen - bezogen auf den Kläger, seine damalige Noch-Ehefrau und die beiden Kinder - die ein „Familienleben“ im Sinn der (auf Art. 8 Abs. 1 EMRK Bezug nehmenden) Rechtsprechung des EuGH begründenden Umstände vor; der Kläger wohnte mit seinen Familienangehörigen zusammen, und es ist auch davon auszugehen, dass die in den genannten Urteilen für eine Erstreckung der Freizügigkeit vorausgesetzte tatsächliche Personensorge für die Kinder (auch) von ihm wahrgenommen wurde (zu den Anforderungen des Art. 8 EMRK siehe Grote/Marauhn, a.a.O. Kap. 16 Rn 41 und Breitenmoser/Riemer/Seitz, a.a.O., S. 59 und 60). Der tatsächliche Kontakt, auf den es in diesem Zusammenhang ankommt, endete auch nicht in den Zeiträumen, in denen der Kläger inhaftiert war; es bestand regelmäßiger Besuchskontakt (alle zwei Wochen) mit seiner damaligen Ehefrau und den Kindern (RP-Akten S. 26), und auch sonst hatte - wie aus den Ausländerakten der Stadt Fellbach hervorgeht - keine Seite die Absicht, die familiäre Lebensgemeinschaft zu beenden (siehe etwa Vermerke vom 25.11.1997 und 16. und 18.12.1997). Die Inhaftierungszeiten haben damit den der Rechtsprechung des EuGH zur Erstreckung des Freizügigkeitsrechts auf Eltern zugrunde liegenden familienrechtlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht berührt (vgl. dazu auch Grote/Maraun, a.a.O., Kap. 16 Rn 45 m.w.N.).
32 
Die dem Schutz des Freizügigkeitsrechts der Kinder dienende Erstreckung dieses Rechts auf ihren Vater scheitert im vorliegenden Fall auch nicht daran, dass die Kinder gleichzeitig deutsche Staatsangehörige sind. Zwar folgt hieraus, dass naturgemäß ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland zu keinem Zeitpunkt in Frage stand; die gegen den Kläger ergangene Ausweisung setzte aber gleichwohl die Familienangehörigen dem mittelbaren Druck aus, dem Kläger nach Italien zu folgen. Dass es im vorliegenden Fall hierzu nicht kam, weil die Kinder und ihre Mutter sich für den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden, ändert daran nichts, zumal der weitere Zusammenhalt der Familienangehörigen in der illegalen Wiedereinreise des Klägers und in seinen (heimlichen) Besuchen bei der Familie zum Ausdruck kommt. Es spricht mehr dafür, dass die Familienangehörigen des Klägers die bevorstehende Trennung nicht durch ihre Nachreise nach Italien, sondern durch weiteren Kontakt in der Illegalität verhindern bzw. entschärfen wollten. Da die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Entscheidungen Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) eine für Kinder bei Ausweisung eines Elternteils entstehende Zwangslage vermeiden will, ist sie auch auf Fallgestaltungen wie die hier vorliegende anwendbar.
33 
Auf das aus seinen Kindern abgeleitete Freizügigkeitsrecht hat der Kläger schließlich auch nicht durch seine Erklärung vom 15.2.1998 verzichtet. Wie bereits ausgeführt worden ist, betraf diese Erklärung nur die konkret bevorstehende Abschiebung; mit ihr wollte der Kläger für die Behörde erkennbar eine vorzeitige Haftbeendigung in Deutschland erreichen. In der mündlichen Verhandlung hat er dazu glaubhaft angegeben, es sei ihm darum gegangen, möglichst früh in Italien wieder an Drogen zu kommen. Als Verzicht auf ein Freizügigkeitsrecht, das ihn auch zur Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigen würde, ist diese Erklärung nicht aufzufassen, ganz abgesehen davon, dass es insofern offenbar an einem verbindlichen rechtlichen Erklärungswillen - sozusagen für alle Zukunft - fehlte und ein wesentliches Element der Erklärung - die Mitausreise der Familienangehörigen - nicht Realität wurde. Insofern sind strenge Anforderungen zu stellen; sogar bei einer Ausreise „zum Sterben in der Heimat“ hat die Rechtsprechung die Annahme eines Freizügigkeitsverzichts abgelehnt (siehe dazu und zu den Voraussetzungen eines solchen Verzichts OVG Koblenz, Beschluss vom 17.6.1996 - 11 B 11155/96 -, InfAuslR 1996, 337 m.w.N.). Verzichtserklärungen im europäischen Recht sind auf die konkrete Handlung beschränkt und nicht mit Zukunftswirkung verbunden (siehe dazu Umbach/Clemens, GG, 2002, Rn 8 zu Art. 18). Insofern gilt nichts anderes als bei grundgesetzlich gewährleisteten Rechten (siehe dazu im einzelnen Jarass/Pieroth, GG, 2004, Vorbem. vor Art. 1, Rn 36 und Dreier, GG, 1996, Vorbem. 83, je m.w.N.). Auch ist zu bedenken, dass zum damaligen Zeitpunkt ein aus dem Unionsbürgerrecht selbst fließendes Aufenthaltsrecht noch nicht durch den Europäischen Gerichtshof anerkannt war; 1997 hatte der Europäische Gerichtshof noch entschieden, dass die Unionsbürgerschaft keine Ausdehnung der Rechtsstellung bewirken wolle (siehe dazu Lenz/Borchardt, a.a.O., Rn 2 zu Art. 18). Für einen entsprechenden Verzichtswille fehlt es daher zum damaligen Zeitpunkt an einer Grundlage.
34 
1.2. Konsequenz des dem Kläger nach diesen Ausführungen bei Erlass der Ausweisungsverfügung zustehenden Freizügigkeitsrechts war, dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschranken anzuwenden waren; insbesondere schied im Fall des Klägers eine (nach nationalem Recht zutreffende) Regelausweisung aus und es war Ausweisungsermessen auszuüben. Der Europäische Gerichtshof hat - allerdings erst im Jahr 2004, aber gleichwohl mit Wirkung auch für frühere Ausweisungsfälle (siehe dazu oben 1.1) -entschieden, dass bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern die Tatbestände der zwingenden und der Regelausweisung als Rechtsgrundlagen ausscheiden; solche Ausländer dürfen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden (siehe dazu EuGH, Urteil vom 29.4.2004 - Rs C 482/01 - und C 493/01 - Orfanopoulos und Oliveri, DVBl. 2004, 876), und das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen (Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, NVwZ 2004, 1099). Die frühere - abweichende - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist damit aufgegeben worden. Im Licht dieser - allerdings neueren - Rechtsprechung könnte die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung im Verfahren über den Rücknahmeantrag nur dann als rechtmäßig beurteilt werden, wenn die Behörde die Ausweisung des Klägers nicht nur auf den Tatbestand der Regelausweisung gestützt, sondern hilfsweise Ermessen ausgeübt hätte. Dies ist hier aber nicht geschehen. Die Behörde ging ausdrücklich von einer sog. Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus, die wegen der ausländerrechtlichen Privilegierung des Klägers als Vater zweier deutscher Kinder in eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 AuslG herabgestuft wurde (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG); die Behörde hat danach lediglich noch geprüft, ob eine atypische Fallgestaltung vorliegt, die eine Ermessensausweisung gebietet (S. 9 ff. der Ausweisungsverfügung), und diese Frage verneint. Die Verfügung setzt sich zwar bei der Prüfung, ob eine atypischen Fallgestaltung gegeben ist, mit der bisherigen Lebensführung des Klägers im einzelnen auseinander; diese Gesichtspunkte können aber nicht in eine Ermessensausübung „umgedeutet“ werden, da Rechtserwägungen im Zusammenhang mit der Problematik der Atypik keine Ermessenserwägungen sind (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152). Die Tatsache, dass bei der Prüfung der Atypik alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (siehe BVerwG, Urteil vom 26.2.2002 - 1 C 21/00 -, NVwZ 2002, 1512), begründet daher nicht die Annahme einer Ermessensentscheidung; die Atypik führt erst tatbestandsmäßig zur Ermessensausübung (siehe BVerwG, Urteil vom 31.8.2004 - 1 C 25/03 -, NVwZ 2005, 229).
35 
1.3. Der Senat kann offen lassen, ob die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger nicht nur wegen unterbliebener Ermessensausübung, sondern auch wegen Verletzung des Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen ist (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 13.9.2005, a.a.O. und vom 6.10.2005, a.a.O.), ob der in dieser Richtlinie gebotene verfahrensrechtliche Schutz wegen der Einwilligung des Klägers in seine Ausweisung bzw. Abschiebung entbehrlich war und ob ein gegebenenfalls vorliegender Rechtsverstoß durch den späteren Wegfall der Richtlinie gegenstandslos geworden ist (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 -). Offensichtlich fehlerhaft wäre allerdings die Annahme, es hätten im Weg der sog. Vorwirkung bereits damals (1998) die materiellen Ausweisungsvoraussetzungen der weitaus späteren RL 2004/38/EG gegolten.
36 
2. Aus der wegen Ermessensunterschreitung vorliegenden Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung ergibt sich, dass entgegen der Auffassung der Behörde tatbestandsmäßig eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Betracht kam; die Behörde war dementsprechend verpflichtet, über den Rücknahmeantrag nach Ermessen zu entscheiden. Die Behörde hat jedoch in der Verfügung vom 29.9.2004 den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung aus Rechtsgründen, d.h. wegen fehlender Rechtswidrigkeit der Verfügung, abgelehnt (S. 3 der Verfügung); (wenigstens) hilfsweise Ermessensausübung liegt auch insofern nicht vor, zumal die weiteren Ausführungen der Behörde im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung bzw. Abschiebung nicht als Ermessensausführungen im Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG aufgefasst werden können (siehe dazu auch oben). Das Rücknahme-Ermessen ist auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden; insbesondere liegt kein „Ergänzen“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO vor. Im gerichtlichen Verfahren hat die Behörde an ihrer Auffassung zur Rechtmäßigkeit der Verfügung festgehalten. Sie hat zwar ausgeführt, ihr müsse noch die Möglichkeit der Nachholung des Ermessens gegeben werden, und sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 3.8.2004 (a.a.O.) bezogen; damit verkennt sie aber, dass diese Entscheidung die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung und nicht - wie hier - eine Klage auf Rücknahme dieser Verfügung betrifft. Die Verweisung auf das Befristungsverfahren ist keine Ermessensbetätigung im Rücknahmeverfahren, und eine bestandskräftig gewordene „Alt-Ausweisung“ kann auch nicht in eine nach Voraussetzungen und Struktur unterschiedliche Feststellung nach § 6 FreizügG umgedeutet werden (siehe auch OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 -, InfAuslR 2006, 118, 120). Im übrigen wäre wegen des ursprünglichen Fehlens von Ermessenserwägungen überhaupt eine bloße „Ergänzung“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO nicht zulässig (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 5.9.2006 - 1 C 20.05 -, juris und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.2006 - 13 S 1566/06 -). Die aufgrund der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (Entscheidung Orfanopoulos a.a.O.) vom Bundesverwaltungsgericht über § 114 Satz 2 VwGO hinaus eingeräumte generelle Nachholmöglichkeit ist hier nicht geboten, da die Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung hier nicht auf neuen Erkenntnissen während des Anfechtungsverfahrens beruhte, sondern auf der bereits 2002 eingeleiteten Rechtsprechung zu Art. 18 EG und zur Erstreckung der Freizügigkeit auf Kinder (siehe oben), die ohne weiteres (wenigstens hilfsweise) im Ablehnungsbescheid von 2004 hätte berücksichtigt werden können.
37 
3. Die danach vorliegende Ermessensunterschreitung führt allerdings nur zu einer entsprechenden Bescheidungsverpflichtung des beklagten Landes nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO; eine darüber hinausgehende Verpflichtung des Beklagten zur unmittelbaren Rücknahmeentscheidung kam nicht in Betracht, so dass die auf dieses Ziel gerichtete Klage (teilweise) abzuweisen war. Einen direkt auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung gerichteten Anspruch kann der Kläger nicht unter dem Gesichtspunkt der sog. Ermessensreduzierung auf die Rücknahme als einzig rechtlich zutreffende Entscheidung verlangen (3.1), und eine Pflicht der Behörde zur (in diesem Fall: deklaratorischen) Rücknahme besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Unwirksamkeit der Ausweisungsverfügung (3.2).
38 
3.1. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem beklagten Land, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.
39 
Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann „schlechthin unerträglich“ sein (siehe dazu z.B. BVerwG, Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 -, DÖV 2005, 651 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben; einmal war der Kläger, was für die Ermessensausübung durchaus relevant sein kann, mit seiner Abschiebung zum damaligen Zeitpunkt einverstanden, und zum anderen erscheint die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung auch nicht deswegen im Sinn der oben angeführten Rechtsprechung „schlechthin unerträglich“, weil die zur Annahme der Rechtswidrigkeit führende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum abgeleiteten Freizügigkeitsrecht von Kindern und zum Unionsbürgerrecht erst Jahre nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt wurde. Auch ergibt sich eine Ermessensreduzierung nicht aus dem Verhalten der Behörde selbst oder daraus, dass das Rücknahmeinteresse des Betroffenen eindeutig und offensichtlich schwerer wiegen würde als das öffentliche Interesse an einer Rücknahme (zu diesen Kriterien siehe Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn 55 zu § 48). Im übrigen käme es in diesem Zusammenhang bei der Ermessensausübung auch auf die Frage an, ob der Kläger in der Tat zum Entscheidungszeitpunkt drogenfrei ist und wie die Rückfallprognose aussieht.
40 
Auch Gemeinschaftsrecht verpflichtet den Beklagten zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung nicht. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
41 
Dass Gemeinschaftsrecht in Fällen der vorliegenden Art keinen unbedingten Rücknahmeanspruch begründet, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seiner bisherigen Rechtsprechung ausgeführt (siehe z.B. Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -), und dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 - a.a.O.). Vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung - mit der Folge der Bestandskraft bei Nichteinhaltung dieser Fristen - sind nämlich deswegen grundsätzlich mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil sie ein Anwendungsfall des auch für das Gemeinschaftsrecht grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sind (siehe EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask, Slg I O6783, Rn 45; Urteil vom 13.1.2004 - C 453/00 -, Kühne und Heitz, DVBl. 2004, 373, Rn 24 und zuletzt Urteil vom 19.9.2006 - C 392/04 -und - C 422/0C 422/04 -, I 21, NVwZ 2006, 1277 Rn 51). Während die frühere Rechtsprechung des EuGH die Frage der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte nicht problematisiert hatte (siehe dazu die Nachweise bei Gärditz, NWVBl. 2006, 442 Fn 34 f. und beispielhaft EuGH, Urteil vom 2.12.1997, a.a.O.), hat erstmals die Entscheidung Kühne und Heitz (a.a.O.) bestimmte Voraussetzungen für eine behördliche Pflicht zur Überprüfung bestandskräftiger gemeinschaftswidriger Verwaltungsakte formuliert (siehe dazu auch Epiney, NVwZ 2006, 410 f.). Diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall nicht (kumulativ) erfüllt: Zwar ist die Behörde nach nationalem Recht (hier: § 48 VwVfG) zur Rücknahme befugt, die Bestandskraft der Entscheidung beruht aber nicht wie im Fall Kühne/Heitz auf einem nationalen Gerichtsurteil, das die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG verletzt hat, und der Betroffene hat sich auch nicht unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung (hier: Urteile Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) an die Behörde gewandt und Rücknahme beantragt. Ganz unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Entscheidung Kühne/Heitz nicht explizit die Frage der Rücknahmepflicht, sondern nur die Frage der Prüfungspflicht war (siehe dazu im einzelnen Gärditz a.a.O. S. 448). Eine Pflicht zur Überprüfung des bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts bedeutet noch nicht die Pflicht zur Aufhebung (Gärditz a.a.O. Rn 105 m.w.N.). Die anlässlich der Entscheidung Kühne/Heitz in Literatur und Rechtsprechung aufgetretenen Unklarheiten (siehe dazu, Epiney a.a.O. S. 410 und Pache/Bieletz, DVBl. 2006, S. 331) sind im übrigen durch die weitere Rechtsprechung des EuGH im wesentlichen beseitigt worden. Die Entscheidung vom 16.3.2006 (- C 234/04 - Kapferer, DVBl. 2006, 569), die allerdings nicht (nur) bestandskräftige, sondern rechtskräftige Entscheidungen betrifft, hat bereits das vorangegangene Urteil Kühne/Heitz relativiert, und der EuGH hat im Urteil vom 19.9.2006 (I 21, a.a.O.) schließlich ausdrücklich ausgeführt, dass - von der Anerkennung der Bestandskraft ausgehend - (Rn 51) eine Überprüfungspflicht der Behörde bei Nichtausschöpfung des Rechtsbehelfsverfahrens grundsätzlich nicht besteht (Rn 53) und dass es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung ist, die Modalitäten einer Rücknahme bzw. einer erneuten Überprüfung festzulegen. Die Überprüfungs- und Rücknahmepflicht nach nationalem Recht (hier: § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) wird damit mit der gemeinschaftsrechtlichen Überprüfungs- und Rücknahmepflicht parallelisiert (EuGH, I 21, a.a.O. Rn 63 f. und Gärditz a.a.O. S. 446 f.); wo das nationale Recht keine Rücknahmepflicht ergibt, lässt sie sich also nicht zusätzlich aus Gemeinschaftsrecht herleiten. Bereits oben ist ausgeführt worden, dass unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergangenen Ausweisung nicht „schlechthin unerträglich“ ist, eine Rücknahmepflicht insoweit also nicht besteht, und diese Überlegungen gelten auch im hier interessierenden Zusammenhang. Der Verzicht des Klägers auf Rechtsbehelfe und die Tatsache, dass der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht keineswegs offensichtlich war - die die Freizügigkeit begründende Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs stammt wie ausgeführt aus einem Zeitraum nach Erlass der Ausweisungsverfügung - stehen auch hier der Annahme einer
Rechts verpflichtung entgegen. Von besonderer Gravität oder gar (zusätzlicher) Offensichtlichkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes kann unter diesen Gesichtspunkten ohnehin nicht ausgegangen werden. Nach den Grundsätzen der I 21-Entscheidung des EuGH (a.a.O.) ist es vielmehr auch gemeinschaftsrechtlich zu akzeptieren, wenn sich das nationale Recht (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) angesichts der hier widerstreitenden Interessen (Rechtssicherheit einerseits, materielle Rechtmäßigkeit andererseits) mit einer Ermessensentscheidung der Behörde begnügt.

42 
3.2 Der Kläger kann die Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der (deklaratorischen) Aufhebung einer unwirksamen oder unwirksam gewordenen Verfügung erreichen; die Voraussetzungen eines solchen „Rücknahme“-Anspruchs (zur Zulässigkeit einer solchen Rücknahme siehe oben vor 1.) sind nämlich nicht gegeben.
43 
Bei Erlass der Ausweisungsverfügung und auch in der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des FreizügG/EU lag kein Grund für die Annahme von Unwirksamkeit (siehe § 43 Abs. 1 und 2 VwVfG) oder gar von Nichtigkeit (§ 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 VwVfG) der Ausweisungsverfügung vor; dies liegt für den Senat auf der Hand und bedarf keiner näheren Ausführungen; sie folgt insbesondere nicht aus dem vom Kläger in diesem Zusammenhang für sich in Anspruch genommenen Urteil des EuGH vom 29.4.1999 (- C 224/97 -, Ciola), das sich lediglich mit strafrechtlichen Folgen des Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtswidrige Verfügungen auseinandersetzt. Die Ausweisungsverfügung ist aber auch nicht durch Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes zum 1.1.2005 unwirksam geworden. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
44 
Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes hätten die nach früherem Recht ergangenen Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern ihre Rechtsgrundlage verloren (so für nicht bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügungen Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, NVwZ 2005, 837; für bestandskräftige Verfügungen OVG Berlin, Beschluss vom 15.3.2006 - 8 S 823/05 -, NVwZ 2006, 953), ist diese Rechtsprechung teilweise nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall Bestandskraft gegeben ist; teilweise kann der Senat ihr aus anderen Gründen nicht folgen. Er schließt sich vielmehr der Gegenmeinung an, die die (fortdauernde) Wirksamkeit bestandskräftig gewordener Ausweisungen bejaht (siehe dazu OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, EzAR; OVG Lüneburg, Beschluss vom 30.6.2006 - 11 LA 147.05 -, AuAS 2006, 185, ebenso schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1885/05 - und Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 -). Das bloße Fehlen einer für Verfügungen nach dem damaligen AufenthG/EWG ergangenen Ausweisung geltenden Übergangsvorschrift bzw. das Fehlen einer Verweisung auf § 102 Abs. 1 AufenthG in § 11 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU begründet fehlende Fortgeltung bereits deswegen nicht, weil sich im vorliegenden Fall die Fortdauer der Wirkungen der Ausweisung bereits unmittelbar aus § 102 Abs. 1 AufenthG ergibt. Die Vorschrift erfasst nämlich im Anwendungsbereich jedenfalls die auf das frühere Ausländergesetz gestützten Ausweisungsverfügungen, und um eine solche Verfügung handelt es sich im vorliegenden Fall, weil die Freizügigkeitsberechtigung und damit die Anwendung des AufenthG/EWG ausdrücklich verneint worden sind und Rechtsgrundlage der Ausweisung gerade das AuslG war. Außerdem ist der Anwendungsbereich des (späteren) FreizügG/EU und damit auch dessen § 11 Abs. 1 noch aus einem anderen Grund nicht gegeben; dieses Gesetz stellt durch die Bezugnahme auf § 1 FreizügG/EU auch in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 auf die Freizügigkeitsberechtigung als Voraussetzung ab. Diese ist aber durch die Bestandskraft der auf das allgemeine Ausländergesetz gestützten Ausweisung entfallen (siehe auch Funke-Kaiser, Rn 2 zu § 102; OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2005 - Bs 79/05 -, InfAuslR 2006, 305; Lüdke, InfAuslR 2005, S. 178; a.A. Gutmann, InfAuslR 2005, 125). Aus der fehlenden Verweisung auf § 102 AufenthG in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU kann daher kein Argument zugunsten des Klägers hergeleitet werden. Im Übrigen hätte es wegen der bereits im Jahr 1998 eingetretenen Bestandskraft der Ausweisungsverfügung einer entsprechend klaren gesetzlichen Regelung bedurft, um die seit Bekanntgabe bestehende und durch die Bestandskraft verstärkte Wirksamkeit des Verwaltungsakts nach § 43 Abs. 2 VwVfG zu beseitigen; Die amtliche Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes lässt eine so weitgehende Absicht nicht erkennen (BT-Drs. 15/420, S. 101 ff. S. 105 f.; siehe auch OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005, a.a.O.).
45 
Die Bestandskraft und die damit eingetretene Wirkung der Ausweisungsverfügung ist auch nicht kraft Gemeinschaftsrechts entfallen; dies ergibt sich bereits daraus, dass das Gemeinschaftsrecht - wie oben ausgeführt - das Institut der Bestandskraft durchaus anerkennt und bei Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eigene Instrumente - wie das Recht zur Überprüfung der Verfügung - entwickelt hat, um gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dieser rechtlichen Instrumente hätte es nicht bedurft, wenn gemeinschaftsrechtlich sogar von der Unwirksamkeit (oder vom Unwirksamwerden) solcher Verfügungen auszugehen wäre. Dass in der Rechtsprechung der Strafgerichte bei Verstößen gegen solche Verfügungen unter Berufung auf den EuGH (Ciola a.a.O.) Strafbarkeit z.T. nicht mehr angenommen wird (siehe OLG Hamburg a.a.O. und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6.12.2006 3 Ws 346/05), steht dem nicht entgegen; insoweit handelt es sich um eine speziell strafrechtliche Fragestellung, die der Senat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zu beantworten braucht.
46 
4. Da der Kläger damit mit der Klage lediglich einen Teil seines mit dem Hauptantrag verfolgten Begehrens erreicht hat, waren ihm die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge teilweise aufzuerlegen (siehe § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO); der Senat geht dabei davon aus, dass der Kläger zu einem Drittel im Berufungsverfahren unterlegen ist.
47 
Die Revision war zuzulassen, da insbesondere die Frage der Wirksamkeit sog. altrechtlicher Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern in der obergerichtlichen Rechtsprechung strittig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist (siehe § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
48 
Beschluss
49 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
21 
Die zulässige, insbesondere rechtzeitig begründete Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) hat Erfolg, soweit der Kläger neben der Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 29.9.2004 die Verpflichtung des beklagten Landes zur erneuten Entscheidung über den Antrag auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 begehrt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO); die darüber hinausgehende Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme dieser Verfügung war allerdings abzuweisen, da dem Kläger kein entsprechender Rücknahmeanspruch zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Da die Klage damit im Hauptantrag (teilweise) Erfolg hat und das erstinstanzliche Urteil insofern abzuändern war, braucht über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden (vgl. auch Sodan/Ziekow, VwGO, 2006, Rn 111 vor § 124).
22 
Gegenstand des mit der Berufung in erster Linie verfolgten Hauptantrags ist der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Rücknahme der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 4.3.1998 nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG; die damit verbundene Abschiebungsandrohung ist von dem sich auf die “Ausweisungsanordnung“ beschränkenden Berufungsantrag nicht umfasst, und auch eine (zusätzliche) Klage auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Sinn von § 51 VwVfG ist nicht erhoben, da der anwaltlich vertretene Kläger sowohl bei der Behörde als auch beim Verwaltungsgericht ausdrücklich einen Rücknahmeantrag gestellt hat. Dieser Antrag umfasst allerdings bei sachdienlicher Auslegung (§§ 86 Abs. 3, 88 VwGO) nicht nur einen denkbaren Rücknahmeanspruch nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wegen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, sondern es ist auf diesen Antrag hin auch zu prüfen, ob der Beklagte deswegen zur „Rücknahme“ der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung verpflichtet ist, weil diese rechtlich unwirksam ist. Die Unwirksamkeit der Verfügung hat der Kläger in Anlehnung an die Rechtsprechung des Hess. VGH und des OVG Berlin (im einzelnen siehe dazu unten) in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich als Klagegrund geltend gemacht, und es ist anerkannt, dass bei einem unwirksamen - oder: wie hier allenfalls unwirksam gewordenen - Verwaltungsakt eine (klarstellende) behördliche Rücknahme des Verwaltungsakts möglich und aus Gründen der Beseitigung des Rechtsscheins gegebenenfalls auch erforderlich ist (siehe dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 2003, Rn 19a zu § 48; siehe auch Bay. VGH, Urteil vom 12.10.1989 - 26 B 86.02944 -, NVwZ-RR 1991, 117; Hess. VGH, Urteil vom 29.3.2006 - 6 UE 2874/04 - juris und BSG, Urteil vom 23.2.1989 - NVwZ 1989, 902). Bei einer solchen Fallgestaltung ist der Kläger nicht darauf verwiesen, Feststellungsklage nach § 43 Abs. 2 VwGO zu erheben (siehe dazu Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 63 und 71 zu § 43; BSG a.a.O.), was im vorliegenden Fall als Klageänderung im Berufungsverfahren ohnehin prozessual nicht unproblematisch wäre.
23 
Der mit der Berufung verfolgte Anspruch des Klägers auf Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung hat jedoch nur teilweise Erfolg. Da diese Verfügung rechtswidrig war, war das Rücknahmeermessen der Behörde nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnet (1); es wurde allerdings weder in der Ablehnungsverfügung vom 29.9.2004 noch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt, so dass der Beklagte zu einer entsprechenden Bescheidung nach der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten war (2). Ein darüber hinaus gehender unbedingter Rücknahmeanspruch besteht dagegen nicht (3).
24 
1. Der Kläger ist nicht bereits deswegen rechtlich daran gehindert, die nach seiner Auffassung bei Ergehen der Ausweisungsverfügung bestehende Rechtswidrigkeit geltend zu machen, weil er zuvor der Behörde gegenüber am 15.2.1998 erklärt hatte, er beantrage seine Abschiebung und habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, weil er mit Freundin und Kindern nach Italien gehe. Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Rücknahmeverlangen nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht darauf abstellt, auf welche Weise der Verwaltungsakt bestandskräftig geworden ist; selbst ein Verzicht auf einen Widerspruch schließt damit ein späteres Rücknahmebegehren nicht aus. Erst recht gilt dies in einem Fall wie dem vorliegenden: Die Einverständniserklärung des Klägers vor Erlass des Verwaltungsakts steht nämlich einem Widerspruchsverzicht nicht gleich (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 20.1.1967 - VII C 191.64 -, NJW 1967, 2027; Kopp/Schenke, VwGO, 2005, Rn 11 zu § 69 und Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 96 zu § 69 Fn 106). Die zur Bestandskraft des Verwaltungsakts führenden konkreten Umstände und insbesondere das Verhalten des Klägers der bevorstehenden Ausweisung gegenüber schließen eine Rücknahme also nicht aus; sie sind allenfalls Gesichtspunkte, die bei der Ausübung des Rücknahmeermessens von Bedeutung sind (siehe auch Senat, Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Kopp/Ramsauer, a.a.O., RN 52 f. zu § 48).
25 
Für die damit im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entscheidungserhebliche Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisung des Klägers stellt der Senat auf den Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung ab; da der Kläger zu diesem Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war, kann offen bleiben, inwieweit eine erst später eintretende Rechtswidrigkeit ein Rücknahmeverfahren eröffnen kann (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 28.10.2004 - 1 C 13.03 -, NVwZ-RR 2005, 341; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 24.9.2001 - 8 S 641/01 -, VBlBW 2002, 208, 209).
26 
Die Rechtswidrigkeit der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung schon zum Zeitpunkt ihres Erlasses ergibt sich für den Senat allerdings nicht bereits aus den Vorschriften des damals geltenden Ausländergesetzes selbst - tatbestandlich lag ein Fall der Regelausweisung durchaus vor - und auch nicht aus den einfachrechtlichen Modifikationen der Ausweisung, die das damalige AufenthG/EWG insbesondere in § 12 enthielt; auch diese Vorschriften, insbesondere das Erfordernis einer Wiederholungsgefahr (§ 12 Abs. 3 und 4 AufenthG/EWG) sind eingehalten worden. Der Senat ist auch nicht der Auffassung, dass die Ausweisung des Klägers als eines Ausländers der sog. zweiten Generation aus Gründen des als Gesetzesrecht zu beachtenden Art. 8 Abs. 1 EMRK rechtswidrig war; angesichts der erheblichen Vorstrafen des Klägers und der jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt offen zu Tage liegenden Wiederholungsgefahr hinsichtlich gravierender Delikte war der mit der Ausweisung verbundene Eingriff in das Schutzgut „Familienleben“ im Sinn des Art. 8 Abs. 1 EMRK für die öffentliche Sicherheit bzw. zur Verhütung von Straftaten im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK notwendig und verhältnismäßig (s. dazu Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts - Grundrechtsschutz, 2006, S. 66, 67 m.w.N. und die Nachweise bei Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 16 Rn 94 m.w.N.) In Fällen wie dem vorliegenden hätte auch nicht notwendigerweise mit der Ausweisung selbst schon über eine Befristung der Wirkungen entschieden werden müssen. Eine solche zusätzliche Entscheidung lag im Fall des Klägers zum damaligen Zeitpunkt bereits wegen dessen vorangegangener Erklärung, er habe in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr zu suchen, nicht nahe; sie war aber auch nicht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) geboten. Zwar hat der EGMR in mehreren Entscheidungen eine Ausweisung eines Ausländers also unverhältnismäßig beurteilt, die keine Befristungsentscheidung enthielt (siehe Urteile vom 17.4.2003 - Yilmaz -, NJW 2004, 2147, 2149; Urteil vom 22.4.2004 - Radovanovic -, InfAuslR 2004, 374 und Urteil vom 27.10.2005 - Keles -, InfAuslR 2006, 3); das deutsche Recht wird dem dieser Rechtsprechung zugrunde liegenden Gedanken der Verhältnismäßigkeit aber dadurch gerecht, dass es im Regelfall einen Befristungsanspruch gewährt (siehe damals § 8 Abs. 2 AuslG und heute § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG und BVerwG, Beschluss vom 27.6.1997 - 1 B 126/97 -, Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 13).
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Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben; ein im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG beachtlicher Verstoß der Ausweisungsverfügung gegen Rechtsvorschriften ergibt sich nämlich daraus, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt freizügigkeitsberechtigt war und dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Bindungen zu beachten waren (1.1). Insbesondere durfte der Kläger nicht nach den Vorschriften der Regelausweisung ausgewiesen werden, sondern es war Ermessen auszuüben (1.2). Auf das Vorliegen weiterer gemeinschaftsrechtlicher Bindungen und die Frage, ob sie eingehalten sind, kommt es danach nicht mehr an (1.3).
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1.1. Ob der Kläger zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt war, ist zweifelhaft, kann letztlich aber offen bleiben. Mangels Arbeitnehmereigenschaft bzw. Arbeitssuche liegen die Voraussetzungen der Verordnungen Nr. 1612/68/EWG und 1251/70/EWG über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft nicht vor (siehe Art. 1 und Art. 2 VO 1612/68/EWG); daraus folgt auch das Fehlen eines Freizügigkeitsrechts entsprechend der RL 68/360/EWG (Art. 1 und Art. 4 Abs. 1). Unabhängig von der Frage der Arbeitnehmereigenschaft und Erwerbstätigkeit leitet der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings ein allgemeines Freizügigkeitsrecht bereits aus der (bei dem Kläger als italienischem Staatsangehörigen bestehenden) Unionsbürgerschaft (Art. 18 EG) her; dies gilt jedenfalls seit der Entscheidung Baumbast (siehe EuGH, Urteil vom 17.9.2002 - C 413/99 -, InfAuslR 2002, 463, Rn 84/8Rn 84/85; zur früheren Rechtslage vgl. auch BVerwG, Vorlageentscheidung vom 18.9.2001 - 1 C 17/00 -, NVwZ 2002, 339 m.w.N.). In der Folgezeit hat der EuGH diese Rechtsprechung fortgeführt und bestärkt (siehe Urteil vom 29.4.2004 - Orfanopoulos und Oliveri -, - C 282/01 -, Rn 65, NVwZ 2004, 1099; Urteil vom 15.3.2005 - Bidar -, - C 209/03 -, Rn 36, NJW 2005, 2055; Urteil vom 23.3.2006 - Kommission -, - C 408/03 -, Rn 37, NVwZ 2006, 918), und Literatur und nationale Rechtsprechung sind dem weitgehend gefolgt (siehe Sander, DVBl. 2005, 1014 und Westphal/Stoppa, InfAuslR 2004, 133; Lenz/Borchardt, EU- und EGV, 2006, RN 2 zu Art. 18; siehe auch Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, AuAS 2005, 74). Allerdings hat der Europäische Gerichtshof in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 7.9.2004 - C 456/02 -, -Trojani-, Rn 36, InfAuslR 2004, 417) zu den „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit im Sinn des Art. 18 Abs. 1 EG ausgeführt, bei Fehlen ausreichender Existenzmittel im Sinn der RL 90/364/EWG erwachse dem Unionsbürger kein Recht zum Aufenthalt; diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass bei Nichterfüllung dieser Beschränkungen und Bedingungen die Unionsbürgerschaft allein zur Entstehung des Freizügigkeitsrechts noch nicht ausreicht. Dass im Fall des Klägers ausreichende Existenzmittel im Sinn der genannten Richtlinie im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung nicht vorhanden waren, liegt für den Senat angesichts des Fehlens gesicherter Einkünfte und seiner schweren Erkrankung mehr als nahe; selbst wenn er in gewissem Umfang von seiner damaligen Ehefrau und/oder seinen italienischen Eltern unterstützt worden sein mag, dürfte es jedenfalls an ausreichender Krankheitsvorsorge gefehlt haben (vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 19.10.2004 - C 200/02 -, - Chen -, InfAuslR 2004, 413 und vom 23.3.2006, a.a.O.). Hiervon abgesehen geht der EuGH jedenfalls dann vom Fehlen bzw. Erlöschen des Freizügigkeitsrechts aus, wenn die Nichterfüllung der „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) dem Betroffenen „entgegengehalten“ worden ist (siehe EuGH, Bidar, a.a.O., Rn 36). Eine derartige behördliche Entscheidung - zum neuen Recht siehe § 7 Abs. 1 FreizügG/EU - kann hier durchaus in der Ausweisungsverfügung selbst gesehen werden, die dem Kläger ausdrücklich wegen fehlender Existenzmittel und wegen fehlenden Krankenversicherungsschutzes gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit abgesprochen hat (S. 6 f. der Ausweisungsverfügung) und die der Kläger ebenso wie die Ausweisung selbst akzeptiert hat.
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Letztlich kann der Senat jedoch offen lassen, ob der Kläger sich zum damaligen Zeitpunkt auf ein Freizügigkeitsrecht aus eigenem Recht berufen konnte; er war jedenfalls aus abgeleitetem Recht als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt. Ein solches Recht scheidet nicht bereits deswegen aus, weil der Kläger bereits im Bundesgebiet geboren wurde und es damit „an sich“ an dem erforderlichen grenzüberschreitenden Element fehlt (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 19/20). Ob der Kläger als Familienangehöriger von seiner italienischen Mutter oder von seinem italienischen Stiefvater (siehe dazu EuGH , Urteil vom 30.9.2004 - C 275/02 -, - Ayaz -, InfAuslR 2004, 416 und Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Rn 17 zu § 3 FreizügG) ein Freizügigkeitsrecht ableiten konnte, obwohl er über 21 Jahre alt war, insbesondere ob ausreichende Unterhaltsleistungen der Stammberechtigten vorlagen (siehe dazu EuGH, Chen, a.a.O., und Kommission, a.a.O.), ist angesichts der Einstellung der Eltern des Klägers zu seiner Drogenabhängigkeit fragwürdig; der Senat braucht diese Fragen jedoch nicht zu entscheiden, weil der Kläger jedenfalls von seinen Kindern als Stammberechtigte ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht herleiten konnte. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
30 
Die Kinder des Klägers sind (auch) italienische Staatsangehörige (siehe Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 8 (Italien), S. 6 mit Hinweis auf Art. 1 des italienischen Gesetzes 91/1992 vom 5.2.1992). Die Tatsache, dass sie daneben die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ändert an ihrer Eignung als „Stammberechtigte“ nichts (siehe EuGH, Urteil vom 7.7.1992 - C 369/90 -, - Micheletti -, InfAuslR 1992, 2). Kraft ihrer Rechtsstellung als Unionsbürger konnten die Kinder des Klägers diesem trotz ihrer Geburt in Deutschland ein Freizügigkeitsrecht vermitteln (siehe dazu EuGH - Chen -, a.a.O.), und sie selbst waren nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unmittelbar aus Art. 18 Abs. 1 EG freizügigkeitsberechtigt. Dabei ist es ohne rechtliche Bedeutung, dass die maßgebende Rechtsprechung des EuGH sowohl zum Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Art. 18 EG als auch zur „Erstreckung“ des Freizügigkeitsrechts von Kindern auf Eltern (s. dazu unten) erst nach Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt worden ist; sie erfasst auch zurückliegende Tatbestände, die im Sinn der „geläuterten“ Rechtsprechung zu beurteilen sind (siehe dazu EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask -, Slg I 06783, Rn 36,37; vgl. auch die Rechtsprechung des BVerwG zum Verständnis der RL 64/221/EWG, Urteile vom13.9.2005 - 1 C 7.04 -, InfAuslR 2006, 110, und vom 6.10.2005 - 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 114 und Kopp/Ramsauer, a.a.O. Rn 35 zu § 48 m.w.N.). Dass die Kinder des Klägers ihrerseits die „Beschränkungen und Bedingungen“ der Freizügigkeit (siehe Art. 18 Abs. 1 EG) unter irgendeinem Gesichtspunkt (Existenzmittel, Krankheitsvorsorge) nicht erfüllt hätten, ist nicht ersichtlich; erst recht ist ihnen ein solcher Tatbestand im Sinn der Rechtsprechung des EuGH (Bidar, a.a.O.) auch nicht „entgegengehalten“ worden. Aus dieser Rechtsstellung folgt, dass nicht nur sie selbst im maßgebenden Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung freizügigkeitsberechtigt waren, sondern dass zusätzlich eine Gefährdung ihres Freizügigkeitsrechts durch eine Ausweisung ihres Vaters gemeinschaftsrechtlich zu vermeiden war (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O. Rn 72 f. und Chen, a.a.O. Rn 45). In den genannten Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof nämlich ein den Kindern zustehendes Freizügigkeitsrecht in bestimmten Fällen auf die Eltern erstreckt; er hat sich dabei an der Überlegung orientiert, dass das einem Kind nach der Gemeinschaftsgesetzgebung zustehende Recht verloren gehen könnte, wenn den Eltern die Möglichkeit versagt würde, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu verbleiben. Dies gilt nach Auffassung des EuGH jedenfalls für solche Eltern, die die Personensorge tatsächlich wahrnehmen und sich bei dem Kind aufhalten (siehe EuGH, Baumbast, a.a.O., Rn 71 und 73; siehe auch EuGH - Chen -, a.a.O. Rn 45). Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser „Erstreckung“ des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Kinder auf die Eltern waren im Fall des Klägers auch gegeben:
31 
Zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung lagen - bezogen auf den Kläger, seine damalige Noch-Ehefrau und die beiden Kinder - die ein „Familienleben“ im Sinn der (auf Art. 8 Abs. 1 EMRK Bezug nehmenden) Rechtsprechung des EuGH begründenden Umstände vor; der Kläger wohnte mit seinen Familienangehörigen zusammen, und es ist auch davon auszugehen, dass die in den genannten Urteilen für eine Erstreckung der Freizügigkeit vorausgesetzte tatsächliche Personensorge für die Kinder (auch) von ihm wahrgenommen wurde (zu den Anforderungen des Art. 8 EMRK siehe Grote/Marauhn, a.a.O. Kap. 16 Rn 41 und Breitenmoser/Riemer/Seitz, a.a.O., S. 59 und 60). Der tatsächliche Kontakt, auf den es in diesem Zusammenhang ankommt, endete auch nicht in den Zeiträumen, in denen der Kläger inhaftiert war; es bestand regelmäßiger Besuchskontakt (alle zwei Wochen) mit seiner damaligen Ehefrau und den Kindern (RP-Akten S. 26), und auch sonst hatte - wie aus den Ausländerakten der Stadt Fellbach hervorgeht - keine Seite die Absicht, die familiäre Lebensgemeinschaft zu beenden (siehe etwa Vermerke vom 25.11.1997 und 16. und 18.12.1997). Die Inhaftierungszeiten haben damit den der Rechtsprechung des EuGH zur Erstreckung des Freizügigkeitsrechts auf Eltern zugrunde liegenden familienrechtlichen Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht berührt (vgl. dazu auch Grote/Maraun, a.a.O., Kap. 16 Rn 45 m.w.N.).
32 
Die dem Schutz des Freizügigkeitsrechts der Kinder dienende Erstreckung dieses Rechts auf ihren Vater scheitert im vorliegenden Fall auch nicht daran, dass die Kinder gleichzeitig deutsche Staatsangehörige sind. Zwar folgt hieraus, dass naturgemäß ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland zu keinem Zeitpunkt in Frage stand; die gegen den Kläger ergangene Ausweisung setzte aber gleichwohl die Familienangehörigen dem mittelbaren Druck aus, dem Kläger nach Italien zu folgen. Dass es im vorliegenden Fall hierzu nicht kam, weil die Kinder und ihre Mutter sich für den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden, ändert daran nichts, zumal der weitere Zusammenhalt der Familienangehörigen in der illegalen Wiedereinreise des Klägers und in seinen (heimlichen) Besuchen bei der Familie zum Ausdruck kommt. Es spricht mehr dafür, dass die Familienangehörigen des Klägers die bevorstehende Trennung nicht durch ihre Nachreise nach Italien, sondern durch weiteren Kontakt in der Illegalität verhindern bzw. entschärfen wollten. Da die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Entscheidungen Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) eine für Kinder bei Ausweisung eines Elternteils entstehende Zwangslage vermeiden will, ist sie auch auf Fallgestaltungen wie die hier vorliegende anwendbar.
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Auf das aus seinen Kindern abgeleitete Freizügigkeitsrecht hat der Kläger schließlich auch nicht durch seine Erklärung vom 15.2.1998 verzichtet. Wie bereits ausgeführt worden ist, betraf diese Erklärung nur die konkret bevorstehende Abschiebung; mit ihr wollte der Kläger für die Behörde erkennbar eine vorzeitige Haftbeendigung in Deutschland erreichen. In der mündlichen Verhandlung hat er dazu glaubhaft angegeben, es sei ihm darum gegangen, möglichst früh in Italien wieder an Drogen zu kommen. Als Verzicht auf ein Freizügigkeitsrecht, das ihn auch zur Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland berechtigen würde, ist diese Erklärung nicht aufzufassen, ganz abgesehen davon, dass es insofern offenbar an einem verbindlichen rechtlichen Erklärungswillen - sozusagen für alle Zukunft - fehlte und ein wesentliches Element der Erklärung - die Mitausreise der Familienangehörigen - nicht Realität wurde. Insofern sind strenge Anforderungen zu stellen; sogar bei einer Ausreise „zum Sterben in der Heimat“ hat die Rechtsprechung die Annahme eines Freizügigkeitsverzichts abgelehnt (siehe dazu und zu den Voraussetzungen eines solchen Verzichts OVG Koblenz, Beschluss vom 17.6.1996 - 11 B 11155/96 -, InfAuslR 1996, 337 m.w.N.). Verzichtserklärungen im europäischen Recht sind auf die konkrete Handlung beschränkt und nicht mit Zukunftswirkung verbunden (siehe dazu Umbach/Clemens, GG, 2002, Rn 8 zu Art. 18). Insofern gilt nichts anderes als bei grundgesetzlich gewährleisteten Rechten (siehe dazu im einzelnen Jarass/Pieroth, GG, 2004, Vorbem. vor Art. 1, Rn 36 und Dreier, GG, 1996, Vorbem. 83, je m.w.N.). Auch ist zu bedenken, dass zum damaligen Zeitpunkt ein aus dem Unionsbürgerrecht selbst fließendes Aufenthaltsrecht noch nicht durch den Europäischen Gerichtshof anerkannt war; 1997 hatte der Europäische Gerichtshof noch entschieden, dass die Unionsbürgerschaft keine Ausdehnung der Rechtsstellung bewirken wolle (siehe dazu Lenz/Borchardt, a.a.O., Rn 2 zu Art. 18). Für einen entsprechenden Verzichtswille fehlt es daher zum damaligen Zeitpunkt an einer Grundlage.
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1.2. Konsequenz des dem Kläger nach diesen Ausführungen bei Erlass der Ausweisungsverfügung zustehenden Freizügigkeitsrechts war, dass entsprechende gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschranken anzuwenden waren; insbesondere schied im Fall des Klägers eine (nach nationalem Recht zutreffende) Regelausweisung aus und es war Ausweisungsermessen auszuüben. Der Europäische Gerichtshof hat - allerdings erst im Jahr 2004, aber gleichwohl mit Wirkung auch für frühere Ausweisungsfälle (siehe dazu oben 1.1) -entschieden, dass bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern die Tatbestände der zwingenden und der Regelausweisung als Rechtsgrundlagen ausscheiden; solche Ausländer dürfen nur aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden (siehe dazu EuGH, Urteil vom 29.4.2004 - Rs C 482/01 - und C 493/01 - Orfanopoulos und Oliveri, DVBl. 2004, 876), und das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen (Urteil vom 3.8.2004 - 1 C 30.02 -, NVwZ 2004, 1099). Die frühere - abweichende - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist damit aufgegeben worden. Im Licht dieser - allerdings neueren - Rechtsprechung könnte die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung im Verfahren über den Rücknahmeantrag nur dann als rechtmäßig beurteilt werden, wenn die Behörde die Ausweisung des Klägers nicht nur auf den Tatbestand der Regelausweisung gestützt, sondern hilfsweise Ermessen ausgeübt hätte. Dies ist hier aber nicht geschehen. Die Behörde ging ausdrücklich von einer sog. Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus, die wegen der ausländerrechtlichen Privilegierung des Klägers als Vater zweier deutscher Kinder in eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 AuslG herabgestuft wurde (§ 47 Abs. 3 Satz 1 AuslG); die Behörde hat danach lediglich noch geprüft, ob eine atypische Fallgestaltung vorliegt, die eine Ermessensausweisung gebietet (S. 9 ff. der Ausweisungsverfügung), und diese Frage verneint. Die Verfügung setzt sich zwar bei der Prüfung, ob eine atypischen Fallgestaltung gegeben ist, mit der bisherigen Lebensführung des Klägers im einzelnen auseinander; diese Gesichtspunkte können aber nicht in eine Ermessensausübung „umgedeutet“ werden, da Rechtserwägungen im Zusammenhang mit der Problematik der Atypik keine Ermessenserwägungen sind (so ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 19.11.1996 - 1 C 25/94 -, InfAuslR 1997, 152). Die Tatsache, dass bei der Prüfung der Atypik alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (siehe BVerwG, Urteil vom 26.2.2002 - 1 C 21/00 -, NVwZ 2002, 1512), begründet daher nicht die Annahme einer Ermessensentscheidung; die Atypik führt erst tatbestandsmäßig zur Ermessensausübung (siehe BVerwG, Urteil vom 31.8.2004 - 1 C 25/03 -, NVwZ 2005, 229).
35 
1.3. Der Senat kann offen lassen, ob die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger nicht nur wegen unterbliebener Ermessensausübung, sondern auch wegen Verletzung des Art. 9 RL 64/221/EWG als rechtswidrig anzusehen ist (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 13.9.2005, a.a.O. und vom 6.10.2005, a.a.O.), ob der in dieser Richtlinie gebotene verfahrensrechtliche Schutz wegen der Einwilligung des Klägers in seine Ausweisung bzw. Abschiebung entbehrlich war und ob ein gegebenenfalls vorliegender Rechtsverstoß durch den späteren Wegfall der Richtlinie gegenstandslos geworden ist (siehe dazu VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.10.2006 - 13 S 192/06 -). Offensichtlich fehlerhaft wäre allerdings die Annahme, es hätten im Weg der sog. Vorwirkung bereits damals (1998) die materiellen Ausweisungsvoraussetzungen der weitaus späteren RL 2004/38/EG gegolten.
36 
2. Aus der wegen Ermessensunterschreitung vorliegenden Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung ergibt sich, dass entgegen der Auffassung der Behörde tatbestandsmäßig eine Rücknahme nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Betracht kam; die Behörde war dementsprechend verpflichtet, über den Rücknahmeantrag nach Ermessen zu entscheiden. Die Behörde hat jedoch in der Verfügung vom 29.9.2004 den Antrag auf Rücknahme der Ausweisung aus Rechtsgründen, d.h. wegen fehlender Rechtswidrigkeit der Verfügung, abgelehnt (S. 3 der Verfügung); (wenigstens) hilfsweise Ermessensausübung liegt auch insofern nicht vor, zumal die weiteren Ausführungen der Behörde im Zusammenhang mit dem Hilfsantrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung bzw. Abschiebung nicht als Ermessensausführungen im Zusammenhang mit § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG aufgefasst werden können (siehe dazu auch oben). Das Rücknahme-Ermessen ist auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden; insbesondere liegt kein „Ergänzen“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO vor. Im gerichtlichen Verfahren hat die Behörde an ihrer Auffassung zur Rechtmäßigkeit der Verfügung festgehalten. Sie hat zwar ausgeführt, ihr müsse noch die Möglichkeit der Nachholung des Ermessens gegeben werden, und sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 3.8.2004 (a.a.O.) bezogen; damit verkennt sie aber, dass diese Entscheidung die Anfechtungsklage gegen eine Ausweisungsverfügung und nicht - wie hier - eine Klage auf Rücknahme dieser Verfügung betrifft. Die Verweisung auf das Befristungsverfahren ist keine Ermessensbetätigung im Rücknahmeverfahren, und eine bestandskräftig gewordene „Alt-Ausweisung“ kann auch nicht in eine nach Voraussetzungen und Struktur unterschiedliche Feststellung nach § 6 FreizügG umgedeutet werden (siehe auch OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05 -, InfAuslR 2006, 118, 120). Im übrigen wäre wegen des ursprünglichen Fehlens von Ermessenserwägungen überhaupt eine bloße „Ergänzung“ im Sinn des § 114 Satz 2 VwGO nicht zulässig (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 5.9.2006 - 1 C 20.05 -, juris und VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.11.2006 - 13 S 1566/06 -). Die aufgrund der aktuellen EuGH-Rechtsprechung (Entscheidung Orfanopoulos a.a.O.) vom Bundesverwaltungsgericht über § 114 Satz 2 VwGO hinaus eingeräumte generelle Nachholmöglichkeit ist hier nicht geboten, da die Rechtswidrigkeit der Ausweisungsverfügung hier nicht auf neuen Erkenntnissen während des Anfechtungsverfahrens beruhte, sondern auf der bereits 2002 eingeleiteten Rechtsprechung zu Art. 18 EG und zur Erstreckung der Freizügigkeit auf Kinder (siehe oben), die ohne weiteres (wenigstens hilfsweise) im Ablehnungsbescheid von 2004 hätte berücksichtigt werden können.
37 
3. Die danach vorliegende Ermessensunterschreitung führt allerdings nur zu einer entsprechenden Bescheidungsverpflichtung des beklagten Landes nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO; eine darüber hinausgehende Verpflichtung des Beklagten zur unmittelbaren Rücknahmeentscheidung kam nicht in Betracht, so dass die auf dieses Ziel gerichtete Klage (teilweise) abzuweisen war. Einen direkt auf Rücknahme der Ausweisungsverfügung gerichteten Anspruch kann der Kläger nicht unter dem Gesichtspunkt der sog. Ermessensreduzierung auf die Rücknahme als einzig rechtlich zutreffende Entscheidung verlangen (3.1), und eine Pflicht der Behörde zur (in diesem Fall: deklaratorischen) Rücknahme besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Unwirksamkeit der Ausweisungsverfügung (3.2).
38 
3.1. Weder nationales Recht noch Gemeinschaftsrecht gebieten es im vorliegenden Fall dem beklagten Land, die gegen den Kläger ergangene Ausweisungsverfügung zurückzunehmen.
39 
Für das nationale Recht folgt dies daraus, dass im Rahmen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG im Hinblick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit einerseits und das der Rechtssicherheit andererseits nur ausnahmsweise ein Rücknahmeanspruch besteht; die Aufrechterhaltung des Bescheides müsste dann „schlechthin unerträglich“ sein (siehe dazu z.B. BVerwG, Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 -, DÖV 2005, 651 m.w.N.). Eine solche Fallgestaltung ist hier nicht gegeben; einmal war der Kläger, was für die Ermessensausübung durchaus relevant sein kann, mit seiner Abschiebung zum damaligen Zeitpunkt einverstanden, und zum anderen erscheint die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung auch nicht deswegen im Sinn der oben angeführten Rechtsprechung „schlechthin unerträglich“, weil die zur Annahme der Rechtswidrigkeit führende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum abgeleiteten Freizügigkeitsrecht von Kindern und zum Unionsbürgerrecht erst Jahre nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entwickelt wurde. Auch ergibt sich eine Ermessensreduzierung nicht aus dem Verhalten der Behörde selbst oder daraus, dass das Rücknahmeinteresse des Betroffenen eindeutig und offensichtlich schwerer wiegen würde als das öffentliche Interesse an einer Rücknahme (zu diesen Kriterien siehe Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn 55 zu § 48). Im übrigen käme es in diesem Zusammenhang bei der Ermessensausübung auch auf die Frage an, ob der Kläger in der Tat zum Entscheidungszeitpunkt drogenfrei ist und wie die Rückfallprognose aussieht.
40 
Auch Gemeinschaftsrecht verpflichtet den Beklagten zur Rücknahme der Ausweisungsverfügung nicht. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
41 
Dass Gemeinschaftsrecht in Fällen der vorliegenden Art keinen unbedingten Rücknahmeanspruch begründet, hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seiner bisherigen Rechtsprechung ausgeführt (siehe z.B. Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 - und Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1895/05 -), und dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 15.3.2005 - 3 B 86/04 - a.a.O.). Vom nationalen Recht vorgesehene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung - mit der Folge der Bestandskraft bei Nichteinhaltung dieser Fristen - sind nämlich deswegen grundsätzlich mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, weil sie ein Anwendungsfall des auch für das Gemeinschaftsrecht grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit sind (siehe EuGH, Urteil vom 2.12.1997 - C 188/95 -, Fantask, Slg I O6783, Rn 45; Urteil vom 13.1.2004 - C 453/00 -, Kühne und Heitz, DVBl. 2004, 373, Rn 24 und zuletzt Urteil vom 19.9.2006 - C 392/04 -und - C 422/0C 422/04 -, I 21, NVwZ 2006, 1277 Rn 51). Während die frühere Rechtsprechung des EuGH die Frage der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakte nicht problematisiert hatte (siehe dazu die Nachweise bei Gärditz, NWVBl. 2006, 442 Fn 34 f. und beispielhaft EuGH, Urteil vom 2.12.1997, a.a.O.), hat erstmals die Entscheidung Kühne und Heitz (a.a.O.) bestimmte Voraussetzungen für eine behördliche Pflicht zur Überprüfung bestandskräftiger gemeinschaftswidriger Verwaltungsakte formuliert (siehe dazu auch Epiney, NVwZ 2006, 410 f.). Diese Bedingungen sind im vorliegenden Fall nicht (kumulativ) erfüllt: Zwar ist die Behörde nach nationalem Recht (hier: § 48 VwVfG) zur Rücknahme befugt, die Bestandskraft der Entscheidung beruht aber nicht wie im Fall Kühne/Heitz auf einem nationalen Gerichtsurteil, das die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG verletzt hat, und der Betroffene hat sich auch nicht unmittelbar nach Kenntniserlangung von der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung (hier: Urteile Baumbast und Chen, jeweils a.a.O.) an die Behörde gewandt und Rücknahme beantragt. Ganz unabhängig hiervon ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Entscheidung Kühne/Heitz nicht explizit die Frage der Rücknahmepflicht, sondern nur die Frage der Prüfungspflicht war (siehe dazu im einzelnen Gärditz a.a.O. S. 448). Eine Pflicht zur Überprüfung des bestandskräftigen, aber gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts bedeutet noch nicht die Pflicht zur Aufhebung (Gärditz a.a.O. Rn 105 m.w.N.). Die anlässlich der Entscheidung Kühne/Heitz in Literatur und Rechtsprechung aufgetretenen Unklarheiten (siehe dazu, Epiney a.a.O. S. 410 und Pache/Bieletz, DVBl. 2006, S. 331) sind im übrigen durch die weitere Rechtsprechung des EuGH im wesentlichen beseitigt worden. Die Entscheidung vom 16.3.2006 (- C 234/04 - Kapferer, DVBl. 2006, 569), die allerdings nicht (nur) bestandskräftige, sondern rechtskräftige Entscheidungen betrifft, hat bereits das vorangegangene Urteil Kühne/Heitz relativiert, und der EuGH hat im Urteil vom 19.9.2006 (I 21, a.a.O.) schließlich ausdrücklich ausgeführt, dass - von der Anerkennung der Bestandskraft ausgehend - (Rn 51) eine Überprüfungspflicht der Behörde bei Nichtausschöpfung des Rechtsbehelfsverfahrens grundsätzlich nicht besteht (Rn 53) und dass es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung ist, die Modalitäten einer Rücknahme bzw. einer erneuten Überprüfung festzulegen. Die Überprüfungs- und Rücknahmepflicht nach nationalem Recht (hier: § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) wird damit mit der gemeinschaftsrechtlichen Überprüfungs- und Rücknahmepflicht parallelisiert (EuGH, I 21, a.a.O. Rn 63 f. und Gärditz a.a.O. S. 446 f.); wo das nationale Recht keine Rücknahmepflicht ergibt, lässt sie sich also nicht zusätzlich aus Gemeinschaftsrecht herleiten. Bereits oben ist ausgeführt worden, dass unter dem Gesichtspunkt des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Aufrechterhaltung der gegen den Kläger ergangenen Ausweisung nicht „schlechthin unerträglich“ ist, eine Rücknahmepflicht insoweit also nicht besteht, und diese Überlegungen gelten auch im hier interessierenden Zusammenhang. Der Verzicht des Klägers auf Rechtsbehelfe und die Tatsache, dass der Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht keineswegs offensichtlich war - die die Freizügigkeit begründende Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs stammt wie ausgeführt aus einem Zeitraum nach Erlass der Ausweisungsverfügung - stehen auch hier der Annahme einer
Rechts verpflichtung entgegen. Von besonderer Gravität oder gar (zusätzlicher) Offensichtlichkeit eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes kann unter diesen Gesichtspunkten ohnehin nicht ausgegangen werden. Nach den Grundsätzen der I 21-Entscheidung des EuGH (a.a.O.) ist es vielmehr auch gemeinschaftsrechtlich zu akzeptieren, wenn sich das nationale Recht (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG) angesichts der hier widerstreitenden Interessen (Rechtssicherheit einerseits, materielle Rechtmäßigkeit andererseits) mit einer Ermessensentscheidung der Behörde begnügt.

42 
3.2 Der Kläger kann die Rücknahme der gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der (deklaratorischen) Aufhebung einer unwirksamen oder unwirksam gewordenen Verfügung erreichen; die Voraussetzungen eines solchen „Rücknahme“-Anspruchs (zur Zulässigkeit einer solchen Rücknahme siehe oben vor 1.) sind nämlich nicht gegeben.
43 
Bei Erlass der Ausweisungsverfügung und auch in der Folgezeit bis zum Inkrafttreten des FreizügG/EU lag kein Grund für die Annahme von Unwirksamkeit (siehe § 43 Abs. 1 und 2 VwVfG) oder gar von Nichtigkeit (§ 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 VwVfG) der Ausweisungsverfügung vor; dies liegt für den Senat auf der Hand und bedarf keiner näheren Ausführungen; sie folgt insbesondere nicht aus dem vom Kläger in diesem Zusammenhang für sich in Anspruch genommenen Urteil des EuGH vom 29.4.1999 (- C 224/97 -, Ciola), das sich lediglich mit strafrechtlichen Folgen des Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtswidrige Verfügungen auseinandersetzt. Die Ausweisungsverfügung ist aber auch nicht durch Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes zum 1.1.2005 unwirksam geworden. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
44 
Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes hätten die nach früherem Recht ergangenen Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern ihre Rechtsgrundlage verloren (so für nicht bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügungen Hess. VGH, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 TG 3212/04 -, NVwZ 2005, 837; für bestandskräftige Verfügungen OVG Berlin, Beschluss vom 15.3.2006 - 8 S 823/05 -, NVwZ 2006, 953), ist diese Rechtsprechung teilweise nicht einschlägig, da im vorliegenden Fall Bestandskraft gegeben ist; teilweise kann der Senat ihr aus anderen Gründen nicht folgen. Er schließt sich vielmehr der Gegenmeinung an, die die (fortdauernde) Wirksamkeit bestandskräftig gewordener Ausweisungen bejaht (siehe dazu OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005 - 3 Bf 294/04 -, EzAR; OVG Lüneburg, Beschluss vom 30.6.2006 - 11 LA 147.05 -, AuAS 2006, 185, ebenso schon VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 7.11.2005 - 13 S 1885/05 - und Beschluss vom 4.1.2006 - 11 S 1871/05 -). Das bloße Fehlen einer für Verfügungen nach dem damaligen AufenthG/EWG ergangenen Ausweisung geltenden Übergangsvorschrift bzw. das Fehlen einer Verweisung auf § 102 Abs. 1 AufenthG in § 11 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU begründet fehlende Fortgeltung bereits deswegen nicht, weil sich im vorliegenden Fall die Fortdauer der Wirkungen der Ausweisung bereits unmittelbar aus § 102 Abs. 1 AufenthG ergibt. Die Vorschrift erfasst nämlich im Anwendungsbereich jedenfalls die auf das frühere Ausländergesetz gestützten Ausweisungsverfügungen, und um eine solche Verfügung handelt es sich im vorliegenden Fall, weil die Freizügigkeitsberechtigung und damit die Anwendung des AufenthG/EWG ausdrücklich verneint worden sind und Rechtsgrundlage der Ausweisung gerade das AuslG war. Außerdem ist der Anwendungsbereich des (späteren) FreizügG/EU und damit auch dessen § 11 Abs. 1 noch aus einem anderen Grund nicht gegeben; dieses Gesetz stellt durch die Bezugnahme auf § 1 FreizügG/EU auch in der Vorschrift des § 11 Abs. 1 auf die Freizügigkeitsberechtigung als Voraussetzung ab. Diese ist aber durch die Bestandskraft der auf das allgemeine Ausländergesetz gestützten Ausweisung entfallen (siehe auch Funke-Kaiser, Rn 2 zu § 102; OVG Hamburg, Beschluss vom 14.12.2005 - Bs 79/05 -, InfAuslR 2006, 305; Lüdke, InfAuslR 2005, S. 178; a.A. Gutmann, InfAuslR 2005, 125). Aus der fehlenden Verweisung auf § 102 AufenthG in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU kann daher kein Argument zugunsten des Klägers hergeleitet werden. Im Übrigen hätte es wegen der bereits im Jahr 1998 eingetretenen Bestandskraft der Ausweisungsverfügung einer entsprechend klaren gesetzlichen Regelung bedurft, um die seit Bekanntgabe bestehende und durch die Bestandskraft verstärkte Wirksamkeit des Verwaltungsakts nach § 43 Abs. 2 VwVfG zu beseitigen; Die amtliche Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes lässt eine so weitgehende Absicht nicht erkennen (BT-Drs. 15/420, S. 101 ff. S. 105 f.; siehe auch OVG Hamburg, Urteil vom 22.3.2005, a.a.O.).
45 
Die Bestandskraft und die damit eingetretene Wirkung der Ausweisungsverfügung ist auch nicht kraft Gemeinschaftsrechts entfallen; dies ergibt sich bereits daraus, dass das Gemeinschaftsrecht - wie oben ausgeführt - das Institut der Bestandskraft durchaus anerkennt und bei Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eigene Instrumente - wie das Recht zur Überprüfung der Verfügung - entwickelt hat, um gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dieser rechtlichen Instrumente hätte es nicht bedurft, wenn gemeinschaftsrechtlich sogar von der Unwirksamkeit (oder vom Unwirksamwerden) solcher Verfügungen auszugehen wäre. Dass in der Rechtsprechung der Strafgerichte bei Verstößen gegen solche Verfügungen unter Berufung auf den EuGH (Ciola a.a.O.) Strafbarkeit z.T. nicht mehr angenommen wird (siehe OLG Hamburg a.a.O. und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6.12.2006 3 Ws 346/05), steht dem nicht entgegen; insoweit handelt es sich um eine speziell strafrechtliche Fragestellung, die der Senat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht zu beantworten braucht.
46 
4. Da der Kläger damit mit der Klage lediglich einen Teil seines mit dem Hauptantrag verfolgten Begehrens erreicht hat, waren ihm die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge teilweise aufzuerlegen (siehe § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO); der Senat geht dabei davon aus, dass der Kläger zu einem Drittel im Berufungsverfahren unterlegen ist.
47 
Die Revision war zuzulassen, da insbesondere die Frage der Wirksamkeit sog. altrechtlicher Ausweisungsverfügungen gegenüber Unionsbürgern in der obergerichtlichen Rechtsprechung strittig und noch nicht höchstrichterlich geklärt ist (siehe § 132 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
48 
Beschluss
49 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.