Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Urteil, 16. Sept. 2015 - 13 A 800/15.A
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. März 2015 geändert.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2014 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Instanzen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Voll-streckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist guineischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben im März 2010 von Marokko aus nach Spanien ein und von dort aus im April 2013 weiter über Frankreich und die Schweiz nach Deutschland. Am 13. Juni 2013 beantragte er in der Bundesrepublik Deutschland Asyl. Nach der Eurodac-Datenbank hat der Kläger am 4. Juni 2012 in Spanien einen Asylantrag gestellt. Das Bundesamt richtete am 8. November 2013 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin II-VO an Spanien. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 19. November 2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags.
3Durch Bescheid vom 16. Januar 2014 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete die Abschiebung nach Spanien an (Ziff. 2). Der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Spanien auf Grund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei.
4Am 6. Februar 2014 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Köln Klage erhoben.
5Der zugleich gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 25. Februar 2014 abgelehnt (15 L 143/14.A).
6Zur Klagebegründung hat der Kläger ausgeführt: Die Beklagte sei zuständig, weil sie die 3-Monats-Frist für die Stellung des Übernahmeersuchens nicht eingehalten habe. In einem solchen Fall sei das Bundesamt verpflichtet, von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Außerdem sei die Überstellungsfrist abgelaufen.
7Der Kläger hat beantragt,
8den Bescheid des Bundesamts vom 16. Januar 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein Asylverfahren durchzuführen,
9hilfsweise
10die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Zur Begründung hat sie auf die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes verwiesen.
14Auf Anfrage des Verwaltungsgerichts hat die zuständige Ausländerbehörde mit Schreiben vom 19. Januar 2015 mitgeteilt, die Abschiebung hätte nicht vollzogen werden können, da der Kläger sich zwischenzeitlich in Haft befunden habe. Aus diesem Grund sei die Überstellungsfrist auf den 4. März 2015 verlängert worden.
15Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 12. März 2015 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Ein Fristversäumnis nach Art. 17 Dublin II-VO liege nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gelte diese Frist nicht für ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 20 Dublin II-VO und scheide eine analoge Anwendung aus. Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, dass die Überstellungsfrist des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO abgelaufen sei. Denn diese Vorschrift begründe wie auch die anderen Zuständigkeitsvorschriften der Dublin II-VO keine subjektiv-öffentlichen Rechte für den Asylbewerber. Dieser könne bei einer auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützten Entscheidung des Bundesamts lediglich eine gerichtliche Überprüfung dahingehend verlangen, ob eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK, Art. 4 GR-Charta drohe. Die Verpflichtungs- und Hilfsanträge seien unzulässig. Eine Verpflichtungsklage auf Durchführung eines Asylverfahrens, auf Flüchtlingsanerkennung und auf Feststellung des subsidiären internationalen Schutzes und von Abschiebungsverboten scheide aus, da das Bundesamt den Asylantrag des Klägers zu Recht als unzulässig abgelehnt habe. Soweit zwischenzeitlich aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist Deutschland zuständig geworden sein sollte, müsse eine Sachentscheidung über diese Streitgegenstände zunächst dem Bundesamt vorbehalten bleiben. Das Verwaltungsgericht dürfe nicht die Sache spruchreif machen und durchentscheiden.
16Mit Beschlüssen vom 4. Mai 2015 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen und gemäß § 80 Abs. 7 VwGO unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 25. Februar 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (11 B 437/15.A).
17Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger aus: Die Anfechtungsklage sei die richtige Klageart, da der allgemeine Grundsatz, dass das Gericht bei gebundenen Entscheidungen eigentlich durchentscheiden müsse, in den Fällen, in denen das Bundesamt überhaupt noch keine Sachentscheidung getroffen habe, nicht gelte. Eine Umdeutung in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG sei nicht möglich. Während ein Asylantrag nach § 27a AsylVfG bei Zuständigkeit eines bestimmten anderen Staates für das Asylverfahren unzulässig sei, sei im Rahmen des § 71a AsylVfG im Hinblick auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zu prüfen, ob die Zuständigkeit Deutschlands bestehe und ob die Voraussetzungen des § 51 VwVfG vorlägen. Der Kläger, der in Spanien keinen subsidiären Schutz erhalten habe, könne sich auch auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, da ihm insofern ein subjektiv-öffentliches Recht vermittelt werde. Mit deren Ablauf sei die Bundesrepublik zuständig geworden. Hier sei zudem nicht ersichtlich, dass der ursprünglich zuständige Mitgliedstaat trotz Fristablaufs weiterhin zur Übernahme bereit sei.
18Der Kläger beantragt,
19das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 12. März 2015 zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2014 aufzuheben.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Zur Begründung verweist sie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend trägt sie vor: Die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin-Verordnung begründeten keine subjektiven Rechte. Sie dienten allein den objektiven Zwecken einer sachgerechten Verteilung der mit der Durchführung der Asylverfahren verbundenen Lasten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander. Aus dem Anhörungsprotokoll vom 11. September 2013 sei zu entnehmen, dass der Kläger nach eigenen Angaben bereits in Spanien Asyl bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt habe und zunächst eine positive Antwort bekommen habe, die später zurückgenommen worden sei. Rein vorsorglich werde deshalb auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verwiesen, wonach eine Sachaufklärungspflicht besehe, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt habe.
23Auf – vom Senat angeregte – Anfrage des Bundesamts teilte die zuständige spanische Behörde am 18. August 2015 mit, dass dem Kläger in Spanien kein internationaler Schutz gewährt worden sei.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Gerichtsakten der Eilverfahren sowie die Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig und begründet.
27A. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig.
28Die isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 16. Januar 2014, mit dem der Asylantrag des Klägers wegen fehlender Zuständigkeit der Beklagten als unzulässig abgelehnt worden ist, ist statthaft.
29Einer auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungsklage bedarf es nicht. Dieser fehlte schon das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt, wenn es zuständig ist, den Asylantrag von Amts wegen sachlich prüfen muss, und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es hier nach Aufhebung der Verfügung untätig bleiben würde.
30Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 31; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
31Auch eine Verpflichtungsklage, die auf das Ziel gerichtet ist, als Asylberechtigter anerkannt zu werden, die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuerkannt oder nationale Abschiebungsverbote festgestellt zu bekommen, scheidet aus.
32Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 28 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 20; Bay. VGH, Urteil vom 28. Februar 2014 - 13a B 13.30295 -, BayVBl. 2014, 628, und Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6; Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6. November 2014 - 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris, Rn. 11; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293 = juris, Rn. 18; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 -, juris, Rn. 21.
33Wird der Asylantrag unter Verweis auf die fehlende Zuständigkeit nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt, hat das Bundesamt ihn in der Sache noch gar nicht geprüft. Die Zuständigkeitsprüfung und die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Die Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist der materiell-rechtlichen Prüfung, ob ein Anspruch auf Asylanerkennung oder Gewährung eines anderen Schutzstatus besteht, vorgelagert. Die Verwaltungsgerichte haben deshalb das Asylbegehren auch nicht in der Sache spruchreif zu machen.
34Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 34 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11.
35Andernfalls ginge dem Asylbewerber eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenden Verfahrensgarantien (vgl. insbesondere §§ 24, 25 AsylVfG) ausgestattet ist.
36Ferner muss die Beklagte nach der Rechtsprechung des EuGH zunächst die Möglichkeit haben, einen anderen Mitglied- oder Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist, zu ersuchen. Ist die Überstellung in den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (im Folgenden: Dublin II-VO) als zuständig bestimmten Mitgliedstaat etwa wegen systemischer Mängel nicht möglich, hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob danach ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
37Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 95 f., und vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 32 f.; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 29 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
38Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das Gericht im Asylrechtsstreit die Sache spruchreif zu machen hat, wenn ein Asylfolgeantrag nach § 71 AsylVfG vorliegt. Im Asylfolgeverfahren kann nicht lediglich isoliert auf "Wiederaufgreifen" geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, lediglich die (Vor-)Frage nach der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betrifft.
39Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 = juris, Rn. 10.
40Diese Erwägungen sind auf die hier gegenständliche Entscheidung nach § 27a AsylVfG nicht übertragbar. In diesem Verfahren steht weder die Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Vielmehr geht es, wie ausgeführt, um die der materiell-rechtlichen Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Frage der Zuständigkeit.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11; Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; siehe auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
42B. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 16. Januar 2014 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
43I. Ziffer 1 des Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren, der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblich ist, nicht gemäß § 27a AsylVfG unzulässig ist. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Hier ist aber entgegen der Auffassung des Bundesamts nach der Dublin II-VO nicht Spanien, sondern Deutschland für die sachliche Prüfung und Entscheidung des Asylantrags zuständig (1.). Darauf kann sich der Kläger auch berufen (2.).
441. Die Zuständigkeit Deutschlands ergibt sich aus der Dublin II-VO. Diese ist ungeachtet des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und des Umstands anwendbar, dass sie durch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) ersetzt worden ist. Nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO erfolgt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats weiterhin nach den Kriterien der Dublin II-VO, wenn der Asylantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat sein hier maßgebliches Schutzgesuch am 13. Juni 2013 angebracht. Es kann offen bleiben, ob nach Art. 49 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Verordnung ab dem 1. Januar 2014 – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt, auch bei vor dem 1. Januar 2014 gestellten Asylanträgen für das Überstellungsverfahren die Dublin III-VO gilt, wenn das Übernahmeersuchen nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
45Denn hier lagen auch das Wiederaufnahmeersuchen und dessen Annahme vor dem 1. Januar 2014. Ferner spricht alles dafür, dass nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO nicht nur die Zuständigkeitskriterien des Kapitels III, sondern auch diejenigen des Kapitels V der Dublin II-VO fortgelten.
46Vgl. zum Ganzen Bergmann, ZAR 2015, 81 (83); Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 3.
47Die zunächst bestehende Zuständigkeit Spaniens (a.) ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen (b.).
48a. Der zuständige Mitgliedstaat bestimmt sich auf der Grundlage der in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien, zunächst nach dem Kapitel III.
49aa. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO war ursprünglich Spanien zuständig. Danach gilt: Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Hier erfolgte der erstmalige illegale Grenzübertritt zu einem EU-Mitgliedstaat in Spanien. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.
50bb. Die Zuständigkeit Spaniens ist zwar nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO entfallen, darauf kann sich der Kläger aber nicht berufen.
51Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO endet die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Selbst wenn man Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nur für einschlägig hält, wenn die Frist bereits bei erstmaliger Stellung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat abgelaufen ist,
52vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 47,
53liegen die Voraussetzungen dieser Vorschrift hier vor. Nach seinen Angaben bei der Anhörung durch das Bundesamt ist der Kläger im März 2010 nach Spanien eingereist. Er hat aber laut Eurodac-Datenbank erst am 4. Juni 2012 einen Asylantrag gestellt.
54Der Kläger kann sich aber auf den Fristablauf nicht berufen, weil Spanien ungeachtet dieses Umstands am 19. November 2013 eine Übernahmeerklärung abgegeben hat.
55Sind sich die Mitgliedstaaten bei der Zuständigkeitsbestimmung nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO einig, welcher Mitgliedstaat zuständig ist, dann werden die Rechte des Asylbewerbers dadurch nicht verletzt, es sei denn, im anderen Mitgliedstaat bestehen systemische Mängel. Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO begründet keine einklagbaren subjektiven Rechte der Asylbewerber.
56Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C 394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60; BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4; Bay.VGH, Urteil vom 13. April 2015 ‑ 11 B 15.50031 -, juris, Rn. 23.
57Der Asylbewerber hat kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der nach dem Zuständigkeitsregime der Dublin II-VO auch zuständige Mitgliedstaat ist oder ob nicht zwischenzeitlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig geworden ist.
58Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014, Anm. 3; Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
59Die Normen der Dublin II-VO gelten zwar allgemein (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Die unmittelbare Wirkung des Rechtsakts bedeutet jedoch nicht automatisch, dass den Asylbewerbern ein subjektives Recht auf Einhaltung und Beachtung der zuständigkeitsbegründenden Vorschriften eingeräumt wäre. Aus der gewählten Handlungsform folgt allein die Möglichkeit einer Individualberechtigung.
60Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 91.
61Die Dublin II-VO regelt nach ihrem Inhalt und Zweck die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ordnet damit ihr Zusammenwirken bei der Gewährung von Asyl in der Europäischen Union. Das Dublin-System soll die Behandlung von Asylanträgen rationalisieren, das „forum shopping“ verhindern und eine Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten bewirken. Wie aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Dublin II-VO hervorgeht, soll eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats geschaffen werden, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.
62Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 59, vom 6. November 2012 - Rs. C-245/11 -, juris, Rn. 49, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u. a. (N.S.) -, juris, Rn. 79, 84; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 34 ff.; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 = juris, Rn. 5.
63Der Beschleunigungszweck liegt zwar nicht nur im Interesse der teilnehmenden Staaten, sondern auch im Interesse der Asylbewerber.
64Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 53, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn.79.
65Sie haben aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Prüfung ihres Asylantrags durch einen bestimmten Mitgliedstaat. Das unionsrechtlich geregelte System der Zuständigkeitsverteilung für die Entscheidung über Asylanträge beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen. Ist ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit, kann der Asylbewerber seiner Überstellung nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden.
66Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 und 62; BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 ‑, juris, Rn. 6, und vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 6 ff.
67Die zwischenstaatliche Konzeption des Zuständigkeitssystems schließt es zwar nicht aus, dass einzelne Vorschriften der Verordnung subjektive Rechte beinhalten.
68Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 63 ff.
69Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen ist dies aber bei Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nicht der Fall. Im Fall des Klägers tritt hinzu, dass das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach dem Kapitel III der Dublin II-VO bereits abgeschlossen ist. Die in diesem Kapitel normierte Frist gilt nur für dieses Verfahren (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), berechtigt also nur einen Mitgliedstaat - hier: Spanien -, das an ihn gerichtete (Wieder‑)Aufnahmeersuchen eines anderen Mitgliedstaats - hier: Deutschland - abzulehnen, wenn der Grenzübertritt länger als zwölf Monate zurückliegt. Nach abgeschlossener Zuständigkeitsbestimmung nach Kapitel III hingegen kann die Zuständigkeit nicht mehr nach einer dort geregelten Vorschrift, sondern allenfalls nach Kapitel V entfallen.
70Ein Anspruch des Asylbewerbers auf eine abweichende Entscheidung würde auch nur zu einer weiteren Verzögerung der Behandlung seines Asylbegehrens führen.
71Vgl. Bay.VGH, Urteil vom 13. April 2015 - 11 B 15.50031 -, juris, Rn. 23.
72b. Die Zuständigkeit ist aber nach Kapitel V der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen.
73aa. Dies ergibt sich allerdings nicht aus einer verspäteten Stellung des Wiederaufnahmegesuchs. Entgegen der Auffassung des Klägers gilt hierfür keine Frist von drei Monaten.
74Eine solche ist in Art. 17 Abs. 1 Uabs. 2 Dublin II-VO nur für das Aufnahmeverfahren normiert. Eine entsprechende Regelung fehlt aber für das hier vorliegende Wiederaufnahmeverfahren. Art. 20 Dublin II-VO bestimmt die Modalitäten, nach denen ein Asylbewerber wieder aufgenommen wird, der – wie hier der Kläger in Spanien – bereits im anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Art. 20 Dublin II-VO enthält keine dem Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung entsprechende Fristbestimmung. Eine solche Frist und ein Zuständigkeitsübergang im Fall des Fristablaufs sind für Wiederaufnahmen erst in der Dublin III-VO vorgesehen (vgl. Art. 23 Abs. 2 und 3). Für eine analoge Anwendung der in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO normierten Frist von drei Monaten im Fall des Wiederaufnahmegesuchs ist kein Raum. Die Normierung der Modalitäten der Wiederaufnahme in Art. 20 Dublin II-VO ist eine in sich geschlossene Regelung, die keine Lücke erkennen lässt, die durch eine analoge Heranziehung der Fristbestimmung des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO zu schließen wäre.
75Vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 13; OVG NRW, Urteil vom 16. Juni 2015 - 11 A 890/14.A -, juris, Rn. 24, sowie Beschluss vom 27. Juli 2015 - 13 A 1857/14.A -, juris; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 = juris, Rn. 13.
76bb. Die Beklagte ist aber gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO zuständig geworden. Nach Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Ein solcher Fall ist hier gegeben.
77(1) Die 6-Monats-Frist des Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 1. Alt. Dublin II-VO ist am 19. Mai 2014 abgelaufen. Die spanischen Behörden erklärten fristgerecht (vgl. Art. 20 Abs. 1 lit. b) Satz 2 Dublin II-VO) mit Schreiben vom 19. November 2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags und nahmen damit den Antrag auf Wiederaufnahme des Klägers an.
78(2) Auf die Fragen, ob die Überstellungsfrist sich um die Dauer des erfolglosen gerichtlichen Eilverfahrens verlängert oder der erstinstanzliche Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zum erneuten Beginn der 6-Monats-Frist ab dem Zeitpunkt der Ablehnung des Antrags durch das Gericht führt, kommt es nicht an.
79Vgl. dazu OVG NRW, Urteil vom 16. September 2015 - 13 A 2159/14.A -.
80Sogar im spätesten dieser Zeitpunkte wäre die Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen. Das Verwaltungsgericht lehnte auf den Antrag vom 6. Februar 2014 durch Beschluss vom 25. Februar 2014 die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab. Eine etwa dann beginnende 6-Monats-Frist wäre am 25. August 2014 abgelaufen.
81(3) Es kann weiter offen bleiben, ob die Voraussetzungen für eine Fristverlängerung nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO vorgelegen haben und diese ordnungsgemäß durchgeführt worden ist. Nach dieser Vorschrift kann die Überstellungsfrist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung oder die Prüfung des Antrags aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Nach Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung (VO (EG) Nr. 1560/2003) muss der ersuchende Mitgliedstaat den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist unterrichten. Nach Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde ist die Frist, da der Kläger sich zwischenzeitlich in Haft befunden habe, auf den 4. März 2015 verlängert worden. Das Bundesamt geht in einem Schreiben vom 6. August 2015 an die Ausländerbehörde vom Fristablauf am 25. Februar 2015 aus. Selbst eine solche Frist wäre inzwischen abgelaufen.
82(4) Die Überstellungsfrist läuft hier auch nicht gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 2. Alt. Dublin II-VO deshalb erst sechs Monate nach der Entscheidung über die vorliegende Klage ab, weil das Oberverwaltungsgericht im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO mit Beschluss vom 4. Mai 2015 - 11 B 437/15.A - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. In diesem Zeitpunkt – und auch schon bei Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO durch den Kläger – war, wie ausgeführt, nach jeder Betrachtung die Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 1. Alt. Dublin II-VO abgelaufen.
83Die beiden Alternativen des Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO stehen auch nicht selbstständig nebeneinander, sondern schließen sich im folgenden Sinne aus: Ist Art. 20 Abs. 1 lit. d) Satz 2 1. Alt. Dublin II-VO einschlägig, weil kein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, und ist diese Frist abgelaufen, kann nicht dadurch eine neue Frist nach der 2. Alternative der Vorschrift in Lauf gesetzt werden, dass danach (in der Regel gerade wegen des Fristablaufs) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird. Dies ergibt sich vor allem aus der in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO geregelten Rechtsfolge, die sich aus dem Ablauf der Überstellungsfrist ergibt. Danach geht mit Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. In Anwendung dieser Vorschrift ist hier die Beklagte zuständig geworden. Die Dublin II-VO enthält aber keine Bestimmung, nach der die Zuständigkeit wieder an den ursprünglich zuständigen Staat – hier Spanien – zurückfallen kann. Dann kann auch keine neue Frist für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat zu laufen beginnen. Überdies widerspräche ein erneuter Fristlauf dem bereits angeführten Beschleunigungszweck der Dublin II-VO.
842. Der Kläger kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten auch berufen.
85Die Fristregelungen der Dublin II-VO begründen zwar für sich genommen keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers (a.). Der Kläger hat aber aus dem materiellen Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt (b.). Etwas anderes gilt nur dann, wenn feststeht, dass der andere Mitgliedstaat den Asylbewerber aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird; das ist hier aber nicht der Fall (c.). Die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer freiwilligen Ausreisemöglichkeit ausgeschlossen (d.).
86a. Die Vorschriften über die Überstellungsfrist, Art. 20 Abs. 2 lit. d) Satz 2 Dublin II-VO, und die an ihren Ablauf geknüpfte Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO, begründen ebenso wie Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO und die sonstigen Fristregelungen keine einklagbaren subjektiven Rechte der Asylbewerber.
87Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO); BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO), vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), und vom 19. März 2014 ‑ 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 5 ff. (für Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO); Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 -, juris, Rn. 15; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13 -, juris, Rn. 33; Bergmann, ZAR 2015, 81 (84); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 196.1 (für die Aufnahmeersuchensfrist) und Rn. 234 (für die Überstellungsfrist); Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 65 (allg. für Fristen); a. A. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 46 f. (für Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO); VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 47 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12. August 2015 ‑ 18a L 1441/15.A -, juris, Rn. 19 ff. (für Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO); wohl auch Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 14 f.
88Dies ergibt sich aus den oben zu Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO dargelegten Erwägungen. Zwar dient die Überstellungsfrist einer zügigen Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat und liegt dieser Beschleunigungszweck auch im Interesse der Asylbewerber. Allein dieser Umstand rechtfertigt – auch unter Berücksichtigung des Rechts auf eine gute Verwaltung aus Art. 41 GR-Charta – aber nicht die Annahme, die Regelungen in Art. 20 Abs. 2 lit. d) Satz 2, Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO seien derart grundrechtlich aufgeladen, dass sie im objektiv-rechtlichen Dublin-System dazu bestimmt sind, die Rechte Einzelner zu schützen.
89b. Der Kläger hat aber aus den materiell-rechtlichen Asylbestimmungen einen Anspruch darauf, dass die unionsrechtlich zuständige Beklagte seinen Asylantrag prüft.
90aa. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus dem materiellen Recht, das Ausländern einen Anspruch auf Asyl (Art. 16a Abs. 1 GG), Flüchtlingsschutz (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 AsylVfG), subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 2 AufenthG, § 4 Abs. 1 AsylVfG) sowie nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) gewährt. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens ist notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs. Wird die Beklagte wegen Ablaufs der Überstellungsfrist zuständig zur Prüfung des Antrags, muss sie das Asylverfahren aufnehmen.
91Der sachliche Prüfungsanspruch folgt zunächst unmittelbar aus dem Grundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG. Die – möglicherweise bestehende – Asylberechtigung löst eine Pflicht der zuständigen deutschen Behörden aus, den Antrag zu überprüfen.
92Vgl. Becker, in: Mangold/Klein/Starck, GG, 6. Auflage 2010, Art. 16a, Rn. 27.
93Um die Inanspruchnahme des Grundrechts zu ermöglichen, muss sich der Asylbewerber auf dieses Recht berufen, also eine Prüfung in der Sache verlangen können.
94Dem steht auch Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nicht entgegen. Danach kann sich auf Absatz 1 nicht berufen, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Der Kläger ist hier u. a. über Spanien nach Deutschland eingereist. Die Vorwirkungen des Art. 16a Abs. 1 GG sind aber nicht davon abhängig, dass ein Asylanspruch besteht. Das Recht, dass der Asylantrag geprüft wird, besteht unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der Schutzgewährung. Im Übrigen gilt: Ist Deutschland unionsrechtlich zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens, darf dies nicht durch einen grundgesetzlich angeordneten Ausschlussgrund im Sinne einer abdrängenden, negativen Zuständigkeitsbestimmung ausgehöhlt werden. Dementsprechend bestimmt § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG, dass der Schutzbereichsausschluss nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG dann nicht gilt, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Ob – und inwieweit – Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG deshalb oder wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts oder nach Art. 16a Abs. 5 GG unanwendbar ist, kann hier offen bleiben.
95Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 27. April 2015 - 9 A 1380/12.A -, juris; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 226 ff. m.w.N.; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 8 f.; siehe auch BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2011 - 10 C 26.10 -, BVerwGE 140, 114, Rn. 33.
96Darüber hinaus gilt: Verleiht das einfache materielle Recht in Deutschland – hier: das Aufenthalts- und das Asylverfahrensgesetz – eine subjektiv-öffentliche Anspruchsberechtigung, so besteht für jeden potentiell Berechtigten zugleich ein Anspruch auf das Handeln der zuständigen Behörde. Die Zuständigkeit ist eine zwingende Voraussetzung der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit des Handelns einer Behörde und Anspruchsvoraussetzung für antragsgemäßes Verwaltungshandeln.
97Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11. A -, juris, Rn. 24.
98Ist der Antrag zulässig und die Behörde zuständig, muss diese über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts sachlich entscheiden (s. auch § 75 VwGO).
99Dieser Prüfungsanspruch gilt auch für den Asylantrag, der nach § 13 AsylVfG nicht nur die Anerkennung als Asylberechtigter, sondern auch die Zuerkennung internationalen Schutzes beinhaltet. Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung des Schutzgesuchs durch die Beklagte liegt nicht nur den Regelungen zum Asylantrag in §§ 13, 14 AsylVfG zugrunde, sondern auch § 24 AsylVfG, der im Einzelnen die Pflichten des Bundesamts im Asylverfahren bestimmt, und § 31 AsylVfG, der die Entscheidung des Bundesamts über Asylanträge regelt. Die Prüfung der Schutzgesuche darf nach §§ 27a, 34a AsylVfG nur abgelehnt werden, wenn ein anderer Staat nach Unions- oder Völkerrecht zuständig ist.
100Vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 23. März 2015 ‑ 22 K 4141/14.A -, InfAuslR 2015, 154 = juris, Rn. 35, und vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 27, 43.
101Diese Vorschriften setzen damit einen Anspruch auf Entscheidung durch das Bundesamt im Falle seiner Zuständigkeit voraus. Ergeht eine Entscheidung über den Asylantrag nicht innerhalb von sechs Monaten, hat das Bundesamt dem Ausländer gem. § 34 Abs. 4 AsylVfG auf Antrag mitzuteilen, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden wird. § 31 Abs. 6 AsylVfG verpflichtet das Bundesamt im Falle einer Ablehnung des Asylantrags nach § 27a AsylVfG, den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat zu benennen.
102bb. Die Annahme eines Prüfungsanspruchs und damit des Rechts, sich auf die nach der Dublin II-VO bestehende Zuständigkeit Deutschlands berufen zu können, entspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
103Auch nach Unionsrecht müssen Asylbewerber Zugang zu wirksamen Asylverfahren haben. Die effektive Ausübung des Rechts auf Asyl muss gewährleistet sein.
104Vgl. Grundrechte-Agentur der EU, EGMR, Europarat (Hrsg.): Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration (abgerufen von http://fra.europa.eu/sites/default/files/handbook-law-asylum-migration-borders-2nded_de.pdf, 16.9.2015), S. 107; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 38 ff.
105Nach Art. 18 GR-Charta wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Verträge über die Europäische Union und über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistet. Art. 19 Abs. 2 GR-Charta gewährt Abschiebungsschutz bei ernsthaften Risiken der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Auch wenn Uneinigkeit darüber besteht, ob Art. 18 GR-Charta ein subjektives, einklagbares Recht vermittelt oder eine bloße objektiv-rechtliche Garantie formuliert,
106vgl. dazu, Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2013, Art. 18 Rn. 2, 15, m. w. N.; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 18, Rn. 7, 11, m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 12; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 153 f.
107begründet die Vorschrift jedenfalls ein Recht des Drittstaatsangehörigen auf ein ausreichendes Verfahren zur Feststellung des Status.
108Vgl. Jarass, a. a. O., Art. 18 Rn. 13.
109Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll (Satz 1). Die Politik muss mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen (Satz 2).
110Auf der Grundlage dieser Vorschrift konkretisiert die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) in materiell-rechtlicher Hinsicht die Schutzrechte, werden in der Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) Verfahrensrechte der Asylbewerber bei der Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz festgelegt und treffen die Dublin-Verordnungen Zuständigkeitsregelungen. Die Dublin II-VO legt – als ein Schritt auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fest (vgl. Erwägungsgründe 4 und 5). Sie begründet zwar grundsätzlich keine subjektiven Rechte der Asylbewerber, setzt aber solche voraus und dient der effektiven Ausübung des Asylrechts. Die Rechtsstellung des Einzelnen wird ferner insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens gewährleistet sein muss. Das ergibt sich aus Folgendem: Der 15. Erwägungsgrund der Dublin II-VO bestimmt ausdrücklich, sie ziele darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 GR-Charta verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.
111Vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 15 und 76.
112Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt (Satz 1). Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird (Satz 2). Nach dem 4. Erwägungsgrund der Dublin II-VO dient sie auch dazu, den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten. Dem Zuständigkeitssystem der Dublin II-VO liegt damit die Annahme zugrunde, dass die Antragsteller ein durchsetzbares Recht haben, dass die Anträge jedenfalls von einem Mitglieds- oder Vertragsstaat zeitnah geprüft werden. Lediglich die Prüfung durch einen bestimmten Staat können sie nicht verlangen.
113Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
114Könnte der Asylbewerber sich nicht auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen und wäre nicht gesichert, dass ein anderer Mitgliedstaat das Asylverfahren durchführt (vgl. dazu sogleich), würde er zum sogenannten „refugee in orbit“, dessen Schutzgesuch in keinem Mitgliedstaat geprüft würde.
115Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2010, Art. 78 AEUV Rn. 21; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 67, 69.
116Dies widerspräche aber dem Grundanliegen des europäischen Asylsystems. Dieses darf nicht so ausgelegt und angewendet werden, dass der Antragsteller in keinem Staat eine Prüfung seines Schutzgesuchs erhalten könnte und – wenn auch nicht dem potentiellen Verfolger ausgeliefert – ohne den im Unionsrecht vorgesehenen förmlichen Schutzstatus bliebe.
117Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
118c. Ein Asylbewerber kann, das folgt schon aus den vorstehenden Ausführungen, nur dann nicht die Durchführung des Asylverfahrens in Deutschlands verlangen, wenn die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats feststeht. Das ist hier nicht der Fall.
119aa. Dass einem Asylbewerber die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats entgegengehalten werden kann, folgt aus dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geregelten Zuständigkeitsübergang, setzt aber auch ein Vorgehen nach dieser Vorschrift voraus. Danach kann jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Satz 1). Dadurch wird der andere Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Satz 2).
120Erklärt der andere Mitgliedstaat, den Asylbewerber aufzunehmen und das Asylverfahren durchzuführen, obwohl er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht (mehr) zuständig ist, übt er damit das Selbsteintrittsrecht nach der sogenannten Souveränitätsklausel aus.
121Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen ein, das integraler Bestandteil des vom EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Die Ausübung der Befugnis ist an keine Bedingungen geknüpft; ein Anspruch des Asylbewerbers auf Zuständigkeitsübernahme besteht grundsätzlich nicht.
122Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 65 ff., und vom 30. Mai 2013 - Rs. C-528/11 (Halaf) -, juris, Rn. 36 ff.; siehe zu Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO auch EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 28 ff.; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11.A -, juris, Rn. 34.
123Hiervon ausgehend geht die Zuständigkeit über, wenn ein anderer Mitgliedstaat im Einzelfall seine Bereitschaft erklärt, den Asylbewerber aufzunehmen. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland steht damit unter dem unionsrechtlichen Vorbehalt des Fortbestehens der Zuständigkeit.
124Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 52.
125Dabei reicht bei sachgerechter Auslegung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eine Erklärung gegenüber dem ersuchenden Mitgliedstaat aus, die die Zusage beinhaltet, den eingereichten Asylantrag zu prüfen. Um den Zuständigkeitsübergang zu bewirken, ist eine ausdrückliche Berufung auf die Souveränitätsklausel ebenso wenig erforderlich wie der Beginn der tatsächlichen Prüfung des Asylantrags. Förmlichkeiten geben weder die Dublin II-VO selbst noch die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003 vor. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts kann sich auch konkludent aus den Umständen ergeben. Es muss lediglich erkennbar sein, dass der andere Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall die Zuständigkeit übernimmt.
126Nicht ausreichend ist die erteilte Zustimmung zur (Wieder-)Aufnahme nach Art. 18 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 lit. b) Dublin II-VO, die mit der Ausübung des Ermessens nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht vergleichbar ist.
127Vgl. dazu auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 32.
128Hier hat Spanien nicht von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht. Als es am 19. November 2013 dem Aufnahmegesuch stattgegeben hat, war es nach der Dublin II-VO zuständig. Spanien hat aber nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und daraus resultierendem Zuständigkeitsübergang bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht erklärt, dass seine Übernahmebereitschaft gleichwohl fortbesteht. Es hat in keiner Weise im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zu erkennen gegeben, dass es den Asylantrag des Klägers auch nach Ablauf der Überstellungsfrist prüfen, mithin die Zuständigkeit übernehmen wird.
129bb. Auch wenn Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht einschlägig wäre, kann dem Asylbewerber nur dann die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands verwehrt werden, wenn positiv feststeht, dass ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit ist. Dies setzt voraus, dass eine Prüfung des Asylgesuchs durch den anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist, hierfür also hinreichende Erkenntnisse vorliegen.
130Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach Verstöße gegen die Bestimmungen der Dublin II-VO für sich genommen keine subjektiven Rechte der Asyl-bewerber verletzen und der Asylbewerber der Überstellung nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen ent-gegentreten kann, betrifft sämtlich Fälle, in denen die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats bestand.
131Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60; BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4, vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12, und vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7.
132Da die Dublin II-VO gerade dem Zweck dient, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist (vgl. Art. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Erwägungsgrund 4 der Dublin II-VO), reicht es nicht aus, dass der andere, nicht mehr zuständige Mitgliedstaat der Überstellung nach Fristablauf nicht widersprochen hat bzw. diese nicht endgültig abgelehnt hat und deshalb nicht feststeht, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann.
133So aber Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
134Ebensowenig genügt es, dass die Überstellung an den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist.
135Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 59, und vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 28 (allerdings mit dem Zusatz „weil Polen den Fristablauf nicht einwendet“).
136Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass nach erfolgter Zuständigkeitsbestimmung nur der nach der Dublin-Verordnung zuständige Mitgliedstaat bereit ist, das Asylverfahren durchzuführen.
137Eine rein theoretische Überstellungsmöglichkeit, die nicht durch konkrete aussagekräftige Fakten untermauert wird, kann auch deshalb nicht genügen, weil andernfalls das dem Dublinsystem immanente Beschleunigungsgebot verletzt würde.
138So auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
139Hier fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass Spanien den Fristablauf und die daraus folgende Zuständigkeit der Beklagten – generell oder im Einzelfall – nicht einwendet. Dass Spanien am 19. November 2013 dem Aufnahmeersuchen stattgegeben hat, reicht insoweit nicht aus. Entscheidend ist, dass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, und damit auch nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und dem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte, die Übernahmebereitschaft besteht. Dafür ist, ausgehend von den obigen Maßstäben, nichts ersichtlich. Das Bundesamt hat hierzu nichts vorgetragen. In einem anderen, ebenfalls Spanien betreffenden Dublin-Verfahren (OVG NRW, Urteil vom 16. September 2015 - 13 A 2159/14.A -) hat es lediglich ausgeführt, im besonderen Einzelfall könne durchaus auch ein Einlenken des Mitgliedstaats erzielt werden, konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Spanien eine Überstellung des Klägers bereits endgültig abgelehnt hätte, lägen nicht vor. Das reicht für die Annahme nicht aus, Spanien werde im vorliegenden Fall eine Überstellung akzeptieren.
140d. Eine andere Betrachtung lässt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, der Asylbewerber könne freiwillig ausreisen und dadurch das Verfahren selbst beschleunigen.
141Zwar geht das Unionsrecht von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise aus (vgl. Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003; Art. 19 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 1 lit e) Dublin II-VO). Es ist aber schon fraglich, ob dies eine bindende Vorgabe ist, ob das nationale Recht eine Ausreise auf eigene Initiative ausdrücklich vorsehen muss oder ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen haben, in welcher Weise die Aufenthaltsbeendigung erfolgen soll.
142Vgl. dazu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 24 ff.
143Auf diese Fragen kommt es aber ebenso wenig an wie darauf, ob der Kläger auch noch gegenwärtig, d. h. nach dem Zuständigkeitsübergang, nach Spanien ausreisen könnte. Es ist jedenfalls keine rechtliche Grundlage dafür ersichtlich, dass er im nicht mehr zuständigen Staat Spanien eine Prüfung seines Asylantrags verlangen kann. Fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Übernahmebereitschaft des anderen Staates auch nach dem Zuständigkeitsübergang auf Deutschland, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Mitgliedstaat im Falle einer freiwilligen Ausreise ein Asylverfahren durchführen wird.
144§ 242 BGB schließt eine Berufung auf den Zuständigkeitsübergang nicht aus, wenn der Asylbewerber vor Ablauf der Überstellungsfrist freiwillig hätte ausreisen können. Dass der Kläger von dem Recht auf freiwillige Ausreise, das im Übrigen im deutschen Recht nicht ausdrücklich geregelt ist, keinen Gebrauch gemacht hat, lässt es nicht als treuwidrig erscheinen, von der nach Unionsrecht zuständigen Behörde die Prüfung des Schutzgesuchs zu verlangen.
145So auch VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 82 ff.
146Andernfalls wäre nämlich die materielle Prüfung des Schutzgesuchs nicht gewährleistet und träte damit letztlich ein Rechtsverlust ein. Die Dublin II-VO begründet auch keine Verpflichtung des Asylantragstellers, sich in den nach der Dublin II-VO (ursprünglich) zuständigen Staat zu begeben. Dass gemäß § 50 AufenthG nach allgemeinem nationalem Aufenthaltsrecht eine Ausreisepflicht besteht, ist insoweit unerheblich. Der Zuständigkeitsübergang beruht allein auf dem Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist, nicht hingegen auf einem Verhalten des Klägers (Nichtausreise), mit dem er sich durch die Berufung auf die Zuständigkeit in Widerspruch setzen könnte. Er ist weder untergetaucht noch hat er anderweitig Überstellungsmaßnahmen verhindert.
1473. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids („Der Asylantrag ist unzulässig.“) kann entgegen der Auffassung des Bundesamts auch nicht mit der Begründung aufrechterhalten werden, dass der Kläger bereits in Spanien als Flüchtling anerkannt sei oder subsidiären Schutz erhalten habe. Ob dies rechtlich zulässig wäre, kann offen bleiben.
148Spanien hat den Kläger weder als Flüchtling anerkannt noch ihm subsidiären Schutz gewährt. Dies hat die zuständige spanische Behörde am 18. August 2015 dem Bundesamt auf eine vom Senat angeregte Anfrage mitgeteilt. In dem Schreiben heißt es, ihm sei kein internationaler Schutz gewährt worden, im Gegenteil sei der Antrag abgelehnt worden („He was not granted international protection, on the contrary his claim was rejected.“). Diese Auskunft stimmt auch mit den bisherigen Erkenntnissen überein. Der Kläger hat zwar bei seiner Anhörung durch das Bundesamt auf die Frage, wie das Asylverfahren in Spanien ausgegangen sei, angegeben, zunächst habe er eine positive Antwort bekommen. Er hat aber dann weiter erklärt, diese sei später zurückgenommen worden. Welche Entscheidungen genau getroffen wurden, lässt sich dem schon nicht entnehmen. Ferner hatte Spanien auf das – auf die Dublin II-VO gestützte – Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts mitgeteilt: „We inform you that Spain takes back the asylum applicant mentioned above in accordance with article 16.1 e of the above mentioned Regulation.”
1494. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann nicht als negative Entscheidung gemäß § 71a AsylVfG über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aufrechterhalten oder umgedeutet werden – was im Übrigen die fehlende Statthaftigkeit der Anfechtungsklage und die Zulässigkeit (nur) einer Verpflichtungsklage zur Folge hätte.
150Ein Verständnis eines Dublin-Bescheids der vorliegenden Art als Ablehnung eines Antrags auf Wiederaufgreifen kommt ebensowenig in Betracht wie eine entsprechende Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG.
151Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 29, und vom 19. Juni 2015 – 13 A 292/15.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 34 f.
152Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG in dem vom Kläger angefochtenen Bescheid vom 16. Januar 2014 wird, wie ausgeführt, lediglich ohne materiell-recht-liche Prüfung die Unzulässigkeit des Asylantrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen, ausgehend von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland, eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
153Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 29.
154Die Frage, ob die Voraussetzungen des § 71a AsylVfG, § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, ist im Rahmen eines eigenständigen Verwaltungsverfahrens mit eigenen Verfahrensgarantien zu klären und zu entscheiden.
155Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 41.
156II. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziff. 2 des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Spanien ist nach den obigen Ausführungen für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig. Im Übrigen stünde auch nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden könnte, weil die Aufnahmebereitschaft Spaniens nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht – wie hiernach erforderlich – positiv feststeht.
157C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
158Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
159Die Revision ist zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen. Die Dublin II-VO ist zwar auslaufendes Recht. Die zentralen Rechtsfragen stellen sich nach der in weiten Teilen übereinstimmenden Dublin III-VO in gleicher Weise.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Urteil, 16. Sept. 2015 - 13 A 800/15.A
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Urteil einreichenOberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Urteil, 16. Sept. 2015 - 13 A 800/15.A zitiert oder wird zitiert von 39 Urteil(en).
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn
- 1.
sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat; - 2.
neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden; - 3.
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind.
(2) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
(3) Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden. Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat.
(4) Über den Antrag entscheidet die nach § 3 zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Änderung begehrt wird, von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
(5) Die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des § 49 Abs. 1 bleiben unberührt.
(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Juni 2013 (A 12 K 331/13) geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren zweiter Instanz Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlungen - unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. aus N. bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2I. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfüllt und die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
3II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
41. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) ist unbegründet.
5Die Beklagte macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 - ab,
6vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 ‑, BVerwGE 106, 171 = juris,
7und führt aus, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zu dieser Entscheidung die Rechtsauffassung vertreten, gegen die auf § 27a AsylVfG gestützte Antragsablehnung sei die isolierte Anfechtungsklage statthaft. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts habe das Gericht die Streitsache im Asylrechtsstreit aber spruchreif zu machen, auch wenn es sich um einen Asylfolgeantrag handele, bezüglich dessen das Bundesamt noch nicht in die Prüfung eingetreten sei.
8Die gerügte Divergenz besteht nicht. Eine Abweichung läge nur vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre.
9Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1991 - 5 B 68.91 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302, vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712 (713), und vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
10Daran fehlt es hier. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Folgeantragsregelung nach § 71 AsylVfG ergangen. Klagegegenstand der angefochtenen Entscheidung ist demgegenüber eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG. Nach der von der Beklagten genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann im Asylfolgeverfahren nicht lediglich isoliert auf „Wiederaufgreifen“ geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden müsse, lediglich die (Vor-)Frage nach der Erfüllung der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betreffe.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 (172 f.) = juris, Rn. 10.
12Hingegen trifft das Bundesamt im Verfahren nach § 27a AsylVfG allein die der Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags; eine materiell-rechtliche Prüfung, ob ein Anspruch auf Anerkennung auf Asyl besteht, findet nicht statt. Insofern steht in diesem Verfahren weder die (Vor-)Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
13Vgl. zur Erfolglosigkeit der Divergenzrüge in einem solchen Fall: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; ferner auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 ‑ 10 C 1.13 ‑, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
142. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
15Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff., und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
18Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
19„ob bei einem als unzulässig i. S. v. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine auf Statuszuerkennung gerichtete Verpflichtungsklage zu erheben ist sowie ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ferner, ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist“,
20rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
21Die Frage bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 27a AsylVfG allein die Anfechtungsklage statthaft.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn. 28 ff., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH.
23Dem Zulassungsantrag bleibt der Erfolg auch versagt, soweit die Beklagte geltend macht, diese Rechtsfrage sei wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt und es stehe eine Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Rechtsprechung des beschließenden Oberverwaltungsgerichts zur Frage der statthaften Klageart im Falle einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG steht im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung.
24Vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung verschiedener Obergerichte: Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 6. November 2014 ‑ 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 ‑, juris.
25Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem entschieden, dass der Grundsatz, die Sache spruchreif zu machen und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage zu beschränken, nicht ausnahmslos gelte. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 113 Abs. 3 VwGO sei zu entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssten, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben könnten, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Vor allem stehe die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde - gerichtete Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass nur eine auf die Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage, auf die hin das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte, in Betracht käme.
26Vgl. für den Fall der Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264.95 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12, S. 3 ff. = juris, Rn. 15, und vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14.
27Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ohne weiteres auf den Fall der Ablehnung der Durchführung eines Asyl(folge)verfahrens auf der Grundlage des § 27a AsylVfG übertragbar. Auch in diesem Fall trifft das Bundesamt keine Sachentscheidung über den Anspruch auf Asylanerkennung, sondern weist lediglich, ohne dass eine materiell-rechtliche Prüfung stattfindet, auf die Unzulässigkeit des Asylantrags hin.
28Vgl. zur Übertragbarkeit der Ausführungen des BVerwG auf die vorliegende Konstellation: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6.
29Mit Blick darauf kommt es auf die von der Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage nicht an, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ sei.
30Abgesehen davon dürfte sich diese Frage nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen. Es kann insoweit dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne des § 47 Abs. 1 VwVfG in einem solchen Fall vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG wird lediglich ‑ wie in dem von der Klägerin angefochtenen Bescheid vom 12. Februar 2014 - ohne materiell-rechtliche Prüfung die Unzulässigkeit des Asyl(folge)antrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren, wenn die Bundesrepublik Deutschland für dessen Durchführung zuständig ist, auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Jedenfalls dürfte aber die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG und eine Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG gleichermaßen erfüllt sind, allein anhand des konkreten Einzelfalls zu beantworten sein. So hat die Beklagte etwa im Falle der Klägerin zwar geltend gemacht, es habe ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 betreffend Italien vorgelegen, ob der von der Klägerin in Italien gestellte Asylantrag aber bereits erfolglos im Sinne von § 71a AsylVfG abgeschlossen ist, hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist Entsprechendes ersichtlich.
31Im Hinblick darauf führt auch die im Verlaufe des Zulassungsverfahrens unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2015
32- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 3 -
33ergänzend abgegebene Zulassungsbegründung der Beklagten nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. Anders als im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des dortigen Klägers über Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinaus noch eine der Beklagten über eine DublinNET-Mail zugegangene Antwort Italiens, dass für diesen eine anerkennende Entscheidung in Italien ergangen war, und damit „konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits in anderen Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt und diese in einem Mitgliedstaat zu einer Anerkennung geführt haben“.
34Abgesehen davon sieht sich der Senat mit Blick auf die Ausführungen in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass die Frage, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ ist, nur anhand des konkreten Einzelfalls und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise zu beantworten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, es komme „somit in tatsächlicher Hinsicht darauf an, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Hierzu wird das Berufungsgericht den Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann auf dieser neuen Tatsachengrundlage der Rechtsfrage nachzugehen haben, ob der Bescheid auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder umgedeutet werden kann“.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 8.
36Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass ein Asylantrag, der auf der Grundlage des § 27a AsylVfG abgelehnt worden ist, nicht grundsätzlich in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG umgedeutet werden kann, sondern über diese Möglichkeit erst entschieden werden kann, wenn die Tatsachengrundlage des jeweiligen Einzelfalls geklärt ist.
37Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylVfG.
38Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
I.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungserfahrens zu tragen.
III.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Gründe
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 28. Oktober 2014 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg wird abgelehnt.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gründe
I.
- 1
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. März 2014 den Asylantrag des Klägers gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig ab, da für die Durchführung des Asylverfahrens aufgrund einer früheren Asylantragstellung Ungarn zuständig sei; zugleich ordnete sie die Abschiebung nach Ungarn nach § 34a AsylVfG an. Auf die hiergegen erhobene Anfechtungsklage hob das Verwaltungsgericht Hamburg den angefochtenen Bescheid auf. Die internationale Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wegen Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III VO auf die Beklagte übergegangen.
- 2
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung macht die Beklagte im Wesentlichen geltend, aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei zu folgern, dass die erhobene Anfechtungsklage unzulässig und zwingend eine Verpflichtungsklage zu erheben sei. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beklagten wird auf den Schriftsatz vom 22. Dezember 2014 Bezug genommen.
II.
- 3
Der zulässige Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Die von der Beklagten gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegten Gründe, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht im Rahmen des Zulassungsverfahrens beschränkt ist, rechtfertigen die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg weder wegen Divergenz noch wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 AsylVfG).
- 4
1. Eine Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht mit einem das Urteil tragenden Obersatz von einem Obersatz eines in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG genannten höheren Gerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Die Abweichung ist gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechts-vorschrift ausdrücklich oder konkludent von einem in der Rechtsprechung eines der genannten höheren Gerichte aufgestellten Rechtssatz mit einem widersprechenden Rechts-satz abgerückt ist und die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Die nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG notwendige Darlegung der Divergenz erfordert, dass ein die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz aufgezeigt wird, der zu einem ebensolchen Rechtssatz in der Entscheidung des höheren Gerichts in Widerspruch steht (BVerwG, Beschl. v. 22.3.2006, 1 B 59/05 u.a., juris Rn. 5).
- 5
Gemessen an diesem Maßstab ist nicht ersichtlich, dass das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts von den von der Beklagten benannten Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht.
- 6
Die Beklagte macht geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe im Urteil vom 10. Februar 1998 (BVerwG 9 C 28.97, juris Rn. 10) unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 6. September 1990 (BVerwG 6 C 4.90) zu einer Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG ausgeführt, dass nicht isoliert auf ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens geklagt werden könne, sondern die das Asylverfahren abschließende Entscheidung eingeklagt werden müsse. Das verwaltungsgerichtliche Urteil weicht nach dem oben aufgeführten Maßstab bereits deshalb nicht von den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ab, weil diese nicht zu § 27a AsylVfG ergangen sind.
- 7
2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zuzulassen.
- 8
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Berufungsentscheidung erhebliche tatsächliche oder rechtliche Frage aufwirft, die bisher in der Rechtsprechung noch nicht geklärt ist und daher im Interesse der Einheit, der Fortbildung oder einheitlichen Auslegung und Anwendung des Rechts der Klärung durch das Rechtsmittelgericht bedarf (vgl. VGH München, Beschl. v. 10.2.2012, 10 ZB 11.980, juris Rn. 4). Dementsprechend verlangt das Darlegungsgebot des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, ausführt, warum diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutert, weshalb sie klärungsbedürftig ist, und darlegt, inwieweit ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 16.4.2012, 5 Bf 241/10.Z, juris Rn. 32). Dies ist hier nicht der Fall.
- 9
Die Beklagte sieht als klärungsbedürftig an,
- 10
ob bei einem als unzulässig i.S.d. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag die prozessuale Dispositionsbefugnis der Klägerseite Einschränkungen bzw. Maßgaben unterliegt,
und
deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine Verpflichtungsklage zu erheben ist
sowie
ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen
und ferner,
ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist.
- 11
Zur Begründung führt sie aus, dass zwar grundsätzlich dem Kläger die Disposition über den Streitgegenstand zustehe und das Gericht über den gewählten Klagantrag gemäß § 88 VwGO nicht hinausgehen dürfe. Es sei grundsätzlich klärungsbedürftig, ob der vom Kläger gewählte Anfechtungsantrag zulässig sei. Gegen dessen Zulässigkeit spreche, dass das gesamte Asylverfahren in besonderer Weise von der Verwirklichung der Grundsätze einer Verfahrenskonzentration und -beschleunigung geprägt sei. Dies sei besonders deutlich in der vorliegenden Konstellation, in der ein im Bundesgebiet gestellter Asylantrag zugleich einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG darstelle. § 71a Abs. 1 AsylVfG sei jedoch entsprechend dem Folgeantragsverfahren in § 71 AsylVfG konzipiert. Gegen die Ablehnung eines Folgeantrags i.S.d. § 71 Abs. 1 AsylVfG sei nach der aufgeführten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber eine isolierte Anfechtungsklage unzulässig; vielmehr seien die Tatsachengerichte verpflichtet, die Streitsache in vollem Umfang spruchreif zu machen.
- 12
2.1. Auf der Grundlage der vorhandenen obergerichtlichen Rechtsprechung (VGH Mannheim, Urt. v. 16.4.2014, A 11 S 1721/13, InfAuslR 2014, 293, juris Rn. 18; OVG Lüneburg, Beschl. v. 6.11.2014, 13 LA 66/14, AuAS 2014, 273, juris Rn. 6 f.; OVG Münster, Urt. v. 7.3.2014, 1 A 21/12.A, AuAS 2014, 118, juris Rn. 28 ff.; VGH München, Urt. v. 28.2.2014, 13a B 13/30295, BayVBl 2014, 628, juris Rn. 21 ff.; OVG Magdeburg, Urt. v. 2.10.2013, 3 L 643/12, juris Rn. 21 ff.; vgl. auch: Funke-Kaiser in: GK AsylVfG, Stand Juni 2014, II - § 34a AsylVfG Rn. 64; Bergmann in: Renner, Bergmann, Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 34a AsylVfG Rn. 6; Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 34a Rn. 17) ist hinreichend geklärt und bedarf keiner weiteren Klärung in einem Berufungsverfahren, dass gegen einen Bescheid der Beklagten, in dem diese einen Asylantrag nach § 27a AsylVfG als unzulässig ablehnt und eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG erlässt, die (isolierte) Anfechtungsklage statthaft ist und zwar auch in Fällen, in denen in der Sache ein Zweitantrag nach § 71a Abs. 1 AsylVfG vorliegt oder geltend gemacht wird.
- 13
Denn das Verfahren zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedsstaats auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“ (ABl. Nr. L 180 S. 31; Dublin III VO) ist ein eigenständiges Verwaltungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, in welchem - je nach Fallkonstellation - die Beklagte auch im Falle der Unzulässigkeit einer Rückführung in den von ihr als zuständig bestimmten Staat zur Fortführung der Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates verpflichtet sein kann (vgl. zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 - Dublin II VO: EuGH, Urt. v. 14.11.2013, C-4/11, InfAuslR 2014, 68, juris). Zudem hat das Bundesverwaltungsgericht die Erhebung einer Anfechtungsklage gegen die Einstellung des Asylverfahrens aufgrund einer Antragsrücknahme nach § 32 AsylVfG bzw. wegen Nichtbetreibens des Asylverfahrens nach § 33 Abs. 1 AsylVfG für zulässig erachtet (BVerwG, Urt. v. 5.9.2013, 10 C 1/13, BVerwGE 147, 329). Dies stellt im Hinblick auf die fehlende materiell-rechtliche Entscheidung des Asylbegehrens aufgrund verfahrensrechtlicher Umstände eine prozessual vergleichbare Situation dar. Die von der Beklagten angeführte Verfahrenskonstellation der Ablehnung eines Asylfolgeantrages als unbeachtlich zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag materiell-rechtlich bescheidet.
- 14
Die Beklagte hat sich zudem mit dieser in der überzeugenden obergerichtlichen Rechtsprechung ausdrücklich auch zu Zweitanträgen nach § 71a Abs. 1 AsylVfG vertretenen Rechtsauffassung (VGH Mannheim, Urt. v. 16.4.2014, A 11 S 1721/13, juris Rn. 23; OVG Münster, Urt. v. 7.3.2014, 1 A 21/12.A, juris Rn. 34) nicht auseinandergesetzt, so dass ihr Zulassungsantrag insoweit nicht dem Darlegungserfordernis entspricht.
- 15
2.2. Soweit die Beklagte als grundsätzlich klärungsbedürftig ansieht, ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist, ist die Frage bereits nicht entscheidungserheblich, weil das Gericht gemäß § 88 VwGO nicht über den allein gestellten und zulässigen Anfechtungsantrag hinausgehend das Vorliegen eines verfahrensrelevanten Antrags feststellen und erst recht nicht - ohne entsprechenden Klagantrag - in der Folge materiell-rechtlich über den Anspruch auf Gewährung von Asyl, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie die Gewährung von subsidiärem Schutz entscheiden darf.
III.
- 16
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Da die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt, bedarf es keiner Entscheidung über das Prozesskostenhilfe-Gesuch des Klägers für das Zulassungsverfahren.
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 22. Januar 2014 - 5 K 1699/12 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens trägt die Beklagte.
Gründe
I.
II.
„ob das Tatsachengericht bei Annahme einer bestehenden Verpflichtung zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin-Verordnung und Übernahme der Asylverfahrensdurchführung die Streitsache dann auch spruchreif machen muss oder unter bloßer Bescheidaufhebung im Ergebnis an das beklagte Bundesamt zurückverweisen darf,“
III.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Juni 2013 (A 12 K 331/13) geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Tatbestand
- 1
Die Klägerin ist am (…) 1947 in H. in Syrien geboren. Sie ist verheiratet, yezidischen Glaubens, kurdische Volkszugehörige und sie besitzt die syrische Staatsangehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste sie – zusammen mit ihrer Tochter (...) sowie drei weiteren Kindern – von Syrien kommend am 01. August 2011 zunächst nach Italien, wo sie erkennungsdienstlich behandelt wurde und am 21. August 2011 in B-Stadt einen Asylantrag stellte, und alsdann am 07. September 2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 12. September 2011 stellte sie bei der Außenstelle des Bundesamtes in H-Stadt einen (weiteren) Asylantrag.
- 2
Die Beklagte richtete unter dem 07. Februar 2012 an Italien ein Übernahmeersuchen gem. Art. 10 Dublin-II-VO (Verordnung [EG] Nr. 343/2003 des Rates vom 10.02.2003). Mit Schreiben vom 16. Februar 2012 erklärten die italienischen Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags der Klägerin.
- 3
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag der Klägerin mit Bescheid vom 13. Juni 2012 als unzulässig ab und ordnete ihre Abschiebung nach Italien an. Nach der Dublin-Verordnung sei Italien für die Bearbeitung ihres Asylantrags zuständig; außergewöhnliche humanitäre Gründe, welche die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach § 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich.
- 4
Die Klägerin hat am 29. Juni 2012 beim Verwaltungsgericht Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, sie könne wegen der allgemeinen Situation von Asylbewerbern in Italien nicht darauf verwiesen werden, in Italien ein Asylverfahren durchzuführen, weil davon auszugehen sei, dass das Asylverfahren dort nicht ordnungsgemäß durchgeführt würde. Sie besitze einen Anspruch auf Asyl und Flüchtlingsschutz sowie Abschiebungsschutz; hierüber sei durch das Bundesamt zu entscheiden.
- 5
Die Klägerin hat beantragt,
- 6
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Juni 2012 zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen und dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegeben sind.
- 7
Die Beklagte hat beantragt,
- 8
die Klage abzuweisen.
- 9
Sie hat die Ansicht vertreten, Italien erfülle bei der Durchführung von Asylverfahren die Mindeststandards der Europäischen Union. In den italienischen Aufnahmeeinrichtungen seien zahlreiche humanitäre Organisationen tätig, die dies gewährleisten würden. Insbesondere hätten Asylbewerber in Italien vollen Zugang zum Gesundheitssystem. Anders als im Fall Griechenlands gebe es keine Empfehlung des UNHCR, Flüchtlinge nicht an Italien zu überstellen. Dementsprechend habe das Bundesverfassungsgericht auch Verfassungsbeschwerden gegen erstinstanzliche Entscheidungen, denen zufolge eine Abschiebung nach Italien möglich sei, nicht zur Entscheidung angenommen. Ferner sei eine Vielzahl erstinstanzlicher Entscheidungen ergangen, wonach die asylrechtlichen Mindeststandards in Italien gewährleistet seien und woraus sich ergebe, dass der Bericht von Bethke und Bender zu den Problemen der Flüchtlinge in Italien kritisch zu betrachten sei.
- 10
Auf den Antrag der Klägerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 07. März 2012 – 9 B 57/12 MD – die Beklagte im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Abschiebung der Klägerin nach Italien vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu unterlassen.
- 11
Mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2012 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 13. Juni 2012 verpflichtet, über den Asylantrag der Klägerin in eigener Zuständigkeit zu entscheiden und ein Asylverfahren durchzuführen. Die Klägerin habe nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchführe; das insoweit bestehende Ermessen der Beklagten sei auf Null reduziert. Der Klägerin könne die Durchführung eines Asylverfahrens in Italien nicht zugemutet werden.
- 12
Der Senat hat auf Antrag der Beklagten mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 die Berufung zugelassen. Zur Begründung der Berufung verweist die Beklagte im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Zulassungsantrag, wonach sie an ihrer bisherigen Auffassung festhält, die Klägerin könne in Anbetracht der in Italien gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse auf die Durchführung eines Asylverfahrens dort verwiesen werden.
- 13
Die Beklagte beantragt,
- 14
die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Magdeburg - 9. Kammer - vom 10. Juli 2012 abzuweisen.
- 15
Die Klägerin beantragt,
- 16
die Berufung zurückzuweisen.
- 17
Sie macht geltend, die Beklagte beziehe sich zur Begründung ihrer Berufung im Wesentlichen auf bloße Vorschriften und eine nicht mehr aktuelle Rechtsprechung, während neue Berichte nicht zur Kenntnis genommen würden. Der Auffassung der Beklagten sei im Hinblick auf die humanitäre Situation in Italien entgegen zu halten, dass sich die Situation der Flüchtlinge in Italien aufgrund des anhaltenden Flüchtlingsstroms aus Tunesien und anderen nordafrikanischen Staaten dramatisch verschlechtert habe. Italien sei bereits zuvor mit der Aufnahme von Flüchtlingen und deren ordnungsgemäßer Unterbringung überfordert gewesen. Aufgrund des momentanen Flüchtlingsstroms nach Italien habe sich die Situation noch verschlechtert; es sei damit zu rechnen, dass der Klägerin bereits aus diesem Grunde ein ordnungsgemäßes Asylverfahren verwehrt werde und dass sie obdachlos würde. Im Übrigen dürfe nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs (Urteil v. 21.12.2011 - C-411/11, C-493/10 -) ein Asylbewerber bereits dann nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-II-VO überstellt werden, wenn ernsthafte Hinweise auf systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedsstaat vorlägen, die eine Gefährdung des Asylbewerbers nahe legen würden. Solche ernsthaften Hinweise lägen hier vor. Die vorliegenden Berichte und sonstigen Erkenntnismittel gingen davon aus, dass das staatliche Aufnahmesystem in Italien völlig überlastet sei. Es existierten 3.000 Plätze, die eine Aufnahme von Asylbewerbern für jeweils nur sechs Monate vorsehen würden. Im Jahre 2011 hätten indessen laut Presseberichterstattung (Spiegel online v. 26.04.2011) in Italien bis Anfang Mai bereits 26.000 Flüchtlinge um Schutz nachgesucht.
- 18
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Vorbringen der Beteiligten und auf den Verwaltungsvorgang der Beklagten (Beiakte A) sowie auf die vom Senat in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
- 19
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage der Klägerin mit Gerichtsbescheid vom 10. Juli 2012 zu Unrecht stattgegeben.
- 20
I. Die Klage ist teilweise unzulässig.
- 21
1. Die als Verpflichtungsklage erhobene Klage ist “lediglich“ als Anfechtungsklage zulässig. Gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juni 2012 getroffene Entscheidung, dass der Asylantrag der Klägerin gem. § 27a AsylVfG (wegen fehlender Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland) unzulässig ist, ist allein die Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO statthaft (ebenso: VG Düsseldorf, Urt. v. 15.01. 2010 - 11 K 8136/09 -; VG Frankfurt/Main, Urt. v. 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A u. a. - InfAuslR 2009,409; Urt. v. 29.09.2009 - 7 K 269/09.F.A -; Urt. v. 23.06. 2010 - 7 K 2789/09.F.A. -; VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 -; VG München, Urt. v. 29.11.2011 - M 24 K 11.30219 -; VG Ansbach, Beschl. v. 08.11. 2011 - AN 11 S 11.30508 -; VG Wiesbaden, Urt. v. 17.06.2011 - 7 K 327/11.WI.A -; VG Braunschweig, Urt. v. 01.06.2010 - 1 A 47/10 -; VG Karlsruhe, Urt. v. 07.04.2010 - A 3 K 1580/09 -; VG Augsburg, Beschl. v. 01.02.2010 - Au 5 S 10.30014 -; Beschl. v. 29.09.2009 - 7 K 269.09 F.A. -; VG Neustadt, Urt. v. 16.06.2009 - 5 K 1166/08.NW -, alle: Juris; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 27a Rdnr. 18; a. A. statthaft nur die Verpflichtungsklage: OVG NRW, Urt. v. 10.05.2010 - 3 A 133/10.A - Juris; VG Wiesbaden, Urt. v. 10.03.2010 - 7 K 1389/ 09.WI.A -).
- 22
Im Fall der Aufhebung einer – wie hier – auf § 27a AsylVfG gestützten Entscheidung wegen Unzulässigkeit des Asylantrages ist der Weg für die Durchführung eines Asylverfahrens („in eigener Zuständigkeit“) vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch ohne ein hierauf gerichtetes Verpflichtungsbegehren eröffnet. Denn das Bundesamt ist nach Aufhebung des angefochtenen Bescheides bereits von Gesetzes wegen zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet (vgl. § 31 Abs. 2 AsylVfG zur Entscheidung des Bundesamtes über beachtliche Asylanträge). Da grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die Beklagte ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommt, bedarf es demzufolge einer Verpflichtungsklage nicht (ebenso: VG Düsseldorf, Urt. v. 15.01.2010, a. a. O.; vgl. auch VG Frankfurt/Main, Urt. v. 29.09.2009, a. a. O.; Urt. v. 08.07.2009, a. a. O.).
- 23
Überdies muss bezweifelt werden, ob es sich bei der Entscheidung nach Art. 3 Abs. 2 derVerordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist – Dublin-II-VO – [z. T. auch „EG-AsylZustVO“ genannt] – (ABl. L 50 vom 25.02.2003, S. 1 -10) um einen (selbständigen) Verwaltungsakt handelt, so dass eine Verpflichtungsklage bzw. – unter Berücksichtigung des im Rahmen der genannten Vorschrift eingeräumten Ermessens – eine Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung in Betracht kommt, oder ob es sich bei der gem. § Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zu treffende Entscheidung nicht um eine bloß inzidente handelt, da es allein um die Feststellung der Zuständigkeit der Beklagten geht.
- 24
Ebenso scheidet eine Verpflichtungsklage aus, die unmittelbar auf Anerkennung als Asylberechtigter gem. § 16a GG bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG oder aber - hilfsweise - auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gerichtet ist. Denn eine Verpflichtung für das Gericht, die Sache selbst spruchreif zu machen, besteht nur dann, wenn ein „mit seinem Asylantrag beim Bundesamt erfolglos gebliebener Ausländer“ den Klageweg beschreitet (BVerwG, Urt. v. 06.07.1998 - 9 C 45.97 - BVerwGE 107, 128 ff.). Hat hingegen das Bundesamt (noch) keine Sachentscheidung getroffen, so würde dem Betroffenen in dem Falle des “Durchentscheidens“ des Gerichts durch Verpflichtungs-urteil eine Tatsacheninstanz genommen, nämlich dass eine inhaltliche Überprüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt (ebenso: VG Frankfurt/Main, Urt. v. 08.07.2009, a. a. O.; VG Schleswig, Urt. v. 03.08. 2011 - 1 A 46/11 - und Beschl. v. 12.09.2011 - 12 A 124/10 -; a. A. VG Braunschweig, Urt. v. 21.02.2013 - 2 A 126/11 - u. a. mit Verweis auf VGH Mannheim, Urt. v. 19.06.2012 - A 2 1355/11 -, Juris).
- 25
Im Übrigen verhält es sich bei der Entscheidung nach § 27a AsylVfG ähnlich wie in Fällen der Entscheidung des Gerichts über eine Einstellung des Asylverfahrens nach§ 32 AsylVfG wegen vermeintlicher Antragsrücknahme bzw. Verzicht nach § 14a Abs. 3 AsylVfG sowie in den Fällen der gerichtlichen Entscheidung bei fiktiver Antragsrücknahme nach§ 33 AsylVfG. In den genannten Fällen ist nach der hierzu ergangenen einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 07.03.1995 - 9 C 264.94 -, NVwZ 1996, S. 80 = Juris; vgl. auch Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 33 Rdnr. 34 ff. m. w. N.) die Verpflichtungsklage unzulässig, weil die verweigerte sachliche Prüfung des Asylantrages nach den Regelungen des Asylverfahrensgesetzes vorrangig von der Fachbehörde nachzuholen ist.
- 26
Auch ist im Hinblick auf die mit dem angefochtenen Bescheid angeordnete Abschiebung der Klägerin nach § 34a Abs. 1 AsylVfG die Verpflichtungsklage nicht veranlasst und stattdessen eine Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO ausreichend (vgl. VG Frankfurt/Main, Urt. v. 08.07.2009, a. a. O. und Urt. v. 29.09.2009, a. a. O.; s. auch Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 34a AsylVfG Rdnr. 6; Funke-Kaiser, a. a. O., § 34a Rdnr. 64). Soweit es nämlich darum geht, dass die Beklagte von einem Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO i. V. m. der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 02. September 2003 (Abl. L 222 S. 3) Gebrauch macht, bedarf es im Urteil über eine entsprechende inzidente Feststellung hinaus keiner ausdrücklichen Verpflichtung der Beklagten, von einer Abschiebung abzusehen.
- 27
Es ist vorliegend davon auszugehen, dass die Anfechtungsklage vom Verpflichtungsbegehren der Klägerin (mit-)umfasst ist. Gegenstand der Anfechtungsklage ist nach allem ausschließlich die Frage nach der Zuständigkeit der Beklagten zur Durchführung eines Asylverfahrens, wobei die Frage nach dem rechtlich gebotenen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland inzident zu beantworten ist.
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2) Der Klägerin steht für ihre Klage auch das erforderliche Rechtsschutzinteresse zur Seite, da sie weiterhin nach Italien zurückgeführt bzw. rücküberstellt werden könnte, nachdem die italienischen Behörden mit Schreiben vom 16. Februar 2012 (Bl. 115 d. Sachakte) ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung ihres Asylantrags erklärt haben, indem sie dem Übernahmeersuchen stattgegeben und damit ihrer Rücküberstellung zugestimmt haben.
- 29
II. Die Klage ist im Übrigen unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Juni 2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Asylantrag der Klägerin zu Recht als unzulässig abgelehnt und zugleich ihre Abschiebung nach Italien angeordnet. Es musste im vorliegenden Fall insbesondere auch nicht von der Möglichkeit des Selbsteintritts der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch machen.
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1) Rechtsgrundlage des Bescheides vom 13. Juni 2012, mit dem das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig abgelehnt hat, ist § 27a AsylVfG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier der Fall. Zu Recht ist die Beklagte im angefochtenen Bescheid davon ausgegangen, dass die Republik Italien für die Durchführung eines Asylverfahrens der Klägerin zuständig ist.
- 31
a) Die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin-II-VO, sofern nicht die nach Art. 5 Abs. 1 der genannten Verordnung vorrangig zu prüfenden Zuständigkeitskriterien nach Art. 6 bis 9 der Verordnung einschlägig sind.
- 32
Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin-II-VO ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, sofern auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Art. 18 Abs. 3 der Verordnung genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach Kapitel III derVerordnung (EG) Nr. 2725/2000, festgestellt wird, dass der Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze des Mitgliedstaats illegal überschritten hat (vgl. auch Art. 18 Abs. 4 und 5 Dublin-II-VO).
- 33
Dies bedeutet, dass – soweit nicht die Vorschriften nach Art. 6 bis 9 Dublin-II-VO einschlägig sind – im vorliegenden Fall Italien für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig ist, da sie ihren eigenen Angaben zufolge aus Syrien kommend die Grenze nach Italien illegal überschritten hat (und dort – in B-Stadt – am 21. August 2011 zugleich einen Asylantrag gestellt hat [Bl. 108 ff. d. Sachakte]).
- 34
Die insoweit gegebene Zuständigkeit endet zwar gem. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin-II-VO zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Die Klägerin hat jedoch am 12. September 2011 und damit noch vor Ablauf der Jahresfrist ihren Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt, so dass die Zuständigkeit Italiens nicht nach Satz 2 entfallen ist. Die Einreise der Klägerin nach Italien erfolgte am 07. September 2011; die Jahresfrist lief somit am 07. September 2012 ab. Dass die Frist nunmehr abgelaufen ist, ist unschädlich, weil für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-VO auf die Situation in dem Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
- 35
b) Im Falle der Klägerin sind auch die Voraussetzungen nach Art. 6 bis 9 Dublin-II-VO nicht erfüllt. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich Art. 7 der Verordnung, wonach – soweit die betroffenen Personen dies wünschen – der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist, wo ungeachtet dessen, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, der Asylbewerber einen Familienangehörigen hat, dem das Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Flüchtling gewährt wurde, sowie hinsichtlich Art. 8 der Verordnung, wonach – soweit die betroffenen Personen dies wünschen – dem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrages obliegt, in dem der Asylbewerber einen Familienangehörigen hat, über dessen Asylantrag noch keine erste Sachentscheidung getroffen wurde. Die genannten Vorschriften sind im Falle der Klägerin jedoch nicht einschlägig.
- 36
Es ist schon nicht ersichtlich, dass die nach Art. 7 und 8 der Verordnung genannten Voraussetzungen bei der Tochter der Klägerin, mit der sie zusammen in das Bundesgebiet eingereist ist, oder bei ihren in Deutschland lebenden volljährigen Kindern vorliegen. Dies kann aber auch dahin stehen. Denn jedenfalls gelten die genannten Personen nicht als „Familienangehörige“ i. S. d. Dublin-II-VO. Hierzu gehört nach Art. 1 Buchst. i) der Verordnung nur die Mitglieder der “Kernfamilie“, d. h. die Ehegatten des Asylbewerbers und unter bestimmten Voraussetzungen der nicht verheiratete Partner des Asylbewerbers, die minderjährigen Kinder der genannten Personen sowie bei unverheirateten minderjährigen Antragstellern oder Flüchtlingen der Vater, die Mutter oder der Vormund. Ein solches Verwandtschaftsverhältnis der Klägerin zu den mit einreisenden bzw. in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kindern besteht jedoch nicht.
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c) Ebenso sind bei der Klägerin die Voraussetzungen nach Art. 15 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin-II-VO nicht erfüllt. Nach Art.15 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung kann jeder Mitgliedstaat aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien der Verordnung nicht zuständig ist. Dass die Klägerin vorliegend aus humanitären Gründen mit ihren Familienangehörigen zusammenzuführen ist und nicht auch auf ein eigenständiges Leben in Italien verwiesen werden kann, zumal ihre Kinder teilweise in Deutschland, teilweise in Österreich leben bzw. teilweise ihr Aufenthalt unbekannt ist, lässt sich nicht feststellen. Die Klägerin befindet sich in Begleitung ihrer volljährigen Tochter; beide sind reisefähig und nach Italien zu überstellen.
- 38
Ebenso sind die Voraussetzungen nach Art. 15 Abs. 2 Dublin-II-VO nicht erfüllt, wonach im Regelfall von einer Trennung der Familienangehörigen abzusehen bzw. eine Zusammenführung vorzunehmen ist, wenn die betroffene Person u. a. wegen einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung durch die anderen Person(en) angewiesen ist. Diese Voraussetzungen liegen bei der 67-jährigen Klägerin nicht vor; entsprechendes ist jedenfalls nicht vorgetragen worden.
- 39
Eine andere Einschätzung ist auch nicht im Hinblick auf die einleitende Erwägung zu Nr. 6 Dublin-II-VO veranlasst, wonach die Einheit der Familie (grundsätzlich) gewahrt bleiben soll, soweit dies mit den sonstigen Zielen vereinbar ist, die mit den Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Mitgliedstaats angestrebt werden. Nicht anders verhält es sich mit Blick auf die einleitende Erwägung nach Art. 7 Satz 2 Dublin-II-VO, wonach die Mitgliedstaaten von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um eine räumliche Annäherung von den Familienmitgliedern vorzunehmen, soweit dies aus humanitären Gründen erforderlich ist. Bei den genannten Regelungen handelt es sich indes um bloße programmatische Vorgaben, aus denen sich, unabhängig davon, dass die Voraussetzungen hier nicht vorliegen dürften, für die Asylbewerber keine unmittelbaren Rechte ableiten lassen.
- 40
d) Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Zwar hat das Bundesamt nicht innerhalb von drei Monaten nach Stellung des Asylantrags der Klägerin vom 12. September 2011 ein Wiederaufnahme- bzw. Übernahmeersuchen an die Republik Italien gestellt; das war indes auch nicht erforderlich. Da die Klägerin bereits in Italien einen Asylantrag gestellt hat, steht in ihrem Fall eine Wiederaufnahme durch Italien im Sinne des Art. 16 Abs.1 c) bis e) Dublin-II-VO in Rede, nicht hingegen eine Aufnahme seitens Italiens im Sinne des Art. 16 Abs.1 a) Dublin-II-VO. Die Dublin-II-VO unterscheidet insoweit gem. Art.16 Abs.1 lit. a) einerseits und Art. 16 Abs. 1 lit. c) bis e) andererseits zwischen der Überstellung des Asylsuchenden in einem Aufnahmeverfahren gemäß den Art. 17 bis 19 Dublin-II-VO und einer Überstellung im Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 20 Dublin-II-VO. Das Aufnahmeverfahren findet statt, wenn der Asylsuchende im ersuchten Mitgliedstaat noch keinen Asylantrag gestellt hat, während das Wiederaufnahmeverfahren einschlägig ist, wenn dort bereits ein Asylantrag gestellt wurde. Insofern wird der Anwendungsbereich der nachfolgenden Art. 17 bis 20 Dublin-II-VO durch Art. 16 Dublin-II-VO bestimmt.
- 41
Aus der systematischen Trennung zwischen Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren folgt, dass im Wiederaufnahmeverfahren keine Frist für das Übernahmeersuchen gilt, denn die insofern allein maßgebliche Regelung des Art. 20 Dublin-II-VO normiert weder selbst eine solche Frist, noch nimmt sie auf die für das Aufnahmeverfahren geltende Regelung in Art. 17 Abs.1 Dublin-II-VO Bezug. Es verhält sich gerade nicht in der Weise, dass Art. 20 Dublin-II-VO nur spezielle Modalitäten für die Wiederaufnahme regelt und im Übrigen die Regelungen der Art. 17 bis 19 Dublin-II-VO anwendbar wären. Vielmehr handelt es sich bei den Art. 17 bis 19 Dublin-II-VO einerseits und dem Art. 20 Dublin-II-VO andererseits um jeweils eigenständige Regelungskomplexe (vgl. VG Düsseldorf, Beschl. v. 06.02.2013 - 17 L 150/13.A -; Beschl. v. 26.04.2013 - 17 K 1777/12.A -; VG Hamburg, Beschl. v. 22.09.2005 - 13 AE 555/05 -; VG Augsburg, Gerichtsbescheid v. 09.05.2011 - Au 3 K 10.30468 - Juris; VG Regensburg, Beschl. v. 05.07.2013 - RN 5 S 13.30273 -; VG Göttingen, Beschl. v. 11.10.2013 - 2 B 805/13 -; a.A.: VG Düsseldorf, Beschl. v. 07.08. 2012 - 22 L 1158/12.A -, alle: Juris).
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Art. 17 Abs.1 Satz 2 Dublin-II-VO, wonach der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, zuständig wird, wenn das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten unterbreitet wird, findet im Fall der Klägerin folglich keine Anwendung, so dass sich hieraus auch keine Zuständigkeit der Beklagten ergibt. Dementsprechend haben die italienischen Behörden mit Schreiben vom 16. Februar 2012 (Bl. 115 R, 116 d. Sachakte) auch ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme bzw. Übernahme der Klägerin erteilt.
- 43
e) Ferner ist die Zuständigkeit nicht nach Art. 19 Abs. 3 und 4 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin-II-VO erfolgt die Überstellung des Schutzsuchenden von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder nach der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin-II-VO i. V. m. Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-II-VO auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Dabei ist unerheblich, dass die Entscheidung der Beklagten nach Art. 19 Abs. 2 Satz 4 der Verordnung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat; allein entscheidend ist, dass ihr eine solche durch eine entsprechende gerichtliche Entscheidung zuerkannt worden ist (vgl. Hess.VGH, Beschl. v. 23.08.2011 - 2 A 1863/10.Z.A -; Nds.OVG, Beschl. v. 02.08.2012 - 4 MC 133/12 -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 -; VG Freiburg, Beschl. v. 02.02.2012 - A 4 K 2203/11 -; offengelassen: OVG NRW, Beschl. v. 01.03.2012 - 1 B 234/12.A -, alle: Juris).
- 44
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom 02. August 2012 - 4 MC 133/12 - (< Rn. 17 zitiert nach Juris >) zu § 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin-II-VO und zu dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin-II-VO grundsätzlich vorgesehenen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung ausgeführt:
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„Der Annahme der aufschiebenden Wirkung des hier eingelegten Rechtsbehelfs steht auch nicht die Vorschrift des Art. 19 Abs. 2 Satz 4 derVerordnung (EG) Nr. 343/2003 entgegen. Danach hat ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nach Absatz 1 keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem inner-staatlichen Recht zulässig ist. Zwar darf nach § 34a Abs. 2 AsylVfG die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) nicht nach§ 80oder § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt werden. Hieraus folgt jedoch nicht, dass durch diese Vorschrift eine andere Entscheidung im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Hs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts ausgeschlossen ist und daher ein Rechtsbehelf wegen § 34a Abs. 2 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 derVerordnung (EG) Nr. 343/2003 haben kann. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr ausdrücklich entschieden, dass der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG in den Fällen, in denen die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) erfolgen soll, in Ausnahmefällen, die nicht vom „normativen Vergewisserungskonzept“ des Gesetzgebers über die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem sog. sicheren Drittstaat erfasst sind, der Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz gegen eine sofortige Überstellung nicht entgegensteht (BVerfG, Urt. v. 14.5. 1996, a. a. O.). Diese Rechtsprechung wird - soweit ersichtlich - von den Verwaltungsgerichten auf die Abschiebung in einen anderen Staat, der nach § 27a AsylVfG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, mit der Begründung übertragen, dass die vom Bundesverfassungsgericht angestellten Erwägungen zu § 26a AsylVfG auch auf die Vorschrift des§ 27a AsylVfG zutreffen, weil die nach europäischen Recht für die Asylentscheidung zuständigen Mitgliedstaaten zugleich sichere Drittstaaten im Sinne von § 26a AsylVfG sind (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 1.3.2012 - 1 B 234/12.A - und v. 11.10. 2011 - 14 B 1011/11.A -; ferner Nds. OVG, Beschl. v. 2.5.2012 - 13 MC 22/22 - und Hess. VGH, Beschl. v. 23.8.2011 - 2 A 1863/10.Z.A.-). Unter diesen Umständen kann daher keine Rede davon sein, dass es nach der innerstaatlichen Rechtslage in Deutschland unzulässig sei, die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellung auf der Grundlage der Zuständigkeitsbestimmungen in der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 anzuordnen. Unabhängig davon stellt die für den Fristenbeginn der Überstellung maßgebliche Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 derVerordnung (EG) Nr. 343/2003 nach ihrem Wortlaut auch ausdrücklich darauf ab, dass einem eingelegten Rechtsbehelf tatsächlich aufschiebende Wirkung zukommt und nicht darauf, ob es nach dem innerstaatlichen Recht zulässig ist, die aufschiebende Wirkung anzuordnen (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 23.8.2011 - 2 A 1863/10.Z.A.-).
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Läuft danach die Frist zur Überstellung aufgrund des von dem Antragsteller eingelegten Rechtsbehelfs erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens bezüglich der Durchführung der Überstellung entschieden wird und die der Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann, kann dahinstehen, ob insoweit das Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache für den Fristenbeginn bereits ausreichend ist oder es darüber hinaus der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bedarf (so Hess. VGH, Beschl. v. 23.8.2011 - 2 A 1863/10.Z.A.“
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Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an und macht sie sich zu Eigen.
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Da die Klägerin – nach Erlass des angefochtenen Bescheides vom 13. Juni 2012 – gegen ihre Überstellung innerhalb der Frist, bis zu der gem. Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin-II-VO ihre Überstellung nach Italien vorbehaltlich eventuell zu treffender weiterer Maßnahmen erfolgen konnte, einen Rechtsbehelf gegen ihre Überstellung eingelegt hat, dem mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom Beschluss vom 07. März 2012 - 9 B 56/12 MD - aufschiebende Wirkung beigemessen worden ist, beginnt nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin-II-VO eine (neue) sechsmonatige Frist zur Überstellung der Klägerin (erst) ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Klage. Diese Frist ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht abgelaufen, denn der Senat hat dem Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 entsprochen. Nach allem kann hier dahingestellt bleiben, ob im Grundsatz das Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache für den Fristenbeginn hinsichtlich der Überstellung bereits ausreichend ist oder ob es darüber hinaus der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung bedarf, da die Klägerin jedenfalls erstinstanzlich obsiegt hat.
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2) Die Beklagte ist für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin auch nicht gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zuständig, denn die Bundesrepublik Deutschland ist nicht verpflichtet, das Selbsteintrittsrecht auszuüben.
- 50
Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO kann jeder Mitgliedstaat abweichend von den Zuständigkeitskriterien des Kapitels III der Verordnung einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat über den Selbsteintritt (a. a. O. Satz 3). Ob der Mitgliedstaat von dieser Befugnis Gebrauch macht, steht dabei grundsätzlich in seinem Ermessen, welches – weil integraler Bestandteil des im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten gemeinsamen Europäischen Asylsystems (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/ 10 und C-493/10 -,
) – in Übereinstimmung mit den insoweit geltenden unionsrechtlichen Bestimmungen und von den Mitgliedstaaten verfolgten Zielen auszuüben ist.
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Art. 3 Dublin-II-VO ist auch geeignet, subjektive Rechte der Klägerin zu begründen, die von ihr gegen eine vorgesehene Überstellung (Rückführung) in den nach dieser Verordnung für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat geltend gemacht werden können (vgl. dazu den Vorlagebeschluss des Hess.VGH v. 22.12.2010 - 6 A 2717/09.A -; Nds.OVG, Beschl. v. 02. 08.2012 - 4 MC 133/12 - m. w. N., Juris; ferner Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rdn. 37 ff. m. w. N.). Denn auch wenn es sich bei Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-VO um eine Ermessensvorschrift handelt, kann sich der Betroffene – hier die Klägerin – auf einen subjektiven öffentlich-rechtlichen Anspruch auf den Selbsteintritt der Beklagten gem. Art. 3 Abs. 2 der Verordnung berufen. Diese Bestimmung ist – anders als die Vorgängerregelungen im Schengener Durchführungsübereinkommen und im völkerrechtlichen Dubliner Übereinkommen (vgl. hierzu Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rdn. 25) – nicht allein im öffentlichen Interesse geschaffen worden, sondern verbürgt den von ihr Betroffenen ein subjektives Recht. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass ein Einzelner nicht nur dann aus dem Unionsrecht subjektive Rechte herzuleiten vermag, wenn diese ihm ausdrücklich zugesprochen werden. Vielmehr genügt es, wenn aus einer Rechtsnorm klar und eindeutig eine Begünstigung Einzelner hervorgeht, die keiner Bedingung und keinem zeitlichen Aufschub mehr unterliegt, und weder die Union noch die Mitgliedstaaten einen Spielraum zur Ausgestaltung der Rechtsnorm besitzen (vgl. u. a. EuGH, Urt. v. 05.02.1963 - Rs. 26/62 -, Slg. 1963, 1 [24] = NJW 1973, 1751 - van Gend & Loos vs. Niederlande; EuGH, Urt. v. 04. 12.1974 - Rs. C-41/74 -, Slg. 1974, 1337 [1349] - van Duyn vs. Home Office; EuGH, Urt. v. 19.01.1982 - Rs. C-8/81 -, Slg. 1982, 53 [71] = NJW 1982, 53 - Becker vs. Finanzamt Münster). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Dublin-II-VO dem Grunde nach erfüllt (vgl. auch Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rdnr. 124 m. w. N.). Hiervon geht im Ergebnis auch der Europäische Gerichtshof in dem zur Dublin-II-VO ergangenen Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 – (Rdnr. 38, 48 zur Frage des Rechtsschutzes, NVwZ 2009, S. 639 = Juris) aus.
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Allerdings verbürgt Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO lediglich das Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung – welches gegebenenfalls aber auf Null reduziert sein kann (vgl. VG Würzburg, Urt. v. 12.03.2009 - W 4 K 08. 30122 -; Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rdnr. 134 f. und 223 m. w. N.; Marx, a. a. O. § 27a Rdnr. 13; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rdnr. 1886; Filzwieser / Liebminger, Dublin II-Verordnung, Kommentar, 2. Aufl., Wien/ Graz 2007, Art. 3 K 9 unter Verweis auf einschlägige Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Entscheid v. 15.10.2004 - G 237/03 u. a. und des Belgischen Conseil d'Etat / Raad van State vom 28.08.2006, Zl. 162.039; Schröder, Die EU-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Asylstaats, ZAR 2003, S. 124 [131]; Hruschka, Die Dublin II-Verordnung, in: Informationsverbund Asyl e.V. [Hrsg.], Das Dublin-Verfahren, Beilage zum Asylmagazin 1-2/2008, S. 1 [9]; Hruschka, Humanitäre Lösungen in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 7-8/2009, S. 5 [7 f. und 9 f.]).
- 53
Aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO ergibt sich eine an die Beklagte gerichtete Ermessensermächtigung, deren Zweck in der Norm selbst nicht seinen Ausdruck gefunden hat (vgl. nur Funke-Kaiser, a. a. O., § 27a Rdnr. 220; Filzwieser / Liebminger, a. a. O., Art. 3 K 8 ff.), sondern sich aus der Zwecksetzung der Verordnung insgesamt und der im Zuge der durch Art. 63 EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrages vom 02. Oktober 1997 vorgegebenen gemeinschaftsrechtlichen Asylharmonisierung ergangenen europäischen Richtlinien zum materiellen Asylrecht auf der einen und zum Verfahrensrecht sowie den Aufnahmebedingungen von Flüchtlingen auf der anderen Seite erschließt. Im Einzelnen ist dabei von Folgendem auszugehen:
- 54
Nach Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) EG-Vertrag beschließt der Rat in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie mit einschlägigen anderen Verträgen Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines dritten Landes in einem Mitgliedstaat gestellt hat. Hierauf beruhend wurde die Dublin-II-VO erlassen. Im Erwägungsgrund Nr. 5 wird hierzu ausgeführt, dass bezüglich der schrittweisen Einführung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf längere Sicht zu einem gemeinsamen Asylverfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Status für die Personen, denen Asyl gewährt wird, führen sollte, im derzeitigen Stadium die Grundsätze des am 15. Juni 1990 in Dublin unterzeichneten Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags(4) (nachstehend „Dubliner Übereinkommen“ genannt), dessen Durchführung die Harmonisierung der Asylpolitik gefördert hat, mit den aufgrund der bisherigen Erfahrungen erforderlichen Änderungen beibehalten werden sollten. Weiterhin wird insbesondere im Erwägungsgrund Nr. 15 ausgeführt, dass die Verordnung in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen stehe, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EuGrdRCh - anerkannt worden seien. Die Verordnung ziele insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 EuGrdRCh verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.
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Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 -, Juris) lässt das im EU-Vertrag vorgesehene und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeitete gemeinsame Europäische Asylsystem allerdings die Annahme begründet erscheinen, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 (GFK) sowie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - (EMRK) finden. Es gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtscharta und der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. M. a. W. ausgehend von der Annahme, dass es sich bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union um sichere Drittstaaten i. S. d. Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz (GG) bzw. § 26a AsylVfG handelt, ist aufgrund des diesen Vorschriften zugrunde liegenden „Konzepts der normativen Vergewisserung“ (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/133 - Juris, Rn. 179 ff.) bzw. des „Prinzips des gegenseitigen Vertrauens“ (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-393/10 – Juris, Rn. 79 ff.) grundsätzlich davon auszugehen, dass die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Grundrechtscharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention in diesen Ländern sichergestellt ist. Auch die Dublin-II-Verordnung beruht wie jede andere auf Art. 63 Satz 1 Nr. 1 EG-Vertrag gestützte gemeinschaftsrechtliche Maßnahme auf der Prämisse, dass die zuverlässige Einhaltung der GFK, der EMRK und der EuGrdRCh in allen Mitgliedstaaten gesichert ist (vgl. Begründungserwägung Nr. 2 und Nr. 12 Dublin-II-VO und Art. 6 Abs. 2 sowie Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 lit. a EG-Vertrag, - so auch VG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 02.10.2008 - 6 B 56/08-, Juris und VG Regensburg, Beschl. v. 15.09.2008 - RO 3 E 08.30124 - Juris).
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Dies bedeutet zugleich, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94, 49 = Juris; Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, Juris) ein Ausländer, der in einen sicheren Drittstaat zurück verbracht werden soll, den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor einer politischen Verfolgung oder sonstigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen in seinem Herkunftsstaat grundsätzlich nicht mit der Begründung einfordern kann, für ihn bestehe in dem betreffenden Drittstaat keine Sicherheit, weil dort die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Für ihn kommen deshalb entsprechend dem mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten „Konzept normativer Vergewisserung“ über die Sicherheit im Drittstaat auch die materiellen Rechtspositionen, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann, grundsätzlich nicht in Betracht.
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Allerdings hat die Bundesrepublik Deutschland dann Schutz zu gewähren, wenn ein solcher durch Umstände begründet wird, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des „Konzepts normativer Vergewisserung“ durch Gesetz berücksichtigt werden konnten oder aber sich die für die Qualifizierung als “sicher“ maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung hierauf noch aussteht. So sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (a. a. O.) Ausnahmen u. a. dann geboten, wenn der Drittstaat gegenüber dem Schutzsuchenden selbst zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird, oder wenn offen zu Tage tritt, dass der Drittstaat sich von seinen Schutzverpflichtungen lösen und einem bestimmten Ausländer der Schutz dadurch verweigern wird, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigt (vgl. zur Problematik der Bestimmung des „sicheren Drittstaates“: BVerfG, Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 - DVBl. 2009, 1304; Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - DVBl. 1996, 825 ff.; s. insbesondere auch zur europa-rechtlichen Dimension: Weinzierl / Hruschka, Effektiver Rechtsschutz im Lichte deutscher und europäischer Grundrechte, NVwZ 2009, 1540 ff.).
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Vergleichbares gilt nach dem Willen des Gesetzgebers, wenn es um die Rückführung eines Ausländers in den für seinen Asylantrag zuständigen Staat im Sinne des § 27a AsylVfG geht. Dies bedeutet, dass auch der Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO „nur“ eine Ausnahme darstellt bzw. Sonderfällen vorbehalten ist. Denn eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den Drittstaat oder in den nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, ist nur dann veranlasst, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen die Annahme aufdrängt, dass der Asylbewerber von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An die Darlegung eines solchen Sonderfalles sind dabei auch im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94, 49 = Juris; Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, Juris). Die Annahme eines sicheren Drittstaates ist daher nur dann widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EuGrdRCh bzw. der inhaltlich identischen Vorschrift des Art. 3 EMRK (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EuGRrdRCh) implizieren.
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Nach der zu Art. 3 EMRK ergangenen Rechtsprechung des EGMR, auf die zur Auslegung von Art. 4 EuGrdRCH zurückzugreifen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 21.01.2011, 2011 - No. 30696 – M.S.S. vs. Belgien und Griechenland, Rn. 88 m. w. N. – Juris) ist eine Behandlung unmenschlich, wenn sie absichtlich erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Eine Behandlung ist hingegen als erniedrigend anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und dadurch fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert, oder wenn sie Angst, Furcht oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder physischen Widerstand der Person zu brechen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011, a. a. O., Rn. 220 m. w. N.).
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Die ernsthafte Befürchtung grundlegender Mängel besteht nur dann, wenn in einem Mitgliedstaat eine ständige Verletzung der Kernanforderungen des europäischen Asylrechts, wie sie in den Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union ihren Niederschlag gefunden haben, stattfindet und dadurch die Menschenwürde, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Flüchtlings beeinträchtigt wird (vgl. hierzu VG Düsseldorf, Beschl. v. 22.12.2008 - 13 L 1993/08.A - Juris; VG Berlin, Beschl. v. 11.04.2011 - 23 L 84.11 A - Juris; VG Hannover, Beschl. v. 07.06.2011 - 1 B 2106/11 - asyl.net; VG Düsseldorf, Beschl. v. 12.09.2011 - 6 L 866/11.A - Juris; Lehnert / Pelzer, Effektiver Rechtsschutz im Rahmen des EU-Asylzuständigkeitssystems der Dublin II-Verordnung, ZAR 2010, 41 ff.; Lehnert/Pelzer, Der Selbsteintritt der Mitgliedstaaten im Rahmen des EU-Asylzuständigkeitssystems der Dublin-II-Verordnung, NVwZ 2010, 613 ff.). Bei der Beurteilung der Frage, ob für Asylbewerber in Italien dementsprechend ein “richtliniekonformes“ Verfahren gewährleistet ist, ist dabei zunächst das Schutzniveau in den Blick zu nehmen, das sich aus Art. 28 (Sozialleistungen) und Art. 31 (Zugang zu Wohnraum) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 – Qualifikationsrichtlinie – ergibt und sodann jenes, das sich für das Asylverfahren aus der Dublin-II-VO selbst ergibt. Zugleich ist als Maßstab die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten heranzuziehen sowie die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Danach gehören zu den Kernanforderungen des europäischen Asylrechts der Zugang zu einem geordneten Asylverfahren und die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen, welche die Grundbedürfnisse nach Unterkunft, Nahrung und medizinischer Versorgung abdecken.
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Die vorstehend aufgezeigten Grundsätze stehen in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dieser hat mit Urteil vom 21.12.2011 - C 411/10 und C-493/10 - (Juris) ausgeführt, das Gemeinsame Europäische Asylsystem sei in einem Kontext entworfen, der grundsätzlich die Vermutung rechtfertige, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtscharta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Gleichwohl könne – so der Gerichtshof – nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass die ernstzunehmende Gefahr bestehe, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit den Grundrechten unvereinbar sei. Dabei berühre nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Dublin-II-VO. Sei jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufwiesen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta implizierten, so sei eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar.
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Bei der Beurteilung der anstehenden Frage nach dem Vorliegen eines systemischen Versagens in Bezug auf das Asyl- und Aufnahmeverfahren in dem Mitgliedstaat ist überdies nicht (allein) darauf abzustellen, welche (abstrakte) Rechtslage dort herrscht, mithin ob etwa die vorgenannten Richtlinien in nationales Recht umgesetzt wurden, sondern es sind (ebenfalls) die konkreten bzw. realen Verhältnisse für die Asylbewerber, mithin die bestehende tatsächliche Verwaltungs- und Rechtspraxis in den Blick zu nehmen (ebenso VG Frankfurt/Main, Urt. v. 08.07.2009 - 7 K 4376/07.F.A u. a. - InfAuslR 2009, 406 = Juris).
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Ferner ist darauf abzustellen, ob es sich bei eventuell feststellbaren Defiziten und Mängeln, etwa in Form von Rechtsverstößen und zu erwartenden Beeinträchtigungen, nur um Einzelfälle oder – soweit es sich nicht nur um Einzelfälle handelt – um bloße vorübergehende, temporäre Erscheinungen handelt, die etwa einer überraschenden Entwicklung geschuldet sind, denen aber in naher Zukunft voraussichtlich abgeholfen wird. Anders verhält es sich indes in jenen Fällen, in denen aufgrund einer Vielzahl von Referenzfällen hinreichend belegte Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich die Missstände und Unzulänglichkeiten dauerhaft manifestiert haben. Die insoweit erforderliche Feststellung des Vorliegens systemischer Mängel und Missstände hat somit eine quantitative wie qualitative Komponente. Ob die desolaten Verhältnisse im Mitgliedstaat dabei darauf zurückzuführen sind, dass dieser zur Schaffung geordneter und richtlinienkonformer Verhältnisse nicht bereit oder nicht in der Lage ist, macht dabei grundsätzlich keinen Unterschied.
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3) In Anwendung der genannten Kriterien ist im Fall der Klägerin von Folgendem auszugehen:
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Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht verpflichtet, in Ausübung des insoweit bestehenden Ermessens von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO Gebrauch zu machen. Auch kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, sie besitze zumindest einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Selbsteintritt der Beklagten zur Durchführung eines Asylverfahrens gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO, um als Ausnahme von den sonstigen Zuständigkeitsregeln der genannten Verordnung die Prüfung ihres Asylantrages in der Bundesrepublik Deutschland herbeizuführen. Diesem Recht der Klägerin ist mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten entsprochen worden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte ihr Ermessen verkannt hätte; auch rechtfertigt sich nicht die Annahme des Vorliegens eines formellen Ermessensfehlers, da keinerlei Gründe vorliegen, die einen sog. Selbsteintritt zu rechtfertigen vermögen.
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Zur Überzeugung des Senats ist auf der Grundlage des ihm vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern und Flüchtlingen sowie von “Dublin-II-Rückkehrern“ in Italien nicht ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und / oder die Aufnahmebedingungen dort derart grundlegende Mängel aufweisen, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EuGrdRCh zu erwarten steht. Der Senat ist vielmehr unter Anlegung der zuvor genannten strengen Maßstäbe zur Überzeugung gelangt, dass für die nach der Dublin-II-Verordnung nach Italien zurückkehrenden bzw. rücküberstellten Asylbewerber in der Gesamtschau ein ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren gewährleistet ist und dass für den Fall der Abschiebung bzw. Rückführung der betroffenen Asylsuchenden zwecks Durchführung eines Asylverfahrens nicht mit schwerwiegenden Rechtsverstößen und Beeinträchtigungen zu rechnen ist (ebenso oder ähnlich u. a.: OVG Lüneburg, Beschl. v. 02.08.2012 - 4 MC 133/12 -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.06.2013 - OVG 7 S 33.13 -; Beschl. v. 24.06.2013 - OVG 7 S 58.13 –; VG Bremen, Beschl. v. 15.04.2013 - 2 V 440/13.A -; VG Regensburg, Beschl. v. 05.02.2013 - RN 5 S 13.30026 -; Beschl. v. 26.02.2013 - RN 9 K 11.30445 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 17.09.2012 - 13 L 1447/12.A -; Beschl. v. 08.01.2013 - 6 L 104/13.A - und Beschl. v. 06.02. 2013 - 17 L 150/13.A -; VG Augsburg, Urt. v. 11.01.2013 - Au 6 K 12.30358 -; VG Leipzig, Urt. v. 07.12.2012 - A 1 K 973/11 -; VG München, Beschl. v. 08.11.2012 - M 15 E 12.30772 -; VG Würzburg, Beschl. v. 30.10.2012 - W 6 E 12.30288 -; VG Trier, Beschl. v. 25.10.2012 - 5 L 1146/12.TR -; VG Schwerin, Beschl. v. 27.09. 2012 - 8 B 434/12 As -; VG Bayreuth, Urt. v. 12.06.2012 - B 3 K 11.30142 - [bestätigt durch BayVGH, Beschl. v. 6.02.2013 - 20 ZB 12.302856 -]; a. A. oder eine Entscheidung in der Hauptsache vorbehaltend: VG Köln, Beschl. v. 07.05.2013 - 20 L 613/13.A -; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 30.04.2013 - 10a L 484/13.A -; VG Schwerin, Beschl. v. 15.03.2013 - 3 B 111/13 As -; VG Aachen, Beschl. v. 14.03. 2013 - 9 L 53/13.A -; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 19.02.2013 - 15a L 194/13.A -; Beschl. v. 27.02.2013 - 15a L 194/13.A -; VG Gießen, Urt. v. 24.01.2013 - 6 K 1329/12.Gl.A -; VG Karlsruhe, Beschl. v. 11.10.2012 - A 9 K 2386/12 - und Beschl. v. 22.01.2013 - A 9 K 179/13 -; VG Stuttgart, Beschl. v. 08.01.2013 - A 7 K 3929/12 -; VG des Saarlandes, Beschl. v. 03.09.2012 - 3 L 789/12 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 29.08.2012 - 14 L 1392/12.A – alle: Juris; VG Freiburg, Beschl. v. 27.10.2011 - A 5 K 2081/11 -; VG Magdeburg, Beschl. v. 17.07.2012 – 9 B 148/12 -; Beschl. v. 21.11.2011 - 9 A 100/11 -; Urt. v. 26.07.2011 - 9 A 346/10 MD -; vgl. auch OVG NRW, Beschl. v. 01.03.2012 - 1 B 234/ 12.A - Juris). Das Asylsystem in Italien mit dem dort geregelten und praktizierten Aufnahme- und Asylverfahren einschließlich der Unterbringungs- und Versorgungslage für die in Italien schutzsuchenden Flüchtlinge und Asylbewerber entspricht den Anforderungen des europäischen Asylsystems, selbst wenn es in Teilbereichen gewisse Mängel und Defizite aufweist. Im Einzelnen ist dabei von Folgendem auszugehen:
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a) Nach dem dem Senat vorliegenden Erkenntnismaterial ist davon auszugehen, dass für Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien, jedenfalls soweit es sich um Dublin-II-Rückkehrer handelt, grundsätzlich ein geordnetes Aufnahmeverfahren und auch ein ungehinderter Zugang zum Asylverfahren gewährleistet sind.
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Der Senat verkennt nicht, dass es in Italien für Asylbewerber und Flüchtlinge – und zwar bis in die jüngste Vergangenheit hinein – eine Vielzahl von Einreiseverweigerungen und Abschiebungen gegeben hat, bevor ein Asylverfahren durchgeführt werden konnte bzw. ein solches abgewartet worden wäre. Namentlich sind Fälle bekannt geworden, wonach es Zurückweisungen von Flüchtlingen auf hoher See und vor der italienischen Küste, aber auch vom italienischen Territorium gegeben hat, die offenbar darauf abzielten, den Strom von Flüchtlingen – insbesondere aus Nordafrika – abzuwehren, die in Italien Zuflucht haben suchen wollen (vgl. UNHCR, Bericht v. 16.08. 2011: „Hunderte Neuankömmlinge aus Libyen und Tunesien in Italien“, abrufbar unter: http://www.unhcr.de/print/home/artikel/042d9651d6d525aad46e97d7ee7848db/hunde).
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Trotz der bekannt gewordenen zahlreichen Verstöße gegen das Refoulement-Verbot und teilweise vorhandener unangemessener Erschwernisse beim Zugang zu einem Asylverfahren in Italien in den vergangenen Jahren lässt sich aber – jedenfalls soweit es die aktuellen Verhältnisse im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats betrifft – nicht (mehr) davon ausgehen, dass es, sieht man einmal von Einzelfällen ab, in Italien gegenwärtig noch zu derartigen gravierenden Rechtsverletzungen kommt, wie sie in der Vergangenheit zu beklagen waren.
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Vielmehr sind nach Auskunft des Auswärtigen Amtes keine Fälle neueren Datums bekannt geworden, in denen Flüchtlingen und Asylsuchenden, die in Italien um Schutz nachsuchen wollten, bei ihrer Einreise auf dem Seeweg oder auf dem Landwege die Einreise oder der Aufenthalt in Italien verweigert worden sind (AA, Auskunft v. 21.02. 2013 an OVG LSA, Anm. 1.1.). Ebenso sind nach Auskunft des Auswärtigen Amtes keine Fälle neueren Datums bekannt geworden, in denen Flüchtlinge und Asylsuchende nach ihrer Einreise nach Italien in ihr Herkunftsland bzw. einen Drittstaat zurückgeführt bzw. abgeschoben worden sind, ohne dass sie in Italien den von ihnen beabsichtigten Asylantrag stellen konnten (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 1.2.). Schließlich sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes in jüngster Zeit auch keine Fälle (mehr) bekannt geworden, in denen Flüchtlinge und Asylsuchende trotz eines in Italien gestellten Asylantrages in ihr Herkunftsland bzw. einen Drittstaat zurückgeführt bzw. abgeschoben wurden (AA, a. a. O. Anm. 1.2.). Hiernach lässt sich zumindest gegenwärtig nicht mehr die Feststellung treffen, dass in Italien der Anspruch Schutzsuchender auf Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens generell oder auch nur regelmäßig vereitelt wird (bereits für die Vergangenheit verneinend u. a.: VG Hannover, Beschl. v. 07.07. 2011 - 1 B 2106/11 - Juris; VG Berlin, Beschl. v. 11.04.2011 - 23 L 84/11 - Juris). Dies bedarf hier indes keiner Vertiefung.
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Denn jedenfalls lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht feststellen, dass für die im Rahmen des Verfahrens nach der Dublin-II-Verordnung nach Italien zurückkehrenden bzw. zurückgeführten Asylbewerber regelmäßig oder sogar überwiegend ein ordnungsgemäßes Asylverfahren nicht gewährleistet ist. Aufgrund eines für diesen Personenkreis gesetzlich speziell geregelten Rückführungsverfahrens ist vielmehr grundsätzlich davon auszugehen, dass diese nach ihrer Rückkehr nach Italien ihren dort bereits gestellten Asylantrag weiterverfolgen bzw. erstmals einen Asylantrag stellen können und ihnen insoweit der Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren nicht versperrt wird. Im Einzelnen ist dabei von Folgendem auszugehen:
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Asylbewerber, die gemäß dem Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung nach Italien zurückkehren bzw. zurückgeführt werden, treffen in der Regel auf dem Luftweg auf den Flughäfen Fiumicino in Rom, Malpensa in Mailand, Bergamo, Venedig, Bari, Brindisi oder Ancona ein. Dort werden sie – auch wenn es in Italien kein Flughafenverfahren wie in Deutschland gibt (AA, Auskunft v. 11.09.2013 an OVG NRW - zu Frage a.)) – von der Polizei in Empfang genommen und es wird ihnen eine Unterkunft in einer der Aufnahmeeinrichtungen zugeteilt, sofern ein Asylantrag gestellt wird bzw. ein Asylverfahren, bei dem Verfahrensstand, der bei Ausreise aus Italien vorlag, weitergeführt werden soll (zu allem: Schweizerische Flüchtlingshilfe, „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien. Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende“, Mai 2011, S. 17 und AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 1.4.). Die Polizei macht in diesen Fällen die verantwortliche Questura ausfindig und fordert die Rückkehrer auf, sich dorthin zu begeben. Dabei werden auch die Reisekosten übernommen (Schweizerischen Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 17) bzw. die Person bekommt, wenn die zuständige Questura weiter entfernt ist (Beispiel: Dublin-Rückkehr nach Rom, zuständige Questura in Catania), ein Zugticket ausgehändigt, um dort hinzureisen (AA, Auskunft v. 11.09.2013 an OVG NRW - zu Frage a.)).
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Wenn die Dublin-Rückkehrer von deutschen Beamten /Polizisten begleitet werden, gibt es insoweit keine Unterschiede. Bei ihrer Ankunft werden alle Dublin-Rückkehrer von der Polaria (Luftpolizei) am Flughafen Fiumicino empfangen. Sie werden erneut erkennungsdienstlich behandelt und es erfolgt die Feststellung, welche Questura in Italien für die Person zuständig und wie der Stand des Verfahrens ist (AA, Auskunft v. 11. 09.2013 an OVG NRW - zu Frage a.)).
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Bei ihrer Ankunft werden die Ausländer – so auch die Dublin-II-Rückkehrer – von der am Flughafen zuständigen Hilfsorganisation „Confederazione Nazionale delle Misericordie d’Italia“ betreut und in Anwesenheit von Dolmetschern über den weiteren Verfahrensablauf unterrichtet (AA, Auskunft v. 11.09. 2013 an OVG NRW - zu Frage a.)). Die genannte Hilfsorganisation sucht für die Dublin-II-Rückkehrer zugleich eine (vorläufige) Unterkunft in einem Aufnahmezentrum (z. B. einer Einrichtung der „Centri di accoglienza richiedenti asilo“ - CARA -), welches im Allgemeinen für die Erstaufnahme zuständig ist, bis die Zuweisung zu einer Asylunterkunft am Ort der zuständigen Questura erfolgt ist. Während die Dublin-II-Rückkehrer sofort eine Unterkunft in einem entsprechenden Erstaufnahmezentrum erhalten, kann die Zuweisung zu einer Asylunterkunft für die Dauer des Asylverfahrens einige Zeit dauern, weil es zunächst gewisser Formalien den jeweiligen Asylantrag betreffend bei der zuständigen Questura bedarf. Manchmal beträgt dieser Zeitraum nur einige Tage, manchmal aber auch Wochen, z. B. wenn es sich um große Städte und Ballungszentren handelt. Belastbares Zahlenmaterial bezogen auf die Verweildauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist mangels statistischer Erhebungen allerdings nicht verfügbar. In den Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber, den bereits erwähnten Einrichtungen der CARA, ist laut Gesetz grundsätzlich ein Verbleib von nicht länger als 20 bis 35 Tagen vorgesehen. Da die Zuweisungsverfahren aber oftmals länger dauern, bleiben die Antragsteller entsprechend länger in diesen Aufnahmezentren (AA, Auskunft v. 11.09.2013 an OVG NRW - zu den Fragen a.), b.) und c.)).
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Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnismitteln erhalten die Schutzsuchenden nach ihrer Ankunft in Italien zudem Informationsbroschüren über ihre Rechte im Asylverfahren (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 2.3.). Diese Broschüren existieren in unterschiedlichen sprachlichen Fassungen, so u. a. in persischer, arabischer, französischer, englischer, italienischer, somalischer, spanischer und tigrinischer Sprache (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 2.3.). Darüber hinaus befinden sich in den Aufnahmeeinrichtungen Betreuungsdienste, die den Asylantragstellern zur Unterstützung zur Verfügung stehen. Diese beschäftigen oftmals Mitarbeiter, die die Landessprache der Hauptherkunftsstaaten der Asylantragsteller beherrschen (AA, Auskunft v. 21.02. 2013, Anm. 2.3.).
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Nach allem besteht für den Senat kein Grund zur Annahme, dass die in Italien Schutzsuchenden nach ihrer Ankunft dort in unangemessener Weise “sich selber überlassen bleiben“ und sich im Hinblick auf das erstrebte Aufnahme- und Asylverfahren nicht zurecht finden können.
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Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass die Rücküberstellung von Asylbewerbern auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung seitens der italienischen Behörden auf Widerstände stößt. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es im Rahmen des Dublin-Systems vor einer Asylantragstellung oder während des Asylverfahrens zu Einreiserverweigerungen, Rücküberstellungen oder sonstigen Ausweisungen in die Herkunftsländer der Asylbewerber kommt (vgl. UNHCR, Stellungnahme v. 24.04.2012 an VG Braunschweig, S. 5).
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b) Der Senat vermag aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel auch nicht zur Einschätzung zu gelangen, dass Asylsuchende und Flüchtlinge – jedenfalls soweit es die aktuellen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts betrifft – nach ihrer Einreise und / oder während ihres Asylverfahrens mangels einer (angemessenen) Unterkunft regelmäßig oder auch nur in einer Vielzahl von Fällen in die Obdachlosigkeit geraten, mithin „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ leben müssen.
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aa) Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass Asylsuchende während des Asylverfahrens einen Rechtsanspruch auf eine Unterbringung besitzen, und zwar gleichermaßen für die Zeit zwischen Antragstellung und Registrierung wie für die Zeit zwischen Registrierung und Entscheidung über das Asylbegehren (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 5.1., 5.3. und 6.1.). Dieser Anspruch ist grundsätzlich wohl auch behördlich bzw. gerichtlich durchsetzbar. Dies deckt sich jedenfalls mit einer Antwort der Bundesregierung vom 18. April 2011 auf eine Kleine Anfrage im Bundestag ("Lage von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen in Italien" – BT-Drucks. 17/5579), aus der sich ergibt, dass Asylbewerber in Italien einen gerichtlich durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Unterkunft haben. Allerdings kommt es für die Beurteilung der in Rede stehenden Frage nicht in erster Linie auf die bestehende Rechtslage an; maßgeblich ist vielmehr auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen.
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Nach den aktuellen Auskünften des Auswärtigen Amtes stellt sich indes die tatsächliche Unterbringungssituation im Rahmen des italienischen Aufnahmesystems für Asylbewerber und Flüchtlinge Anfang 2013 (5. Kalenderwoche) wie folgt dar:
- 81
Die Aufnahmezentren der CARA verfügen über 5.516 Plätze und beherbergen derzeit ca. 5.300 Personen nebst 2.710 Plätzen in den Einrichtungen der CARA von Lampedusa, so dass insgesamt mehr als 8.000 Plätze zur Verfügung stehen. Die Zahlen im Gutachten von Frau Judith Gleitze, borderline-europe e. V. vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig (a. a. O. S. 11), wonach 3.163 Personen in den genannten Einrichtungen aufgenommen werden könnten, seien inzwischen überholt (AA, Auskunft v. 24.05.2013 an VG Minden - zu Frage 8.).
- 82
Darüber hinaus stehen den Asylbewerbern und Flüchtlingen grundsätzlich die staatlichen Aufnahmeeinrichtungen der SPRAR („Sistems di Protezione per Richiedenti Asilo e Refugiati“) zur Verfügung. Die dort vorhandenen Plätze sind laut Auskunft des Auswärtigen Amtes in der Vergangenheit deutlich angestiegen: Bisher habe es 3.000 Plätze gegeben, so dass dort (weil eine Unterbringung regelmäßig nur für 6 Monate vorgesehen sei) insgesamt 6.000 Personen hätten versorgt und untergebracht werden können (vgl. zur Aufnahmekapazität von etwa 3.000 Personen u. a. auch der Bericht der Schweizerische Flüchtlingshilfe, a. a. O. S. 5). Nunmehr aber stehen nach Auskunft des Auswärtigen Amtes - bestätigt durch Auskünfte von Mitarbeitern der SPRAR und des italienischen Innenministeriums – insgesamt 5.000 Plätze zur Verfügung, so dass 8.000 bis 10.000 Personen untergebracht werden könnten, ungeachtet der im Rahmen des EU-finanzierten FER-Projektes für vulnerable Personen und anderer Projekte vorhandenen weiteren Plätze (AA, Auskunft v. 24.05.2013 an VG Minden - zu Frage 8.). Dies entspricht in etwa auch der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.02.2013 auf Anfrage des Senats, wonach inzwischen in ganz Italien 40 Aufnahmezentren mit rund 9.000 Plätzen zur Verfügung stehen (AA, a. a. O., Anm. 4.3.).
- 83
Dem steht z. B. für das Jahr 2012 eine Anzahl von 1.148 Personen gegenüber, die als Rückkehrer im Rahmen der Dublin-II-Verordnung über Rom nach Italien zurückgeschickt wurden und von der Organisation Ariconfraternita am Flughafen von Rom betreut wurden (Gutachten an das VG Braunschweig von Judith Gleitze, borderline-europe e. V. vom Dezember 2012, S. 25 und S. 59 – in Ermangelung der erfassten Gesamtzahlen der Dublin-Rückkehrer nach Italien). Berücksichtigt man überdies, dass die Zahl der Asylbewerber seit 2012 – trotz gewisser Schwankungen – insgesamt rückläufig ist, kann zumindest gegenwärtig nicht (mehr) von unzureichenden Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten ausgegangen werden. Zur Überzeugung des Senats dürfte sich somit die aktuelle Situation in Italien soweit entspannt haben, dass sämtliche Asylbewerber, und insbesondere Dublin-II-Rückkehrer, in den öffentlichen Aufnahmeeinrichtungen Platz finden können (ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.06.2013 - OVG 7 S 33.13 -
).
- 84
Die Annahme fehlender Kapazitäten für die Unterbringung von Dublin-II-Rückkehrern nach Italien ist insbesondere auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil es in der Vergangenheit zu einem massiven Zustrom von Flüchtlingen aus Nordafrika gekommen ist und dies zu (nachhaltigen) Engpässen bei der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern geführt hat.
- 85
Der UNHCR hat in diesem Zusammenhang in seiner Stellungnahme vom 24. April 2012 an das VG Braunschweig (a. a. O. S. 3) auf Folgendes hingewiesen: Im Jahre 2011 sind nach der Ankunft einer erheblichen Zahl von Personen aus Nordafrika und der darauf folgenden Erklärung des „humanitären Notstandes“ die regionalen Regierungen gebeten worden, zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen zu bestimmen, da die bestehenden Aufnahmekapazitäten als unzureichend eingeschätzt wurden. Zwischen den Regierungen und den örtlich zuständigen Behörden (Regionen, bestimmten Provinzen [„Province Autonome“] und Gemeinden) seien Vereinbarungen getroffen worden, in denen Kriterien für die landesweite Verteilung von bis zu 50.000 Personen festgehalten wurden. Die Verantwortlichkeit für den diesbezüglichen Aufnahmeplan liege beim Leiter des Zivilschutzes („Dipartimento di Protezione Civile“). Bis Anfang 2012 seien 20.000 Personen im Rahmen des Plans in den Notunterkünften, meist in Einrichtungen kleiner bis mittlerer Größe, untergebracht worden, die in ganz Italien verteilt sind.
- 86
Dies deckt sich mit den Auskünften des Auswärtigen Amtes. Danach hätten die vorgehaltenen temporären Aufnahmestrukturen des Zivilschutzes, die anlässlich des Flüchtlingsstromes aus Nordafrika in der Größenordnung von 50.000 Plätzen in den Regionen geschaffen worden seien, die bestehenden Engpässe kompensiert (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 4.3.).
- 87
Soweit im Gutachten von Judith Gleitze, borderline-europe e. V. vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig (a. a. O., S. 15) darauf verwiesen wird, dass die durch den Zivilschutz zusätzlich geschaffenen Unterkünfte nur zeitlich befristet vorgesehen gewesen seien, zunächst wohl nur bis Ende 2011 und alsdann bis Ende 2012, und dass diese inzwischen wieder geschlossen worden seien, so rechtfertigt auch dieser Einwand nach Auffassung des Senats nicht die Annahme, dass es gegenwärtig und zukünftig wieder zu fehlenden Kapazitäten in den staatlichen Einrichtungen kommen wird.
- 88
Zwar trifft es zu, dass das Notstandsprogramm befristet war und inzwischen wohl offiziell ausgelaufen ist. Allerdings trifft es ebenfalls zu, dass die Einrichtungen derzeit faktisch zumindest in einem beschränkten Umfang fortgeführt werden. Grund für die Schließung der Notunterkünfte war der Umstand, dass die Zahl der Asylbewerber und Flüchtlinge gegenüber den Vorjahren, insbesondere dem Jahr 2011 und 2012, deutlich zurück gegangen war. Allerdings waren nach Auskunft des Auswärtigen Amtes Anfang des Jahres 2013 noch ca. 17.000 Personen in den temporären Einrichtungen des Zivilschutzes untergebracht (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 4.3.). Das Auswärtige Amt hat unterdessen mit seiner neuesten Auskunft – unter Berufung auf den Leiter des Italienischen Amtes für Aufnahmezentren und Betreuung, Herrn Tommaso Ricciardi vom 04. September 2013 – zum Notstandsprojekt Nordafrika mitgeteilt, dass sich derzeit nur noch etwa 1.000 Personen („vulnerable cases“ und Asylbewerber, die ein Rechtsmittel eingelegt haben) in den Notunterkünften befinden. Offiziell hätten diese nunmehr am 01. September 2013 schließen sollen. Es werde gegenwärtig überlegt, wie die Versorgung dieser Personen weiter gewährleistet werden kann (AA, Auskunft v. 11.09.2013 an OVG NRW – zu Frage e)).
- 89
Angesichts der aufgezeigten Entwicklung steht auch nicht zu erwarten, dass mit der Schließung der Notunterkünfte die dort untergebrachten bzw. noch verbliebenen Asylbewerber und Flüchtlinge in die staatlichen Unterkünfte drängen und es damit zu erneuten Überbelegungen kommen wird, mithin die Problematik fehlender Kapazitäten in den staatlichen Zentren erneut auftritt. Das Auswärtige Amt weist zudem ausdrücklich darauf hin, dass das Auslaufen des Nordafrika-Programms keine konkreten Auswirkungen auf die Dublin-Rückkehrer hat, da für diesen Personenkreis (der nicht in den Notunterkünften untergebracht wird) von vornherein kein unmittelbarer Zusammenhang zum Programm bestand (AA, Auskunft v. 11.09. 2013 an OVG NRW – zu Frage e)).
- 90
Gegenteiliges dürfte zur Überzeugung des Senats auch dann nicht anzunehmen sein, wenn es zu einem erneuten Anstieg der Zahl von Asylbewerbern in Italien kommen sollte. Das ausgelaufene Notstandsprogramm belegt, dass Italien Unterbringungsplätze in erheblichen Umfang zusätzlich zur Verfügung stellen kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Das geschaffene Notstandsprogramm lässt darauf schließen, dass die verantwortlichen Stellen – selbst wenn sie auf Druck der übrigen EU-Mitgliedstaaten tätig geworden sein sollten – bemüht sind, sich dem jeweiligen unterschiedlichen Unterkunftsbedarf in der gebotenen Weise anzupassen. Dies lässt es insbesondere nicht ausgeschlossen erscheinen, dass bei einem eventuellen erneuten Anstieg der in Italien eintreffenden Flüchtlinge und Asylbewerber entsprechende Programme zur kurzfristigen Schaffung zusätzlicher Unterkünfte neu aufgelegt werden. Dies alles rechtfertigt keine grundlegenden Zweifel daran, dass ein insoweit auch nach Beendigung des Notstandsprogramms fortdauernder Bedarf oder erneute Massenanstürme von Flüchtlingen bewältigt werden können (ebenso: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.06.2013, a. a. O.).
- 91
Im Übrigen erkennt auch der UNHCR an, dass in den letzten Jahren Verbesserungen des staatlichen Aufnahmesystems stattgefunden haben. Insgesamt seien die Einrichtungen der CARA, CDA und SPRAR (nunmehr) in der Lage, dem Aufnahmebedarf einer „signifikanten Anzahl“ von Asylsuchenden nachzukommen (Stellungnahme vom 24. April 2012 an VG Braunschweig, S. 3). Allerdings macht der UNHCR die Einschränkung, dass die Kapazitäten der genannten Einrichtungen nicht für die Unterbringung aller unterstützungsbedürftigen Asylsuchenden ausreichend sein dürften, wenn Personen in erheblicher Anzahl neu in Italien ankommen würden (UNHCR, a. a. O., S. 3). Indes bestehen z. Z. keine Anhaltspunkte dafür, dass es in Italien derzeit oder in absehbarer Zeit erneut zu einem derartigen Anstieg der Asylbewerberzahlen kommen wird, wie er etwa in den Jahren 2010 und 2011 zu verzeichnen war.
- 92
Eine andere Bewertung der Unterkunftssituation für Asylbewerber und Flüchtlinge erscheint dem Senat schließlich auch nicht deshalb geboten, weil nach Auffassung des UNHCR (Stellungnahme v. 24.04.2012) in der gegenwärtigen Situation davon auszugehen sei, dass derzeit die überwiegende Anzahl aller Asylverfahren nicht innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen werden können, und die Aufnahme in den Aufnahmezentren regelmäßig auf sechs Monate befristet sei. Abgesehen davon, dass der UNHCR selbst einräumt, dass keine konkreten Zahlen zur Dauer der Asylverfahren vorliegen, besteht nach Auskunft des Auswärtigen Amtes die Möglichkeit, dass im Einzelfall – so auch bei Einlegung von Rechtsmitteln – die Aufenthaltsdauer in der Einrichtung verlängert wird.
- 93
Zudem ist auch dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Mai 2011 zu entnehmen, dass für die Aufnahme von Asylbewerbern eben nicht nur CARA-, CIE- und SPRAR-Zentren zur Verfügung stehen, sondern auch andere Zentren vorhanden sind basierend auf Abkommen zwischen dem Innenministerium und Gemeinden, aber auch von der Stadt – wie etwa Rom - finanzierte und von NGO’s betriebene Zentren (vgl. Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien, Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende, S. 19). Nach dem vorgenannten Bericht (a. a. O. S. 19) kommen noch kirchliche und karitative Einrichtungen hinzu. Dass es unter Berücksichtigung der Aufnahmekapazität all dieser öffentlichen und privaten Einrichtungen sowie unter Nutzung des Angebotes des Wohnungsmarktes nicht möglich ist, eine Unterkunft zu finden, ist nicht ersichtlich.
- 94
Das Auswärtige Amt weist ebenfalls darauf hin, dass neben den staatlichen Unterbringungszentren zusätzlich kommunale und karitative Einrichtungen existieren wie z. B. Caritas, Migrantes in Rom, die Schwestern des Ordens der Mutter Teresa „Suore Missionarie della Carità“ und andere Hilfsorganisationen (Comunità di Sant’Egidio, Opere Antoniane, Stranieri in Italia, Centro Astalle - Jesuiten -), welche die Antragsteller und Asylbewerber versorgen und ihnen Unterkunftsplätze besorgen (AA, Auskunft v. 21.08.2013 an OVG LSA - zur Frage 3.). Dies entspricht zugleich der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, wonach nicht davon auszugehen ist, dass jene Personen, die in den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen und staatlichen Unterkünften keinen Platz finden, regelmäßig oder überwiegend obdachlos „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ leben müssen (AA, a. a. O. Anm. 4.3.).
- 95
Veranlassung zu einer anderen Einschätzung gibt dem Senat schließlich auch nicht der Bericht von Maria Bethke und Dominik Bender „Zur Situation von Flüchtlingen in Italien“ vom 28. Februar 2011, wonach angeblich davon auszugehen ist, dass „in der Vergangenheit 88 vom Hundert der Dublin-II-Rückkehrer der Gefahr der Obdachlosigkeit überlassen worden seien“. Der Senat geht dabei davon aus, dass diese Aussage nicht bedeutet, dass etwa 88 vom Hundert der Dublin-II-Rückkehrer tatsächlich in die Obdachlosigkeit geraten sind, sondern dass es sich hierbei – da der Bericht lediglich von einer „Gefahr“ einer Obdachlosigkeit spricht – um eine bloße Annahme handelt in Bezug auf das womöglich bestehende Risiko, von einer Obdachlosigkeit betroffen zu werden. Dem Senat erscheint bei dieser Sachlage allerdings nicht nachvollziehbar, wie eine (potentielle) „Gefahr“ prozentual derart exakt prognostiziert werden kann, wie dies im Bericht mit 88 vom Hundert geschehen ist, zumal die Unterbringung in staatlichen und privaten Einrichtungen und auch die Wohnungssuche im Allgemeinen mit einer Fülle von Unwägbarkeiten verbunden ist. Überdies sind die Angaben nur bedingt brauchbar, weil eben nicht erkennbar wird, auf welchen Erkenntnissen diese beruhen und welche zurückliegenden Zeiträume in Bezug genommen werden, wenn davon gesprochen wird, dass sich Aussage auf die „Vergangenheit“ beziehe.
- 96
bb) Ebenso lässt sich nach Auffassung des Senats nicht feststellen, dass Asylbewerber infolge unzureichender und unzumutbarer Verhältnisse in den staatlichen bzw. privaten Unterkünften, namentlich etwa aufgrund unhygienischer Zustände oder Gewalttätigkeiten und krimineller Delikte wie u. a. Diebstahl, Vergewaltigung oder erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sind. Dabei wird nicht verkannt, dass es in Unterkünften mit einer Vielzahl von – teilweise auch traumatisierten – Flüchtlingen unterschiedlicher Nationalität, Religion und Gebräuchen häufiger als in anderen Bereichen der Gesellschaft zu Konflikten und gelegentlich auch gewaltsamen Übergriffen kommen dürfte. Es dürfte sich dabei allerdings um ein allgemeines Phänomen in Gemeinschaftseinrichtungen handeln, dem die staatlichen Stellen nur bedingt wirksam entgegen wirken können. Auch wenn die Aufnahme-, Unterbringungs- und Lebensbedingungen von Asylbewerbern in Italien regelmäßig nicht mit dem hiesigen Standard vergleichbar sein mögen, ist zur Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass die Zustände in den Unterkünften im Allgemeinen jedenfalls nicht derart unzumutbar und unhaltbar sind, dass deshalb die Feststellung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung der Asylbewerber gerechtfertigt erschiene. Dies gilt zum einen hinsichtlich der hygienischen Verhältnisse. So wird nach Auskunft des Auswärtigen Amtes von den staatlichen Aufnahmezentren und Einrichtungen Kleidung gestellt, ebenso Wäsche und Hygieneartikel zum persönlichen Gebrauch (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 5.1., 5.3. und 6.1.). Überdies teilt das Auswärtige Amt zur Situation in den staatlichen Aufnahmezentren und Unterkünften mit, dass die hygienischen Verhältnisse dort nicht regelmäßig oder sogar überwiegend sich in der Weise darstellen, dass man ernstlich Gefahr läuft zu erkranken. Sie seien auch nicht dergestalt, dass sie nicht den Mindestanforderungen (Kochstellen, Toiletten, Waschräume, fließendes Wasser und Elektrik) genügen würden. Vielmehr seien sie durchweg so beschaffen, dass kleinere Schlafräume in Wohnhäusern oder Containern vorhanden seien, die auch zumeist mit Klimaanlagen und Zentralheizung versehen seien. Insbesondere seien Toilettenräume in ausreichender Zahl und getrennt nach Geschlechtern vorhanden. Gleiches gelte für Waschräume. Die Verpflegung werde vielfach in einem gemeinsamen Speisesaal bereitgestellt. Vereinzelt bestünden auch zusätzliche Möglichkeiten für die eigene Zubereitung von Mahlzeiten. Ferner seien in den Einrichtungen Sozialräume sowie getrennte Räumlichkeiten für medizinische Dienste und Sonderfälle vorhanden. Zur Aufrechterhaltung der Sauberkeit der allgemeinen Räumlichkeiten würden spezielle Reinigungsdienste beschäftigt (vgl. zu allem: AA, Auskunft v. 21.01.2013, Anm. 4.5.).
- 97
Zum anderen lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse auch nicht feststellen, dass sich die Verhältnisse in den staatlichen Aufnahmezentren und Unterkünften in der Weise darstellen, dass die Bewohner in ständiger Angst leben müssten, „angegriffen, ausgeraubt oder gar vergewaltigt“ zu werden. Zwar gibt es Berichte, wonach es zu gewaltsamen Übergriffen von männlichen auf weibliche Bewohner gekommen sein soll; hierbei handelt es sich aber um Einzelfälle, wenngleich statistische Erhebungen zur Kriminalität speziell in den genannten Einrichtungen nicht existieren bzw. nicht bekannt sind. Darüber hinaus werden die Aufnahmeeinrichtungen zumindest durch die Polizei oder Carabinieri überwacht und geschützt; wegen auftretender Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien wurden in manchen Einrichtungen zudem zusätzliche Polizeikräfte postiert (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 4.6.).
- 98
Im Ergebnis vermag der Senat somit nicht festzustellen, dass es – sieht man von Engpässen und Einzelschicksalen ab – mit der Durchführung von Asylverfahren in Italien generell zu Begleiterscheinungen wie etwa Obdachlosigkeit oder aufgrund der Zustände in den Unterkünften zu einer Verwahrlosung der Asylbewerber kommt.
- 99
c) Der Senat vermag ebenfalls nicht festzustellen, dass Schutzsuchende während des Asylverfahrens in Italien unter Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EuGrdRCh in materieller Not leben müssen, so dass von einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszugehen wäre, oder mit Blick auf die Versorgungssituation und soziale Situation der Asylbewerber und Flüchtlinge gemessen an den Vorgaben des unionsrechtlichen Sekundärrechts sich das Asylsystem als nicht (mehr) richtlinienkonform darstellt.
- 100
Asylsuchende und Flüchtlinge haben nach Auskunft des Auswärtigen Amtes während des Asylverfahrens einen (Rechts-)Anspruch auf (angemessene) Verpflegung und Versorgung (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 5.1.). Dieser Verpflichtung wird im Allgemeinen dadurch nachgekommen, dass in den staatlichen Unterkünften und Aufnahmezentren entsprechende Leistungen erbracht werden. Namentlich wird auch Kleidung gestellt, ebenso Wäsche und Hygieneartikel zum persönlichen Gebrauch (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 5.1., 5.3. und 6.1.). Vorgenanntes gilt gleichermaßen für die Zeit zwischen Antragstellung und Registrierung wie für die Zeit zwischen Registrierung und Entscheidung über das Asylbegehren (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 5.1.).
- 101
Ebenso werden Asylbewerber und Flüchtlinge, die in nichtstaatlichen, namentlich karitativen und kirchlichen Unterkünften leben, mit Nahrung und Kleidung versorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA, Auskunft v. 21. 02.2013, Anm. 5.2.). Allerdings ist für Asylbewerber und Flüchtlinge außerhalb staatlicher sowie karitativer und kirchlicher Einrichtungen eine staatliche Verpflegung und Versorgung nicht (mehr) gewährleistet. Auch existiert in Italien nur ein sehr eingeschränktes staatliches Sozialhilfesystem; danach erhalten nur Personen über dem 65. Lebensjahr Sozialhilfeleistungen. Im vorliegenden Fall würde dies sogar bedeuten, dass die 65-jährige Klägerin auch staatliche Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen könnte. Im Übrigen haben die Betroffenen auch als Asylbewerber und schutzsuchende Flüchtlinge einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie können ihren Lebensunterhalt dadurch verdienen, dass sie je nach Ausbildung oder Befähigung einer zumindest einfachen Arbeit nachgehen (vgl. AA, Auskunft v. 21.02. 2013, Anm. 5.1.).
- 102
In der Praxis kann somit nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Asylbewerber und Flüchtlinge ihren Lebensunterhalt regelmäßig nicht durch Betteln und / oder Prostitution sichern müssen (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 4.4.). Vielmehr ist insgesamt eine ausreichende Versorgung vorhanden. Einzelfälle sind allenfalls auf das in der aktuellen Wirtschaftskrise insbesondere in italienischen Großstädten zunehmend auftretende Phänomen des Bettelns und die damit einhergehenden erhofften zusätzlichen Einkunftsmöglichkeiten zurückzuführen. Was die Prostitution angeht, so ist nicht völlig auszuschließen, dass weibliche Asylbewerber oder Flüchtlinge in Einzelfällen durch Angehörige der organisierten Kriminalität rekrutiert werden und dann tatsächlich der Prostitution nachgehen. Dies ist aber nicht im kausalen Zusammenhang mit Defiziten im Asylverfahren zu sehen (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 4.4.; Auskunft v. 24.09.2012, S. 3 - Antwort auf Frage b 2)).
- 103
Im Übrigen folgt aus Art. 3 EMRK und Art. 4 EuGrdRCh auch nicht die Verpflichtung, Asylbewerbern und Flüchtlingen eine finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.02.2011, a. a. O.).
- 104
Ebenso ist ein Verstoß gegen die Richtlinie 2004/83/EG nicht ersichtlich. Kapitel VII der Richtlinie gestaltet den Inhalt des internationalen Flüchtlingsschutzes zwar u. a. dahin gehend aus, dass Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich Zugang zu Sozialleistungen (Art. 28), medizinischer Versorgung (Art. 29) und Wohnraum (Art. 31) erhalten. Allerdings gehen die Bestimmungen über die Gebote zur Inländergleichbehandlung (Art. 28, 29) bzw. zur Ausländergleichbehandlung (Art. 31) nicht hinaus. Art. 28 und 29 der Richtlinie gewährleisten die notwendige Sozialhilfe bzw. medizinische Versorgung nur insoweit, wie die Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen eine entsprechende Behandlung bzw. Versorgung gewähren; für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte besteht zudem die Möglichkeit, den Anspruch auf Kernleistungen zu beschränken, die dann im Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige zu gewähren sind. Demzufolge muss der in Italien bestehende allgemeine Lebensstandard für andere, vergleichbare Personen mit italienischer Staatsangehörigkeit in den Blick genommen werden, die ebenfalls keine staatlichen Sozialleistungen in Anspruch nehmen können und bei denen ebenfalls nur durch die Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten oder aber vermittels von Zuwendungen karitativer oder kirchlicher Organisationen das Existenzminimum gesichert ist.
- 105
Nach allem lässt sich ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EuGrdRCh nicht daraus herleiten, dass – worauf in der Rechtsprechung einzelner Verwaltungsgerichte abgestellt wird – ein staatliches Sozialsystem, welches Flüchtlingen und Asylsuchenden zumindest ein Existenzminimum garantiert, nicht zur Verfügung steht und dass die Betroffenen deshalb darauf angewiesen seien, sich „selbst durch das Leben zu schlagen“ (vgl. VG Magdeburg, Beschl. v. 28.03.2011 - 9 B 101/11 MD - Juris; Gerichtsbescheid v. 21.11.2011 - 9 A 351/10 - [S. 5 d. UA]; VG Braunschweig, Beschl. v. 31.05.2011 - 1 B 103/11 - m. w. N. - Juris).
- 106
Im Übrigen ist in der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (a. a. O. S. 22) nicht – wie gelegentlich behauptet wird – die Rede davon, dass der genannte Personenkreis „in extremer Armut lebt und dass sie ihre Lebensbedürfnisse nicht decken können“. Vielmehr ist – wohl mit Bedacht – davon die Rede, dass sie Gefahr laufen, womöglich in eine solche Situation zu geraten; dass sich indes diese Gefahr bereits in eine Vielzahl von Fällen realisiert hätte oder gleichsam regelmäßig bzw. für jeden Asylsuchenden und Flüchtling die konkrete Gefahr bestünde, dass nicht einmal das Existenzminimum gesichert ist, wird nicht behauptet. Dies schließt nicht aus, dass es in Einzelfällen auch zu besonderen Notlagen kommen mag und dass der Lebensstandard der Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien im Allgemeinen sehr gering sein dürfte. Gleichwohl vermag der Senat anhand des ihm vorliegenden umfassenden Erkenntnismaterials aber nicht festzustellen, dass die Situation für Flüchtlinge und Asylsuchende in den Zentren und außerhalb derselben derart prekär wäre, dass deshalb von einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EuGrdRCh auszugehen ist.
- 107
d) Soweit es die medizinische Versorgung betrifft, sind alle Mitgliedstaaten aufgrund der EU-Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 verpflichtet, bestimmte Mindeststandards der medizinischen Versorgung zu gewährleisten. So haben alle Mitgliedstaaten nach Art. 15 der genannten Richtlinie dafür Sorge zu tragen, dass Asylbewerber und Flüchtlinge die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung für die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten umfasst. Dabei ist auch Asylbewerbern mit besonderen Bedürfnissen die erforderliche medizinische und sonstige Hilfe zu gewähren.
- 108
In Italien ist im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes grundsätzlich ein medizinischer Mindestbehandlungsstandard gewährleistet. Asylbewerber und Flüchtlinge haben in Italien während des Asylverfahrens einen Anspruch auf eine „freie“ (kostenlose) medizinische Versorgung sowie auch auf psychologische Hilfe, insbesondere auch Minderjährige und traumatisierte Personen (vgl. AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 5.1., 5.3. und 6.3.).
- 109
Dem entspricht es, wenn im Entscheiderrundbrief des Bundesamtes 7/2011 (a. a. O., S. 8) zur medizinischen Versorgung festgestellt wird, dass bei der Überstellung von kranken bzw. traumatisierten Personen – wie bei jedem italienischen Staatsbürger – die Möglichkeit der (medizinischen) Behandlung besteht. Bereits im Jahre 2009 habe es bei der SPRAR drei Zentren gegeben, in denen auch psychisch kranke Personen hätten behandelt werden können (zwei in Rom, eines in Turin). Für 2011 seien zudem 50 weitere Behandlungsplätze für psychisch kranke Personen bzw. Personen mit besonders schweren Erkrankungen geplant worden. Inzwischen würden bei Dublin-Überstellungen psychisch kranke Personen in Italien als eine besonders „vulnerable Gruppe“ angesehen.
- 110
Voraussetzung für den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem ist zwar grundsätzlich ein gültiger Aufenthaltstitel bzw. ein rechtmäßiger Aufenthalt; bei im italienischen Asylverfahren befindliche Personen stellt sich dieses Problem aber nicht. Der Zugang zu öffentlichen medizinischen Leistungen ist auch nicht an die Voraussetzung eines ständigen Wohnsitzes bzw. feste Adresse gekoppelt, wie gelegentlich behauptet wird. Vielmehr erhalten Asylbewerber bei Bedarf auch ohne einen solchen ständigen Wohnsitz bzw. feste Anschrift vom nationalen Gesundheitsdienst einen Gesundheitsausweis („tessera sanitara“) und eine Steuernummer („codice fiscale“) (vgl. AA, Auskunft v. 09.10.2012 an VG Minden, S. 2 - zur Frage b) 4; ebenso: AA, Auskunft v. 11.07.2012 an VG Freiburg - S. 2 Ziffer I b)). Sollte hingegen etwas anderes gelten, ist davon auszugehen, dass aufgrund einer aktuellen Vereinbarung zwischen der Zentralregierung und den Regionen zumindest eine Not- und Grundversorgung auch für sich illegal in Italien aufhaltende Personen garantiert ist (AA, Auskunft v. 21.01.2013, Anm. 6.2.).
- 111
Der Senat vermag angesichts dieser Situation nicht zu erkennen, dass damit den eingangs aufgezeigten Mindeststandards bzw. Kernanforderungen nicht genügt wird. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass in bestimmten Fällen womöglich einzelnen Personen eine nur unzureichende medizinische Versorgung zuteil wurde oder diese aus dem medizinischen Versorgungssystem herausgefallen sind.
- 112
Aber selbst dann, wenn für kranke, behinderte oder sonst gesundheitlich besonders schutzbedürftige Personen die garantierte medizinische Not- und Grundversorgung nicht als ausreichend angesehen würde, ergäben sich daraus jedenfalls für die Klägerin, die keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen angeführt hat, keine Bedenken gegen ihre Überstellung nach Italien.
- 113
e) Soweit es das Asylverfahren als solches, namentlich die Qualität und die Dauer des Verfahrens betrifft, lässt sich ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 EMRK und Art. 4 EuGrdRCH sowie gegen die einschlägigen unionsrechtlichen Richtlinien ebenfalls nicht feststellen.
- 114
Italien gewährleistet entsprechend dem (Grund-)Recht auf Asyl (gem. Art. 10 Abs. 3 der italienischen Verfassung, verschiedenen Einwanderungs- und Asylverfahrensgesetzen, insbesondere nach dem Gesetz No. 25/2008 vom 28. Januar 2008) ein Schutzverfahren, das auch für Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung greift. Besonderheiten bestehen insoweit nicht (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 3.1.).
- 115
Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass es hinsichtlich der Qualität oder der Dauer der Asylverfahren einen Grund für Beanstandungen gibt. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass von einer unverhältnismäßig restriktiven Asylpraxis auszugehen ist. Gegen eine solche Annahme sprechen die Zahlen, die vom Auswärtigen Amt zum Asylverfahren benannt werden. Danach wurden im Jahre 2010 über 14.042 Asylanträge entschieden, davon wurden 2.094 Antragsteller nach der Genfer Konvention anerkannt (15 vom Hundert), 1.789 erhielten subsidiären (13 vom Hundert), 3.675 humanitären Schutz (26 vom Hundert), hingegen wurden 4.698 abgelehnt. 520 Personen waren nicht auffindbar (4 vom Hundert) und 1.266 (9 vom Hundert) sind sonstige Fälle. Dementsprechend lag die Quote der Anerkennungen bzw. der Gewährung eines Bleiberechts bei immerhin 54 vom Hundert (vgl. AA, Auskunft v. 21.02. 2013, Anm. 3.2.). Demgegenüber wurden im Jahre 2011 über 25.626 Asylanträge entschieden. Davon wurden 2.057 Antragsteller nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt (8 vom Hundert), 2.569 Personen erhielten subsidiären (10 vom Hundert) und 5.662 humanitären Schutz (22 vom Hundert); 11.131 Personen wurden hingegen abgelehnt (44 vom Hundert) und 2.339 Personen waren nicht auffindbar (9 vom Hundert). Die Anerkennungsquote lag 2011 somit bei 40 vom Hundert, was ebenfalls nicht die Annahme einer unverhältnismäßig restriktiven Praxis rechtfertigt (vgl. AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 3.2.; AA, Auskunft v. 11.07.2012 an VG Freiburg, S. 5 unter Hinweis auf eine entsprechende Statistik des Innenministeriums, abrufbar unter: http://www.interno.it/miniinteno/export/sites/default/it/assets/files/21/0551_statistiche_asilo.pdf).
- 116
Es kommt hinzu, dass sich die für die Entscheidung der Asylverfahren in erster Instanz zuständigen Territorialkommissionen per Dekret des Innenministers in der Weise zusammensetzen, dass auch jeweils ein Vertreter des UNHCR beteiligt ist (Bundesamt für Migration der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Hintergrundnotiz MILA - Italien Asylverfahren, Bericht vom 23.09.2009, S.4). Dies berechtigt zur Annahme, dass der Ordnungsmäßigkeit des Asylverfahrens eine besondere Beachtung geschenkt wird.
- 117
Hinsichtlich der Dauer des Asylverfahrens in Italien gibt es ebenfalls nichts zu beanstanden. Über den Asylantrag soll an sich innerhalb von 30 Tagen entschieden werden; zudem wird angestrebt, dass das Gesamtverfahren einschließlich gerichtlicher Überprüfung nicht länger als sechs Monaten dauert, auch wenn es immer wieder Fälle gibt, in denen diese Dauer – manchmal bis zu einem Jahr oder auch länger – überschritten wird (AA, Auskunft v. 21.02.2013 an OVG LSA, Anm. 3.1., 3.2.; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 17.06.2013, a. a. O. Rn. 15).
- 118
Ferner lässt sich nicht feststellen, dass es in Italien während des Asylverfahrens in nennenswerter Weise faktische Beeinträchtigungen in verfahrensrechtlicher bzw. prozessualer Hinsicht gibt. Art. 16 des italienischen Asylverfahrensgesetzes No. 25 vom 28. Januar 2008 garantiert dem Asylbewerber, dass er nach den einschlägigen Prozessvorschriften Anspruch auf eine Rechtsberatung und einen unentgeltlichen Rechtsbeistand im Verfahren hat (vgl. AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 3.4.). Zwar bestehen Zweifel, ob dies auch in der Praxis ausnahmslos Geltung besitzt, wenn man berücksichtigt, dass für die nach Rom zurückkehrenden Dublin-II-Rückkehrern (und in Rom eintreffenden Asylbewerber) die Prozesskostenhilfe davon abhängig gemacht wird, dass zum Nachweis der wirtschaftlichen Bedürftigkeit eine Bescheinigung der jeweiligen Auslandsvertretung beigebracht werden soll. Allein wegen der Tatsache, dass der Asylbewerber im Einzelfall das Verfahren ohne anwaltlichen Beistand durchzuführen hat, soweit kein Anwaltszwang besteht, kann nicht schon von einem (landesweit bestehenden) systemischen Mangel gesprochen werden, der die Annahme einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. d. Grundrechtscharta und EMRK rechtfertigt. Im Übrigen stehen dem Asylbewerber im Asylverfahren auch Übersetzungsdienste zur Verfügung (vgl. AA, Auskunft an OVG LSA v. 21.02.2013, Anm. 2.3. und 3.3.; AA, Auskunft v. 11.07.2012 an VG Freiburg, S. 3).
- 119
Insbesondere bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass – von Ausnahmen abgesehen – die für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens erforderliche Erreichbarkeit des Asylbewerbers in Italien nicht sichergestellt wäre. Für eine solche Annahme fehlt es an hinreichend belegten Referenzfällen. Auch gibt es für Italien keine ernst zu nehmenden Quellen, wonach sich die Wahrnehmung von Verfahrensrechten (Antragstellung, Einlegung von Rechtsbehelfen etc.) regelmäßig als derart schwierig erweist, dass diese Rechte faktisch leer laufen würden.
- 120
Soweit in der Rechtsprechung dennoch vereinzelt – so u. a. das VG Gießen (Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A - Juris) und ihm folgend das VG Magdeburg (Beschl. v. 21.11.2011 - 9 A 351/10 -) – die Auffassung vertreten wird, „es erscheine auch die Qualität der Asylverfahren bedenklich“, wird diese Kritik nicht weiter spezifiziert und auch nicht durch entsprechende Erkenntnismittel belegt.
- 121
f) Ebenso lässt sich anhand des dem Senat vorliegenden Erkenntnismaterials nicht feststellen, dass im Hinblick auf die rechtliche und soziale Situation anerkannter Asylbewerber sowie der Flüchtlinge mit einem Bleiberecht angesichts der in Italien anzutreffenden Lebens- und Versorgungssituation sowie unter Berücksichtigung der insoweit staatlicherseits unternommenen Integrationsbemühungen das Aufnahme- und Asylverfahren in Italien derartige Mängel aufweist, dass es den Anforderungen des europäischen Asylsystems nicht mehr entspricht.
- 122
Schutzberechtigte, mithin anerkannte Asylbewerber (Asylberechtigte) und Personen mit subsidiärem Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten mit ihrer Anerkennung ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht; es wird ihnen eine Aufenthaltsberechtigung („permesso di soggiorno“) ausgestellt. Danach genießen sie in Italien dieselben Rechte wie italienische Staatsangehörige (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 7.2.).
- 123
Dies bedeutet in der Praxis, dass sie sich – ebenso wie italienische Staatsangehörige – grundsätzlich selbst um eine Unterkunft kümmern und auch in eigener Verantwortung einen Arbeitsplatz suchen müssen. Dafür besteht aber ein freier Zugang zum Arbeitsmarkt (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 7.1.). Alle Personen, die in Italien einen Schutzstatus besitzen, haben auch das Recht zu arbeiten (AA, Auskunft v. 21.02.2013, a. a. O.).
- 124
Sie können ihren Lebensunterhalt dadurch verdienen, dass sie je nach Ausbildung oder Befähigung einer zumindest einfachen Arbeit nachgehen (vgl. AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 5.1.). Anerkannte Asylbewerber und Personen mit einem subsidiären Schutzstatus haben Zugang zu einer Beschäftigung in Italien, wie dies durch Art. 26 und Art. 28 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004) garantiert wird.
- 125
Ein staatliches System finanzieller Hilfeleistungen bzw. ein Sozialhilfesystem existiert hingegen nicht. Denn in Italien gibt es für italienische Staatsangehörige – und somit auch für anerkannte Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die ihnen gleichgestellt sind – kein national garantiertes Recht auf Fürsorgeleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bzw. (sonstige) staatliche Sozialleistungen, jedenfalls soweit sie nicht das 65. Lebensjahr erreicht haben (AA, Auskunft v. 11.07.2012 an das VG Freiburg). Art. 28 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie gewährt hinsichtlich der Sozialleistungen nur einen Anspruch auf Inländergleichbehandlung, nicht aber einen Anspruch auf Privilegierung des anerkannten Flüchtlings.
- 126
Zwar entspricht es der italienischen Kultur, dass es einen engen Familienzusammenhalt gibt, der im Notfall zumindest die Chance eröffnet, eine (gewisse) Unterstützung durch Familienangehörige in Anspruch nehmen zu können. Dass es eine solche vergleichbare Unterstützung unter den ausländischen Landsleuten gibt, die sich aufgrund ihres Schutzstatus dauerhaft in Italien aufhalten, erscheint nicht ausgeschlossen, dürfte aber die Ausnahme sein. Gleichwohl lässt dieser Umstand nach Auffassung des Senats für sich allein nicht schon die Annahme gerechtfertigt erscheinen, dass der anerkannte Flüchtling und sonstige Schutzberechtigte in Italien deshalb der konkreten Gefahr ausgesetzt wäre, „auf der Straße“ zu leben und zu verelenden.
- 127
Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass – ebenso wie italienische Staatsangehörige in einer vergleichbaren Situation – auch anerkannte Asylbewerber und schutzberechtigte Flüchtlinge von nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, wie beispielsweise durch die CARITA und CIR, Unterstützung bekommen können (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 7.1.). Die Zuständigkeit für die Festsetzung von derartigen öffentlichen Sozialleistungen liegt grundsätzlich im Kompetenzbereich der Regionen. In bestimmten Regionen (z. B. Toskana, Emilia Romagna) wird die Höhe derartiger Leistungen durch die Kommune festgesetzt; die Leistungen weisen insoweit je nach regionaler und kommunaler Finanzkraft deutliche Unterschiede auf (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 7.1.). Diese Erkenntnis deckt sich im Übrigen mit dem Gutachten der Flüchtlingsorganisation borderline-europe e. V. (Gutachten an das VG Braunschweig vom Dezember 2012) und der Auskunft der italienischen Vereinigung für rechtliche Untersuchungen zur Situation von Einwanderung (ASGI-Bericht vom 20. November 2011, S. 10 f.). Danach erhalten ebenfalls anerkannte Asylbewerber und Personen, denen internationaler Schutz gewährt worden ist, Unterstützungen allgemeiner Art, wie sie auch für andere mittellose Personen in Italien vorgesehen sind.
- 128
Überdies ist für anerkannte Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutzstatus ein kostenfreier Zugang zu allen öffentlichen medizinischen Leistungen wie Arzt, Zahnarzt, Krankenhaus gewährleistet (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 7.1.). Ein Anspruch auf Einhaltung bestimmter Mindeststandards im Hinblick auf die Gewährung von Unterkunft sowie auf eine gewisse materielle Unterstützung besteht für sie auch nach dem Unionsrecht nicht; ein solcher Anspruch besteht nur für Asylbewerber (EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - M.S.S. v. Belgium and Greece; EuGH, Urt. v. 21.12. 2011 - C-411/10 und C-493/10 - N.S. und M.E.), denn nach den Bestimmungen der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 steht Asylbewerbern und Schutzsuchenden zwar ein subjektives Recht auch auf eine angemessene Fürsorge zu. Nach Art. 3 Abs. 1 der genannten Richtlinie haben Asylbewerber jedoch nur solange Anspruch auf die in Art. 5 ff. der Richtlinie bezeichneten humanitären Leistungen, solange sie „als Asylbewerber im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen“. „Asylbewerber“ im Sinne der Richtlinie ist dabei ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der einen Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht entschieden wurde.
- 129
Soweit anerkannten Asylbewerbern und schutzberechtigten Flüchtlingen in der Zivilbevölkerung vereinzelt Vorbehalte entgegen gebracht werden und sich diese Vorbehalte womöglich auch im Verhalten von Amtsträgern widerspiegeln sollten, lässt sich diesem Umstand keine selbständige rechtliche Bedeutung beimessen. Die gilt selbst dann, wenn der genannte Personenkreis im Alltag womöglich Benachteiligungen erfahren sollte. Denn die genannten Umstände lassen nicht den Schluss zu, dass das Aufnahme- und Asylverfahren in Italien schon allein aus diesem Grunde den Regeln des europäischen Asylsystems zuwiderläuft.
- 130
Nach allem erübrigt sich hier die Erörterung der weitergehenden Frage, ob und inwieweit auch möglicherweise jene (unionsrechtlichen) Rechtsverletzungen für die Entscheidung über den Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO relevant sind, die Personen betreffen, bei denen das Asylverfahren bereits mit einer Anerkennung bzw. mit einem subsidiären Schutzstatus abgeschlossen ist (vgl. hierzu VG Regensburg, Beschl. v. 16.08.2012 - RN 7 S 12.30273 -).
- 131
g) Zur Überzeugung des Senats steht auch bei der gebotenen Zukunftsprognose nicht zu erwarten, dass angesichts eines unvermindert anhaltenden oder wieder zunehmenden Flüchtlingsstroms nach Italien sich die dort anzutreffenden Verhältnisse (wieder) verschlechtern werden. So verhält es sich jedenfalls dann, wenn man bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats Folgendes in Rechnung stellt:
- 132
Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes ist in Italien gegenwärtig nicht (mehr) von einem Anstieg des Zustroms von Asylbewerbern und Flüchtlingen auszugehen (AA, Auskunft v. 21.02.2013 Anm. 9.1. und 9.2.). Diese Entwicklung wird auch durch das dem Senat vorliegende Zahlenmaterial belegt. Laut Berichterstattung in der Presse (Spiegel online v. 26.04.2011) haben von Januar bis Ende April 2011 allein 26.000 Flüchtlinge in Italien um Schutz nachgesucht. Demgegenüber wurden laut Auskunft des Auswärtigen Amtes im ersten Halbjahr 2012 nur insgesamt 5.580 Asylanträge in Italien gestellt (AA, Auskunft v. 21.01.2013 Anm. 3.2.).
- 133
Insbesondere ist auch ein deutlicher Rückgang von Anlandungen im Süden Italiens zu verzeichnen. Im Jahr 2011 waren es noch 62.692 Personen, im Jahre 2012 hingegen nur noch 13.267 Personen (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 9.1. und 9.2.). Dies ist – wie das Auswärtige Amt in nachvollziehbarer Weise feststellt – vor allem auf die Beruhigung der Lage in den Nordafrikanischen Staaten zurückzuführen (AA, a. a. O.).
- 134
Im Übrigen ist auch in der Gesamtschau des letzten Jahrzehnts nicht von einem kontinuierlichen und erheblichen Zuwachs an Asylbewerbern und Flüchtlingen in Italien auszugehen, so dass etwa deshalb die Annahme einer nicht (mehr) zu bewältigenden “Überlastung“ des Asylsystems in Italien begründet wäre. In der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts waren die Zahlen bis 2006 vielmehr rückläufig, die Zahl der Asylantragsteller ging insoweit von 24.000 auf 10.000 zurück. In den Jahren 2008 und 2011 gab es dann in den Spitzen über 30.000 Asylbewerber, während es im Jahre 2012 allerdings wieder weniger als 15.000 Bewerber waren. Bei den genannten Spitzen handelte es sich somit um temporäre Erscheinungen aufgrund der politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem “arabischen Frühling“ (vgl. AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 9.1.2.). Auch ist nach aktueller Einschätzung, namentlich vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung in den Mittelmeer-Anrainerstaaten, nicht damit zu rechnen, dass die Zahl der Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien in absehbarer Zeit ansteigen wird (AA, Auskunft v. 21.02.2013, Anm. 9.1.3.).
- 135
Nach allem erweist sich die in der einschlägigen Rechtsprechung vielfach angeführte Begründung, dass wegen der zu erwartenden weiteren Flüchtlingsströme von Afrika nach Italien infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen und der damit einhergehenden instabilen Verhältnisse in Nordafrika sich die Entwicklung in Italien in absehbarer Zeit voraussichtlich nicht verbessern, sondern eher noch verschlechtern wird (so u. a. VG Stuttgart, Beschl. v. 02.07.2012 - A 7 K 1877/12 -
) als nicht (mehr) tragfähig.
- 136
Insbesondere lässt sich auch der Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen – UNHCR – vom 24. April 2012 an das Verwaltungsgericht Braunschweig kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass ernsthaft zu befürchten ist, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien grundlegende Mängel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufweisen. Nach dem Inhalt dieser Stellungnahme wurden in Italien die regionalen Regierungen im Jahr 2011 nach Ankunft einer erheblichen Zahl von Personen aus Nordafrika ausdrücklich gebeten, zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen zu schaffen. Zwischen den Regierungen und den örtlich zuständigen Behörden wurde zudem eine Vereinbarung getroffen, in der die Kriterien für die landesweite Verteilung von bis zu 50.000 Personen festgehalten wurden. Der UNHCR erkennt vor diesem Hintergrund an, dass in den letzten Jahren Verbesserungen des Aufnahmesystems stattgefunden haben und die CARA-, CDA- und SPRAR-Projekte insgesamt in der Lage sind, dem Aufnahmebedarf einer signifikanten Anzahl von Asylsuchenden nachzukommen (UNHCR, a. a. O. S. 3).
- 137
Dass die Verhältnisse zwischen Italien und Griechenland – wie gelegentlich behauptet wird – vergleichbar sind, vermag der Senat nicht festzustellen. Dies bedarf aber auch keiner Vertiefung, weil es hierauf nicht entscheidend ankommt. Dennoch bleibt festzustellen, dass der UNHCR – anders als in Bezug auf Griechenland – für Italien jedenfalls keine Empfehlung ausgesprochen hat, von einer Überstellung bzw. Abschiebung von Dublin-II-Flüchtlingen nach Italien abzusehen. Der Senat misst diesem Umstand kein geringes Gewicht bei. Soweit vereinzelt der Einwand erhoben wird, dies sei dem Umstand geschuldet, dass der UNHCR „politische Rücksichten zu nehmen habe“, ist dies durch Nichts belegt. Zwar hat – ausweislich des Tagungsberichts von Nora Markard zum 12. Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz vom 18.-19. Juni 2012 in Berlin (ZAR 10/2012 S. 380 ff. S. 381 zur Situation in Italien) – der UNHCR Senior Regional Protection Associate Jürgen Humberg im Hinblick auf die deutsche Debatte über die Zulässigkeit von Abschiebungen nach Italien angeblich betont, dass der Umstand, dass der UNHCR bisher kein Positionspapier zu Italien veröffentlicht habe, nicht bedeute, dass in Italien „alles in Ordnung sei“; eine solche Schlussfolgerung, den einige Verwaltungsgerichte zögen, sei unzulässig. Auch diese Äußerung veranlasst den Senat nicht zu einer anderen Einschätzung im Hinblick darauf, dass sich der UNHCR – anders als in anderen Fällen – einer entsprechenden offiziellen Stellungnahme bzw. Empfehlung, von einer Rückführung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen, enthalten hat. Dies bedeutet keineswegs, dass der Senat der Auffassung wäre, in Italien „sei alles in Ordnung“; hieraus aber folgt eben noch nicht, dass in Bezug auf das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Italien systemische Mängel feststellbar sind, die eine Verletzung der Europäischen Grundrechtscharta oder der Menschenrechtskonvention darstellen.
- 138
Festzustellen bleibt überdies, dass der UNHCR auch in seinem jüngsten Bericht (UNHCR - Recommendations on important aspects of Refugee protection in Italy) vom Juli 2013 trotz zahlreicher kritischer Anmerkungen bei seiner Einschätzung zur aktuellen Lage der Flüchtlinge und Asylbewerber in Italien zu keinem anderen Ergebnis gekommen ist.
- 139
Schließlich hat auch der EGMR in einer neueren Entscheidung vom 02. April 2013 (Ap-plication No. 27725/10 - Mohammed Hussein vs. the Netherlands and Italy) eine gegen die Dublin-Überstellung von den Niederlanden nach Italien gerichtete Beschwerde als offensichtlich unbegründet abgewiesen. In der Entscheidung hat sich der EGMR mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin, einer nach eigenen Angaben aus Somalia stammenden Frau mit zwei kleinen Kindern, zum Asylverfahren und auch zur Unterbringungssituation in Italien auseinander gesetzt und festgestellt, dass die Situation in Italien keineswegs mit der in Griechenland vergleichbar sei (Entscheidung v. 02.04. 2013, a. a. O. Rdn. 72). Auch aus dem Umstand, dass der EGMR in einer früheren Entscheidung (Application No. 64208/11) die Abschiebung eines Asylbewerbers von Deutschland nach Italien gestoppt hat, lässt sich nicht herleiten, dass Italien generell die Anforderungen des europäischen Asylsystems nicht erfüllt. Die Gründe für den mit der genannten Entscheidung verhängten Abschiebungsstopp sind letztlich nicht bekannt. Dem „Statement of Facts“ ist indes zu entnehmen, dass sich der dortige Antragsteller zwar auch auf die Lebensumstände von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Italien berufen hat, jedoch insbesondere im Raum stand, dass er durch die Abschiebung aufgrund unterschiedlicher Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Münster und Magdeburg von seiner Frau und seinen Kindern getrennt werden würde, deren Abschiebung gestoppt wurde. Weitere Fälle des EGMR (Application No. 30815/09, Application No. 37159/09, Application No. 56424/10) betrafen unbegleitete Minderjährige und die spezielle Situation einer Mutter mit einem minderjährigen Kind (Application No. 2303/10).
- 140
Im Übrigen haben sowohl der Österreichische Asylgerichtshof (Spruch v. 03.05. 2010 - S16 412.104-1/2010-4E -, veröffentlicht unter http://www.ris.bka.gv.at, dort insbes. Ziffer 2.2.2.2.1. "Kritik am italienischen Asylwesen" m. w. N.) als auch das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht (vgl. u. a. Urt. v. 15.07.2010 - D 4987/ 2010 - und Urt. v. 18.03.2010 - D-1496/2010 -, im Internet abrufbar unter: http://www.bundes verwaltungsgericht.ch/index/entscheide/Jurisdiction-datenbank/Jurisdiction-recht-urteile aza.htm) die Rückführung von Asylsuchenden nach Italien in Ansehung der dortigen Asylverfahrenspraxis grundsätzlich als zulässig angesehen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt der angeführten Entscheidungen Bezug genommen.
- 141
Auch der Umstand, dass zahlreiche Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Situation der Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien zu einer gegenteiligen Einschätzung hinsichtlich der Verhältnisse und des Asylsystems in Italien gelangt sind, veranlasst den Senat nicht zur Annahme, dass die Behandlung der Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien nicht in Einklang steht mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtscharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nach Auffassung des Senats wird in der insoweit einschlägigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte häufig nicht hinreichend dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei den zugrunde gelegten Erkenntnismitteln nicht selten um bloße subjektive Einschätzungen handelt, die nicht in der erforderlichen Weise durch Fakten belegt sind. Auch erscheint mitunter fraglich, ob die insoweit festgestellten Mängel und Defizite verallgemeinerungsfähig sind. Nicht zuletzt haben sich die Verhältnisse in Italien – wie dargelegt – zwischenzeitlich teilweise geändert, so etwa in Bezug auf den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika und die Anzahl der für die Asylbewerber und Flüchtlinge zur Verfügung stehenden Unterkünfte. Im Übrigen ist Gegenstand der Prüfung nach § 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO) nicht die Frage, ob die Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren für Flüchtling und Asylbewerber kritikwürdig sind, weil das System zahlreiche Mängel aufweist oder hinter dem Schutzniveau anderer Mitgliedstaat zurückbleibt.
- 142
Der Senat sieht auch keine Veranlassung, weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Italien einzuholen. Nach anerkannter Rechtsauffassung ist die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nur dann geboten, wenn sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung aufdrängen musste, weil bereits vorliegende Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen nicht den ihnen obliegenden Zweck erfüllen (konnten), dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts notwendige Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen. In diesem Sinne kann z. B. ein Sachverständigengutachten für die Überzeugungsbildung des Gerichts ungeeignet oder jedenfalls unzureichend sein, wenn es grobe, offen erkennbare Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweist, wenn es von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters besteht (BVerwG, Beschl. v. 14.04.2011 - 2 B 80/10 - m. w. N., Juris). Dies ist hier aber nicht der Fall. Zwar sind die dem Senat vorliegenden zahlreichen Gutachten, Auskünfte und Stellungnahmen nicht in allen Punkte stets konsistent und völlig frei von gewissen Widersprüchen; soweit es indes die im vorliegenden Fall entscheidungserheblichen Tatsachen und Erkenntnisse betrifft, sind diese aufgrund der herangezogenen Erkenntnismittel zur Überzeugung des Senats hinreichend geklärt und eindeutig und mithin für die Überzeugungsbildung ausreichend.
- 143
Der Senat sieht insbesondere auch keine Veranlassung, an der Tauglichkeit des vorhandenen Erkenntnismaterials für die hier entscheidungsrelevanten Fragen zu zweifeln. Dies gilt speziell auch hinsichtlich des Beweiswertes der Auskünfte des Auswärtigen Amtes, da sie grundsätzlich eine sich auf unterschiedliche Erkenntnisquellen stützende Gesamtbewertung vornehmen und zudem im Allgemeinen den tatsächlichen Verhältnissen am nächsten kommen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 31.08.2006 - 1 B 24.06 - Juris; Beschl. v. 06.10.1997 - 9 B 803.97 - Juris; Beschl. v. 08.09.1997 - 9 B 401.97 -; Beschl. v. 15.10. 1985 - 9 C 3.85 - Juris sowie Beschl. v. 31.07.1998 - 9 B 71.85 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 28 = Juris). Nicht anders verhält es sich hier. So beruhen die den Auskünften des Auswärtigen Amtes zugrunde liegenden Erkenntnisse auf laufenden Gesprächen der Botschaft Rom mit dem italienischen Flüchtlingsrat CIR, UNHCR und IOM in Rom, den Präsentationen des italienischen Innenministeriums und des statistischen Amtes ISTAT sowie schließlich auf Kontakten zu nichtstaatlichen karitativen Organisationen wie Carita Migrantes, Comunità di Sant’ Egidio u. a..
- 144
Nach allem vermag der Senat nicht zur Überzeugung zu gelangen, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 21.12.2011, a. a. O.) die Annahme rechtfertigen, dass die Klägerin aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien im Falle einer Abschiebung bzw. Überstellung dorthin Gefahr laufen wird, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK und § 4 EuGrdRCH ausgesetzt zu werden und dass sich deshalb die Rücküberstellung als rechtswidrig erweist.
III.
- 145
Soweit das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid zugleich die Abschiebung der Klägerin nach Italien gem. § 34 Abs. 1 AsylVfG angeordnet hat, bestehen gegen die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung keine Bedenken.
- 146
§ 34a AsylVfG überantwortet die Entscheidung über die Abschiebung dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, so dass dieses die Abschiebungsanordnung verfügt. Das Bundesamt ordnet dabei nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Abschiebungsverbote sind nicht ersichtlich.
- 147
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.
- 148
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§§ 132 Abs. 2, 137 VwGO).
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren zweiter Instanz Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlungen - unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. aus N. bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2I. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfüllt und die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
3II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
41. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) ist unbegründet.
5Die Beklagte macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 - ab,
6vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 ‑, BVerwGE 106, 171 = juris,
7und führt aus, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zu dieser Entscheidung die Rechtsauffassung vertreten, gegen die auf § 27a AsylVfG gestützte Antragsablehnung sei die isolierte Anfechtungsklage statthaft. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts habe das Gericht die Streitsache im Asylrechtsstreit aber spruchreif zu machen, auch wenn es sich um einen Asylfolgeantrag handele, bezüglich dessen das Bundesamt noch nicht in die Prüfung eingetreten sei.
8Die gerügte Divergenz besteht nicht. Eine Abweichung läge nur vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre.
9Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1991 - 5 B 68.91 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302, vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712 (713), und vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
10Daran fehlt es hier. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Folgeantragsregelung nach § 71 AsylVfG ergangen. Klagegegenstand der angefochtenen Entscheidung ist demgegenüber eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG. Nach der von der Beklagten genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann im Asylfolgeverfahren nicht lediglich isoliert auf „Wiederaufgreifen“ geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden müsse, lediglich die (Vor-)Frage nach der Erfüllung der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betreffe.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 (172 f.) = juris, Rn. 10.
12Hingegen trifft das Bundesamt im Verfahren nach § 27a AsylVfG allein die der Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags; eine materiell-rechtliche Prüfung, ob ein Anspruch auf Anerkennung auf Asyl besteht, findet nicht statt. Insofern steht in diesem Verfahren weder die (Vor-)Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
13Vgl. zur Erfolglosigkeit der Divergenzrüge in einem solchen Fall: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; ferner auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 ‑ 10 C 1.13 ‑, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
142. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
15Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff., und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
18Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
19„ob bei einem als unzulässig i. S. v. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine auf Statuszuerkennung gerichtete Verpflichtungsklage zu erheben ist sowie ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ferner, ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist“,
20rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
21Die Frage bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 27a AsylVfG allein die Anfechtungsklage statthaft.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn. 28 ff., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH.
23Dem Zulassungsantrag bleibt der Erfolg auch versagt, soweit die Beklagte geltend macht, diese Rechtsfrage sei wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt und es stehe eine Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Rechtsprechung des beschließenden Oberverwaltungsgerichts zur Frage der statthaften Klageart im Falle einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG steht im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung.
24Vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung verschiedener Obergerichte: Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 6. November 2014 ‑ 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 ‑, juris.
25Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem entschieden, dass der Grundsatz, die Sache spruchreif zu machen und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage zu beschränken, nicht ausnahmslos gelte. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 113 Abs. 3 VwGO sei zu entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssten, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben könnten, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Vor allem stehe die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde - gerichtete Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass nur eine auf die Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage, auf die hin das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte, in Betracht käme.
26Vgl. für den Fall der Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264.95 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12, S. 3 ff. = juris, Rn. 15, und vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14.
27Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ohne weiteres auf den Fall der Ablehnung der Durchführung eines Asyl(folge)verfahrens auf der Grundlage des § 27a AsylVfG übertragbar. Auch in diesem Fall trifft das Bundesamt keine Sachentscheidung über den Anspruch auf Asylanerkennung, sondern weist lediglich, ohne dass eine materiell-rechtliche Prüfung stattfindet, auf die Unzulässigkeit des Asylantrags hin.
28Vgl. zur Übertragbarkeit der Ausführungen des BVerwG auf die vorliegende Konstellation: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6.
29Mit Blick darauf kommt es auf die von der Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage nicht an, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ sei.
30Abgesehen davon dürfte sich diese Frage nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen. Es kann insoweit dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne des § 47 Abs. 1 VwVfG in einem solchen Fall vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG wird lediglich ‑ wie in dem von der Klägerin angefochtenen Bescheid vom 12. Februar 2014 - ohne materiell-rechtliche Prüfung die Unzulässigkeit des Asyl(folge)antrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren, wenn die Bundesrepublik Deutschland für dessen Durchführung zuständig ist, auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Jedenfalls dürfte aber die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG und eine Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG gleichermaßen erfüllt sind, allein anhand des konkreten Einzelfalls zu beantworten sein. So hat die Beklagte etwa im Falle der Klägerin zwar geltend gemacht, es habe ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 betreffend Italien vorgelegen, ob der von der Klägerin in Italien gestellte Asylantrag aber bereits erfolglos im Sinne von § 71a AsylVfG abgeschlossen ist, hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist Entsprechendes ersichtlich.
31Im Hinblick darauf führt auch die im Verlaufe des Zulassungsverfahrens unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2015
32- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 3 -
33ergänzend abgegebene Zulassungsbegründung der Beklagten nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. Anders als im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des dortigen Klägers über Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinaus noch eine der Beklagten über eine DublinNET-Mail zugegangene Antwort Italiens, dass für diesen eine anerkennende Entscheidung in Italien ergangen war, und damit „konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits in anderen Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt und diese in einem Mitgliedstaat zu einer Anerkennung geführt haben“.
34Abgesehen davon sieht sich der Senat mit Blick auf die Ausführungen in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass die Frage, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ ist, nur anhand des konkreten Einzelfalls und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise zu beantworten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, es komme „somit in tatsächlicher Hinsicht darauf an, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Hierzu wird das Berufungsgericht den Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann auf dieser neuen Tatsachengrundlage der Rechtsfrage nachzugehen haben, ob der Bescheid auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder umgedeutet werden kann“.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 8.
36Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass ein Asylantrag, der auf der Grundlage des § 27a AsylVfG abgelehnt worden ist, nicht grundsätzlich in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG umgedeutet werden kann, sondern über diese Möglichkeit erst entschieden werden kann, wenn die Tatsachengrundlage des jeweiligen Einzelfalls geklärt ist.
37Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylVfG.
38Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. Juni 2013 (A 12 K 331/13) geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens beider Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren zweiter Instanz Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlungen - unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. aus N. bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2I. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfüllt und die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
3II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
41. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) ist unbegründet.
5Die Beklagte macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 - ab,
6vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 ‑, BVerwGE 106, 171 = juris,
7und führt aus, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zu dieser Entscheidung die Rechtsauffassung vertreten, gegen die auf § 27a AsylVfG gestützte Antragsablehnung sei die isolierte Anfechtungsklage statthaft. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts habe das Gericht die Streitsache im Asylrechtsstreit aber spruchreif zu machen, auch wenn es sich um einen Asylfolgeantrag handele, bezüglich dessen das Bundesamt noch nicht in die Prüfung eingetreten sei.
8Die gerügte Divergenz besteht nicht. Eine Abweichung läge nur vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre.
9Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1991 - 5 B 68.91 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302, vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712 (713), und vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
10Daran fehlt es hier. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Folgeantragsregelung nach § 71 AsylVfG ergangen. Klagegegenstand der angefochtenen Entscheidung ist demgegenüber eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG. Nach der von der Beklagten genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann im Asylfolgeverfahren nicht lediglich isoliert auf „Wiederaufgreifen“ geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden müsse, lediglich die (Vor-)Frage nach der Erfüllung der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betreffe.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 (172 f.) = juris, Rn. 10.
12Hingegen trifft das Bundesamt im Verfahren nach § 27a AsylVfG allein die der Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags; eine materiell-rechtliche Prüfung, ob ein Anspruch auf Anerkennung auf Asyl besteht, findet nicht statt. Insofern steht in diesem Verfahren weder die (Vor-)Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
13Vgl. zur Erfolglosigkeit der Divergenzrüge in einem solchen Fall: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; ferner auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 ‑ 10 C 1.13 ‑, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
142. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
15Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff., und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
18Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
19„ob bei einem als unzulässig i. S. v. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine auf Statuszuerkennung gerichtete Verpflichtungsklage zu erheben ist sowie ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ferner, ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist“,
20rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
21Die Frage bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 27a AsylVfG allein die Anfechtungsklage statthaft.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn. 28 ff., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH.
23Dem Zulassungsantrag bleibt der Erfolg auch versagt, soweit die Beklagte geltend macht, diese Rechtsfrage sei wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt und es stehe eine Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Rechtsprechung des beschließenden Oberverwaltungsgerichts zur Frage der statthaften Klageart im Falle einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG steht im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung.
24Vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung verschiedener Obergerichte: Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 6. November 2014 ‑ 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 ‑, juris.
25Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem entschieden, dass der Grundsatz, die Sache spruchreif zu machen und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage zu beschränken, nicht ausnahmslos gelte. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 113 Abs. 3 VwGO sei zu entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssten, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben könnten, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Vor allem stehe die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde - gerichtete Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass nur eine auf die Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage, auf die hin das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte, in Betracht käme.
26Vgl. für den Fall der Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264.95 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12, S. 3 ff. = juris, Rn. 15, und vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14.
27Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ohne weiteres auf den Fall der Ablehnung der Durchführung eines Asyl(folge)verfahrens auf der Grundlage des § 27a AsylVfG übertragbar. Auch in diesem Fall trifft das Bundesamt keine Sachentscheidung über den Anspruch auf Asylanerkennung, sondern weist lediglich, ohne dass eine materiell-rechtliche Prüfung stattfindet, auf die Unzulässigkeit des Asylantrags hin.
28Vgl. zur Übertragbarkeit der Ausführungen des BVerwG auf die vorliegende Konstellation: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6.
29Mit Blick darauf kommt es auf die von der Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage nicht an, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ sei.
30Abgesehen davon dürfte sich diese Frage nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen. Es kann insoweit dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne des § 47 Abs. 1 VwVfG in einem solchen Fall vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG wird lediglich ‑ wie in dem von der Klägerin angefochtenen Bescheid vom 12. Februar 2014 - ohne materiell-rechtliche Prüfung die Unzulässigkeit des Asyl(folge)antrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren, wenn die Bundesrepublik Deutschland für dessen Durchführung zuständig ist, auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Jedenfalls dürfte aber die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG und eine Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG gleichermaßen erfüllt sind, allein anhand des konkreten Einzelfalls zu beantworten sein. So hat die Beklagte etwa im Falle der Klägerin zwar geltend gemacht, es habe ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 betreffend Italien vorgelegen, ob der von der Klägerin in Italien gestellte Asylantrag aber bereits erfolglos im Sinne von § 71a AsylVfG abgeschlossen ist, hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist Entsprechendes ersichtlich.
31Im Hinblick darauf führt auch die im Verlaufe des Zulassungsverfahrens unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2015
32- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 3 -
33ergänzend abgegebene Zulassungsbegründung der Beklagten nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. Anders als im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des dortigen Klägers über Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinaus noch eine der Beklagten über eine DublinNET-Mail zugegangene Antwort Italiens, dass für diesen eine anerkennende Entscheidung in Italien ergangen war, und damit „konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits in anderen Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt und diese in einem Mitgliedstaat zu einer Anerkennung geführt haben“.
34Abgesehen davon sieht sich der Senat mit Blick auf die Ausführungen in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass die Frage, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ ist, nur anhand des konkreten Einzelfalls und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise zu beantworten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, es komme „somit in tatsächlicher Hinsicht darauf an, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Hierzu wird das Berufungsgericht den Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann auf dieser neuen Tatsachengrundlage der Rechtsfrage nachzugehen haben, ob der Bescheid auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder umgedeutet werden kann“.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 8.
36Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass ein Asylantrag, der auf der Grundlage des § 27a AsylVfG abgelehnt worden ist, nicht grundsätzlich in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG umgedeutet werden kann, sondern über diese Möglichkeit erst entschieden werden kann, wenn die Tatsachengrundlage des jeweiligen Einzelfalls geklärt ist.
37Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylVfG.
38Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
I. Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg wird geändert und die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Gründe
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen; das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der im Jahr 1971 geborene Kläger ist armenischer Staatsangehöriger. Nach seinen Angaben reiste er am 14. Dezember 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein.
3Am 18. Dezember 2012 beantragte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen der Anhörung gab er an, bereits in der Slowakischen Republik und auch in Frankreich einen Asylantrag gestellt zu haben. Die Slowakische Republik habe er vor Abschluss des Verfahrens verlassen, in Frankreich habe er eine Ablehnung des Asylantrags erhalten. Eine Eurodac-Recherche ergab Treffer für Belgien, Frankreich und die Slowakische Republik.
4Das Bundesamt richtete am 9. Oktober 2013 ein Übernahmeersuchen an die Slowakische Republik. Die slowakischen Behörden erklärten sich mit Schreiben vom 13. November 2013 unter Bezugnahme auf Art. 16 Abs. 1 e) Dublin II-VO zur Wiederaufnahme des Klägers bereit.
5Mit Bescheid vom 4. Februar 2014 - zugestellt am 12. Februar 2014 - lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung in die Slowakische Republik an.
6Am 18. Februar 2014 hat der Kläger Klage erhoben. Auf den gleichzeitig gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 26. Februar 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
7Der Kläger hat - schriftsätzlich - beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 4. Februar 2014 zu verpflichten, das Asylverfahren durchzuführen,
9hilfsweise,
10die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids zu verpflichten, ihn als asylberechtigt anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, und festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen.
11Die Beklagte hat - schriftsätzlich - beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 26. März 2014 unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 4. Februar 2014 verpflichtet, für den Kläger ein Asylverfahren durchzuführen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die im Bescheid des Bundesamts ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei rechtswidrig, weil die einschlägige Dreimonatsfrist des Art. 17 Dublin II-VO für ein Aufnahmegesuch ohne erkennbaren Grund erheblich überschritten sei mit der Folge einer Zuständigkeit des Bundesamts für eine sachliche Entscheidung über das Asylgesuch des Klägers.
14Die vom Senat zugelassene Berufung begründet die Beklagte wie folgt: Das Wiederaufnahmegesuch nach der Dublin II-VO unterliege keiner Frist. Die Bestimmung des Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO sei nicht auf den Fall der Wiederaufnahme anwendbar. Diese Vorschrift regele nur den Fall eines Aufnahmegesuchs bei einer erstmaligen Antragstellung. Für den Fall der Wiederaufnahme finde ausschließlich Art. 20 Dublin II-VO Anwendung, der keine Frist vorsehe.
15Die Beklagte beantragt - schriftsätzlich -,
16das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
17Der Kläger beantragt - schriftsätzlich -,
18die Berufung zurückzuweisen.
19Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
20Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
21Entscheidungsgründe:
22Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
23Die zulässige Berufung ist begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. Februar 2014 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Durchführung eines Asylverfahrens. Sein Asylantrag ist unzulässig.
24Die Unzulässigkeit des Asylantrags ergibt sich aus § 27a AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß Art. 16 Abs. 1 e) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU Nr. L 50 S. 1), sog. Dublin II-VO, ist die Slowakische Republik für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland hatte der Kläger dort zwei Asylanträge gestellt.
25Die Dublin II-VO ist anwendbar. Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Neufassung), ABl. EU L Nr. 180 S. 31), sog. Dublin III-VO, ist gemäß ihrem Art. 49 erst auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind. Der Asylantrag des Klägers wurde vor diesem Zeitpunkt gestellt.
26Entgegen der Feststellung des Verwaltungsgerichts ist Deutschland nicht nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Die in dieser Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten für die Unterbreitung des Aufnahmegesuchs an den ersuchten Mitgliedstaat gilt für den Fall des Klägers nicht. Zur Anwendung kommt vielmehr das Verfahren zur Wiederaufnahme nach Art. 20 Dublin II-VO. Der Kläger hat vor seiner Einreise nach Deutschland in der Slowakischen Republik um Asyl nachgesucht (Art. 20 Abs. 1 i. V. m. Art. 16 Abs. 1 e) Dublin II-VO). Art. 20 Dublin II-VO enthält keine dem Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung entsprechende Fristbestimmung. Für eine analoge Anwendung der in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin VO-II normierten Frist von drei Monaten im Fall des Wiederaufnahmegesuchs ist kein Raum. Bei der Normierung zu den Modalitäten der Wiederaufnahme in Art. 20 Dublin II-VO handelt es sich um eine in sich geschlossene Regelung, die keine Lücke erkennen lässt, die durch eine analoge Heranziehung der Fristbestimmung des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO zu schließen wäre.
27Vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 13; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 = juris, Rn. 13.
28Deutschland ist auch nicht nach Art. 20 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 d) Dublin II-VO für den Asylantrag des Klägers zuständig geworden. Die dort genannte Überstellungsfrist von sechs Monaten bzw. 12 oder 18 Monaten (bei Vorliegen der in Art. 20 Abs. 2 genannten Umstände) beginnt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei Vorliegen aufschiebender Wirkung eines Rechtsbehelfs - - wie es hier gegeben ist - erst zu laufen ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird. Dies bedeutet, dass die Überstellungsfrist hier erst mit Rechtskraft des Urteils in der vorliegenden Sache zu laufen beginnt.
29Vgl. hierzu Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 = juris, Rn. 14, m. w. N.
30Aus den gleichen Gründen bleibt auch der Hilfsantrag ohne Erfolg. Die Beklagte ist nicht für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig. Ein Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten ergibt sich nicht aus dem vom Kläger vorgelegten ärztlichen Attest vom 13. Februar 2014, wonach bei ihm diagnostisch eine mittelgradige depressive Episode bestehe. Es ist weder ersichtlich noch dargetan, dass diese Erkrankung zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führte. Im Übrigen kann diese Erkrankung auch in der Slowakischen Republik behandelt werden.
31Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
32Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
33Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
34Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. September 2014 geändert.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Oktober 2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Instanzen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist guineischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben Anfang Oktober 2012 nach Melilla in Spanien, wo er am 25. Oktober 2012 erkennungsdienstlich behandelt wurde. Am 14. Januar 2013 beantragte er unter dem Namen U. E. in der Bundesrepublik Deutschland Asyl. Den Antrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch Bescheid vom 13. März 2013 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Spanien an. Die Überstellung erfolgte am 10. April 2013.
3Am 3. Juni 2013 reiste der Kläger erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 7. Juni 2013 – unter dem im Rubrum angegebenen Namen – Asyl. Ausweislich seiner eigenen Mitteilung und der Abfrage des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank vom 27. August 2013 war der Kläger zuvor in Spanien erkennungsdienstlich behandelt worden. Das Bundesamt richtete am 29. August 2013 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin II-VO an Spanien. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 17. September 2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags.
4Durch Bescheid vom 4. Oktober 2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete die Abschiebung nach Spanien an (Ziff. 2). Der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Spanien auf Grund der dort erfolgten illegalen Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei.
5Am 25. Oktober 2013 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage erhoben.
6Der zugleich gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung dieser Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 7. Januar 2014 abgelehnt (13 L 2168/13.A). Auf den weiteren, unter dem 18. März 2014 gestellten Antrag des Klägers gemäß § 80 Abs. 7 VwGO ordnete das Verwaltungsgericht Düsseldorf durch Beschluss vom 24. März 2014 (13 L 644/14.A) mit der Begründung die aufschiebende Wirkung an, die sechsmonatige Überstellungsfrist sei abgelaufen.
7Zur Klagebegründung hat der Kläger ausgeführt: In Spanien werde kein ordnungsgemäßes Asylverfahren durchgeführt. Ihm sei dort die Asylantragstellung verweigert worden. Zudem sei die Überstellungsfrist abgelaufen. Hierauf könne er sich auch berufen. Ihm werde sein Recht auf Durchführung eines Asylverfahrens abgesprochen, hielte sich Spanien im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr für zuständig. Ob die spanischen Behörden sich noch an ihre Zustimmung gebunden fühlten, sei völlig offen.
8Der Kläger hat beantragt,
9den Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2013 aufzuheben.
10Die Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung hat sie auf die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes verwiesen. Ergänzend hat sie ausgeführt, dass die Überstellungsfrist mit der Bekanntgabe des ablehnenden Eilbeschlusses vom 7. Januar 2014 neu zu laufen begonnen habe bzw. auf Grund des gemäß § 80 Abs. 7 VwGO erlassenen Eilbeschlusses vom 24. März 2014 bis zur Erledigung des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt sei.
13Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 12. September 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die zulässige, insbesondere statthafte Anfechtungsklage sei unbegründet. Nach den anwendbaren Vorschriften der Dublin II-VO sei Spanien für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig. Die Zuständigkeit sei nicht nach Maßgabe der Art. 16 ff. Dublin II-VO auf Deutschland übergegangen. Die Überstellungsfrist des Art. 19 Abs. 3 Uabs. 1 Dublin II-VO sei noch nicht abgelaufen. Weil durch Beschluss vom 24. März 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet worden sei, beginne sie erst zu laufen, nachdem das Gericht in der Hauptsache entschieden habe. Selbst wenn man auf die Sechsmonatsfrist ab Annahme des Aufnahmegesuchs abstelle, könne sich der Kläger hierauf jedenfalls nicht berufen. Ein Verstoß gegen die Fristenregelungen der Dublin II-VO verletze nach der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts keine subjektiven Rechte der Asylbewerber. Zudem sei es dem Asylbewerber unbenommen, sich freiwillig beim anderen Mitgliedstaat zu melden, weil die Überstellung auch auf Initiative des Asylbewerbers erfolgen könne. Habe er es selbst in der Hand, wann die Überstellung erfolge und dass sie erfolge, könne er sich nach § 242 BGB nicht auf eine verspätete Überstellung seitens der Bundesrepublik Deutschland berufen. Es bestehe auch keine Verpflichtung der Beklagten, vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO Gebrauch zu machen. Von einer unangemessenen Verfahrensdauer könne nicht ausgegangen werden. Es lägen auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in Spanien systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestünden.
14Mit Beschlüssen vom 15. Dezember 2014 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen und auf Antrag des Klägers die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 4. Oktober 2013 angeordnet (11 B 1338/14.A).
15Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger aus: Die Überstellungsfrist von sechs Monaten ab der Zustimmung Spaniens zum Übernahmeersuchen am 17. September 2013 sei am 17. März 2014 abgelaufen. Durch die Stattgabe des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO habe die bereits abgelaufene Überstellungsfrist nicht wieder neu zu laufen begonnen. Aus der Dublin II-VO ergebe sich keine Rechtsgrundlage, wonach eine Rückübertragung der Zuständigkeit auf Spanien erfolgen könne. Der Kläger könne sich auch auf den Ablauf der Frist berufen. Die EuGH-Entscheidung Abdullahi beziehe sich lediglich auf die Anwendung der in Kapitel III der Dublin II-VO genannten Zuständigkeitskriterien, nicht jedoch auf den nachfolgend geregelten Ablauf der Überstellungsfrist und die dies mit Sanktionscharakter ausfüllenden Vorschriften des Kapitels V der Verordnung. Bestehe keine Übernahmebereitschaft Spaniens, wäre dem Kläger das unstreitig bestehende subjektive Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren genommen, könnte er sich nicht auf den Fristablauf berufen. Zudem räume die Dublin II-VO zumindest in bestimmten Punkten, etwa der Mitteilung von Daten, subjektive Rechte ein. Eine Beschränkung der Einwände des Asylbewerbers auf die Prüfung systemischer Mängel in einem Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen könne nur dann angenommen werden, wenn de facto ein anderer Mitgliedstaat im Zeitpunkt dieser Prüfung eigentlich noch zuständig wäre. Sei Deutschland wegen Fristablaufs zuständig, ergebe sich aus Art. 16a GG bzw. dem Asylverfahrensgesetz ein einklagbarer Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens.
16Der Kläger beantragt,
17das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. September 2014 zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Berufung zurückzuweisen.
20Zur Begründung verweist sie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend trägt sie vor: Asylbewerber könnten sich nicht mit Erfolg auf einen Zuständigkeitsübergang nach den Art. 16 ff. Dublin II-VO berufen. Ein Asylbewerber habe kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der nach dem Zuständigkeitsregime der Dublin II-VO zuständige Mitgliedstaat sei oder ob durch Zeitablauf Deutschland zuständig geworden sei. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Spanien eine Überstellung bereits endgültig abgelehnt habe. Zwar lehnten die Mitgliedstaaten Rechtsmittelmeldungen nach Ablauf der Überstellungsfrist ab, jedoch könne im besonderen Einzelfall durchaus auch ein Einlenken des Mitgliedstaats erzielt werden.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Gerichtsakten der Eilverfahren sowie die Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe:
23Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig und begründet.
24A. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig.
25Die isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2013, mit dem der Asylantrag des Klägers wegen fehlender Zuständigkeit der Beklagten als unzulässig abgelehnt worden ist, ist statthaft.
26Einer auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungsklage bedarf es nicht. Dieser fehlte schon das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt, wenn es zuständig ist, den Asylantrag von Amts wegen sachlich prüfen muss, und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es hier nach Aufhebung der Verfügung untätig bleiben würde.
27Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 31; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
28Auch eine Verpflichtungsklage, die auf das Ziel gerichtet ist, als Asylberechtigter anerkannt zu werden, die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuerkannt oder nationale Abschiebungsverbote festgestellt zu bekommen, scheidet aus.
29Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 28 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 20; Bay. VGH, Urteil vom 28. Februar 2014 - 13a B 13.30295 -, BayVBl. 2014, 628, und Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6; Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6. November 2014 - 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris, Rn. 11; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293 = juris, Rn. 18; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 -, juris, Rn. 21.
30Wird der Asylantrag unter Verweis auf die fehlende Zuständigkeit nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt, hat das Bundesamt ihn in der Sache noch gar nicht geprüft. Die Zuständigkeitsprüfung und die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Die Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist der materiell-rechtlichen Prüfung, ob ein Anspruch auf Asylanerkennung oder Gewährung eines anderen Schutzstatus besteht, vorgelagert. Die Verwaltungsgerichte haben deshalb das Asylbegehren auch nicht in der Sache spruchreif zu machen.
31Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 34 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11.
32Andernfalls ginge dem Asylbewerber eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenden Verfahrensgarantien (vgl. insbesondere §§ 24, 25 AsylVfG) ausgestattet ist.
33Ferner muss die Beklagte nach der Rechtsprechung des EuGH zunächst die Möglichkeit haben, einen anderen Mitglied- oder Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist, zu ersuchen. Ist die Überstellung in den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (im Folgenden: Dublin II-VO) als zuständig bestimmten Mitgliedstaat etwa wegen systemischer Mängel nicht möglich, hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob danach ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
34Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 95 f., und vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 32 f.; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 29 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
35Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das Gericht im Asylrechtsstreit die Sache spruchreif zu machen hat, wenn ein Asylfolgeantrag nach § 71 AsylVfG vorliegt. Im Asylfolgeverfahren kann nicht lediglich isoliert auf "Wiederaufgreifen" geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, lediglich die (Vor-)Frage nach der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betrifft.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 = juris, Rn. 10.
37Diese Erwägungen sind auf die hier gegenständliche Entscheidung nach § 27a AsylVfG nicht übertragbar. In diesem Verfahren steht weder die Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Vielmehr geht es, wie ausgeführt, um die der materiell-rechtlichen Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Frage der Zuständigkeit.
38Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11; Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; siehe auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
39B. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2013 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
40I. Ziffer 1 des Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren, der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblich ist, nicht gemäß § 27a AsylVfG unzulässig ist. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Hier ist aber entgegen der Auffassung des Bundesamts nach der Dublin II-VO nicht Spanien, sondern Deutschland für die sachliche Prüfung und Entscheidung des Asylantrags zuständig (1.). Darauf kann sich der Kläger auch berufen (2.).
411. Die Zuständigkeit Deutschlands ergibt sich aus der Dublin II-VO. Diese ist ungeachtet des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und des Umstands anwendbar, dass sie durch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) ersetzt worden ist. Nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO erfolgt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats weiterhin nach den Kriterien der Dublin II-VO, wenn der Asylantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat sein hier maßgebliches Schutzgesuch am 7. Juni 2013 angebracht. Es kann offen bleiben, ob nach Art. 49 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Verordnung ab dem 1. Januar 2014 – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt, auch bei vor dem 1. Januar 2014 gestellten Asylanträgen für das Überstellungsverfahren die Dublin III-VO gilt, wenn das Übernahmeersuchen nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
42Denn hier lagen auch das Aufnahmeersuchen und dessen Annahme vor dem 1. Januar 2014. Ferner spricht alles dafür, dass nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO nicht nur die Zuständigkeitskriterien des Kapitels III, sondern auch diejenigen des Kapitels V der Dublin II-VO fortgelten.
43Vgl. zum Ganzen Bergmann, ZAR 2015, 81 (83); Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 3.
44Die zunächst bestehende Zuständigkeit Spaniens (a.) ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen (b.).
45a. Der zuständige Mitgliedstaat bestimmt sich auf der Grundlage der in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien, zunächst nach dem Kapitel III.
46aa. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO war ursprünglich Spanien zuständig. Danach gilt: Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Hier erfolgte der erstmalige illegale Grenzübertritt zu einem EU-Mitgliedstaat in Spanien. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.
47bb. Die Zuständigkeit Spaniens ist nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO entfallen. Danach endet die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.
48Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO greift nur dann ein, wenn die Frist bereits bei erstmaliger Stellung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat abgelaufen ist.
49Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 47.
50Diese Auslegung ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, wonach bei der Bestimmung des nach den in Kapitel III bestimmten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen wird, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Das geschah hier am 14. Januar 2013 (mit einem Alias-Namen) sowie nach erneuter Einreise nach Deutschland von Spanien aus am 7. Juni 2013 und damit innerhalb der Jahresfrist seit der erstmaligen illegalen Einreise nach Spanien im Oktober 2012.
51Selbst wenn man aber nicht auf den Asylantrag, sondern auf den spätesten Zeitpunkt des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens, den Abschluss durch die Aufnahmeerklärung Spaniens am 17. September 2013, abstellt, waren zwölf Monate nicht verstrichen. Ein noch späterer Zeitpunkt kommt hingegen nicht in Betracht. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, gilt die in Kapitel III der Verordnung normierte Frist nur für das in diesem Kapitel geregelte Zuständigkeitsbestimmungsverfahren (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), berechtigt also nur einen Mitgliedstaat - hier: Spanien -, das an ihn gerichtete (Wieder‑) Aufnahmeersuchen eines anderen Mitgliedstaats - hier: Deutschland – abzulehnen, wenn der Grenzübertritt länger als zwölf Monate zurückliegt. Nach erfolgter Zuständigkeitsbestimmung nach Kapitel III hingegen – die im Kapitel V in Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO geregelte Mitteilung an den Asylbewerber gehört nicht dazu – kann die Zuständigkeit hingegen nicht mehr nach einer dort geregelten Vorschrift, sondern allenfalls nach Kapitel V entfallen.
52b. Die Zuständigkeit ist aber nach Kapitel V der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen.
53aa. Dies ergibt sich allerdings nicht aus Art. 17 Abs. 1 Uabs. 2 Dublin II-VO. Danach gilt: Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der Frist von drei Monaten unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung zuständig. Das Bundesamt hat hier gemäß Art. 17 Abs. 1 Uabs. 1 Dublin II-VO innerhalb von drei Monaten nach Stellung des Asylantrags Spanien ersucht, den Kläger aufzunehmen. Der Kläger hat am 7. Juni 2013 Asyl beantragt, das Aufnahmeersuchen datiert vom 29. August 2013.
54bb. Die Beklagte ist aber gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO zuständig geworden. Nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Ein solcher Fall ist hier gegeben.
55(1) Die 6-Monats-Frist des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO ist am 17. März 2014 abgelaufen. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 17. September 2013 - fristgerecht innerhalb von zwei Monaten (vgl. Art. 18 Abs. 1, 7 Dublin II-VO) - ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags und nahmen damit den Antrag auf Aufnahme des Klägers an. Da die Überstellung binnen dieser Frist nicht durchgeführt worden ist, ist die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO auf die Beklagte als den Staat übergegangen, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Fristverlängerungen nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO scheiden hier aus.
56(2) Die Überstellungsfrist verlängert sich nicht um die Dauer des erfolglosen ersten gerichtlichen Eilverfahrens und der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz führt auch nicht zum erneuten Beginn der 6-Monats-Frist ab dem Zeitpunkt der Ablehnung des Antrags durch das Gericht. Der Antrag des Klägers vom 25. Oktober 2013, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 7. Januar 2014 - 13 L 2168/13.A - abgelehnt. Das erfolglose Eilverfahren wirkt sich auf die Dauer der Überstellungsfrist nicht aus.
57Die Dublin II-VO sieht weder eine Unterbrechung oder Hemmung (§ 209 BGB entsprechend),
58so VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris,
59noch, wovon das Bundesamt ausgeht, einen Neubeginn der Frist in solchen Fällen vor. Dies lässt sich ihr auch nicht im Wege der Auslegung entnehmen.
60Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO bestimmt eine Frist von sechs Monaten ab Annahme des Aufnahmegesuchs. Nur wenn ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, gilt nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Dublin II-VO eine abweichende Frist von sechs Monaten ab der Entscheidung über diesen Rechtsbehelf. Entscheidung über den Rechtsbehelf in diesem Sinne ist aber nicht der Beschluss im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, sondern – die Fortdauer der Aussetzung der Vollziehung vorausgesetzt – die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung über die Klage gegen die Überstellungsentscheidung im Hauptsacheverfahren.
61Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - Rs. C-19/08 (Petrosian u.a.) -, Slg. 2009, I-495; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 53 ff., Beschlüsse vom 8. Mai 2014 - 13 A 827/14.A -, juris, Rn. 5 und vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, AuAS 2014, 237 = juris, Rn. 5.
62Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Bestimmung. Dem Rechtsbehelf selbst muss aufschiebende Wirkung zukommen. Dies trifft - auch nach dem Unionsrecht - nur auf einen Rechtsbehelf zu, mit dem über die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung und ihren Bestand (abschließend) entschieden wird. Mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kann nicht die Aufhebung der behördlichen Entscheidung, sondern nur die Aussetzung des Vollzugs erreicht werden. Zudem vermag nicht die Antragstellung, sondern nur die stattgebende gerichtliche Entscheidung die aufschiebende Wirkung herbeizuführen, deren Endpunkt die Hauptsacheentscheidung ist.
63Diese Überlegungen werden durch die Systematik der Dublin II-VO bestätigt. Gegenstand des Rechtsbehelfs ist die Entscheidung des Beklagten nach Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO, den Asylantrag nicht zu prüfen und den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Nach Art. 19 Abs. 2 Satz 3 Dublin II-VO kann gegen diese Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Dass dies allein die Klage, nicht aber der Antrag auf Aussetzung sein kann, zeigt vor allem Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO. Danach hat der gegen die Überstellungsentscheidung eingelegte Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders. An diese Vorgaben, die der Sache nach zwischen dem Hauptsache- und dem Aussetzungsverfahren trennen, knüpft der folgende Absatz 3 des Art. 19 Dublin II-VO an, indem er die Frist nur dann erst mit der Entscheidung über den Rechtsbehelf beginnen lässt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wenn er also - so lässt sich mit Blick auf Absatz 2 präzisieren - im Einzelfall aufgrund einer Entscheidung der Gerichte oder zuständigen Stellen nach Maßgabe des mitgliedstaatlichen Rechts aufschiebende Wirkung hat. Dem entspricht das nationale Recht. Ein Rechtsbehelf, dem aufschiebende Wirkung zukommt, ist nach § 80 Abs. 1 VwGO - neben dem Widerspruch - nur die Klage. Die Klage gegen die Überstellungsentscheidung des Bundesamts hat - unionsrechtskonform - aber nach § 75 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung, es sei denn, diese wird gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG in der seit dem 6. September 2013 gültigen Fassung im Einzelfall durch das Gericht angeordnet.
64Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 7 ff.
65Bei dieser Ausgangslage rechtfertigt allein der Sinn und Zweck der Überstellungsfrist, den Mitgliedstaaten Zeit zu geben, um die (technischen) Modalitäten der Durchführung der Überstellung zu regeln, wofür grundsätzlich die vollen sechs Monate zur Verfügung stehen sollen,
66vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 ‑ Rs. C-19/08 (Petrosian u.a.) -, Slg. 2009, I-495,
67keine andere Auslegung des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO.
68Auch § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG führt jedenfalls bei der Dublin II-VO nicht dazu, dass der Lauf der Überstellungsfrist gehemmt wird oder diese erst oder erneut mit der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu laufen beginnt.
69Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 15 ff.; a. A. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. August 2014 ‑ A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 36 ff., und vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 28; Funke- Kaiser, in: GK-AsylVfG, November 2013, § 27a Rn. 227 f.
70Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung bei rechtzeitiger Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Damit wird aber weder eine aufschiebende Wirkung der Klage begründet noch der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu einem Rechtsbehelf im Sinne des Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO, sondern lediglich vorübergehend die Vollziehung der Überstellungsentscheidung durch die Ausländerbehörde gehemmt. Die Anordnung eines Vollziehungshindernisses durch den nationalen Gesetzgeber kann ferner deshalb nicht mit der vorläufigen Aussetzung des Vollzugs der Abschiebungsanordnung durch gerichtlichen Eilbeschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO gleichgesetzt werden, weil dies den unmittelbar geltenden Vorgaben der Dublin II-VO zuwider liefe. Wie bereits ausgeführt, verankert Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, ferner das Erfordernis einer gerichtlichen oder behördlichen, konkret-individuellen Anordnung. Dem liegt der Beschleunigungsgedanke zugrunde, der auch Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO ist. Im Übrigen beruht der Umstand, dass aufgrund des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG bei Stellung eines Eilantrags der Ausländerbehörde nicht die vollen sechs Monate für die Organisation der Überstellung zur Verfügung stehen mögen, sondern diese sich um die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens verkürzen können, auf einer Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, die durch die Dublin II-VO nicht vorgegeben ist. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie II) vom 28. August 2013 (BGBl. I, S. 3474) ist § 34a Abs. 2 AsylVfG bereits mit Wirkung vom 6. September 2013 geändert worden, obwohl zu dem Zeitpunkt noch die Dublin II-VO anwendbar war. Die Vorgabe des Art. 27 Abs. 3 lit. c Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Überstellung auszusetzen ist, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ihrer Durchführung ergangen ist, ist erst ab dem 1. Januar 2014 anwendbar.
71Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 15 ff.
72(3) Die Überstellungsfrist läuft hier auch nicht gemäß Art. 19 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Dublin II-VO deshalb erst sechs Monate nach der Entscheidung über die vorliegende Klage ab, weil das Verwaltungsgericht im (zweiten) Eilverfahren mit Beschluss vom 24. März 2014 -13 L 644/14.A - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. In diesem Zeitpunkt – und schon bei Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO durch den Kläger – war, wie ausgeführt, die Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO abgelaufen. Dies war auch der Grund für die stattgebende Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts.
73Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stehen die beiden Alternativen des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nicht selbstständig nebeneinander, sondern schließen sich im folgenden Sinne aus: Ist Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO einschlägig, weil kein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, und ist diese Frist abgelaufen, kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht dadurch eine neue Frist nach der 2. Alternative der Vorschrift in Lauf gesetzt werden, dass danach (in der Regel gerade wegen des Fristablaufs) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird.
74Dies ergibt sich nicht nur aus dem oben dargelegten Normgefüge des Art. 19 Abs. 2 und 3 Dublin II-VO, sondern vor allem aus der in Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO geregelten Rechtsfolge, die sich aus dem Ablauf der Überstellungsfrist ergibt. Danach geht mit Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. In Anwendung dieser Vorschrift ist am 17. März 2014 die Beklagte zuständig geworden. Die Dublin II-VO enthält aber keine Bestimmung, nach der die Zuständigkeit wieder an den ursprünglich zuständigen Staat – hier Spanien – zurückfallen kann. Dann kann auch keine neue Frist für die Überstellung in den „zuständigen“ Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO zu laufen beginnen. Überdies widerspräche ein erneuter Fristlauf dem Beschleunigungszweck der Dublin II-VO.
752. Der Kläger kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten auch berufen.
76Die Fristregelungen der Dublin II-VO begründen zwar für sich genommen keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers (a.). Der Kläger hat aber aus dem materiellen Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt (b.). Etwas anderes gilt nur dann, wenn feststeht, dass der andere Mitgliedstaat den Asylbewerber aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird; das ist hier aber nicht der Fall (c.). Die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer freiwilligen Ausreisemöglichkeit ausgeschlossen (d.).
77a. Die Vorschriften über die Überstellungsfrist, Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, und die an ihren Ablauf geknüpfte Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO, begründen ebenso wie Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO und die sonstigen Fristregelungen keine einklagbaren subjektiven Rechte der Asylbewerber.
78Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO); BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO), vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), und vom 19. März 2014 ‑ 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 5 ff. (für Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO); Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 -, juris, Rn. 15; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13 -, juris, Rn. 33; Bergmann, ZAR 2015, 81 (84); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 196.1 (für die Aufnahmeersuchensfrist) und Rn. 234 (für die Überstellungsfrist); Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 65 (allg. für Fristen); a. A. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 46 f. (für Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO); VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 47 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12. August 2015 - 18a L 1441/15.A -, juris, Rn. 19 ff. (für Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO); wohl auch Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 14 f.
79Der Asylbewerber hat kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der nach dem Zuständigkeitsregime der Dublin II-VO auch zuständige Mitgliedstaat ist oder ob nicht zwischenzeitlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig geworden ist.
80Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014, Anm. 3; Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
81Die Normen der Dublin II-VO gelten zwar allgemein (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Die unmittelbare Wirkung des Rechtsakts bedeutet jedoch nicht automatisch, dass den Asylbewerbern ein subjektives Recht auf Einhaltung und Beachtung der zuständigkeitsbegründenden Vorschriften eingeräumt wäre. Aus der gewählten Handlungsform folgt allein die Möglichkeit einer Individualberechtigung.
82Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 91.
83Die Dublin II-VO regelt nach ihrem Inhalt und Zweck die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ordnet damit ihr Zusammenwirken bei der Gewährung von Asyl in der Europäischen Union. Das Dublin-System soll die Behandlung von Asylanträgen rationalisieren, das „forum shopping“ verhindern und eine Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten bewirken. Wie aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Dublin II-VO hervorgeht, soll eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats geschaffen werden, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.
84Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 59, vom 6. November 2012 - Rs. C-245/11 -, juris, Rn. 49, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 79, 84; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 34 ff.; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 = juris, Rn. 5.
85Insbesondere die Fristbestimmungen dienen einer zeitnahen Feststellung des zuständigen Mitgliedstaats und einer zügigen Überstellung an diesen. Zwar liegt dieser Beschleunigungszweck nicht nur im Interesse der teilnehmenden Staaten, sondern auch im Interesse der Asylbewerber.
86Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 53, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn.79.
87Sie haben aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Prüfung ihres Asylantrags durch einen bestimmten Mitgliedstaat. Das unionsrechtlich geregelte System der Zuständigkeitsverteilung für die Entscheidung über Asylanträge beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen. Ist ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit, kann der Asylbewerber seiner Überstellung nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden.
88Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 und 62; BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, juris, Rn. 6, und vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 6 ff.
89Die zwischenstaatliche Konzeption des Zuständigkeitssystems schließt es zwar nicht aus, dass einzelne Vorschriften der Verordnung subjektive Rechte beinhalten.
90Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 63 ff.
91Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen gilt dies aber nicht für Art. 19 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO. Allein der Beschleunigungszweck rechtfertigt – auch unter Berücksichtigung des Rechts auf eine gute Verwaltung aus Art. 41 GR-Charta – nicht die Annahme, diese Vorschriften seien derart grundrechtlich aufgeladen, dass sie im objektiv-rechtlichen Dublin-System dazu bestimmt sind, die Rechte Einzelner zu schützen.
92b. Der Kläger hat aber aus den materiell-rechtlichen Asylbestimmungen einen Anspruch darauf, dass die unionsrechtlich zuständige Beklagte seinen Asylantrag prüft.
93aa. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus dem materiellen Recht, das Ausländern einen Anspruch auf Asyl (Art. 16a Abs. 1 GG), Flüchtlingsschutz (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 AsylVfG), subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 2 AufenthG, § 4 Abs. 1 AsylVfG) sowie nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) gewährt. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens ist notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs. Wird die Beklagte wegen Ablaufs der Überstellungsfrist zuständig zur Prüfung des Antrags, muss sie das Asylverfahren aufnehmen.
94Der sachliche Prüfungsanspruch folgt zunächst unmittelbar aus dem Grundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG. Die – möglicherweise bestehende – Asylberechtigung löst eine Pflicht der zuständigen deutschen Behörden aus, den Antrag zu überprüfen.
95Vgl. Becker, in: Mangold/Klein/Starck, GG, 6. Auflage 2010, Art. 16a, Rn. 27.
96Um die Inanspruchnahme des Grundrechts zu ermöglichen, muss sich der Asylbewerber auf dieses Recht berufen, also eine Prüfung in der Sache verlangen können.
97Dem steht auch Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nicht entgegen. Danach kann sich auf Absatz 1 nicht berufen, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Der Kläger ist hier u. a. über Spanien nach Deutschland eingereist. Die Vorwirkungen des Art. 16a Abs. 1 GG sind aber nicht davon abhängig, dass ein Asylanspruch besteht. Das Recht, dass der Asylantrag geprüft wird, besteht unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der Schutzgewährung. Im Übrigen gilt: Ist Deutschland unionsrechtlich zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens, darf dies nicht durch einen grundgesetzlich angeordneten Ausschlussgrund im Sinne einer abdrängenden, negativen Zuständigkeitsbestimmung ausgehöhlt werden. Dementsprechend bestimmt § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG, dass der Schutzbereichsausschluss nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG dann nicht gilt, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Ob – und inwieweit – Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG deshalb oder wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts oder nach Art. 16a Abs. 5 GG unanwendbar ist, kann hier offen bleiben.
98Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 27. April 2015 - 9 A 1380/12.A -, juris; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 226 ff. m.w.N.; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 8 f.; siehe auch BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2011 - 10 C 26.10 -, BVerwGE 140, 114, Rn. 33.
99Darüber hinaus gilt: Verleiht das einfache materielle Recht in Deutschland – hier: das Aufenthalts- und das Asylverfahrensgesetz – eine subjektiv-öffentliche Anspruchsberechtigung, so besteht für jeden potentiell Berechtigten zugleich ein Anspruch auf das Handeln der zuständigen Behörde. Die Zuständigkeit ist eine zwingende Voraussetzung der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit des Handelns einer Behörde und Anspruchsvoraussetzung für antragsgemäßes Verwaltungshandeln.
100Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11. A -, juris, Rn. 24.
101Ist der Antrag zulässig und die Behörde zuständig, muss diese über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts sachlich entscheiden (s. auch § 75 VwGO).
102Dieser Prüfungsanspruch gilt auch für den Asylantrag, der nach § 13 AsylVfG nicht nur die Anerkennung als Asylberechtigter, sondern auch die Zuerkennung internationalen Schutzes beinhaltet. Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung des Schutzgesuchs durch die Beklagte liegt nicht nur den Regelungen zum Asylantrag in §§ 13, 14 AsylVfG zugrunde, sondern auch § 24 AsylVfG, der im Einzelnen die Pflichten des Bundesamts im Asylverfahren bestimmt, und § 31 AsylVfG, der die Entscheidung des Bundesamts über Asylanträge regelt. Die Prüfung der Schutzgesuche darf nach §§ 27a, 34a AsylVfG nur abgelehnt werden, wenn ein anderer Staat nach Unions- oder Völkerrecht zuständig ist.
103Vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 23. März 2015 ‑ 22 K 4141/14.A -, InfAuslR 2015, 154 = juris, Rn. 35, und vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 27, 43.
104Diese Vorschriften setzen damit einen Anspruch auf Entscheidung durch das Bundesamt im Falle seiner Zuständigkeit voraus. Ergeht eine Entscheidung über den Asylantrag nicht innerhalb von sechs Monaten, hat das Bundesamt dem Ausländer gem. § 34 Abs. 4 AsylVfG auf Antrag mitzuteilen, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden wird. § 31 Abs. 6 AsylVfG verpflichtet das Bundesamt im Falle einer Ablehnung des Asylantrags nach § 27a AsylVfG, den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat zu benennen.
105bb. Die Annahme eines Prüfungsanspruchs und damit des Rechts, sich auf die nach der Dublin II-VO bestehende Zuständigkeit Deutschlands berufen zu können, entspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
106Auch nach Unionsrecht müssen Asylbewerber Zugang zu wirksamen Asylverfahren haben. Die effektive Ausübung des Rechts auf Asyl muss gewährleistet sein.
107Vgl. Grundrechte-Agentur der EU, EGMR, Europarat (Hrsg.): Handbuch zu den europarecht-lichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration (abgerufen von http://fra.europa.eu/sites/default/files/handbook-law-asylum-migration-borders-2nded_de.pdf, 16.9.2015), S. 107; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 38 ff.
108Nach Art. 18 GR-Charta wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Verträge über die Europäische Union und über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistet. Art. 19 Abs. 2 GR-Charta gewährt Abschiebungsschutz bei ernsthaften Risiken der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Auch wenn Uneinigkeit darüber besteht, ob Art. 18 GR-Charta ein subjektives, einklagbares Recht vermittelt oder eine bloße objektiv-rechtliche Garantie formuliert,
109vgl. dazu, Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2013, Art. 18 Rn. 2, 15, m. w. N.; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 18, Rn. 7, 11, m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 12; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 153 f.
110begründet die Vorschrift jedenfalls ein Recht des Drittstaatsangehörigen auf ein ausreichendes Verfahren zur Feststellung des Status.
111Vgl. Jarass, a. a. O., Art. 18 Rn. 13.
112Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll (Satz 1). Die Politik muss mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen (Satz 2).
113Auf der Grundlage dieser Vorschrift konkretisiert die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) in materiell-rechtlicher Hinsicht die Schutzrechte, werden in der Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) Verfahrensrechte der Asylbewerber bei der Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz festgelegt und treffen die Dublin-Verordnungen Zuständigkeitsregelungen. Die Dublin II-VO legt – als ein Schritt auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fest (vgl. Erwägungsgründe 4 und 5). Sie begründet zwar grundsätzlich keine subjektiven Rechte der Asylbewerber, setzt aber solche voraus und dient der effektiven Ausübung des Asylrechts. Die Rechtsstellung des Einzelnen wird ferner insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens gewährleistet sein muss. Das ergibt sich aus Folgendem: Der 15. Erwägungsgrund der Dublin II-VO bestimmt ausdrücklich, sie ziele darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 GR-Charta verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.
114Vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 15 und 76.
115Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt (Satz 1). Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird (Satz 2). Nach dem 4. Erwägungsgrund der Dublin II-VO dient sie auch dazu, den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten. Dem Zuständigkeitssystem der Dublin II-VO liegt damit die Annahme zugrunde, dass die Antragsteller ein durchsetzbares Recht haben, dass die Anträge jedenfalls von einem Mitglieds- oder Vertragsstaat zeitnah geprüft werden. Lediglich die Prüfung durch einen bestimmten Staat können sie nicht verlangen.
116Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
117Könnte der Asylbewerber sich nicht auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen und wäre nicht gesichert, dass ein anderer Mitgliedstaat das Asylverfahren durchführt (vgl. dazu sogleich), würde er zum sogenannten „refugee in orbit“, dessen Schutzgesuch in keinem Mitgliedstaat geprüft würde.
118Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2010, Art. 78 AEUV Rn. 21; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 67, 69.
119Dies widerspräche aber dem Grundanliegen des europäischen Asylsystems. Dieses darf nicht so ausgelegt und angewendet werden, dass der Antragsteller in keinem Staat eine Prüfung seines Schutzgesuchs erhalten könnte und – wenn auch nicht dem potentiellen Verfolger ausgeliefert – ohne den im Unionsrecht vorgesehenen förmlichen Schutzstatus bliebe.
120Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
121c. Ein Asylbewerber kann, das folgt schon aus den vorstehenden Ausführungen, nur dann nicht die Durchführung des Asylverfahrens in Deutschlands verlangen, wenn die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats feststeht. Das ist hier nicht der Fall.
122aa. Dass einem Asylbewerber die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats entgegengehalten werden kann, folgt aus dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geregelten Zuständigkeitsübergang, setzt aber auch ein Vorgehen nach dieser Vorschrift voraus. Danach kann jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Satz 1). Dadurch wird der andere Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Satz 2).
123Erklärt der andere Mitgliedstaat, den Asylbewerber aufzunehmen und das Asylverfahren durchzuführen, obwohl er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht (mehr) zuständig ist, übt er damit das Selbsteintrittsrecht nach der sogenannten Souveränitätsklausel aus.
124Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen ein, das integraler Bestandteil des vom EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Die Ausübung der Befugnis ist an keine Bedingungen geknüpft; ein Anspruch des Asylbewerbers auf Zuständigkeitsübernahme besteht grundsätzlich nicht.
125Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 65 ff., und vom 30. Mai 2013 - Rs. C-528/11 (Halaf) -, juris, Rn. 36 ff.; siehe zu Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO auch EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 28 ff.; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11.A -, juris, Rn. 34.
126Hiervon ausgehend geht die Zuständigkeit über, wenn ein anderer Mitgliedstaat im Einzelfall seine Bereitschaft erklärt, den Asylbewerber aufzunehmen. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland steht damit unter dem unionsrechtlichen Vorbehalt des Fortbestehens der Zuständigkeit.
127Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 52.
128Dabei reicht bei sachgerechter Auslegung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eine Erklärung gegenüber dem ersuchenden Mitgliedstaat aus, die die Zusage beinhaltet, den eingereichten Asylantrag zu prüfen. Um den Zuständigkeitsübergang zu bewirken, ist eine ausdrückliche Berufung auf die Souveränitätsklausel ebenso wenig erforderlich wie der Beginn der tatsächlichen Prüfung des Asylantrags. Förmlichkeiten geben weder die Dublin II-VO selbst noch die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003 vor. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts kann sich auch konkludent aus den Umständen ergeben. Es muss lediglich erkennbar sein, dass der andere Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall die Zuständigkeit übernimmt.
129Nicht ausreichend ist die erteilte Zustimmung zur (Wieder-)Aufnahme nach Art. 18 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 lit. b) Dublin II-VO, die mit der Ausübung des Ermessens nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht vergleichbar ist.
130Vgl. dazu auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 32.
131Hier hat Spanien nicht von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht. Als es am 17. September 2013 dem Aufnahmegesuch stattgegeben hat, war es nach der Dublin II-VO zuständig. Spanien hat aber nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und daraus resultierendem Zuständigkeitsübergang bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht erklärt, dass seine Übernahmebereitschaft gleichwohl fortbesteht. Es hat in keiner Weise im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zu erkennen gegeben, dass es den Asylantrag des Klägers auch nach Ablauf der Überstellungsfrist prüfen, mithin die Zuständigkeit übernehmen wird.
132bb. Auch wenn Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht einschlägig wäre, kann dem Asylbewerber nur dann die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands verwehrt werden, wenn positiv feststeht, dass ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit ist. Dies setzt voraus, dass eine Prüfung des Asylgesuchs durch den anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist, hierfür also hinreichende Erkenntnisse vorliegen.
133Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach Verstöße gegen die Bestimmungen der Dublin II-VO für sich genommen keine subjektiven Rechte der Asyl-bewerber verletzen und der Asylbewerber der Überstellung nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann, betrifft sämtlich Fälle, in denen die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats bestand.
134Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C 394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60; BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4, vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12, und vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7.
135Da die Dublin II-VO gerade dem Zweck dient, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist (vgl. Art. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Erwägungsgrund 4 der Dublin II-VO), reicht es nicht aus, dass der andere, nicht mehr zuständige Mitgliedstaat der Überstellung nach Fristablauf nicht widersprochen hat bzw. diese nicht endgültig abgelehnt hat und deshalb nicht feststeht, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann.
136So aber Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
137Ebensowenig genügt es, dass die Überstellung an den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist.
138Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 59, und vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 28 (allerdings mit dem Zusatz „weil Polen den Fristablauf nicht einwendet“).
139Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass nach erfolgter Zuständigkeitsbestimmung nur der nach der Dublin-Verordnung zuständige Mitgliedstaat bereit ist, das Asylverfahren durchzuführen.
140Eine rein theoretische Überstellungsmöglichkeit, die nicht durch konkrete aussagekräftige Fakten untermauert wird, kann auch deshalb nicht genügen, weil andernfalls das dem Dublinsystem immanente Beschleunigungsgebot verletzt würde.
141So auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
142Hier fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass Spanien den Fristablauf und die daraus folgende Zuständigkeit der Beklagten – generell oder im Einzelfall – nicht einwendet. Dass Spanien am 17. September 2013 dem Aufnahmeersuchen stattgegeben hat, reicht insoweit nicht aus. Entscheidend ist, dass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, und damit auch nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und dem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte, die Übernahmebereitschaft besteht. Dafür ist, ausgehend von den obigen Maßstäben, nichts ersichtlich. Das Bundesamt hat auf mehrfache gerichtliche Anfrage mit Schriftsatz vom 13. August 2015 lediglich ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten Rechtsmittelmeldungen nach Ablauf der Überstellungsfrist ablehnten. Der Zusatz, im besonderen Einzelfall könne durchaus auch ein Einlenken des Mitgliedstaats erzielt werden, reicht für die Annahme nicht aus, Spanien werde im vorliegenden Fall eine Überstellung akzeptieren. Zuletzt hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 27. August 2015 mitgeteilt, dass derzeit konkrete Anhaltspunkte weder dafür, dass Spanien trotz zwischenzeit-lichen Ablaufs der Überstellungsfrist seine Zuständigkeit bejaht hätte, noch dafür vorlägen, dass Spanien eine Überstellung des Klägers bereits endgültig abgelehnt hätte. Das reicht für die Annahme nicht aus, Spanien werde im vorliegenden Fall eine Überstellung akzeptieren.
143d. Eine andere Betrachtung lässt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, der Asylbewerber könne freiwillig ausreisen und dadurch das Verfahren selbst beschleunigen.
144Zwar geht das Unionsrecht von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise aus (vgl. Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003; Art. 19 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 1 lit e) Dublin II-VO). Es ist aber schon fraglich, ob dies eine bindende Vorgabe ist, ob das nationale Recht eine Ausreise auf eigene Initiative ausdrücklich vorsehen muss oder ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen haben, in welcher Weise die Aufenthaltsbeendigung erfolgen soll.
145Vgl. dazu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 24 ff.
146Auf diese Fragen kommt es aber ebenso wenig an wie darauf, ob der Kläger auch noch gegenwärtig, d. h. nach dem Zuständigkeitsübergang, nach Spanien ausreisen könnte. Es ist jedenfalls keine rechtliche Grundlage dafür ersichtlich, dass er im nicht mehr zuständigen Staat Spanien eine Prüfung seines Asylantrags verlangen kann. Fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Übernahmebereitschaft des anderen Staates auch nach dem Zuständigkeitsübergang auf Deutschland, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Mitgliedstaat im Falle einer freiwilligen Ausreise ein Asylverfahren durchführen wird.
147Auch das Argument des Verwaltungsgerichts, § 242 BGB schließe eine Berufung auf den Zuständigkeitsübergang aus, weil der Asylbewerber vor Ablauf der Überstellungsfrist freiwillig hätte ausreisen können, überzeugt nicht. Dass der Kläger von dem Recht auf freiwillige Ausreise, das im Übrigen im deutschen Recht nicht ausdrücklich geregelt ist, keinen Gebrauch gemacht hat, lässt es nicht als treuwidrig erscheinen, von der nach Unionsrecht zuständigen Behörde die Prüfung des Schutzgesuchs zu verlangen.
148So auch VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 82 ff.
149Andernfalls wäre nämlich die materielle Prüfung des Schutzgesuchs nicht gewährleistet und träte damit letztlich ein Rechtsverlust ein. Die Dublin II-VO begründet auch keine Verpflichtung des Asylantragstellers, sich in den nach der Dublin II-VO (ursprünglich) zuständigen Staat zu begeben. Dass gemäß § 50 AufenthG nach allgemeinem nationalem Aufenthaltsrecht eine Ausreisepflicht besteht, ist insoweit unerheblich. Der Zuständigkeitsübergang beruht allein auf dem Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist, nicht hingegen auf einem Verhalten des Klägers (Nichtausreise), mit dem er sich durch die Berufung auf die Zuständigkeit in Widerspruch setzen könnte. Er ist weder untergetaucht noch hat er anderweitig Überstellungsmaßnahmen verhindert.
1503. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann nicht als negative Entscheidung gemäß § 71a AsylVfG über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aufrechterhalten oder umgedeutet werden – was im Übrigen die fehlende Statthaftigkeit der Anfechtungsklage und die Zulässigkeit (nur) einer Verpflichtungsklage zur Folge hätte.
151Es ist schon nicht ersichtlich, dass ein Zweitantrag vorliegt. Aus den dem Gericht vorliegenden Akten ergibt sich nur, dass der Kläger in Spanien zweimal erkennungsdienstlich behandelt worden ist, nicht aber, dass er einen Asylantrag gestellt hat.
152Abgesehen davon kommt ein Verständnis eines Dublin-Bescheids der vorliegenden Art als Ablehnung eines Antrags auf Wiederaufgreifen ebensowenig in Betracht wie eine entsprechende Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG.
153Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 29, und vom 19. Juni 2015 - 13 A 292/15.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 34 f.
154Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG in dem vom Kläger angefochtenen Bescheid vom 4. Oktober 2013 wird, wie ausgeführt, lediglich ohne materiell-recht-liche Prüfung die Unzulässigkeit des Asylantrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen, ausgehend von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland, eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
155Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, Rn. 29, juris.
156Die Frage, ob die Voraussetzungen des § 71a AsylVfG, § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, ist im Rahmen eines eigenständigen Verwaltungsverfahrens mit eigenen Verfahrensgarantien zu klären und zu entscheiden.
157Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 41.
158II. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziff. 2 des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Spanien ist nach den obigen Ausführungen für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig. Im Übrigen stünde auch nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden könnte, weil die Aufnahmebereitschaft Spaniens nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht – wie hiernach erforderlich – positiv feststeht.
159C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
160Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
161Die Revision ist zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen. Die Dublin II-VO ist zwar auslaufendes Recht. Die zentralen Rechtsfragen stellen sich aber nach der in weiten Teilen übereinstim-menden Dublin III-VO in gleicher Weise.
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
Tenor
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Antragsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg des Zulassungsantrags (§ 166 der Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO - i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung) abzulehnen, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt.
3Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 des Asylverfahrensgesetzes ‑ AsylVfG ‑) nicht vorliegt. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur, wenn sie eine bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der einheitlichen Auslegung und Anwendung oder der Fortentwicklung des Rechts der Klärung bedarf, oder wenn sie eine tatsächliche Frage aufwirft, deren in der Berufungsentscheidung zu erwartende Klärung verallgemeinerungsfähige Auswirkungen hat. Verallgemeinerungsfähige Auswirkungen hat die Klärung einer Tatsachenfrage, wenn sich diese Frage nicht nur in dem zu entscheidenden Fall, sondern darüber hinaus auch noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft stellt.
4Die aufgeworfene Frage,
5„ob Art. 20 der Verordnung Nr. 343/2003 i. V. m. Art. 16 Abs. 3 der Verordnung 343/2003 so auszulegen ist, dass mit der Zustimmung eines Mitgliedsstaates nach diesen Bestimmungen dieser Mitgliedsstaat jener ist, der im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Einleitungssatz der Verordnung Nr. 343/2003 zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, oder muss die nationale Überprüfungsinstanz unionsrechtlich, wenn sie im Zuge eines Verfahrens über einen Rechtsbehelf nach Art. 20 Abs. 1 e der Verordnung Nr. 343/2003 ‑ unabhängig von dieser Zustimmung ‑ zur Anschauung gelangt, (dass) die Zuständigkeit dieses Staates erloschen ist, die eigene Zuständigkeit für das Verfahren zur Entscheidung über den Rechtsbehelf verbindlich feststellen, wenn diesem anderen Mitgliedsstaat wichtige Informationen vorenthalten worden sind und die Zustimmung auf der Basis dieser unzureichenden Informationen erfolgt ist."
6ist nicht klärungsbedürftig, da sie auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens ohne Weiteres im für den Zulassungsantrag negativen Sinne beantwortet werden kann. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden hat, kann ein Asylbewerber in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (ABl. L50/1 vom 25.2.2003, Dublin II‑VO) niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Heranziehung dieses Kriteriums nicht damit entgegentreten, dass die Zuständigkeitsbestimmung nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II‑VO als Mitgliedstaat der ersten Einreise deshalb zu Unrecht erfolgt sei, weil die Verpflichtung zu der ‑ bewilligten ‑ (Wieder-)Aufnahme nach Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO wegen mindestens dreimonatigen Verlassens des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten erloschen sei.
7Das ergibt sich aus Folgendem: Das unionsrechtlich geregelte System der Zuständigkeitsverteilung für die Entscheidung über Asylanträge (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) beruht darauf, dass angenommen wird, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Der Unionsgesetzgeber hat aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens die Dublin II‑VO erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die Behörden der Mitgliedsstaaten mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem "forum shopping" zuvorzukommen. Dies bezweckt hauptsächlich, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen.
8Die für Asylanträge geltenden Regelungen wurden in weitem Umfang auf Unionsebene harmonisiert, so dass der von einem Asylbewerber gestellte Antrag weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft wird, welcher Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung nach der Dublin II‑VO zuständig ist. Soweit es um die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates geht, trifft die Dublin II‑VO organisatorische Vorschriften, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln. Damit wird einem der Hauptzwecke der Dublin II‑VO nachgekommen, durch klare und praktikable Regeln für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft und die zügige Bearbeitung der Asylanträge zu gewährleisten.
9Vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2013 ‑ C-394/12 ‑, NVwZ 2014, 208 Rn. 52 ff.
10Das Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung zwischen den Mitgliedstaaten findet seinen Abschluss in der positiven Aufnahmeerklärung eines Mitgliedsstaats auf das Aufnahmeersuchen des anderen Mitgliedsstaats nach den Regeln der Art. 16 ff. Dublin II‑VO .
11Hier geht es um die Frage, ob Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO ein für die Kläger einklagbares Recht begründet. Nach dieser Vorschrift erlöschen die Aufnahme- und Asylantragsprüfungspflichten der Mitgliedstaaten, wenn der Asylbewerber das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, hier, wie die Kläger geltend machen, nach ihrem Aufenthalt in Italien und Schweden durch über dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei. Die Frage, ob eine Norm des Unionsrechts ein subjektives Recht begründet, richtet sich nicht deckungsgleich nach den für das innerstaatliche Recht für die Klagebefugnis und die Rechtsverletzung (§§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO) aufgestellten Grundsätzen.
12Sog. Schutznormtheorie, vgl. etwa Happ in Eyermann/Fröhler, VwGO, 14. Aufl., § 42 Rn. 86 ff. und Schmidt, ebenda, § 113 Rn.18.
13Allerdings ist gesichert, dass der Einzelne sich nicht auf jede objektiv-rechtliche Regel des Unionsrecht berufen kann, dass es also auch hier der Feststellung bedarf, ob Rechtsregeln subjektive Rechte (in der Terminologie des Gerichtshofs der Europäischen Union "Rechte Einzelner") schaffen. Dabei kann dies selbst dann verneint werden, wenn die Rechtsnorm den Schutz von Personen bezweckt.
14So etwa verneint für Normen, die die Tätigkeit der Bankenaufsicht regeln und auch den Zweck "Schutz der Einleger" verfolgen, als Rechte zu Gunsten der Einleger, EuGH, Urteil vom 12.10.2004 ‑ C-222/02 ‑, NJW 2004, 3479 Rn. 40.
15Insbesondere reicht eine bloß tatsächliche Betroffenheit durch die Rechtsregel nicht aus, vielmehr muss auch das Unionsrecht das klagbare Interesse normativ anerkennen.
16Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, 380 (382).
17Gegenüber der Schutznormtheorie ist die unionsrechtliche Abgrenzung subjektiver Rechte von bloß objektivem Recht tendenziell weiter.
18Vgl. Zuleeg/Kadelbach in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl. § 8 Rn. 14; Gärditz in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl., § 35 Rn. 59.
19Der Unterschied liegt vor allem in der Zuweisung der Durchsetzung von Allgemeininteressen an den Einzelnen,
20Hong, Subjektive Rechte und Schutznormtheorie im europäischen Verwaltungsrechtsraum, JZ 2012, 380 f.,
21im Konzept der dezentralen Rechtsdurchsetzung durch Mobilisierung von Bürgern.
22Nettesheim, Subjektive Rechte im Unionsrecht, AöR 132 (2007), 333 (353 ff.); Gärditz in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl., § 35 Rn. 59; Masing in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts. Bd. 1, 2. Aufl., § 7 Rn. 92.
23Unionsrechtliche Quelle dieses Konzepts ist der Effektivitätsgrundsatz (Art. 197 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union ‑ AEUV ‑, "effet utile").
24Vgl. Classen in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung (Stand: Januar 2015), Art. 197 AEUV Rn. 16 ff., insbes. 42 ff; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5 Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 419 ff, 1805 ff.
25Dieser gebietet, dass der nationale Vollzug des Unionsrechts dessen Wirksamkeit nicht übermäßig erschweren oder sogar praktisch unmöglich machen darf.
26Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5 Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 1805, 1808; Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, NJW 2010, 1233 f.
27Ausgehend von diesen Maßstäben ist festzustellen, dass die Zuweisung der Durchsetzung der Regeln zur Aufgabenverteilung auf die Mitgliedstaaten nach der Dublin II‑VO an den Einzelnen dem Zweck der Verordnung entgegenliefe, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 4 Dublin II‑VO). Angesichts der komplexen Regeln über die Zuständigkeit, ihre Rangfolge, die aus der Zuständigkeit folgenden Verpflichtungen und ihr Erlöschen würde es die effektive Durchsetzung der Klärung der Zuständigkeit und der anschließenden Prüfung des Asylantrags durch den zuständigen Staat geradezu behindern, wenn die Überprüfung dieser Aufgabenverteilung in die Hände des Einzelnen gelegt würde und ihm damit Gelegenheit geboten würde, die zügige Bearbeitung seines Asylantrags durch einen von ihm nicht gewünschten Mitgliedstaat zu verhindern und seinen Verbleib in dem von ihm gewünschten Mitgliedstaat durchzusetzen. Vielmehr erfordert der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz, dass der Asylbewerber das Ergebnis des zwischenstaatlichen Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und die daraus sich ergebende Aufgabenverteilung hinnehmen und auf dieser Grundlage sein Asylbegehren verfolgen muss.
28Nur dann, wenn die Zuständigkeitsvorschrift nicht der bloßen Aufgabenverteilung zwischen den ‑ in der Aufgabenerfüllung als gleichwertig anzusehenden ‑ Mitgliedstaaten dient, sondern auch im spezifischen Interesse des Asylbewerbers liegt, kann eine solche Zuständigkeitsnorm ein subjektives Recht darstellen.
29So etwa für Art. 15 Abs. 2 Dublin II‑VO EuGH, Urteil vom 6.11.2012 ‑ C-245/11 ‑, NVwZ-RR 2013, 69.
30Für Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO kann eine solche Subjektivierung des Zuständigkeitsrechts nicht festgestellt werden. Ihm liegt vielmehr die Wertung zu Grunde, dass der die Zuständigkeit rechtfertigende Gesichtspunkt der ersten Einreise sein Gewicht umso mehr einbüßt, je länger sich ein Asylbewerber danach außerhalb des Dublin‑Gebiets aufhält, bevor er erneut einreist. Das ist ein reiner Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt der Aufgabenverteilung, der keinen Bezug zu schützenswerten Interessen des Asylbewerbers aufweist.
31Aus Vorstehendem folgt, dass einem Asylbewerber unionsrechtlich grundsätzlich nur das subjektive Recht auf ein zügiges Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft durch den nach dem zwischenstaatlich im Wege des Aufnahmegesuchs und seiner Stattgabe bestimmten Mitgliedstaat eingeräumt wird, nicht aber das Recht auf ein Verfahren durch einen bestimmten Mitgliedstaat. Die Aufgabenverteilungsregeln begründen ‑ von dem genannten Sonderfall abgesehen ‑ kein subjektives Recht der Asylbewerber, sondern stellen ausschließlich objektives Recht dar, dass nur die Mitgliedstaaten untereinander berechtigt und verpflichtet, auf dessen Einhaltung also ein Asylbewerber keinen Anspruch hat. Deshalb kann der Asylbewerber in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden.
32EuGH, Urteil vom 10.12.2013 ‑ C-394/12 ‑, NVwZ 2014, 208 Rn. 62.
33Wenn schon nach dieser Entscheidung der Asylbewerber der Abschiebung in den aufnahmebereiten Mitgliedstaat die falsche Anwendung des Kriteriums der ersten Einreise nach der Dublin II‑VO als solches nicht entgegen halten kann, gilt dies erst recht für die zwar zutreffende Zuständigkeitsbestimmung, aber unrichtige Anwendung der Vorschrift über das Erlöschen der Zuständigkeitsverpflichtung nach Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO durch die Mitgliedstaaten im Rahmen der durch sie getroffenen Zuständigkeitsbestimmung.
34Aus dem Vorstehenden ergibt sich weiter, dass auch die aufgeworfenen Frage,
35", ob insoweit subjektive Rechte des Asylbewerbers bestehen, wenn der ersuchende Mitgliedsstaat dem ersuchten Mitgliedsstaat wichtige Informationen vorenthalten hat,"
36nicht klärungsbedürftig ist, da sie ohne Weiteres zu verneinen ist. Diese Frage betrifft noch nicht einmal die richtige Anwendung der Zuständigkeitsregeln der Dublin II‑VO im Ergebnis, sondern nur die fehlerfreie Willensbildung der am Zuständigkeitsbestimmungsverfahren beteiligten Mitgliedstaaten. Dass deren Überprüfung in die Hände des Einzelnen gelegt sein könnte, ist erst recht auszuschließen. Vielmehr ist es allein Sache des ersuchten Mitgliedstaats, auf ein fehlerhaftes Verhalten des ersuchenden Mitgliedstaats zu reagieren.
37Da die Frage des subjektiven Rechts auf Einhaltung der Zuständigkeitsregeln der Dublin II‑VO im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung durch die Mitgliedstaaten durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 10.12.2013 ‑ C‑394/12 ‑ geklärt ist und die hier maßgebliche nachgelagerte Frage, ob der Asylbewerber der Heranziehung des Zuständigkeitskriteriums durch die Mitgliedstaaten deshalb entgegentreten kann, weil entgegen der Stattgabe des Gesuchs die Verpflichtungen nach Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO entfallen waren, zweifelsfrei verneint werden kann, bedarf es einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV nicht. Es besteht daher - auch unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - keine Veranlassung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.
38Speziell zu Art. 19 Abs. 2 Unterabsatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (ABl. L 180/31 vom 29.6.2013 ‑ Dublin III‑VO), der Art. 16 Abs. 3 Dublin II‑VO entspricht, Filzwieser/Sprung, Dublin III‑VO, Art. 19 Anm. K6; ebenso Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR 2015, 81 (87), im Sinne der Acte-clair-Doktrin für nicht grundrechtlich aufgeladene Zuständigkeitsnormen.
39Soweit die Kläger unter Verweis auf entgegenstehende Rechtsprechung eine andere Position vertreten, kann dies die Zweifelsfreiheit der Auslegung nicht in Frage stellen, da die zitierte Rechtsprechung die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 10.12.2013 ‑ C-394/12 ‑ nicht berücksichtigen konnte.
40Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die Gerichtskosten ergibt sich aus § 83b AsylVfG.
41Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 22. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
- 1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem die Unzulässigkeit eines von ihm in Deutschland gestellten Asylantrags festgestellt und die Abschiebung nach Italien angeordnet wird. Er begehrt die Ausübung des Selbsteintrittsrechts und die sachliche Prüfung des Asylantrags in Deutschland.
- 2
Der Kläger stellte am 2. August 2012 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Trier (Bundesamt) einen Asylantrag, nachdem er am 17. Juli 2012 als Asylbewerber erfasst worden war. Bei der Antragstellung gab er an, am 5. August 1988 in Mogadischu geboren zu sein und die somalische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Er sei Mitglied der Volksgruppe der Hawadle und sunnitischer Religionszugehörigkeit.
- 3
Bei der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 29. August 2012 trug der Kläger vor, zwei Jahre lang als Schneider ausgebildet worden zu sein und diesen Beruf ein Jahr lang selbständig ausgeübt zu haben. Seine Schneiderei habe in der Nähe einer Fabrikruine gelegen, auf deren Gelände äthiopische Soldaten campiert hätten. Immer wieder seien diese von Mitgliedern der Al Shabaab attackiert worden. Auch die äthiopischen Soldaten hätten angegriffen. Die Al Shabaab sei zu ihm gekommen und habe gesagt, sie brauche Hilfe. Er habe nicht kämpfen wollen und sei im August 2008 geflohen. Hierzu habe er Mogadischu mit einem Kraftfahrzeug verlassen und sei über Addis Abeba und Khartum nach Tripolis gelangt, wo er am 18. November 2008 angekommen sei. Von dort aus sei er mit einem Boot nach Sizilien gefahren und am 25. Mai 2009 gelandet. Auf seinen Asylantrag hin habe er in Italien den Status eines subsidiär Schutzberechtigten erhalten. Danach habe er das Flüchtlingslager verlassen müssen und sei nach Florenz gegangen. Dort habe ihm die Caritas einmal am Tag etwas zu essen gegeben. Einen Monat lang habe er in einem verlassenen Haus ohne Wasser und Strom gelebt. Dann sei er insgesamt zwei Mal in die Niederlande gefahren und habe versucht, dort Asyl zu bekommen. Er sei aber jedesmal nach Italien zurückgeflogen worden. Die Polizisten am Flughafen Rom hätten ihm gesagt, er solle zum Bahnhof gehen. Dort seien viele Somalis gewesen, die ihn zur somalischen Botschaft in Rom gebracht hätten. Die Botschaft sei aufgegeben und von Flüchtlingen zum Übernachten genutzt worden. Es sei furchtbar dreckig gewesen und man habe krank werden können. Es habe Wasser, aber keinen Strom gegeben. Schließlich habe er sich auf den Weg nach Deutschland gemacht, wo er am 14. Juli 2012 angekommen sei.
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Er sei krank. Er leide an einer schiefen Wirbelsäule und könne manchmal nicht gehen, außerdem habe er einen Vitamin-D-Mangel und eine Magenerkrankung. In Italien habe man ihm im Krankenhaus nur eine Schmerzspritze gegeben, weil er keinen Gesundheitsausweis habe vorzeigen können.
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Die niederländischen Behörden wiesen ein Übernahmeersuchen der Beklagten zurück und teilten mit, dass sie den Kläger ihrerseits am 23. Dezember 2010 und 10. Oktober 2011 nach Italien überstellt hätten.
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Auf entsprechenden Antrag vom 17. Dezember 2012 akzeptierten die italienischen Behörden mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 unter Bezugnahme auf Art. 16 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 - Dublin-II-VO - ihre Zuständigkeit, wobei der Kläger dort mit syrischer Staatsangehörigkeit und dem Geburtsdatum 1. Januar 1988 geführt wurde, und stimmten einer Überstellung bis zum 20. Juni 2013 zu.
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Vom 14. bis 24. Oktober 2012 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung wegen Schmerzen im Hüftbereich. Entzündliche sowie autoimmune Erkrankungen konnten laborchemisch ausgeschlossen werden. In einer Magnetresonanztomographie zeigten sich arthropische Veränderungen des Hüftgelenks. Es wurden eine ausgewogene eiweißreiche Ernährung und ambulante Krankengymnastik-Maßnahmen beziehungsweise Reha-Sport sowie eine ambulante psychiatrische Betreuung empfohlen. Am 6. und 7. Januar 2013 befand sich der Kläger wegen epigastrischer Schmerzen unklarer Genese erneut in stationärer Krankenhausbehandlung. Nachdem die Laborbefunde sowie eine Gastroskopie keine Auffälligkeiten aufwiesen und der Patient sich subjektiv beschwerdegebessert zeigte, wurde er ohne weitere Medikation entlassen. In privatärztlichen Attesten einer allgemeinmedizinischen Praxis vom 7. Februar 2013 und 29. Januar 2014 werden als Diagnosen Oberbauschschmerzen bei rezidivierender Gastritis, Lws-Syndrom, Coxalgie, Vitamin-D-Mangel und Mangelernährung bei Appetitlosigkeit aufgezählt. Der Patient sei auf regelmäßige medizinische Behandlung und Medikamente angewiesen. Eine Abschiebung nach Italien wäre mit einem hohen Risiko der Verschlechterung des Gesundheitszustandes verbunden.
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Mit Bescheid vom 13. Februar 2013 erklärte die Beklagte den Asylantrag des Klägers gemäß § 27a AsylVfG für unzulässig. Italien sei für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und habe seine Zuständigkeit auch anerkannt. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich. Insbesondere hinderten die vorgelegten Atteste eine Überstellung des Klägers nach Italien nicht, denn in Italien habe der Kläger wie jeder italienischer Staatsbürger Zugang zum dortigen Gesundheitssystem.
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Am 19. Februar 2013 hat der Kläger Klage erhoben. Die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens sei auf die Beklagte übergegangen, da der Übernahmeantrag an Italien erst nach Ablauf der Frist des Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO gestellt worden sei. Im Übrigen dürfe der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Italien überstellt werden, weil er sich in ständiger ärztlicher Behandlung befinde. Schließlich sei die Beklagte zur Prüfung des Antrags verpflichtet, weil in Italien systemische Mängel im Asylverfahren herrschten. Die Mindeststandards in Bezug auf Unterbringung, soziale und medizinische Versorgung würden erheblich unterschritten. Das gelte insbesondere für Sizilien, wohin der Kläger abgeschoben werden sollte. Ihm drohte daher nach seiner Rückführung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ohne Perspektive auf Arbeit oder Obdach.
- 10
Der Kläger hat beantragt,
- 11
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Februar 2013 zu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) 343/2003 Gebrauch zu machen,
- 12
hilfsweise,
- 13
die Beklagte zu verpflichten, über die Ausübung des vorgenannten Selbsteintrittsrechts erneut zu entscheiden.
- 14
Die Beklagte hat beantragt,
- 15
die Klage abzuweisen.
- 16
Sie weist darauf hin, dass Personen mit Schutzstatus hinsichtlich der Unterbringung und der medizinischen Versorgung die gleichen Rechte genössen wie italienische Staatsangehörige. Damit seien Unterkunft und Wohnung in eigener Verantwortung zu besorgen. Die entsprechenden Kosten seien selbst zu tragen. Nach Meldung bei dem „Servizio Sanitario Nazionale“ erhielten Personen mit Schutzstatus eine „Tessera Sanitaria“, mit deren Hilfe Zugang zu allen ärztlichen Leistungen erfolge. Die Kosten der Behandlungen würden vom italienischen Staat getragen. Nach Auskunft der deutschen Liaisonbeamtin des Bundesamtes in Rom sei die Gewährung dieser medizinischen Versorgung unabhängig von einem festen Wohnsitz. Alle Personen, die in Italien einen Schutzstatus erhielten, hätten das Recht zu arbeiten (guida practica per i titolari di protezione internazionale). Nach Auskunft der Liaisionbeamtin sei die Arbeitserlaubnis eigentlich an eine „residenza“, also einen festen Wohnsitz geknüpft. Viele Vereinigungen böten den betroffenen Personen aber ihre Adresse als Briefkastenadresse an. Schließlich habe der Kläger auch keine Krankheit substantiiert, die ihn reiseunfähig machen beziehungsweise besondere Lebens- oder Gesundheitsgefahren begründen würde.
- 17
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. Mai 2013 abgewiesen. Die Zuständigkeit Italiens zur Prüfung des Asylantrags ergebe sich aus Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung, da Italien dem Kläger einen Aufenthaltstitel ausgestellt habe. Die Fristvorschriften des Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO begründeten keine subjektiven Rechte, so dass es auf deren Versäumung nicht ankomme. Zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts sei die Beklagte nicht verpflichtet. Es sei nach Auswertung der vorliegenden Auskünfte, Gutachten sowie Berichte und unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung weder zu befürchten, dass dem Kläger keine hinreichende soziale beziehungsweise medizinische Versorgung zugute käme, noch herrschten systemische Mängel im italienischen Asylverfahren, die befürchten ließen, dass dem Kläger in Italien eine menschenunwürdige Behandlung drohte.
- 18
Auf entsprechenden Antrag ließ der Senat die Berufung zu und untersagte der Beklagten mit Beschluss vom 19. Juni 2013, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens aufenthaltsbeendende Maßnahmen durchzuführen.
- 19
Der Kläger wiederholt und vertieft zur Begründung der Berufung seinen Vortrag aus dem Klageverfahren. Als Schutzberechtigtem stünde ihm weder Anspruch auf Unterkunft, noch auf staatliche Sozialleistungen zu. Er habe auch keinen Anspruch auf Integrationsmaßnahmen und könne allenfalls in ländlichen Gebieten zeitlich befristet und schlecht bezahlt als Erntehelfer arbeiten. Außerhalb von Rom habe er keine Möglichkeit, sich eine virtuelle Adresse geben zu lassen, so dass er vermutlich auch keinen Zugang zum Gesundheitssystem habe. In Not geratene italienische Staatsangehörige könnten in der Regel auf Hilfe durch die (Groß-) Familie hoffen. Diese Möglichkeit hätten Flüchtlinge nicht.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Februar 2013 zu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) 343/2003 Gebrauch zu machen,
- 22
hilfsweise,
- 23
die Beklagte zu verpflichten, über die Ausübung des vorgenannten Selbsteintrittsrechts erneut zu entscheiden.
- 24
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
- 26
Sie macht sich im Wesentlichen eine Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern im vorliegenden Verfahren zu Eigen. Danach liegen außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, nicht vor. Italien erfülle seine Verpflichtung nach den Artikeln 20 bis 24 Genfer Flüchtlingskonvention, Flüchtlinge im Sozial- und Arbeitsrecht ebenso zu behandeln wie eigene Staatsangehörige. Eine Besserstellung von Asylbewerbern sei danach nicht vorgesehen. Aus dem Umstand, dass Italien kein ähnliches soziales Netz biete wie Deutschland und andere Mitgliedstaaten, könne nicht geschlossen werden, dass es sich von seiner Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gelöst habe. Die von dem Kläger zitierten Gutachten ergäben keine neuen Erkenntnisse, insbesondere kein belastbares Zahlenmaterial darüber, welcher Anteil der Schutzberechtigten für wie lange tatsächlich der Obdachlosigkeit anheimgefallen sei.
- 27
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte, die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
- 28
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Er hat keinen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte ist weder nach den allgemeinen Regeln zuständig (I), noch besteht ein Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts (II). Daher ist auch die Abschiebungsanordnung nach Italien rechtlich nicht zu beanstanden (III).
I.
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Die Frage, welcher Staat für das Asylverfahren des Klägers zuständig ist, bestimmt sich vorliegend nach den Regeln der Dublin-II-Verordnung (1). Danach ist Italien der zuständige Mitgliedstaat (2). Die Zuständigkeit ist nachträglich weder nach der Vorschrift des Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO (3), noch nach der Vorschrift des Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO (4) auf die Beklagte übergegangen.
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1. Im vorliegenden Fall kommt unbeschadet der Vorschrift des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG noch die Dublin-II-Verordnung und nicht die mittlerweile in Kraft getretene Nachfolgeverordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-VO) zur Anwendung. Gemäß der Übergangsvorschrift des Art. 49 Dublin-III-VO gilt diese nämlich erst für Anträge auf Internationalen Schutz sowie Anträge der Mitgliedstaaten auf Aufnahme oder Wiederaufnahme, die nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurden. Vorliegend hat der Kläger seinen Asylantrag bei der Beklagten bereits im Jahr 2012 gestellt. Auch der Antrag auf Wiederaufnahme des Klägers wurde noch im Jahr 2012 gestellt und von Italien mit Schreiben vom 20. Dezember 2012 akzeptiert.
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2. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass Italien nach der Vorschrift des Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Danach fallen dem Mitgliedstaat die Pflichten zur Wiederaufnahme und abschließenden Prüfung eines Asylverfahrens zu, sofern er einem Antragsteller einen Aufenthaltstitel erteilt. Italien hat dem Kläger in Folge der Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter einen Aufenthaltstitel erteilt und diesen im Jahr 2012 nochmals verlängert.
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3. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist auch nicht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen. Nach dieser Vorschrift sind Aufnahmegesuche an andere Mitgliedstaaten spätestens innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrags zu stellen. Wird das Gesuch nicht innerhalb dieser Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung zuständig.
- 33
Zum einen vermittelt diese Vorschrift dem Asylbewerber aber keine subjektiven Rechte, sondern dient als innerstaatliche Organisationsvorschrift in erster Linie der klaren und praktikablen Bestimmung der Zuständigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten (vgl. hierzu die Erwägungsgründe 3 und 16 der Verordnung). Im Vordergrund steht daher das Interesse, die Zuständigkeit zeitnah festzustellen und den Asylantrag durch einzig den zuständigen Mitgliedstaat prüfen zu lassen, nicht aber, die Prüfung einem ganz bestimmten Mitgliedstaat zuzusprechen, in dem der Antragsteller einen (weiteren) Asylantrag gestellt hat.
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Zum anderen ist die Vorschrift auf den vorliegenden Fall schon nicht anwendbar. Die Beklagte hat kein Aufnahmegesuch nach Art. 17, sondern ein Wiederaufnahmegesuch nach den Art. 16. Abs. 2, Abs. 1 lit. c), 20 Abs. 1 Dublin-II-VO gestellt. Für Wiederaufnahmegesuche sieht die Dublin-II-VO aber keine Frist vor.
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4. Schließlich ist die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens auch nicht deshalb nach Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO auf die Beklagte übergegangen, weil die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten erfolgt ist. Diese Frist beginnt gemäß Art. 20 Abs. 1 lit. d) nämlich erst nach rechtskräftigem Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens zu laufen, sofern diesem aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 29.01.2009 – C 19/08 –, Juris-Rn. 44 ff.; OVG Niedersachen, Urteil vom 04.07.2012 – 2 LB 163/10 – Juris-Rn. 36 m.w.Nw.). Vorliegend hatte der Senat noch vor Ablauf der Frist der Beklagten untersagt, den Kläger nach Italien abzuschieben.
II.
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Es besteht auch kein Anspruch des Klägers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO.
- 37
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die mittlerweile ihren Niederschlag in Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO gefunden hat, kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet sein, von der Rückführung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Das ihm insofern eingeräumte Ermessen ist nämlich Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats und stellt ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar. Bei der Ermessensausübung führt der Mitgliedstaat daher Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Europäischen Grundrechtscharta, aber auch der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 18 der Charta und Art. 78 AEUV). Die Mitgliedstaaten haben bei der Ausübung ihres Ermessens diese Grundsätze daher zu beachten (EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 u. C-493/10, N.S. u.a. - Slg. 2011-0000, Rn. 68 ff.).
- 38
Dabei kann jeder Mitgliedstaat grundsätzlich davon ausgehen, dass alle an dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligten Staaten die Grundrechte einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, beachten und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (sogenanntes Prinzip gegenseitigen Vertrauens beziehungsweise normativer Vergewisserung, vgl. grundlegend BVerfG, Urteil vom 15.05.1996, 2 BvR 1938/93, Juris-Rn. 179 ff.). Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Menschenrechten unvereinbar ist.
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Allerdings berührt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat das in der Dublin-II- bzw. Dublin-III-Verordnung niedergelegte Zuständigkeitssystem. Der Europäische Gerichtshof macht deutlich, dass nicht weniger als der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, auf dem Spiel steht (EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a.a.O., Rn. 83). Das Zuständigkeitssystem ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs deshalb nur dann auszusetzen, wenn einem Mitgliedstaat aufgrund der ihm vorliegenden Informationen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller dort Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a.a.O., Rn. 78 bis Rn. 106).
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Anhaltspunkte dafür, wann eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung anzunehmen ist, lassen sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK entnehmen, der mit Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta übereinstimmt. In seinem Urteil vom 21. Januar 2011 hat der Gerichtshof eine Überstellung nach Griechenland als nicht mit Art. 3 EMRK vereinbar angesehen, da die systematische Unterbringung von Asylbewerbern in Haftzentren ohne Angabe von Gründen eine weit verbreitete Praxis der griechischen Behörden sei. Es gebe auch zahlreiche übereinstimmende Zeugenaussagen zu überfüllten Zellen, Schlägen durch Polizisten und unhygienischen Bedingungen in dem Haftzentrum neben dem internationalen Flughafen von Athen. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer monatelang in extremer Armut gelebt habe und außer Stande gewesen sei, für seine Grundbedürfnisse - Nahrung, Hygieneartikel und eine Unterkunft - aufzukommen. Er sei über Abhilfemöglichkeiten nicht angemessen informiert worden und habe in der ständigen Angst gelebt, angegriffen beziehungsweise überfallen zu werden (Urteil vom 21.01.2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Beschwerde-Nr. 30696/09, Rn. 226 und Rn. 254 ff.).
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Der Senat kommt nach Auswertung der vorliegenden Gutachten, Auskünfte und Berichte und unter Würdigung des Vortrags des Klägers zu dem Ergebnis, dass das italienische Asylsystem nicht an systemischen Mängeln leidet, auf Grund derer dem Antragstellers nach seiner Rückführung eine menschenunwürdige Behandlung droht (ebenso OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14.11.2013 - 4 L 44/13 -, OVG Nds, Beschluss vom 30.01.2014 - 4 LA 167/13 - und vom 02.08.2012 - 4 MC 133/12 -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.10.2013 - OVG 3 S 40.13 - und vom 24.06.2013 - OVG 7 S 58.13 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 21.01.2014 - 3 B 6802/13 -; VG Regensburg, Beschluss vom 18.12.2013 - RN 6 S 13.30720 -; VG Ansbach, Beschluss vom 18.09.2013 - An 2 K 13.30675 -; VG Meiningen, Urteil vom 26.06.2013 - 5 K 20096/13 Me -; VG Lüneburg, Urteil vom 04.06.2013 - 6 A 176/11 - (n.V.); VG Augsburg, Beschluss vom 19.12.2012 - Au 6 E 12.30377 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 07.09.2012 - 6 L 1480/12.A -; VG Osnabrück, Urteil vom 02.04.2012 - 5 A 309/11 - (n.V.) a.A. OVG NRW, Beschluss vom 01.03.2012 - 1 B 234/12.A -; VG Gießen, Urteil vom 25.11.2013 - 1 K 844/11.GI.A -; VG Schwerin, Beschluss vom 13.11.2013 - 3 B 315/13 As -; VG Frankfurt, Urteil vom 09.07.2013 - 7 K 560/11.F.A. -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.05.2013 - 5a L 547/13.A -; VG Köln, Beschluss vom 07.05.2013 - 20 L 613/13.A, soweit veröffentlicht zitiert nach Juris).
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Italien verfügt über ein planvolles und ausdifferenziertes Asylsystem (a). Dieses System leidet zwar an Mängeln (b), nicht aber an systemischen Mängel (c). Das gilt auch für Personen mit Schutzstatus (d).
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(a) Zunächst ist festzuhalten, dass Italien über ein planvolles und ausdifferenziertes Aufnahmesystem für Asylbewerber verfügt, das in zwei Phasen gegliedert ist. Nach Stellung des Asylantrags ist die Unterbringung in Aufnahmezentren für Asylsuchende, den sogenannten CARA (Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo) vorgesehen. Die maximale Aufenthaltsdauer dort soll grundsätzlich 35 Tage betragen. Daneben gibt es noch Aufnahmeeinrichtungen für Migranten, die keine Asylsuchenden sind, die so genannten CDA (Centri di Accoglienza). Diese werden in der Praxis ebenfalls für die Erstaufnahme von Asylsuchenden verwendet. In der zweiten Phase sollen die Antragsteller in einer Einrichtung des Aufnahmesystems SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati) untergebracht werden. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk von Unterkünften, das auf einer Zusammenarbeit zwischen dem Innenministerium, den Gemeinden und verschiedenen NGOs basiert. Die SPRAR-Projekte umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche. Die Aufenthaltsdauer im einem SPRAR beträgt normalerweise 6 Monate und kann bis zu einem Jahr verlängert werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 22 ff.).
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Endet das Asylverfahren mit der Zuerkennung eines Schutzstatus, werden den Schutzsuchenden Aufenthaltsberechtigungen („permessi die soggiorno“) ausgestellt. Danach genießen sie in Italien formal dieselben Rechte wie italienische Staatsangehörige. Sie haben freien Zugang zum Arbeitsmarkt und kostenfreien Zugang zu allen öffentlichen medizinischen Leistungen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Freiburg vom 11.07.2012). In den Erstaufnahmeeinrichtungen werden sie nicht mehr aufgenommen. In Einrichtungen des SPRAR können sie Unterkunft finden, sofern sie die vorgesehene maximale Aufenthaltsdauer noch nicht ausgeschöpft haben und ein Platz frei ist (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 22 und S. 25; borderline-europe e.V., Gutachten zum Beweisbeschluss des VG Braunschweig vom 28.09.2012, S. 50).
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(b) In der Praxis litt - und leidet - das italienische Aufnahmesystem an Mängeln. Die Berichtslage zeigt übereinstimmen, dass es insbesondere auf die sehr hohen Antragszahlen in den Jahren 2008 und 2011 nicht ausreichend vorbereitet war (Bethke & Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien - Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010 -; Schweizer Flüchtlingshilfe/Juss-Buss: Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und „Dublin-Rückkehrern“, Bericht vom Mai 2011; borderline-europe/Judith Gleitze: Zur Lage von Asylsuchenden und „Dublin-Rückkehrern“, Stellungnahme vom Dezember 2012; Auskunft des Auswärtigen Amtes an VG Darmstadt vom 29.11.2011 und an VG Braunschweig vom 09.12.2011). In der Folge verlängerten sich die Verfahrenszeiten deutlich über die vorgesehenen Fristen hinaus. Die zeitliche Lücke zwischen der Stellung des Asylantrags und dessen formeller Registrierung (verbalizzazione) führte zu der Gefahr der Obdachlosigkeit, da in der Praxis Zugang zu den Erstaufnahmeeinrichtungen erst ab dem Zeitpunkt der Registrierung gewährt wurde (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 12). Zudem waren die Aufnahmekapazitäten der staatlicherseits zur Verfügung gestellten Plätze überlastet. Für Personen mit Schutzstatus bedeutete dies, dass sie Schwierigkeiten hatten, im SPRAR-Aufnahmesystem unterzukommen, auch wenn sie die maximale Verweildauer noch nicht ausgeschöpft hatten. Hinzu kam die wirtschaftliche schwierige Lage, in der sich auch Italien nach der Wirtschaftskrise befand und noch befindet. Nach den Informationen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe lebt vor allem in Rom eine ganz erhebliche Zahl von Asylbewerbern und Personen mit Schutzstatus (die Schätzungen sprechen von 1.200 bis 1.700) in Slums oder besetzten Häusern (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, a.a.O., S. 36).
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(c) Diese Mängel begründen aber keine systemischen Mängel im oben dargestellten Sinne. Dabei versteht der Senat unter systemischen Mängeln solche, die entweder bereits im System selbst angelegt sind und von denen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar betroffen sind oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem faktisch in weiten Teilen funktionsunfähig wird. Nach Auswertung der vorliegenden Auskünfte kommt der Senat zu der Überzeugung, dass die systembedingten Missstände von den italienischen Behörden angegangen werden und sich die Situation deshalb verbessert hat und aller Voraussicht nach weiter verbessern wird. Außerdem ist festzustellen, dass die Zustände punktuell, aber nicht flächendeckend unzureichend sind, so dass nicht davon gesprochen werden kann, dass das Asyl- und Aufnahmesystem faktisch außer Kraft gesetzt ist.
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Ein im System angelegter Mangel ist die Tatsache, dass der Zugang zum Erstaufnahmesystem offensichtlich von der Registrierung (verbalizzazione) abhängt und dies bei einer Verzögerung des Verfahrens zur Obdachlosigkeit führen kann. Allerdings hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 eine Weisung herausgegeben, wonach die Registrierung zeitlich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Auch die Überlastung des Aufnahmesystems nimmt Italien nicht tatenlos hin. Auf die hohen Asylbewerberzahlen im Jahr 2011 reagierte das Land zunächst mit einem Notstandskonzept, bei dem unter Führung des Zivilschutzes (Protezione Civile) Aufnahmestrukturen in der Größenordnung von 26.000 Plätzen bereitgestellt wurden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Sachsen-Anhalt vom 21.01.2013; UNHCR an VG Braunschweig, S. 3; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 9). Daneben wurden und werden die Plätze, die im SPRAR-Projekt zur Verfügung stehen, in erheblichem Umfang aufgestockt (siehe zur Bedeutung dieser Plätze für das Aufnahmesystem den Report von Nils Muižnieks, Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, 18.09.2012, Abs. 152). Standen ursprünglich 3.000 Plätze zur Verfügung, waren es Anfang Juni 2013 bereits 4.800 Plätze, wobei hierzu auch bereits vorhandene Unterkunftsplätze gezählt wurden, die um die im SPRAR-System vorgesehen Integrationsleistungen ergänzt wurden. Aufgrund eines im September 2013 erlassenen Dekrets des Innenministeriums soll die Kapazität im Zeitraum 2014 bis 2016 nochmals auf insgesamt 16.000 Plätze erhöht werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22). Außerdem wurde ein neues Informatiksystem „Vestanet“ eingeführt, das ebenfalls zu einer Verbesserung des Verfahrens beitragen soll (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). In seiner Antwort an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 24. April 2012 hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ausdrücklich anerkannt, dass in den letzten Jahren Verbesserungen des Aufnahmesystems stattgefunden haben. Gleiches gilt für die Auskunft des Auswärtige Amtes vom 21. Januar 2013 an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt.
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Der Senat geht außerdem davon aus, dass die aufgezeigten Missstände in bestimmten Städten und Regionen auftreten, die Funktionsfähigkeit des Asyl- und Aufnahmesystems aber nicht insgesamt in Frage stellen. Es liegt in der Natur der Sache, dass Aufklärungsreisen die Problemschwerpunkte in den Blick nehmen (so ausdrücklich der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe mit Schwerpunkt Rom und Mailand, S. 1; in der Sache nicht anders der Bericht von Maria Bethke & Dominik Bender mit Schwerpunkt Rom und Turin; Gutachten von borderline-europe e.V. mit Schwerpunkt Rom und Sizilien). Diese Situationen sind aber nicht ohne Weiteres verallgemeinerbar. So geht der UNHCR, dessen Dokumente bei der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften von besonderer Relevanz sind (vgl. EuGH, Urteil vom 30.05.2013 - C-528/11 - Rn. 44), in seiner Antwort an das Verwaltungsgericht Braunschweig davon aus, dass die CARA, CDA und SPRAR-Projekte in der Lage sind, dem Aufnahmebedarf einer signifikanten Anzahl an Asylsuchenden nachzukommen (UNHCR an VG Braunschweig vom 24. April 2012, S. 3). Anders als im Falle Griechenlands oder jüngst Bulgariens (UNHCR Briefing Notes vom 03.01.2014) hat der UNHCR bislang in keiner seiner Stellungnahmen eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten ausgesprochen, Überstellungen nach Italien nicht mehr vorzunehmen (siehe zuletzt UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, July 2013). Auch die Auskünfte des Auswärtigen Amtes sprechen gegen die Annahme eines systemischen Mangels des italienischen Asylsystems. Sie basieren auf laufenden Gesprächen der Botschaft Rom mit dem italienischen Flüchtlingsrat CIR und UNHCR in Rom, grenzpolizeilicher Verbindungsbeamter der Bundespolizei im italienischen Innenministerium, Präsentationen des italienischen Innenministeriums und des statistischen Landesamtes ISTAT, Kontakten zu nichtstaatlichen karitativen Organisationen sowie Informationen des SPRAR und sind daher geeignet, einen Überblick über die Situation im Land zu geben. Nach der Auskunft an das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt konnten seinerzeit (Januar 2013) alle Asylbewerber und Flüchtlinge in öffentlichen Zentren untergebracht werden. Gegebenenfalls gebe es lokale und regionale Überbelegungen, italienweit seien aber genügen Plätze vorhanden. Insbesondere in Norditalien seien die Kapazitäten nicht ausgeschöpft. Zusätzlich zu den staatlichen/öffentlichen Einrichtungen gebe es kommunale und karitative Einrichtungen, so dass meist ein Unterbringungsplatz in der Nähe gefunden werden könne. Es sei nicht davon auszugehen, dass Personen, die in den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen und staatlichen Unterkünften keinen Platz fänden, regelmäßig oder überwiegend obdachlos auf der Straße oder in Elendsquartieren leben müssten.
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(d) Mit Blick auf den hier vorliegenden Fall ist weiter festzuhalten, dass sich aus der Auskunftslage auch keine systemischen Mängel für Personen ergeben, denen bereits ein Schutzstatus zugesprochen wurde. Die mit der Anerkennung verbundene Erteilung eines Aufenthaltsrechts (permession di soggiorno) bedeutet in der Praxis, dass sich die Personen mit Schutzstatus grundsätzlich selbst um eine Unterkunft und eine Arbeit kümmern müssen. Sie können nicht mehr in CARA unterkommen, da diese nur Asylbewerbern offenstehen. Sie können sich aber für Plätze im SPRAR-System bewerben, sofern sie die maximale Verweildauer noch nicht überschritten haben. Tatsächlich wird eine große Zahl der Plätze im SPRAR-System von Personen mit Schutzstatus belegt. Allerdings bestehen zum Teil lange Wartezeiten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22). Hier dürfte die geplante Ausweitung der SPRAR-Plätze eine deutliche Entlastung bringen. Daneben bieten die Gemeinden Unterkünfte an. Jedenfalls in Rom betrug die durchschnittliche Wartezeit auf einen solchen Platz allerdings drei Monate und in Mailand einen bis drei Monate (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27 und S. 30). Schließlich können sich Personen mit Schutzstatus, die keine Unterkunft finden, an kirchliche Organisationen und Nichtregierungsorganisationen wie die Caritas oder das Consiglio Italiano per i Rifugiati wenden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.01.2013 an das OVG des Landes Sachsen-Anhalt). Verlässliche Zahlen, wie viele Schutzberechtigte von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch machen können und letztlich obdachlos werden, fehlen. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes ist im Regelfall oder gar überwiegend aber nicht davon auszugehen, dass Flüchtlinge in Italien beziehungsweise Rückkehrer nach der Dublin-II-Verordnung dort unter Verhältnissen leben müssen, welche man gemeinhin als „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums (Betteln, Leben auf der Straße etc.)“ bezeichnen könne. Hierbei handle es sich eher um Einzelfälle (Auswärtiges Amtes an OVG Sachsen-Anhalt vom 21.01.2013).
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In Italien gibt es auch für italienische Staatsangehörige kein national garantiertes Recht auf Fürsorgeleistungen zur Lebensunterhaltssicherung vor dem 65. Lebensjahr. Die Zuständigkeit für die Festsetzung von Sozialhilfeleistungen liegt grundsätzlich im Kompetenzbereich der Regionen. In bestimmten Regionen wird die Höhe des Sozialgeldes durch die Kommune festgesetzt. Öffentliche Fürsorgeleistungen weisen daher deutliche Unterschiede je nach regionaler und kommunaler Finanzkraft auf (Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern im vorliegenden Fall; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 48).
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Auch wenn sich die Situation damit deutlich schlechter und unsicherer darstellt als in der Bundesrepublik Deutschland, begründet dies für sich genommen keinen systemischen Mangel. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich festgehalten, dass Art. 3 EMRK die Vertragsparteien nicht verpflichte, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen. Die Norm enthalte auch keine allgemeine Pflicht, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu bieten, um ihnen einen bestimmen Lebensstandard zu bieten. Ausländer, die von einer Ausweisung betroffen seien, gewähre die Konvention grundsätzlich keinen Anspruch mit dem Ziel, im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates zu verbleiben, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren, die vom ausweisenden Staat zur Verfügung gestellt werde. Wenn keine außergewöhnlichen zwingenden humanitären Gründe vorlägen, die gegen eine Ausweisung sprächen, sei allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse des Antragstellers bedeutend geschmälert würden, falls er oder sie ausgewiesen würde, nicht ausreichend, einen Verstoß gegen Art. 3 EMR zu begründen (Beschluss vom 02.04.2013, Mohammed Hussein u.a. gegen Niederlande und Italien, a.a.O. Rn. 70 f.).
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Keine systematischen Mängel bestehen schließlich auch im Hinblick auf den Zugang zum Gesundheitssystem. Personen mit Schutzstatus sind in Fragen der Gesundheitsversorgung den italienischen Staatsbürgern gleichgestellt. Die Anmeldung beim Nationalen Gesundheitsdienst ermöglicht die Ausstellung eines Gesundheitsausweises, der zur Behandlung bei einem praktischen Arzt, Kinderarzt, in Ambulanzen und zur Aufnahme in ein Krankenhaus berechtigt. Hierzu benötigen Schutzberechtigte den Aufenthaltstitel, die Steuernummer sowie eine feste Adresse. Personen ohne festen Wohnsitz können sich zumindest in Rom unter Sammeladressen karitativer Einrichtungen melden, die von den Behörden akzeptiert werden. Eine aktuelle Vereinbarung zwischen der italienischen Zentralregierung und den Regionen garantiert die Not- und Grundversorgung auch von Personen, die sich illegal im Land aufhalten. Die Notambulanz ist für alle Personen in Italien kostenfrei (Auswärtiges Amt an OVG des Landes Sachsen-Anhalt vom 21.01.2013).
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(e) Die Einschätzung, dass das italienische Asylsystem nicht an systemischen Mängeln leidet, wird durch die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt. In seinem Beschluss vom 2. April 2013 hat er die Überstellung der dortigen Beschwerdeführerin, der - wie dem Kläger - in Italien bereits ein Schutzstatus zugesprochen worden war, mit Art. 3 EMRK für vereinbar gehalten. Dabei hat er - neben der konkreten Situation der Antragstellerin - eine Vielzahl von Stellungnahmen sowie Berichten von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen über die generelle Situation in Italien ausgewertet. Er kommt nach ausführlicher Würdigung der festzustellenden Mängel - und keineswegs nur unter Bezug auf den ihm vorgelegten konkreten Sachverhalt - zu dem Schluss, dass die allgemeine Situation und die Lebensbedingungen in Italien für Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Ausländer, die aus Gründen des internationalen Schutzes oder zu humanitären Zwecken eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, kein systemisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Asylbewerber als Mitglieder einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe aufzeigen (Beschluss vom 02.04.2013, Mohammed Hussein u.a. gegen Niederlande und Italien, Rn. 70 ff., in Teilen übersetzt von Wischrath, ZAR 2013, 336, besprochen von Thym in ZAR 2013, 331; siehe auch Hailbronner, AuslR, Dezember 2013, § 34a Rn. 29 f.; ebenso Beschluss vom 18.06.2013, Halimi gegen Österreich und Italien, Rn. 68, in Teilen übersetzt von Wischrath, ZAR 2013, 338). Diese Einschätzung hat er jüngst nochmals ausdrücklich bestätigt (Beschluss vom 10.09.2013 - Nr. 2314/10 -, Hussein Diirshi u.a. gegen Niederlande und Italien, zitiert nach HUDOC).
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(f) Es sind auch keine besonderen Umstände des Einzelfalles ersichtlich, die befürchten ließen, dass gerade dem Kläger in Italien eine mit Art. 4 der Grundrechtecharta nicht vereinbare Behandlung drohen würde. Er leidet insbesondere nicht an außerordentlich schweren oder seltenen Krankheiten, deren Behandlung in Italien nicht möglich erschiene. Nach seiner Schilderung bekam er in Italien in Notfallsituationen zumindest Schmerzmittel verabreicht. Die Probleme bei einer weiterführenden Behandlung resultierten offenbar daraus, dass er mangels festen Wohnsitzes keine Gesundheitskarte beantragt hat. Dem hätte der Kläger nach der Auskunftslage aber zumindest in Rom dadurch abhelfen können, dass er sich bei einer gemeinnützigen Organisation eine fiktive Meldeadresse hätte geben lassen. Aus den Angaben des Klägers lässt sich außerdem schließen, dass er noch keinen Platz im SPRAR-System beansprucht hat. Damit steht ihm nach seiner Rückkehr die Möglichkeit offen, sich für einen solchen Platz zu bewerben. Auf die von dem Kläger zuletzt aufgeworfene Frage, ob die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013 zutrifft, nach der alle im Rahmen der Dublin-Verordnung zurückgeführten Personen von der Questura in eine Unterkunft verteilt werden, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Diese Auskunft dürfte sich auf Personen ohne Schutzstatus bezogen haben, die - wie oben dargestellt - ohnehin einem anderen Aufnahmeregime unterfallen.
III.
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Die Abschiebungsanordnung ist nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies ist der Fall, nachdem Italien seine Zuständigkeit akzeptiert hat und der Abschiebung keine relevanten Hindernisgründe entgegenstehen.
IV.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.
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Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Art nicht vorliegen. Streitentscheidend ist vorliegend die Würdigung der tatsächlichen Umstände in Italien.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 wird aufgehoben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der am 0.00.2010 geborenen Klägerin zu 3). Sie meldeten sich am 13. Januar 2014 bei der zentralen Ausländerbehörde E. als Asylsuchende. Am 17. Januar 2014 nahm die Außenstelle E. des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zur Niederschrift auf. Hierbei gaben die Kläger an, iranische Staatsangehörige christlichen Glaubens zu sein. Am gleichen Tag teilten sie im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens mit: Sie seien am 19. November 2013 mit dem Reisebus in Richtung Istanbul aus dem Iran ausgereist. Nach einem 40-tägigen Aufenthalt in der Türkei seien sie am 31. Dezember 2013 mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Personalpapiere oder andere Dokumente über ihre Person könnten sie nicht vorlegen.
3Ausweislich einer zum Verwaltungsvorgang des Bundesamtes genommenen Auskunft vom 17. Januar 2014 aus dem VIS-Datenbestand war den Klägern zu 1) und 2) am 27. November 2013 durch die französische Botschaft in Teheran jeweils ein Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt erteilt worden, und zwar mit Gültigkeit vom 30. November 2013 bis zum 25. Dezember 2013.
4Am 13. Februar 2014 stellte das Bundesamt bezüglich aller Kläger ein Übernahmeersuchen an die Republik Frankreich. Mit Schreiben vom gleichen Tag unterrichtete das Bundesamt die Kläger über die Einleitung eines Dublin-Verfahrens nach Frankreich und gab ihnen Gelegenheit, sich innerhalb von zwei Wochen zu den Gründen zu äußern, die gegen ihre Überstellung nach Frankreich sprächen. Mit Schreiben vom 28. Februar 2014, beim Bundesamt eingegangen am 4. März 2014, bestellte sich die Prozessbevollmächtigte unter Vorlage schriftlicher Vollmachten für die Kläger und erklärte, die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft würden zurückgenommen, aufrechterhalten würden lediglich die Anträge auf Gewährung subsidiären Schutzes.
5Die Republik Frankreich stimmte mit Schreiben vom 13. März 2014 der Aufnahme der Kläger gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) zu.
6Mit Bescheid vom 25. März 2014 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylverfahren der Kläger eingestellt sind (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Frankreich an (Ziffer 2). Zur Begründung wird ausgeführt, dass in Anbetracht der Rücknahme der Asylanträge gemäß § 32 S. 1, 1. HS AsylVfG festzustellen sei, dass die Asylverfahren eingestellt sind. Die Rücknahme beseitige indes nicht die Regelungswirkung der Dublin-III-VO in Bezug auf den zuständigen Mitgliedstaat. Die Zuständigkeit gelte seit der Asylantragstellung in Deutschland. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die zur Ausübung eines Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO führen könnten, seien nicht ersichtlich. Von einer Prüfung des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sei abzusehen, da eine Überstellung in das Herkunftsland nicht beabsichtigt sei. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft; Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Frankreich als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG.
7Der an die Kläger adressierte Bescheid ist ausweislich eines Aktenvermerks am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post gegeben worden. Mit Schreiben vom 26. März 2014 wurde ferner der Prozessbevollmächtigten der Kläger eine Kopie des Bescheides übersandt.
8Die Kläger haben am 1. April 2014 Klage erhoben und in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Zur Begründung geben sie an, es lägen außergewöhnliche humanitäre Gründe vor, die die Beklagte zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts verpflichteten, jedenfalls aber zu einer ermessensfehlerfreien Entscheidung, die mit dem streitgegenständlichen Bescheid nicht erfolgt sei. Der Kläger zu 1) habe zwei Cousinen, die in Nordrhein-Westfalen lebten. Diese hätten sich seit dem Eintreffen der Kläger in Deutschland um diese gekümmert. Die Kläger seien durch die ihnen widerfahrenen Erlebnisse im Iran traumatisiert und hätten lediglich Halt aufgrund der Anwesenheit der Verwandtschaft in Deutschland gefunden. Sie hätten für ihre Ausreise aus dem Iran die Hilfe eines Schleppers in Anspruch genommen. Dieser habe ihnen unter Vorlage falscher Unterlagen einen Termin bei einer Botschaft verschafft, wo sie lediglich einmal ihre Fingerabdrücke hätten abgeben müssen. Ihnen sei bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal sicher bekannt gewesen, dass die in ihren Pässen angebrachten Visa tatsächlich echt seien. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie von Frankreich aus in den Iran abgeschoben würden. Wegen der hohen Zahl der Asylbewerber sei nicht sichergestellt, dass Frankreich für die Kläger eine zumutbare Wohnung zur Verfügung stellen und somit die Mindeststandards einhalten könne.
9Mit Beschluss vom 7. Mai 2014 hat das Gericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt (22 L 791/14.A).
10Am 7. August 2014 haben die Kläger beantragt, unter Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 nunmehr die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes anzuordnen. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor: Die Kläger zu 1) und 2) befänden sich aufgrund ihres psychischen Zustandes bereits seit einiger Zeit in neurologischer Behandlung. Dennoch sei am 31. Juli 2014 ein unangekündigter Abschiebeversuch unternommen worden. Die Abschiebemaßnahme sei abgebrochen worden, als die Klägerin zu 3) auf der Fahrt zum Flughafen kollabiert sei und sich im Polizeiauto übergeben habe. Durch diese Abschiebemaßnahme habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) derart verschlechtert, dass sie am 2. August 2014 stationär in die Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) eingewiesen worden sei. Zum Beleg haben die Kläger mehrere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt, darunter Bescheinigungen des LVR-Klinikums E1. , Abteilung für allgemeine Psychiatrie II vom 6. August 2014 und vom 22. August 2014, ausweislich derer sich die Klägerin zu 2) seit dem 2. August 2014 aufgrund der Schwere ihrer psychischen Erkrankung mit akuter Suizidalität bis auf weiteres in stationärer Behandlung befinde und aufgrund ihrer instabilen psychopathologischen Verfassung sowie konkreten Suizidgefährdung bis auf weiteres reiseunfähig sei.
11Mit Beschluss vom 15. September 2014 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 – 22 L 791/14. A – angeordnet (22 L 1814/14. A).
12Im Klageverfahren haben die Kläger weitere ärztliche Bescheinigungen zum Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) vorgelegt und schriftsätzlich beantragt, die behandelnden Ärzte Dr. N. und Dr. U. als Zeugen zu vernehmen zum Beweis der aus den ärztlichen Attesten hervorgehenden, eine Reiseunfähigkeit begründenden Krankheiten der Klägerin zu 2). Ferner haben die Kläger beantragt, zum Beweis ebendieser Tatsachen ein Sachverständigengutachten einzuholen. Schließlich verweisen die Kläger darauf, dass die in Art. 29 Dublin-III-VO bestimmte Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich bereits abgelaufen sei.
13Die Kläger beantragen,
14den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 aufzuheben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
15Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
18Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der dazu beigezogenen Gerichtsakten 22 L 791/14.A und 22 L 1814/14.A und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerbehörde des Kreises L. Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten zum Termin der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beteiligten hierauf in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen wurden, § 102 Abs. 1 und 2 VwGO.
21Die Klage ist zulässig (nachfolgend I.) und begründet (nachfolgend II.).
22I. Die Klage ist zulässig.
23Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO statthaft. Die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelungen führt auf die weitere Prüfung der Anträge der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel. Denn mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides in dem angefochtenen Umfang werden die Verwaltungsverfahren in den Verfahrensstand zurückversetzt, in dem sie vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen waren. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 AsylVfG gesetzlich verpflichtet, die Asylverfahren weiterzuführen. Das Bundesamt hat sich in dem vorliegenden Fall lediglich mit der – einer materiellen Prüfung der Asylanträge vorgelagerten – Frage befasst, in welchem Umfang die Asylverfahren eingestellt werden und welcher Staat nach den Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Prüfung der verbleibenden Schutzgesuche zuständig ist. Mit der Aufhebung des Bescheides wird ein Verfahrenshindernis für die inhaltliche Prüfung der Asylbegehren beseitigt und die Asylverfahren sind in dem Stadium, in dem sie zu Unrecht beendet worden sind, durch das Bundesamt weiterzuführen.
24Vgl. zu Entscheidungen nach § 27a AsylVfG: OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, Rdn. 28 ff.; zu Entscheidungen nach §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 –, juris, Rdn. 15 ff.
25Die Kläger sind auch klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Aus ihrem Vorbringen lässt sich herleiten, dass sie – sollte sich der Bescheid in dem angefochtenen Umfang als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt sind. Denn die angefochtenen Regelungen belasten die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylVfG auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt.
26Ob und gegebenenfalls inwieweit dieses Recht durch Unionsrecht, namentlich die Dublin-III-VO, beschränkt wird, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, da eine Rechtsverletzung zumindest möglich erscheint.
27Die Kläger haben die Klage auch fristgerecht im Sinne von § 74 Abs. 1 AsylVfG, nämlich innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheides, erhoben. Die Klagefrist begann mit der wirksamen Bekanntgabe des Bescheides am 29. März 2014. Der Bescheid wurde den Klägern (wie von § 31 Abs. 1 S. 4 AsylVfG vorausgesetzt) persönlich zugestellt, und zwar gemäß § 4 Abs. 1 VwZG durch die Post mittels Einschreiben durch Übergabe oder Einschreiben mit Rückschein. Damit wurde der Bescheid zugleich gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG wirksam bekanntgegeben. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG gilt das Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, es ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Angesichts der Tatsache, dass der Bescheid ausweislich des Verwaltungsvorgangs am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post aufgegeben wurde, gilt er gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, mithin am 29. März 2014 als zugestellt. Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass ihnen der Bescheid nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Die am 29. März 2014 begonnene Klagefrist war bei Klageerhebung am 1. April 2014 noch nicht abgelaufen.
28II. Die Klage ist begründet. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) ist der Bescheid des Bundesamtes vom 25. März 2014 in dem Umfang, in dem er angefochten ist, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Dies gilt sowohl für Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides, soweit darin die Asylverfahren der Kläger auch insoweit eingestellt wurden, als diese die Zuerkennung subsidiären Schutzes begehren (nachfolgend 1.), als auch für Ziffer 2 des Bescheides, mit der die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde (nachfolgend 2.).
291. Die Feststellung der Einstellung der Asylverfahren auch insoweit, als die Kläger die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG begehren, findet ihre Rechtsgrundlage nicht in der hier allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommenden Regelung des § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG. Nach dieser Norm stellt das Bundesamt im Falle der Antragsrücknahme in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier hinsichtlich des Antrages der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG nicht vor. Die Kläger hatten mit anwaltlichem Schreiben vom 28. Februar 2014 ihre ursprünglich auf die Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG sowie auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG insgesamt gerichteten Asylanträge nur teilweise zurückgenommen, nämlich in Bezug auf die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention). Aufrechterhalten haben sie hingegen ihre Anträge auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), § 4 AsylVfG. Durch die rechtswidrige Einstellung ihrer Antragsverfahren auf Zuerkennung subsidiären Schutzes werden die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt gemäß §§ 4, 24, 31 AsylVfG verletzt.
302. Die Abschiebungsanordnung nach Frankreich in Ziffer 2 des Bescheides ist ebenfalls rechtswidrig. Sie lässt sich nicht auf die allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG stützen. Danach ordnet das Bundesamt in den Fällen, in denen der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
31Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob eine Abschiebungsanordnung nach dieser Norm überhaupt ergehen kann, wenn das Bundesamt – wie hier, wenn auch zu Unrecht – die Asylverfahren insgesamt gemäß § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG eingestellt hat. Denn jedenfalls ist Frankreich weder ein sicherer Drittstaat, aus dem die Kläger nach Deutschland eingereist sind (§ 26a AsylVfG) noch ist Frankreich für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig (§ 27a AsylVfG).
32Die Voraussetzungen des § 26a AsylVfG sind
33– unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit dieser Norm im Anwendungsbereich derDublin-III-VO –
34schon deshalb nicht erfüllt, weil die Kläger nach eigenen Angaben aus der Türkei kommend auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist sind und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für einen Aufenthalt in oder eine Durchreise durch Frankreich vorliegen.
35Auch die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG sind nicht erfüllt. Die Republik Frankreich ist nicht auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig.
36Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Dublin-III-VO. Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in Deutschland ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf die im Januar 2014 gestellten Schutzgesuche der Kläger.
37Die Zuständigkeit Frankreichs für die Prüfung der Asylanträge der Kläger dürfte zwar zunächst nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO begründet worden sein. Die Republik Frankreich hat das an sie gerichtete Übernahmeersuchen der Beklagten vom 13. Februar 2014 auch am 13. März 2014 auf dieser Rechtsgrundlage akzeptiert. Die Zuständigkeit ist jedoch mittlerweile auf die Beklagte übergegangen. Dies folgt aus Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO genannten Frist von sechs Monaten, die unter bestimmten Voraussetzungen auf höchstens 18 Monate verlängert werden kann, durchgeführt wird.
38Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Übernahmeersuchens durch die Republik Frankreich am 13. März 2014.
39Die Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich wurde nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom 1. April 2014 (22 L 791/14.A) für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens, hier also bis zum ablehnenden Eilbeschluss vom 7. Mai 2014, unterbrochen oder gehemmt,
40vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014, - 13 A 1347/14.A -, juris, Rdn. 5 ff. m.w.N..
41Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO vor. Die sechsmonatige Frist endete nach alledem mit Ablauf des 13. September 2014.
42Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes ist damit auf die Beklagte übergegangen.
43Die Kläger können sich im vorliegenden Klageverfahren auch auf den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte berufen.
44A.A. VGH BW, Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rdn. 59 (soweit eine Überstellung in den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist); Nds.OVG, Beschluss vom 6. November 2014 – 13 LA 66/14 ‑, juris, Rdn. 9 ff (ohne Einschränkung); HessVGH, Beschluss vom 25. August 2014 – 2 A 976/14.A ‑, juris, Rdn. 15 (obiter dictum); VG Düsseldorf , Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 43; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: 102. Ergänzungslieferung, November 2014, § 27a, Rdn. 234, 196.1 (mit Ausnahmen); Hailbronner, Ausländerrecht, 88. Ergänzungslieferung, Oktober 2014, § 27a AsylVfG, Rdn. 20 ff.; Günther, in: Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 5. Edition, Stand: 1. September 2014, § 27a AsylVfG Rdn. 29 ff.; offen gelassen: OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 ‑ 14 A 1943/11.A ‑, juris, Rdn. 24 (das Vorabentscheidungsverfahren bei EuGH, Rs. C-666/11 endete ohne Sachentscheidung nach Rücknahme des Ersuchens wegen Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache beim OVG NRW); vgl. ferner zum Ablauf der Frist zur Stellung des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens: VGH BW, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris; Rdn. 25, 27 (bei zeitnaher Überstellung); OVG RhPf, Urteil vom 21. Februar 2014 ‑ 10 A 10656/13 ‑, juris, Rdn. 33.
45Die Kläger haben gemäß §§ 24, 31 AsylVfG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Diese darf auf der Rechtsgrundlage der §§ 27a, 34a AsylVfG die weitere Prüfung eines Asylantrages nur dann ablehnen und eine Abschiebungsanordnung in einen anderen Mitgliedstaat erlassen, wenn dieser andere Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Zugleich verletzt der objektiv rechtswidrige Verwaltungsakt das subjektiv-öffentliche Recht der Kläger aus §§ 24, 31 AsylVfG, und zwar unabhängig vom Schutzzweck der Norm, deren Verletzung zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt. Der Individualschutzzweck von Normen ist nur für diejenigen von Bedeutung, die keine materielle Beeinträchtigung ihrer Rechtsstellung durch den angefochtenen Verwaltungsakt dartun können.
46Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., 2014, § 45 Rdn. 126.
47Die Kläger hingegen werden durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in ihrer Rechtstellung aus §§ 24, 31 AsylVfG materiell beeinträchtigt, wenn die Beklagte die Prüfung der Schutzgesuche mit Verweis auf die Zuständigkeit eines anderen Staates ablehnt, obwohl ihre Zuständigkeit nach den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung objektiv begründet ist.
48Dem nach nationalem Recht bestehenden subjektiv-öffentlichen Recht der Kläger auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die nach der Dublin-III-VO objektiv hierfür zuständige Beklagte steht auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht entgegen. Denn es liegt schon keine Kollision des nationalen Rechts mit der gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV vorrangig anzuwendenden Dublin-III-VO vor.
49Die Zuständigkeitsregelungen in der Dublin-III-VO begründen unmittelbare Rechte der betroffenen Ausländer auf Beachtung dieser Regelungen durch alle Behörden der Mitgliedstaaten. Dies folgt schon aus der Rechtsnatur der Dublin-III-VO. Diese gilt (wie alle EU-Verordnungen) gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Verordnungen nicht nur für die Mitgliedstaaten (untereinander) gelten, sondern in den Mitgliedstaaten,
50Ulrich Haltern, Europarecht, Tübingen 2005, S. 284 (Hervorhebung im Original).
51Hierin unterscheidet sich das Unionsrecht gerade von Völkervertragsrecht, mit dem sich lediglich die Vertragsstaaten untereinander binden. Das Unionsrecht ist eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Unionsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen,
52EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 25.
53Die Dublin-III-VO regelt damit schon aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten untereinander, sondern auch unmittelbar die Rechtsstellung jedes einzelnen Normunterworfenen, das heißt auch der Drittstaatsangehörigen, auf die die Dublin-III-VO Anwendung findet.
54Der Dublin-III-VO kann auch nicht entnommen werden, dass in Bezug auf die dort geregelten Zuständigkeitsbestimmungen ausnahmsweise etwas anderes gelten sollte, insbesondere ein Asylbewerber, der für die Prüfung seines Asylantrages an einen anderen Mitgliedstaat verwiesen wird, einen hierin liegenden objektiven Verstoß gegen die Zuständigkeitsbestimmungen der Verordnung nicht oder nur unter bestimmten Umständen rügen kann.
55Dies unter Verweis auf den Zweck der Dublin-II-VO erwägend und im Ergebnis ein subjektiv-öffentliches Recht des Ausländers aus der Ermessensvorschrift des Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO (Selbsteintrittsrecht) verneinend: Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 58.
56Indem der Unionsgesetzgeber die ursprünglich in einem völkerrechtlichen Vertrag (Dubliner Übereinkommen) vereinbarten Zuständigkeitskriterien für die Prüfung eines Schutzgesuchs ausdifferenziert und in einer EU-Verordnung kodifiziert hat, hat er diese Regelungen zugleich mit den aus Art. 288 Abs. 2 AEUV folgenden Rechtswirkungen ausgestattet. Diese Rechtsqualität der Regelungen steht auch nicht in Widerspruch zu ihrem Sinn und Zweck. Der Unionsgesetzgeber hat die Zuständigkeitsbestimmungen erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen,
57EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, C‑394/12 (Abdullahi), Rdn. 53, juris; vgl. auch Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 57.
58Diese Ziele werden am effektivsten durch die zuverlässige und gleichmäßige Befolgung der in der Dublin-III-VO geregelten Zuständigkeitskriterien in allen Mitgliedstaaten erreicht. Das „forum shopping“ wird unterbunden, indem einem einzigen Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung des Schutzgesuches zugeordnet wird; die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des zuständigen Staates wird durch detaillierte Kriterien, die keine Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten vorsehen, erhöht; die Asylverfahren werden insgesamt beschleunigt, indem das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates verbindlich geltenden kurzen Fristen unterworfen wird.
59Die unmittelbare, auch von den Betroffenen durchsetzbare Rechtswirkung der Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin-III-VO ‑ soweit sie einem Mitgliedstaat die Zuständigkeit ohne Ermessensspielraum zuweisen ‑ widerspricht diesen Zielen nicht, sondern fördert ihre Erreichung. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts („effet utile“) findet eine wesentliche Stütze gerade darin, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar geltendes Unionsrecht berufen kann. Mit Hilfe der Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit werden die an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Betroffenen zu Wächtern des Unionsrechtssystems erhoben, die dessen effektive Anwendung in den Mitgliedstaaten sichern,
60Vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 49 m.w.N.
61Zum Zweck der effektiven und gleichen Wirkung des Unionsrechts sollen die Einzelnen, soweit es um den staatlichen Vollzug des Unionsrechts geht, eine dezentrale, die Kommission entlastende Vollzugskontrolle vornehmen können,
62vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 44.
63Andernfalls könnte auch Art. 267 AEUV, der zum Zweck der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten das Verfahren zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen auf Vorlage nationaler Gerichte vorsieht, seine Wirkung nicht entfalten. Art. 267 AEUV setzt voraus, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht berufen kann und damit die Frage der Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung vor dem nationalen Gericht streitentscheidende Bedeutung gewinnt. Der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH bei der Auslegung des Unionsrechts liefe es zuwider, einer unionsrechtlichen Bestimmung in einem Verfahren vor einem nationalen Gericht (ohne vorherige Klärung der Rechtsfrage durch den EuGH) mit Verweis auf mangelnde individualschützende Wirkung eine streitentscheidende Bedeutung von vornherein abzusprechen.
64Aufgrund dieser generellen Bedeutung der unmittelbaren, individualrechtsbegründenden Anwendbarkeit des Unionsrechts für die Sicherstellung seiner Effektivität kommt es für die Frage, ob sich der Einzelne auf Unionsrecht berufen kann, auch nicht darauf an, ob eine Vorschrift des Unionsrechts bezweckt, individuelle Rechte zu schaffen. Entscheidend ist vielmehr, ob die sich aus der Vorschrift ergebende Verpflichtung anderer Rechtssubjekte eindeutig ist, weil sie hinreichend klar und unbedingt formuliert ist.
65Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 46; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 51 m.w.N.
66Dies ist bei Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO der Fall. Die Norm regelt den Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Überstellungsfrist eindeutig, klar und unbedingt, insbesondere sieht sie auch keinen Entscheidungsspielraum einer nationalen Behörde vor.
67Der Annahme, dass sich ein Asylbewerber auf die nach der Dublin-III-Verordnung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung objektiv begründete Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung seines Schutzgesuches berufen kann, steht auch die Rechtsprechung des EuGH,
68Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi), - C-394/12 -, juris,
69sowie des Bundesverwaltungsgerichts,
70Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rdn. 7 und vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6,
71nicht entgegen.
72Diesen Entscheidungen ist keine Aussage zur subjektiv-rechtlichen Dimension von (Überstellungs-)Fristen zu entnehmen,
73vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 13 K 471/14.A -, Rdn. 41, juris mit Hinweis auf VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 - 13 K 1117/14.A -, Rdn. 54 ff., juris.
74Insbesondere lässt sich eine dahingehende Aussage nicht aus dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz entnehmen, dass der betreffende Ausländer in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin-II-VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (Mitgliedstaat der ersten Einreise), der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
75Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi) - C-394/12 -, Rdn. 62, juris,
76Mit diesem Rechtssatz betont der EuGH gerade die Verbindlichkeit der in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriterien, die ihre Grenze erst in der im Einzelfall anzunehmenden tatsächlichen Gefahr der Verletzung eines in der Grundrechtecharta verbürgten Rechts findet. Demgegenüber lässt sich dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz keine Aussage des Inhalts entnehmen, dass sich ein Asylbewerber nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) auf die Beachtung eines in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriteriums berufen kann.
77So liegt der Fall hier. Mit dem von den Klägern geltend gemachten Einwand, dass die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Schutzgesuche wegen Überschreitens der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen ist, wenden sich die Kläger ‑ anders als in dem vom EuGH entschiedenen Fall ‑ gerade nicht gegen die Heranziehung eines in der Dublin-III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriteriums, sondern berufen sich auf dieses.
78Auch das BVerwG geht erkennbar nicht davon aus, dass andere Einwände gegen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat als der Einwand systemischer Mängel unbeachtlich wären. Vielmehr benennt es in dem zuletzt ergangenen Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – konkret die als unbeachtlich einzustufenden Einwände:
79„Aus der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann und es nicht darauf ankommt, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war.“
80BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6, Hervorhebung nicht im Original.
81Dies verdeutlicht, dass die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates der Prüfung vorgelagert ist, ob einer Überstellung dorthin systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen. Auch wird die Beschränkung berücksichtigungsfähiger Einwände auf den Einwand systemischer Mängel nur insoweit ausgesprochen, als der Asylbewerber der Überstellung mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen in diesem Staat entgegentritt.
82Eine Beschränkung der Rechtsstellung des betroffenen Ausländers im Hinblick auf die Geltendmachung objektiver Verstöße gegen die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung lässt sich auch nicht mit der Überlegung belegen oder bekräftigen, dass es dem Asylbewerber unbenommen ist, sich freiwillig bei der ihm genannten Stelle des anderen Mitgliedstaates zu melden und hierdurch selbst das Verfahren zu beschleunigen.
83Zu den Modalitäten einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers siehe Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003, zuletzt geändert durch Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (DVO Dublin III).
84Zwar kann der Asylbewerber damit zu einer Beschleunigung beitragen. Aus einer fehlenden Inanspruchnahme dieses Rechts kann jedoch nicht auf den Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts des Asylbewerbers auf materielle Prüfung seines Schutzgesuches durch die Beklagte geschlossen werden. Insbesondere steht der vom Gebot von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB abgeleitete Grundsatz des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") der Geltendmachung dieses subjektiv-öffentlichen Rechts nicht entgegen.
85So aber VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 45 ff.
86Ein widersprüchliches Verhalten der Kläger liegt
87– ganz abgesehen davon, dass im deutschen Recht die Möglichkeit der Überstellung des betroffenen Asylbewerbers auf eigene Initiative gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. hierzu: VGH BW, Beschluss vom 4. Juli 2014 – A 11 S 1230/14 ‑, juris, Rdn. 4) und die Kläger im vorliegenden Fall (soweit ersichtlich) über dieses ihnen zustehende Initiativrecht auch nicht unterrichtet wurden –
88nicht vor. Die Kläger rügen nicht etwa eine unangemessene Dauer ihrer Verfahren, die sie selbst hätten beschleunigen können. Vielmehr begehren sie die materielle Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Selbst wenn zwischenzeitlich ein anderer Staat für die Durchführung ihrer Asylverfahren zuständig gewesen sein sollte, kann ein widersprüchliches Verhalten der Kläger nicht darin gesehen werden, dass sie an ihrem Begehren der Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte festgehalten haben. Die Kläger haben sich zur Begründung ihres Begehrens nicht auf eine drohende unzumutbare Dauer ihrer Schutzgesuche gestützt, sondern auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die der tatsächlichen Durchführung ihrer Überstellung entgegenstünden.
89Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob ein Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts auf Prüfung des Schutzgesuches durch den Staat, der infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zuständig geworden ist, dann eintreten kann, wenn dieses Recht missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Denn dafür fehlen hier jegliche Anhaltspunkte. Insbesondere haben sich die Kläger weder der ausländerrechtlichen Überwachung entzogen noch Überstellungsmaßnahmen widersetzt. Dass sie unter Vorlage ärztlicher Atteste Rechtsschutz gegen die Abschiebungsanordnung gesucht haben und sich insoweit auf gesundheitliche Überstellungshindernisse berufen, kann nicht als missbräuchliches Verhalten gewertet werden.
90Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
1. Dem Antragsteller wird für das Abänderungsverfahren Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt N. aus C. beigeordnet.
2. Unter Abänderung des Beschlusses des Gerichts vom16. April 2015 – 18a L 355/15.A – wird die aufschiebende Wirkung der Klage 18a K 906/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2015 in Ziffer 2 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
1
Gründe:
21.
3Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Abänderungsverfahren beruht auf § 166 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit §§ 114, 115 der Zivilprozessordnung (ZPO), da die Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
4Der Antragsteller erfüllt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
5Sofern man den Antrag des Antragstellers dahin verstünde, den Beschluss vom 16. April 2015 – 18a L 355/15.A – hinsichtlich der Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe in Ziffer 1 des Beschlusses abzuändern, wäre ein solcher bereits nicht statthaft, da ein Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO ausweislich seines Wortlauts ausschließlich gegen Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 der Vorschrift zulässig ist.
62.
7Der Antrag,
8unter Abänderung des Beschlusses des erkennenden Gerichts vom 16. April 2015 – 18a L 355/15.A – die aufschiebende Wirkung der Klage 18a K 906/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2015 in Ziffer 2 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn anzuordnen,
9hat Erfolg. Der gemäß § 80 Abs. 7 VwGO statthafte Antrag an das Gericht ist zulässig und begründet.
10Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache jederzeit – von Amts wegen oder (wie vorliegend) nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO auf Antrag eines Beteiligten – einen Beschluss nach Abs. 5 der Norm über die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer gegen eine belastende behördliche Maßnahme erhobenen Anfechtungsklage ändern oder aufheben. Das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO trägt dem Umstand Rechnung, dass Veränderungen während des Hauptsacheverfahrens eintreten können, auf die trotz Rechtskraft des Beschlusses zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes reagiert werden muss. Maßgeblich ist eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage. Prüfungsmaßstab ist allein, ob nach der derzeitigen Sach- und Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage wegen veränderter Umstände geboten ist. Soweit ein Beteiligter den Antrag stellt, kann der Antrag nur damit begründet werden, dass sich entscheidungserhebliche Umstände, auf denen die ursprüngliche Entscheidung beruhte, geändert haben oder im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemacht werden konnten (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO). Prozessrechtliche Voraussetzung für die Ausübung der dem Gericht der Hauptsache zustehenden Abänderungsbefugnis ist somit eine Änderung der maßgeblichen Umstände, auf die die frühere Entscheidung gestützt war. Liegt eine solche Änderung nicht vor, ist dem Gericht eine Entscheidung in der Sache verwehrt, weil sie auf eine unzulässige Rechtsmittelentscheidung hinausliefe.
11Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. August 2008– 2 VR 1.08 – (juris Rz. 4 ff.).
12Der Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung EU Nr. 604/2013 – Dublin III-VO –normierten Überstellungsfrist stellt eine in diesem Sinne beachtliche Änderung der Sach- oder Rechtslage dar.
13Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. Juli 2014– 11 B 789/14.A – zur Dublin II-VO.
14Nach Maßgabe dessen liegen veränderte Umstände vor. Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist abgelaufen. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin beginnt die sechsmonatige Überstellungsfrist nicht erst mit der Bekanntgabe des Beschlusses zu laufen, mit dem der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt worden ist. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO bestimmt, dass die Überstellung spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat, erfolgt. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Entscheidung über den Rechtsbehelf die (rechtskräftige) gerichtliche Entscheidung über die Klage gegen die Überstellungsentscheidung im Hauptsacheverfahren ist.
15Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, DVBl 2014, 790 (juris Rz. 53); Beschluss vom 8. September 2014 – 13 A 1347/14.A (juris Rz. 5 ff.); VG Köln, Urteil vom 27. August 2014 – 3 K 411/14.A – (juris Rz. 24 ff.).
16Danach ist, nachdem die ungarische Zustimmung zur Überstellung am 29. Januar 2015 erfolgt war, die sechsmonatige Überstellungsfrist, für deren Verlängerung keine Gründe ersichtlich sind, mit Ablauf des 29. Juli 2015 abgelaufen.
17Der Antragsteller kann sich auch auf den aus dem Ablauf der Überstellungsfrist folgenden Übergang der Zuständigkeit auf die Antragsgegnerin sowie die hieraus in dem gemäß 77 Abs. 1 S. 1 des Asylverfahrensgesetzes – AsylVfG – maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung resultierende Rechtswidrigkeit der in Ziff. 2 des streitgegenständlichen Bescheides getroffenen Abschiebungsanordnung berufen. Aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist hat der Antragsteller gemäß §§ 24, 31 AsylVfG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Antragsgegnerin. Diese darf auf der Rechtsgrundlage der §§ 27a, 34a AsylVfG die weitere Prüfung eines Asylantrages nur dann ablehnen und eine Abschiebungsanordnung in einen anderen Mitgliedstaat erlassen, wenn dieser andere Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Der Antragsteller wird durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in seiner Rechtstellung aus §§ 24, 31 AsylVfG materiell beeinträchtigt, wenn die Antragsgegnerin die Prüfung seines Schutzgesuchs mit Verweis auf die Zuständigkeit eines anderen Staates ablehnt, obwohl dessen Zuständigkeit mit Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO auf sie übergegangen ist.
18Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Mai 2015– 22 K 2179/15.A – (juris Rz. 33 ff.).
19Zwar können sich Asylantragsteller im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung von Bescheiden gemäß §§ 27a, 34a AsylVfG unter Berücksichtigung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts grundsätzlich nicht auf eine fehlerhafte Anwendung des Verfahrens und der Kriterien der Dublin III-VO berufen. Der Europäische Gerichtshof hat nämlich in Bezug auf die frühere Verordnung (EU) Nr. 343/2003 – Dublin II-VO – entschieden, dass der betreffende Ausländer in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (Mitgliedstaat der ersten Einreise), der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
20Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi)– C-394/12 – (juris Rz. 60).
21Dies gilt auch im Rahmen der gemäß §§ 27a, 34a AsylVfG erforderlichen Prüfung, ob ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
22Dem vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Rechtssatz ist jedoch nicht die uneingeschränkte Aussage zu entnehmen, dass die Dublin-Verordnungen keine Vorschriften enthalten, die Asylantragstellern subjektive Rechte verleihen. So führte auch der Generalanwalt in seinem Schlussantrag vom 11. Juli 2013 unter Nennung u.a. der Vorschriften über die Rechte bei Minderjährigkeit und über den Ablauf der Überstellungsfrist aus, dass diese Vorschriften letztlich über die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten im Bereich der durch die Verordnung geregelten Beziehungen hinausgehen und dem Asylbewerber ein spezifisches und eigenes subjektives Recht verleihen.
23Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts zur Rechtssache C-394/12 (Abdullahi), Rz. 46.
24Hinzu kommt, dass die genannte Entscheidung ausdrücklich in Bezug auf die Normen und Kriterien des 3. Kapitels der Dublin II-VO ergangen war,
25vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, a.a.O.(juris Rz. 49),
26die sich jedoch nur zur erstmaligen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates verhalten und nicht die Folgen eines – wie im Falle des Ablaufs der Überstellungsfrist – späteren Zuständigkeitswechsels betreffen.
27Vgl. VG Köln, Urteile vom 27. August 2014– 3 K 411/14.A – (juris Rz. 37 ff.) und vom12. November 2014 – 3 K 7539/14.A – (juris Rz. 42).
28Dementsprechend ist die Überstellungsfrist kein Kriterium des 3. Kapitels der jeweiligen Dublin-Verordnungen, sondern war seinerzeit im 5. Kapitel der Dublin II-VO geregelt. Auch in dem hier maßgeblichen Regelungswerk der Dublin III-VO sind die Überstellungsfrist und der als Folge ihres Ablaufs erfolgende Zuständigkeitsübergang systematisch nicht den im 3. Kapitel geregelten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zugeordnet, sondern Bestandteil des im 6. Kapitel normierten Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahrens.
29Gegen eine Anwendung dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf Fälle des Ablaufs der Überstellungsfrist spricht, dass sie, ebenso wie die wörtlich hierauf Bezug nehmenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts,
30vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 – (juris Rz. 7) und vom 6. Juni – 10 B 35.14 – (juris Rz. 6),
31gerade an die von der Zustimmungserklärung des ersuchten Mitgliedstaates ausgehende, für das zwischenstaatliche Verhältnis verbindliche Wirkung anknüpft. Diese Wirkung ist jedoch nicht unbefristet, sondern wird vielmehr durch Art. 29 Abs. 1 u. 2 Dublin III-VO begrenzt mit der Folge, dass die Zuständigkeit nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht.
32Vgl. VG Minden, Urteil vom 19. März 2015– 10 K 2658/14.A – (juris Rz. 56 ff.).
33In diesem Kontext spricht auch der vom Europäischen Gerichtshof herangezogene Aspekt der Verfahrensbeschleunigung, die im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten liegt,
34vgl. EuGH, a.a.O. (juris Rz. 53),
35im Falle des Ablaufs der Überstellungsfrist nicht gegen, sondern gerade für eine subjektiv-rechtliche Dimension der Vorschrift. Nach dem ursprünglichen Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaates dient die Festlegung von Bestimmungen, die im Falle einer Fristüberschreitung Konsequenzen ermöglichen, unter anderen dem Zweck, sicherzustellen, dass jeder Asylbewerber effektiv Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft hat.
36Vgl. VG Minden, Urteil vom 19. März 2015, a.a.O.(juris Rz. 85 ff.), m.w.N.
37In unmittelbarem Zusammenhang hiermit steht das weitere Ziel des Unionsgesetzgebers, das Problem des „Refugee in orbit“, dessen Asylantrag über längere Zeit in keinem Mitgliedstaat geprüft wird, zu vermeiden.
38Vgl. VG Minden, Urteil vom 19. März 2015, a.a.O.(juris Rz. 89), m.w.N.
39Es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass dieses gerade auch durch die Überstellungsfrist geschützte Recht des Asylbewerbers, dass sein Asylbegehren zumindest in einem der Staaten (innerhalb angemessener Frist) geprüft wird, sowohl nach nationalem Recht als auch nach europarechtlichen Vorschriften zweifellos subjektiv-rechtlich geschützt ist.
40Vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 30. Januar 2015– 2a K 3534/14.A – (juris Rz. 16) und Beschluss vom17. Februar 2015 – 6a L 239/15.A – (juris Rz. 19).
41Nach alledem sind die Voraussetzungen der Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylVfG mit dem Ablauf der Überstellungsfrist entfallen.
423.
43Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
(3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.
(4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen.
(5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist irakischer Assyrer und chaldäisch-katholischer Religionszugehörigkeit. Er verließ den Irak Ende des Jahres 2007 und hielt sich danach vier Monate lang in Griechenland auf. Von dort reiste er auf dem Luftweg mit gefälschten Papieren nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag.
3Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) richtete am 27. Mai 2009 ein Übernahmeersuchen an die griechischen Behörden, das diese nicht beantworteten. Im Februar 2011 übte es das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 aus. Mit Bescheid vom 1. September 2011 lehnte es die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten ab (Ziffer 1), zugleich erkannte es ihm aber die Flüchtlingseigenschaft wegen Gruppenverfolgung als Christ zu. Die Ablehnung des Asylstatus war mit der Einreise aus einem EU-Mitgliedstaat begründet.
4Gegen den Bescheid hat der Kläger Verpflichtungsklage erhoben mit dem Ziel, auch die Anerkennung als Asylberechtigter zu erreichen. Er sei zwar aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a Abs. 1 AsylVfG eingereist, könne sich aber auf die Ausnahmeregelung des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG berufen. In der Kommentarliteratur sei inzwischen herrschende Auffassung, dass im Fall eines Selbsteintritts nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ein Anspruch auf Zuerkennung des Asylstatus bestehe. Inzwischen sei auch in der Rechtsprechung so entschieden worden.
5Der Kläger hat beantragt,
6die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 1. September 2011 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten nach Art. 16a Abs. 1 GG anzuerkennen.
7Die Beklagte hat beantragt,
8die Klage abzuweisen.
9Sie hat sinngemäß die Ansicht vertreten, Art. 16a Abs. 2 GG beschränke den persönlichen Anwendungsbereich des Asylgrundrechts; der einfache Gesetzgeber könne dies nicht rückgängig machen. § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG bewirke bei verfassungskonformer Auslegung lediglich, dass im Fall einer Zuständigkeit nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ein Asylverfahren durchzuführen sei; über die Zuerkennung des rein nationalen Asylrechts nach Art. 16a Abs. 1 GG sei damit noch nichts gesagt. Unabhängig davon komme eine Asylanerkennung nicht in Betracht, weil die Verfolgung des Klägers wegen seiner Religionszugehörigkeit nicht vom Staat, sondern von nichtstaatlichen Akteuren ausgehe und damit zwar unter § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c) AufenthG, aber nicht unter das Asylrecht falle.
10Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch das angefochtene Urteil stattgegeben, indem es die Beklagte verpflichtet hat, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, und zur Begründung ausgeführt: Als aus dem Zentralirak stammender Christ sei der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt. Die Asylgewährung sei trotz Art. 16a Abs. 2 GG nicht gesperrt, da § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG zur Anwendung komme. Dem stehe nicht entgegen, dass Deutschland hier erst sekundär nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständig geworden sei. Verfassungsrechtliche Grundlage hierfür sei Art. 16a Abs. 5 GG, der § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG insgesamt abdecke.
11Mit der zugelassenen Berufung verfolgt die Beklagte ihren Antrag weiter. Sie ist der Ansicht, die Zuständigkeit nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 für die Prüfung des Asylgesuchs umfasse angesichts des „eindeutig entgegenstehenden Wortlauts“ von § 26a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG nicht die Gewährung des nationalen Asylgrundrechts. Außerdem greife die Ausnahmevorschrift des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG im Falle des nachträglichen Zuständigkeitswechsels nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht ein.
12Die Beklagte beantragt,
13das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
14Der Kläger stellt keinen Antrag.
15Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Der Senat konnte über die Berufung ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO).
19Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 1. September 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Dem Kläger droht wegen seiner Religionszugehörigkeit politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG (dazu 1.). Dabei kann wegen der Identität des jeweiligen Bescheidtenors offen bleiben, ob der Kläger trotz der unstreitigen Einreise aus einem Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 GG sogar einen grundrechtlichen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG hat (dazu 2.). Denn ihm steht jedenfalls der vom Verwaltungsgericht zuerkannte Anspruch auf Zuerkennung der Rechtsstellung eines Asylberechtigten aufgrund einfachen Gesetzesrechts aus der Regelung in § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG zu (dazu 3.).
201. Der Kläger ist politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG. Aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils, auf die der Senat Bezug nimmt, drohen ihm aufgrund seiner christlichen Religionszugehörigkeit im Zentralirak Verfolgungsmaßnahmen, die dem irakischen Staat als sog. mittelbare Gruppenverfolgung zuzurechnen sind. Den diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts ist die Beklagte im Berufungsverfahren nicht mehr entgegen getreten. Der Senat, der fortlaufend die aktuellen Erkenntnisse über die weitere Entwicklung im Irak verfolgt, hat keinen Anlass, von dieser Bewertung der Gefährdungslage bezogen auf den nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung abzuweichen.
212. Der Senat lässt offen, ob dem Kläger trotz der Einreise aus Griechenland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, die grundsätzlich die Sperrwirkung des Art. 16a Abs. 2 GG zur Folge hat (dazu a), bereits unmittelbar ein Anspruch auf Zuerkennung der grundrechtlichen Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG zusteht, sei es weil die Sperrwirkung der Drittstaatseinreise nach Art. 16a Abs. 5 GG aufgrund einer unionsrechtlich begründeten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland durchbrochen ist (dazu b), sei es weil systemische Mängel des Asylverfahrens eine Ausnahme von dem Art. 16a Abs. 2 GG zugrunde liegenden Konzept der (verfassungs-)normativen Vergewisserung erfordern (dazu c).
22a) Der Zuerkennung der grundrechtlichen Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG steht hier grundsätzlich Art. 16a Abs. 2 GG entgegen. Danach kann sich auf das Grundrecht auf Asyl nicht berufen, wer u.a. aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften (nach Deutschland) einreist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG).
23Die Vorschrift verweist Schutzsuchende darauf, in denjenigen Staaten Schutz zu suchen, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist und die sie vor ihrer Einreise nach Deutschland erreichen. Sie sind damit aus dem persönlichen Geltungsbereich der grundrechtlichen Gewährleistung ausgenommen und können jedenfalls nicht das Asylrecht nach Art. 16a Abs. 1 GG erhalten. Dieser Ausschluss hängt auch nicht davon ab, ob der Ausländer tatsächlich in den (sicheren) Drittstaat zurückgeführt werden kann oder soll. Er greift also unabhängig von den Möglichkeiten und Varianten einer Rückführung des Betroffenen stets ein, d.h. auch dann, wenn eine solche in seinen Heimatstaat zu prüfen ist.
24BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 157.
25Dieser Ausschluss greift im Fall des Klägers durch, da dieser im Anschluss an einen mehrmonatigen Aufenthalt in Griechenland, das seit dem Jahr 1981 Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union ist, nach Deutschland eingereist ist.
26b) Der Ausschluss aus dem personalen Schutzbereich des Asylgrundrechts auf Grund von Art. 16a Abs. 2 GG steht allerdings unter dem Vorbehalt des Art. 16a Abs. 5 GG. Danach stehen die Regelungen in Art. 16a Abs. 1 bis 4 GG völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muss, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen.
27Eine völkervertragliche Grundlage für die Begründung der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland existiert allerdings derzeit nicht und existierte auch schon zum Zeitpunkt der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nicht mehr. Das Dubliner Übereinkommen vom 15. Juni 1990 über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags, das am 1. September 1997 in Kraft getreten ist, ist mit Wirkung vom 17. März 2003 jedenfalls im Verhältnis von Griechenland und Deutschland außer Kraft getreten. Das gilt unbeschadet des Umstands, dass es keine Beendigungsklausel in dem Dubliner Übereinkommen und auch keinen diesbezüglichen völkerrechtlichen Aufhebungsvertrag gibt. Eine vertragliche Beendigung war hier entbehrlich, weil das Dubliner Übereinkommen durch die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin-II-Verordnung ) ausdrücklich ersetzt wurde (vgl. Art. 24 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Diese gilt in den Mitgliedstaaten unmittelbar und hat nach Art. 23 Abs. 1 GG jedenfalls Anwendungsvorrang. Eine irgendwie geartete ergänzende Reserve-Geltung des Dubliner Übereinkommens kommt danach - jedenfalls zwischen Mitgliedstaaten - gegenwärtig nicht in Betracht.
28Ob Art. 16a Abs. 5 GG eine hinreichende Grundlage dafür bietet, das Asylrecht nach Art. 16a Abs. 1 GG auch bei einer – hier gegebenen (dazu aa) -Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung eines Asylverfahrens auf der Grundlage europäischen Unionsrechts - außerhalb eines völkerrechtlichen Vertrags - zu gewähren, ist in der Rechtsprechung und der Fachliteratur umstritten (dazu bb),
29wie die angegriffene Entscheidung VG Gießen, Urteil vom 26. Mai 2010 – 4 K 199/19.GI.A -, n.v. und wohl auch VG Aachen, Urteil vom 25. Juli 2007 – 8 K 1913/05.A -, juris, sowie VG Düsseldorf, Urteil vom 26. Mai 2011 – 21 K 2034/11.A -, n.v.; Bruns, in: Hofmann/Hoffman, Hk-AuslR, 1. Aufl. 2008, AsylVfG § 27a Rn. 2,
30bedarf hier aber keiner Klärung.
31aa) Eine unionsrechtlich begründete Zuständigkeit Deutschlands für die Behandlung des von dem Kläger gestellten Asylantrags besteht hier allerdings. Sie beruht jedenfalls auf der Regelung in Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003, die auch nach dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 vorliegend anwendbar bleibt (vgl. Art. 49 Satz 3 Verordnung (EG) Nr. 604/2013).
32Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 steht im Zusammenhang mit der schrittweisen Einführung eines gemeinsamen Europäischen Asylsystems und normiert Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Drittstaatsangehöriger in einem Mitgliedstaat gestellt hat. Sie ersetzt für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Regelungen des Dubliner Übereinkommens und bestimmt, dass regelmäßig nur ein einziger Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Die Zuständigkeitsbestimmung (vgl. Art. 3 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003) folgt einer in Kapitel III (Art. 5 ff. ) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 geregelten hierarchischen Abfolge von Kriterien, die im Fall einer illegalen Einreise von dem Grundsatz ausgeht, dass der Mitgliedstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens (primär) zuständig ist, in den der Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend eingereist ist (Art. 10 Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Lässt sich anhand der Kriterien der Verordnung nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, ist nach Art. 13 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Abweichend von der nach der Verordnung gegebenen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates gestattet Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 jedem Mitgliedstaat, die Prüfung eines bei ihm gestellten Asylantrags an sich zu ziehen (sog. Selbsteintritt). Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003).
33Zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach den Kriterien der Dublin-II-Verordnung vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013– C-4/11 –, NVwZ 2014, 129, juris Rn. 36 f.
34Hiervon ausgehend ist Deutschland ungeachtet einer etwaigen Zuständigkeit nach Art. 13 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 jedenfalls seit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 im Februar 2011 auf Grund von Unionsrecht für die Durchführung des von dem Kläger betriebenen Asylverfahrens zuständig.
35bb) Der Wortlaut des Art. 16a Abs. 5 GG, wonach allein völkerrechtliche Verträge das Zurücktreten der übrigen Bestimmungen des Art. 16a GG bewirken, spricht dagegen, dass die Sperrwirkung des Art. 16a Abs. 2 GG auch im Falle einer durch Unionsrecht begründeten Zuständigkeit überwunden wird.
36Art. 16a Abs. 5 GG ist im Jahr 1994 zu einem Zeitpunkt in die Verfassung aufgenommen worden, da es auf der Grundlage des Maastrichter Vertrages keine Gemeinschaftszuständigkeit im Bereich des Asylrechts gab. Vielmehr konnten die Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet im Rahmen der sog. Dritten Säule völkerrechtliche Verträge untereinander schließen. Art. 16a Abs. 5 GG sollte nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers deshalb vor allem die Ratifikation des Schengener Durchführungsübereinkommens und die des bereits als Nachfolgeregelung konzipierten Dubliner Übereinkommens ermöglichen. Gemeinschaftsrechtliche Kompetenzen zu Regelungen auf dem Gebiet des Asylrechts wurden erstmals im Jahr 1999 mit dem Vertrag von Amsterdam geschaffen (Art. 63 EGV); mit dem Vertrag von Lissabon hat die Europäische Union schließlich eine umfassende Kompetenz für rechtliche Regelungen zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems erhalten (Art. 78 AEUV).
37Vgl. BT-Drs. 12/4152, S. 4 sowie im Übrigen Maaßen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 24 (1.3.2015), Art. 16a Rn. 109; Hailbronner, AuslR, B1, Art. 16a Rn. 444 f.
38Anregungen der Bundesregierung im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens, den Art. 16a Abs. 5 GG so zu fassen, dass er auch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften zugelassen hätte, sollen nach einer nicht näher belegten Darstellung in der Fachliteratur am Widerstand der Bundesländer gescheitert sein.
39Vgl. Zimmermann, Das neue Grundrecht auf Asyl, 1994, S. 382 f.; ders., NVwZ 1998, 450, 454; siehe auch Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 209 f.; Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, 1993, S. 20.
40Vor diesem Hintergrund ist Art. 16a Abs. 5 GG nach einer weit verbreiteten Auffassung auf Zuständigkeitsbegründungen kraft unionsrechtlicher Regelungen nicht anzuwenden.
41Vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, (Februar 1999), Art. 16a Abs. 2 bis 5 Rn. 196; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 16a Rn. 58; Maaßen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 24 (1.3.2015), Art. 16a Rn. 106, 109; Kluth, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 16a Rn. 126; Hailbronner, AuslR, B1, Art. 16a Rn. 444a; Möller, in: Hofmann/Hoffmann, Hk-AuslR, 1. Aufl. 2008, GG, Art. 16a Rn. 55; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, GG, Art. 16a Rn. 131; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 27a Rn. 8; Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Edition 6 (1.1.2015), AsylVfG § 27a Rn. 5; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 225.
42Die Funktion der Vorschrift als Grundlage für eine europäische Gesamtregelung des Flüchtlingsschutzes und die Kontinuität der genannten unionsrechtlichen Rechtsakte mit dem Dubliner Übereinkommen sprechen als an Sinn und Zweck der Regelung orientierte Auslegungskriterien hingegen für eine Erstreckung des Anwendungsbereichs des Art. 16a Abs. 5 GG auf die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 bzw. der Verordnung (EG) Nr. 604/2013.
43Vgl. Moll/Pohl, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 399 (416 f.); dies., ZAR 2012, 102, 109; ebenso wohl Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Edition 6 (1.1.2015), AsylVfG § 26a Rn. 31.
44Der verfassungsändernde Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung des Asylrechts im Jahre 1993 eine effektive Lasten- und Zuständigkeitsverteilung zwischen den europäischen Staaten gerade ermöglichen, nicht einschränken. Die Annahme, er hätte für den Fall, dass er die erst später geschaffene Unionskompetenz für den Erlass von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Asylrechts vorhergesehen hätte, gleichwohl den Anwendungsbereich des Art. 16a Abs. 5 GG auf völkerrechtliche Verträge beschränken wollen, dürfte fern liegen.
45Wenn bei der Neuregelung des Art. 16a GG von einer ausdrücklichen Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft abgesehen worden ist, kommt diesem Umstand für die Auslegung des Art. 16a Abs. 5 GG insofern eine begrenzte Bedeutung zu, als der Geltungsvorrang des europäischen Asylrechts auch im Verhältnis zu Art. 16a Abs. 2 GG auf der Ebene des deutschen Verfassungsrechts bereits durch Art. 23 Abs. 1 GG hergestellt wird.
46Die sich im Fall einer Zuständigkeitsbegründung durch Unionsrecht aus Art. 23 Abs. 1 GG ergebenden Wirkungen auf Art. 16a Abs. 2 GG bleiben allerdings hinter denen des Art. 16a Abs. 5 GG zurück. Der sich aus Art. 23 Abs. 1 GG ergebende Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt seinem Charakter als Kollisionsregel gemäß auch in Bezug auf die Drittstaatenregelung in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG eine konkrete Unvereinbarkeit der in Rede stehenden Regelungen voraus. Er reicht deshalb nur so weit, wie das Unionsrecht selbst der Sache nach Geltung beansprucht, und führt in Abhängigkeit hiervon nicht dazu, dass etwa bei einer Zuweisung der Zuständigkeit an Deutschland durch die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 entgegen Art. 16a Abs. 2 GG sofort die gesamte Drittstaatenregelung vollumfänglich verdrängt wird. Eine Verdrängung tritt vielmehr erst dann ein, wenn beide Regelungssysteme unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen.
47Vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010- 2 BvR 2661/06 -, juris Rn. 53; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 227 ff.
48Dies ist insoweit der Fall, als die Ausschlusswirkung des Art. 16a Abs. 2 GG über den Wortlaut hinaus nach der gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Auslegung des Art. 16a GG durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich auch die sonstigen dem Asylrecht verwandten materiellen Rechtspositionen erfasst, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann, namentlich soweit diese Ausformung der Schutzpflichten nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind.
49Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 180, 186.
50Dazu, ob dem Kläger infolge der unionsrechtlich begründeten Zuständigkeit für das Asylverfahren im Sinne des Unionsrechts auch ein Anspruch auf Prüfung des allein im nationalen Recht verankerten Anspruchs auf Asylrecht zusteht, verhält sich das Unionsrecht jedoch nicht. Denn der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist begrenzt auf Asylanträge in einem spezifischen unionsrechtlichen Sinne, nämlich solche, die als Ersuchen um Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu verstehen sind (vgl. Art. 2 Buchstabe c Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Wie auch die übrigen auf der Grundlage von Art. 63 EGV bzw. Art. 78 AEUV erlassenen Rechtsakte bleiben hiervon gleichartige Schutzinstitute asylrechtlicher Art auf der Ebene des nationalen Rechts, die neben dem Unionsrecht stehen, grundsätzlich unberührt.
51Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 1 Rn. 4.
52Demnach verlangt der Anwendungsvorrang der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht, dass der Ausländer (auch) den grundrechtlichen Asylstatus erhält, so dass Art. 16a Abs. 2 GG nicht zurücktritt, soweit er gerade die Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG verhindert.
53Zutreffend Moll/Pohl, in: Emmenegger/Wied-mann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 399 (412); dies., ZAR 2012, 102, 107; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 242, 247.
54c) Der Senat kann auch offen lassen, ob eine Gewährung des grundrechtlichen Asylstatus nach Art. 16a Abs. 1 GG vorliegend unter dem Gesichtspunkt in Betracht kommen kann, dass die Einstufung Griechenlands als sicherer Drittstaat durch Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG zum Zeitpunkt der Einreise des Klägers und auch danach nicht mehr tragfähig war bzw. ist. Denn die Drittstaatenregelung in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG beruht nach der nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Konzept einer normativen Vergewisserung über die Sicherheit im Drittstaat, das jedoch nicht frei von Begrenzungen ist. Dies gilt auch in Bezug auf die verfassungsunmittelbare Erklärung der Mitgliedstaaten der Union zu sicheren Drittstaaten.
55Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 217 ff., m.w.N.
56Angesichts dessen kann bereits zweifelhaft sein, ob diese Einstufung in Bezug auf Griechenland überhaupt einer rechtlichen Prüfung zugänglich ist.
57Verneinend wohl z.B. Hailbronner, AuslR, B1, Art. 16a Rn. 445; in der Tendenz bejahend offenbar z.B. BVerfG (Kammer), Beschluss vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, 1281.
58Unabhängig davon bezieht sich die normative Vergewisserung im Allgemeinen darauf, dass der Drittstaat einem Flüchtling, der sein Gebiet erreicht hat, den nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gebotenen Schutz vor politischer Verfolgung und anderen ihm im Herkunftsstaat drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit oder Freiheit gewährt. Insoweit ist die Sicherheit des Flüchtlings im Drittstaat generell festgestellt.
59BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 - juris Rn. 181, 188.
60Ungeachtet dessen ist dem Ausländer aber dann Schutz zu gewähren, wenn Umstände gegeben sind, die ihrer Eigenart nach nicht im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von der Verfassung oder durch Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind. Insofern sind jedenfalls fünf Fallgruppen zu beachten: eine dem Betroffenen im Drittstaat drohende Todesstrafe; eine Bedrohung durch ein Gewaltverbrechen, das der Drittstaat zu verhindern außerstande ist; eine schlagartige Veränderung der für die Einstufung als sicherer Drittstaat maßgeblichen Verhältnisse dort, wenn die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG noch aussteht; das Ergreifen von Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) gegen den Schutzsuchenden durch den Drittstaat; die Schutzverwehrung im Einzelfall etwa wegen politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat.
61BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 189.
62Soweit man im Übrigen die fünf Fallgruppen nicht als abschließend ansieht,
63vgl. dazu Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 270 ff.; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, (Februar 1999), Art. 16a Abs. 2 bis 5 Rn. 69; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 16a Rn. 36; Moll/Pohl, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 399 (406 f.); dies., ZAR 2012, 102, 104 f.,
64können jedenfalls solche Entwicklungen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union als außerhalb des Konzepts der normativen Vergewisserung stehend angesehen werden, in deren Folge das Existenzminimum der Flüchtlinge nicht gewährleistet ist, weil eine massive Unterversorgung hinsichtlich der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, der Unterbringung und Gesundheitsversorgung vorliegt.
65Moll/Pohl, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 399 (407 ff.); dies., ZAR 2012, 102, 105 f.; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 274 ff.
66Liegen obige Umstände vor, spricht viel dafür, dass der grundrechtliche Asylstatus unabhängig von der Regelung in Art. 16a Abs. 5 GG zuerkannt werden kann, weil dann die Drittstaatenregelung nach Art. 16a Abs. 2 GG von vornherein keine Geltung beansprucht.
67Moll/Pohl, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, S. 399 (403); dies., ZAR 2012, 102, 103 f.; Lübbe-Wolff, DVBl 1996, 825, 831; v. Arnauld, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 16a Rn. 36; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 26a Rn. 7; Masing, in: Dreier, GG, Art. 16a Rn. 79; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, AsylVfG, § 26a Rn. 14; unklar allerdings BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 189.
68Hiervon ausgehend dürften jedenfalls im Zeitpunkt der Einreise des Klägers in Griechenland tatsächlich Umstände vorgeherrscht haben, die den Schluss nicht nur auf ein defizitäres Asylsystem, sondern auch auf eine mangelnde Gewährleistung des Existenzminimums der Schutzsuchenden zulassen.
69Vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413; BVerfG (Kammer), Beschluss vom 8. Dezember 2014– 2 BvR 450/11 -, NVwZ 2015, 361, 363.
703. Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen steht dem Kläger jedenfalls ein durch § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG vermittelter einfachrechtlicher Asylanspruch zu.
71§ 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG lässt eine Asylgewährung zu; die Sperrwirkung des Art. 16a Abs. 2 GG steht dieser Auslegung nicht entgegen (a). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG sind hier erfüllt (b). Der jedenfalls gegebene einfachgesetzliche Asylanspruch macht eine Entscheidung über einen möglicherweise (auch) bestehenden grundgesetzlichen Anspruch auf Asylgewährung entbehrlich (c).
72a) § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet an, dass sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Artikels 16a Abs. 2 Satz 1 GG eingereist ist, nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen kann. Er wird nach Satz 2 der Vorschrift nicht als Asylberechtigter anerkannt. § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG sieht wiederum vor, dass die Regelung nach Satz 1 der Vorschrift nicht gilt, wenn Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages mit dem sicheren Drittstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Als sichere Drittstaaten gelten wiederum u.a. die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (§ 26a Abs. 2 AsylVfG).
73Soweit eine Gewährung der Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG aus den dargestellten verfassungsrechtlichen Gründen ausscheidet, kann den Ausnahmetatbeständen nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ein einfachrechtlicher Anspruch auf Asylanerkennung entnommen werden.
74Ebenso Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, 1993, S. 35; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 243 f.; Hoffmann, in: Hofmann/Hoffmann, Hk-AuslR, 1. Aufl. 2008, AsylVfG, § 26a Rn. 18; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 26a Rn. 109; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, AsylVfG, § 26a Rn. 10; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, AsylVfG,§ 26a Rn. 12; VG Gießen, Urteil vom 26. Mai 2010– 4 K 199/19.GI.A -, n.v.; kritisch dazu Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Edition 6 (1.1.2015), AsylVfG § 26a Rn. 29.
75aa) Der Wortlaut des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG legt nahe, dass die Drittstaatseinreise in den Fällen einer unionsrechtlich begründeten Zuständigkeit auch der Asylgewährung nicht entgegensteht. Die Verwendung des Begriffs „Asylverfahren“ spricht dafür, dass das Asylverfahren im Sinne des Asylverfahrensgesetzes gemeint ist. Nach § 1 AsylVfG findet das Gesetz auf Ausländer Anwendung, die Schutz vor politischer Verfolgung nach Art. 16a GG oder internationalen Schutz nach der sog. Qualifikationsrichtlinie suchen. Dem entspricht auch die Definition des Asylantrags in § 13 AsylVfG.
76bb) Die Regelungen des § 26a AsylVfG stehen in einem unmittelbaren systematischen Zusammenhang zu den Bestimmungen über das Grundrecht auf Asyl nach Art. 16a GG. Dies kommt bereits im Wortlaut des § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zum Ausdruck, der sich ausdrücklich auf Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 GG bezieht und insofern den Gehalt der im Art. 16a Abs. 2 GG enthaltenen sog. Drittstaatenregelung wiederholt.
77Vgl. auch BT-Drs. 12/4450, S. 20: „… in Übereinstimmung mit Artikel 16a Abs. 2 GG …“.
78Insofern hat die Vorschrift keine eigenständige Bedeutung. Durch die Bezugnahme auf das verfassungsrechtliche Asylrecht wird auf einfachrechtlicher Ebene deklaratorisch wiederholt, dass im Fall der Einreise eines Ausländers aus einem sicheren Drittstaat nicht nur der persönliche Geltungsbereich des Asylgrundrechts (einschließlich der Vorwirkungen dieses Rechts) ausgeschlossen ist, sondern darüber hinaus auch die Berufung auf die inhaltlich verwandten Schutzrechte gegen eine Abschiebung einschließlich des diesbezüglichen Schutzes nach der Genfer Flüchtlingskonvention.
79Hailbronner, AuslR, B2, § 26a Rn. 1, 3; Marx, AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 26a Rn. 2.
80cc) Die Gesetzeshistorie führt nicht zu einem klaren Auslegungsergebnis, steht der hier vertretenen Auffassung aber auch nicht entgegen. In seiner ursprünglichen Fassung lehnte sich auch § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG an die Regelung des Art. 16a Abs. 5 GG an, indem der Anwendungsbereich der Ausnahme auf den Fall einer durch einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem sicheren Drittstaat begründeten Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkt war. Dieser normative Befund trägt allerdings nicht ohne weiteres die Annahme, der Gesetzgeber habe mit der als Ausnahmevorschrift zu § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG konstruierten Vorschrift in § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG eine einfachrechtliche Asylberechtigung schaffen wollen. Denn die ursprüngliche Fassung des § 26a Abs. 1 Satz 1 und 3 Nr. 2 AsylVfG zielte, was schon im Wortlaut der Vorschrift zum Ausdruck kommt, auf eine Nachzeichnung dessen, was bereits unmittelbar verfassungsrechtlich gilt. Die seit dem 28. August 2007 geltende Erweiterung auch auf Zuständigkeitsbegründungen kraft Unionsrechts hat der Gesetzgeber in diesen Kontext des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG eingeordnet und nicht etwa, was möglich gewesen wäre, eine eigenständige Ausnahmeregelung lediglich in Bezug auf § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG und das dort ausgesprochene Verbot der Anerkennung als Asylberechtigter gewählt.
81Vgl. Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 244; zu § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG siehe auch Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, AsylVfG, § 26a Rn. 9; Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, 1993, S. 35.
82Eine solche eigenständige Regelung hätte näher bei der Ausgestaltung des Anspruchs auf Familienasyl in § 26 AsylVfG gelegen, der lediglich von der Zuerkennung einer „Asylberechtigung“ spricht.
83Auch den Materialien lässt sich nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG im Jahr 2007 die Schaffung eines eigenständigen einfachgesetzlichen Asylanspruchs beabsichtigt oder auch nur in Erwägung gezogen haben könnte. Er hatte dabei ersichtlich nur eine von ihm als erforderlich angesehene Anpassung an den Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Blick, ohne dass dabei weitere Überlegungen zu deren Auswirkungen auf Art. 16a GG angestellt worden sind.
84Vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 216; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 243.
85Dies hindert jedoch nicht eine Auslegung, die § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG im Fall einer Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Grund von Unionsrecht als einen einfachrechtlichen Asylanspruch versteht. Der Wortlaut schließt eine solche Auslegung jedenfalls nicht aus, weil die in § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in Bezug genommene Drittstaatenregelung grundsätzlich auch einfachrechtliche Ansprüche auf Zuerkennung der Asylberechtigung wie etwa den nach § 26 AsylVfG entfallen lässt.
86BVerwG, Urteil vom 6. Mai 1997 - 9 C 56.96 -, NVwZ-RR 1998, 1190, 1190 f.
87Indem dieser Ausschluss durch § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG für unanwendbar erklärt wird, ist § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG demgemäß so zu verstehen, dass dem Betroffenen jedenfalls die Berufung auf ein einfachgesetzliches Asylrecht gestattet wird. Es ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber den Willen hatte, eine wesentliche Änderung der Rechtsstellung der Betroffenen lediglich als Folge der Überleitung des transnationalen asylrechtlichen Zuständigkeitssystems aus dem Wirkungsbereich des Völkerrechts in den des Unionsrechts zuzulassen.
88dd) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Auslegung bestehen nicht. Der Gesetzgeber ist grundsätzlich berechtigt, grundrechtliche Verbürgungen über die Grenzen des persönlichen oder sachlichen Schutzbereichs hinaus auf einfachrechtlicher Ebene erweiternd zu gewähren. Er hat dies im Bereich des Asylstatus etwa mit dem Institut des Familienasyls (§ 26 Abs. 1 bis 3 AsylVfG) getan, das zur Zuerkennung derselben Rechtsstellung (§ 2 AsylVfG) führt wie die des nach § 16a Abs. 1 GG Asylberechtigten, ohne dass aber in der Person des Familienangehörigen die Voraussetzungen einer politischen Verfolgung vorliegen müssen.
89Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. November 2000- 9 C 10.00 -, Buchholz 402.25 § 26 AsylVfG Nr. 7.
90Dies ist verfassungsrechtlich unbedenklich, auch wenn das Familienasyl weder durch Art. 16a Abs. 1 noch durch Art. 6 Abs. 1 GG geboten wird.
91Vgl. BVerfG (Kammer), Beschluss vom 3. Juni 1991 – 2 BvR 720/91 -, NVwZ 1991, 978.
92Allerdings bedarf wegen Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG jede Erweiterung des Anwendungsbereichs der Ausnahmevorschrift des § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG, die der Rechtsfolge nach den verfassungsrechtlichen Asylausschluss durchbricht, einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.
93Vgl. Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Edition 6 (1.1.2015), AsylVfG § 26a Rn. 29; Bergmann, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, AsylVfG, § 26a Rn. 10.
94Bedenken dagegen, über den in Art. 16a Abs. 5 GG geregelten Vorbehalt hinaus weitere Ausnahmen von der in Art. 16a Abs. 2 GG normierten Ausschlusswirkung durch einfaches Gesetz zu regeln, bestehen aber dann nicht, wenn eine solche Regelung mit dem Zweck des Art. 16a Abs. 2 GG zu vereinbaren ist oder ihm jedenfalls nicht zuwiderläuft. Das ist hier der Fall. Die Ausschlusswirkung des Art. 16a Abs. 2 GG bezweckt, die unkontrollierte Einreise von Flüchtlingen in das Bundesgebiet einzudämmen,
95vgl. BVerwG, Urteile vom 6. Mai 1997– 9 C 56.96 -, BVerwGE 104, 347, juris Rn. 12, und vom 29. Juni 1999 – 9 C 36.98 -, BVerwGE 109, 174, juris Rn. 14,
96und durch eine europäische Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge eine effektive Lastenverteilung unter den europäischen Staaten zu ermöglichen.
97Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 153 und 181.
98Die Erreichung dieser Zwecke wird in den von § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylVfG erfassten Fällen nicht gefährdet, wenn insbesondere solchen Flüchtlingen die Asylberechtigung gewährt wird, die entweder bei Einreise in den sicheren Drittstaat im Besitz eines Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland waren (Nr. 1) oder für deren Asylverfahren (im unionsrechtlichen Sinne) die Bundesrepublik aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft ohnehin zuständig ist (Nr. 2). Die Begründung eines Asylanspruchs neben dem Anspruch auf Gewährung von Flüchtlingsschutz durch Harmonisierung der nationalen Drittstaatenregelung mit der unionsrechtlichen Zuständigkeit trägt dem bei der Neuregelung des Art. 16a Abs. 5 GG im Jahr 1993 vom verfassungsändernden Gesetzgeber verfolgten Ziel, die Grundlage für eine europäische Lösung unter Einschluss des nationalen Asylrechts zu schaffen, sogar eher Rechnung als ein Auseinanderfallen von Asyl- und Flüchtlingsschutz allein aufgrund des Umstands, dass an die Stelle des Dubliner Übereinkommens ein im Wesentlichen inhaltsgleicher unionsrechtlicher Rechtsakt getreten ist, ohne dass der Wortlaut des Art. 16a Abs. 5 GG bislang angepasst worden wäre.
99Soweit die Ausschlusswirkung des Art. 16a Abs. 2 GG auch die sonstigen dem Asylrecht verwandten materiellen Rechtspositionen erfasst, auf die ein Ausländer sich sonst gegen seine Abschiebung stützen kann, muss der einfache Gesetzgeber auch dies berücksichtigen. Diese Ausschlusswirkung greift aber dann nicht ein, wenn eine Rückführung des Ausländers in seinen Heimatstaat oder einen nicht sicheren Drittstaat in Rede steht. Von Verfassungs wegen ist in einem solchen Fall zwar nur die Prüfung der Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG geboten.
100Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996- 2 BvR 1938/93, 2 BvR 22 BvR 2315/93 -, juris Rn. 180, 186.
101Steht aber fest, dass Deutschland aufgrund von Unionsrecht für die sachliche Prüfung eines Schutzbegehrens jedenfalls mit Blick auf die Gewährung internationalen Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG) zuständig ist und deshalb zumindest ein darauf bezogenes Asylverfahren im Inland durchzuführen ist, kann der Gegenstand dieser Prüfung auch um einen einfachrechtlichen Asylanspruch erweitert werden, ohne dass das Unionsrecht entgegensteht.
102b) Dem Kläger steht nach § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG die einfachrechtliche Ausnahme von dem Ausschlussgrund des Art. 16a Abs. 2 GG auch zu.
103Deutschland ist auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft (jetzt: Union) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Wie ausgeführt hat die Beklagte ihre Zuständigkeit jedenfalls durch die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 begründet.
104Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es für die Anwendung des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG unerheblich, ob eine unionsrechtliche Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung eines Asylverfahrens von Anfang an bestanden hat oder diese erst später begründet wurde. Vielmehr ist § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG auch dann anzuwenden, wenn Deutschland nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 bzw. der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 nicht bereits originär zuständig ist.
105So Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 26a Rn. 126; Hoffmann, in: Hofmann/Hoffman, Hk-AuslR, 1. Aufl. 2008, AsylVfG § 26a Rn. 18; in diesem Sinne auch bereits OVG NRW, Urteil vom 30. September 1996 - 25 A 790/96.A -, NVwZ 1997, 1141, 1142 f.
106Nach dem Wortlaut der Vorschrift kommt es lediglich darauf an, dass Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig „ist“, eine entsprechende Zuständigkeit also im Zeitpunkt der Anwendung der Norm, im gerichtlichen Verfahren nach Maßgabe des § 77 Abs. 1 AsylVfG, besteht.
107Der Umstand, dass es für § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und 3 AsylVfG auf den Zeitpunkt der Einreise des Ausländers in den sicheren Drittstaat bzw. den des Grenzübertritts ankommt, ändert hieran nichts, da eine solche Einschränkung in § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG gerade nicht enthalten ist. Abgesehen davon dient sie in Bezug auf § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AsylVfG spezifisch dazu, eine Umgehung der an eine Visaerteilung anknüpfenden Zuständigkeitsregelungen im Schengener bzw. Dubliner Übereinkommen - und nunmehr wohl auch im Unionsrecht - zu verhindern.
108Giesler/Wasser, Das neue Asylrecht, 1993, S. 35.
109Die anderen transnationalen Zuständigkeitsregeln sind hiervon nicht berührt.
110Auch den Gesetzesmaterialien lässt sich nichts anderes entnehmen. Im Gegenteil deutet gerade der Wille des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich der Vorschrift auf Zuständigkeitsbegründungen kraft Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts ausdrücklich mit Blick auf die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 insgesamt zu erweitern, darauf hin, dass zwischen den dort aufgeführten primären und sekundären Zuständigkeitstatbeständen grundsätzliche keine Unterschiede zu machen sind.
111Vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 216; ebenso VG Aachen, Urteil vom 25. Juli 2007– 8 K 1913/05.A -, juris Rn. 52.
112Angesichts dessen bedarf es jedenfalls nach einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts keiner auch unionsrechtlich nicht gebotenen Prüfung mehr, ob nicht möglicherweise im Hinblick auf systemische Mängel des Ersteinreisestaates die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen Mitgliedstaates nach Art. 13 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 der Union gegeben war.
113Vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013– C-4/11 -, NVwZ 2014, 129, juris Rn. 36.
114c) Der durch § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG vermittelte einfachgesetzliche Anspruch ist deckungsgleich mit dem grundrechtlichen Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG; er führt deshalb zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nach § 2 Abs. 1 AsylVfG.
115Wie im Fall des gleichfalls einfachrechtlichen Anspruchs auf Familienasyl (§ 26 Abs. 1 AsylVfG),
116vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 1998
117- 9 C 1.97 -, NVwZ 1998, 1085, 1085 f.,
118bedeutet die im Vergleich zum Grundrecht geringere normative Festigkeit des einfachrechtlichen Asyls nicht, dass damit eine geringere Rechtsstellung verbunden wäre.
119Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 244.
120Auch das Entscheidungsprogramm nach § 31 Abs. 2 AsylVfG unterscheidet sich nicht.
121Die Entscheidung über den grundrechtlichen Asylstatus ist damit nicht vorgreiflich.
122Vgl. Günther, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Edition 6 (1.1.2015), AsylVfG § 26 Rn. 3; Hailbronner, AuslR, B2, § 26 Rn. 15.
123Für die im erstinstanzlichen Verfahren vom Kläger noch schriftsätzlich beantragte Tenorierung mit dem Zusatz „nach Art. 16a GG“ ist vor diesem Hintergrund kein Raum und auch kein Bedarf; überdies hat der Kläger den auf diesen Zusatz verzichtenden Tenor des angefochtenen Urteils auch nicht angegriffen.
124Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
125Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht gegeben sind. Auf die verfassungsrechtlichen Fragen insbesondere zur Auslegung des Art. 16a Abs. 5 GG, die Anlass für die Zulassung der Berufung waren, kommt es letztlich nicht entscheidungserheblich an.
Ist über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 68 zulässig. Die Klage kann nicht vor Ablauf von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, daß über den Widerspruch noch nicht entschieden oder der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aus. Wird dem Widerspruch innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist stattgegeben oder der Verwaltungsakt innerhalb dieser Frist erlassen, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären.
Tenor
Der gegenüber dem Kläger zu 2 ergangene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2014 (Az. 0000000 – 439) wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Der Kläger zu 1 und sein am 00.0.1987 geborener Sohn, der Kläger zu 2, sind iranische Staatsangehörige. Sie meldeten sich am 24. Februar 2014 bei der Außenstelle E. des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) und stellten einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zur Niederschrift. Im Rahmen der Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens erklärte der Kläger zu 2: Sie seien am 5. Februar 2014 mit dem Reisebus in Richtung Istanbul aus dem Iran ausgereist. Nach einem zweitägigen Aufenthalt dort seien sie mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Personalpapiere oder andere Dokumente über ihre Person könnten sie nicht vorlegen.
3Ausweislich einer zum Verwaltungsvorgang des Bundesamtes genommenen Auskunft vom 24. Februar 2014 aus dem VIS-Datenbestand war den Klägern unter den Namen E1. S. H. (Kläger zu 1) I. S. H. (Kläger zu 2) am 21. Januar 2014 durch die französische Botschaft in Teheran ein Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt erteilt worden mit Gültigkeit vom 25. Januar 2014 bis zum 19. Februar 2014.
4Am 13. Mai 2014 stellte das Bundesamt bezüglich beider Kläger ein Übernahmeersuchen an die Republik Frankreich.
5Diese stimmte mit Schreiben vom 4. Juni 2014 der Aufnahme der Kläger gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) zu.
6Mit Bescheiden vom 5. Juni 2014 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Frankreich an (Ziffer 2). Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Asylanträge der Kläger gemäß § 27a AsylVfG unzulässig seien, weil Frankreich nach Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Prüfung der Asylanträge der Kläger zuständig sei, weil die Kläger bei Asylbeantragung im Besitz eines seit weniger als sechs Monaten abgelaufenen französischen Visums gewesen seien. Es seien keine humanitären Gründe ersichtlich, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben.
7Die Kläger haben gegen die am 24. Juni 2014 zugestellten Bescheide am 25. Juni 2014 Klage erhoben. Das Klageverfahren des Klägers zu 2, das zunächst unter dem Aktenzeichen 2 K 4142/14.A geführt wurde, wurde durch Beschluss der Kammer vom 28. August 2014 mit dem vorliegenden Verfahren verbunden. Ein zugleich gestellter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde zunächst durch Beschluss der Kammer vom 2. September 2014 (Az. 22 L 1449/14.A) abgelehnt. Mit weiterem Beschluss vom 14. Januar 2015 hat das Gericht von Amts wegen unter Abänderung des vorgenannten Beschlusses die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen Ziffer 2 der streitgegenständlichen Bescheide angeordnet.
8Nach Mitteilung der Ausländerbehörde der Stadt X. ist der Kläger zu 1 am 21. Januar 2015 in den Iran ausgereist. Die Prozessbevollmächtigten der Kläger und die Beklagte haben den Rechtsstreit insoweit für erledigt erklärt.
9Zur Begründung der Klage macht der Kläger zu 2 geltend, er leide an einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung. Er hat ein Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. N. vom 20. August 2014 vorgelegt, wonach er an einer mittelschweren depressiven Erkrankung leidet.
10Der Kläger zu 2 beantragt,
11den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2014 aufzuheben.
12Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
15Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der dazu beigezogenen Gerichtsakten 22 L 1449/14.A sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerbehörde der Stadt X. Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe:
17Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Parteien gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
18Die Klage des Klägers zu 2 ist zulässig (nachfolgend I.) und begründet (nachfolgend II.).
19I. Die Klage ist zulässig.
20Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO statthaft. Die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelungen führt auf die weitere Prüfung des Asylantrags des Klägers zu 2 durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel. Denn mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides wird das Verwaltungsverfahren in den Verfahrensstand zurückversetzt, in dem es vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen war. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 AsylVfG gesetzlich verpflichtet, das Asylverfahren weiterzuführen. Das Bundesamt hat sich in dem vorliegenden Fall lediglich mit der – einer materiellen Prüfung des Asylantrags vorgelagerten – Frage befasst, welcher Staat nach den Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Prüfung des Antrags zuständig ist. Mit der Aufhebung des Bescheides wird ein Verfahrenshindernis für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens beseitigt und das Asylverfahren ist in dem Stadium, in dem es zu Unrecht beendet worden ist, durch das Bundesamt weiterzuführen.
21Vgl. zu Entscheidungen nach § 27a AsylVfG: OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, Rdn. 28 ff.; zu Entscheidungen nach §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 –, juris, Rdn. 15 ff.
22Der Kläger zu 2 ist auch klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen lässt sich herleiten, dass er – sollte sich der Bescheid in dem angefochtenen Umfang als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylVfG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch das Bundesamt.
23Ob und gegebenenfalls inwieweit dieses Recht durch Unionsrecht, namentlich die Dublin-III-VO, beschränkt wird, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, da eine Rechtsverletzung zumindest möglich erscheint.
24Die Klage wurde auch fristgerecht im Sinne von § 74 Abs. 1 AsylVfG, nämlich innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheides, erhoben.
25II. Die Klage ist begründet. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) ist der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juni 2014 rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 2 in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
261. Die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags des Klägers zu 2 ist rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 27 a AsylVfG sind nicht erfüllt. Frankreich ist nicht aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zu 2 zuständig.
27Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Dublin-III-VO. Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in Deutschland ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf das im Februar 2014 gestellte Schutzgesuch des Klägers zu 2.
28Die Zuständigkeit Frankreichs für die Prüfung dieses Asylantrags dürfte zwar zunächst nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO begründet worden sein. Die Republik Frankreich hat das an sie gerichtete Übernahmeersuchen der Beklagten vom 13. Mai 2014 auch am 4. Juni 2014 auf dieser Rechtsgrundlage akzeptiert. Die Zuständigkeit ist jedoch mittlerweile auf die Beklagte übergegangen. Dies folgt aus Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO genannten Frist von sechs Monaten, die unter bestimmten Voraussetzungen auf höchstens 18 Monate verlängert werden kann, durchgeführt wird.
29Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Übernahmeersuchens durch die Republik Frankreich am 4. Juni 2014.
30Die Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich wurde nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom 25. Juni 2014 (22 L 1449/14.A) für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens, hier also bis zum ablehnenden Eilbeschluss vom 2. September 2014, unterbrochen oder gehemmt,
31vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014, - 13 A 1347/14.A -, juris, Rdn. 5 ff. m.w.N..
32Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO vor. Die sechsmonatige Frist endete nach alledem mit Ablauf des 4. Dezember 2014.
33Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Klägers zu 2 ist damit auf die Beklagte übergegangen.
34Nach Auffassung der Kammer kann sich der Kläger zu 2 auch auf den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte berufen. Hierzu hat die Kammer in ihrem Urteil vom 5. Februar 2015 (22 K 2262/14. A) ausgeführt:
35„Die Kläger können sich im vorliegenden Klageverfahren auch auf den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte berufen.
36A.A. VGH BW, Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rdn. 59 (soweit eine Überstellung in den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist); Nds.OVG, Beschluss vom 6. November 2014 – 13 LA 66/14 ‑, juris, Rdn. 9 ff (ohne Einschränkung); HessVGH, Beschluss vom 25. August 2014 – 2 A 976/14.A ‑, juris, Rdn. 15 (obiter dictum); VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 43; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: 102. Ergänzungslieferung, November 2014, § 27a, Rdn. 234, 196.1 (mit Ausnahmen); Hailbronner, Ausländerrecht, 88. Ergänzungslieferung, Oktober 2014, § 27a AsylVfG, Rdn. 20 ff.; Günther, in: Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 5. Edition, Stand: 1. September 2014, § 27a AsylVfG Rdn. 29 ff.; offen gelassen: OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 ‑ 14 A 1943/11.A ‑, juris, Rdn. 24 (das Vorabentscheidungsverfahren bei EuGH, Rs. C-666/11 endete ohne Sachentscheidung nach Rücknahme des Ersuchens wegen Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache beim OVG NRW); vgl. ferner zum Ablauf der Frist zur Stellung des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens: VGH BW, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris; Rdn. 25, 27 (bei zeitnaher Überstellung); OVG RhPf, Urteil vom 21. Februar 2014 ‑ 10 A 10656/13 ‑, juris, Rdn. 33.
37Die Kläger haben gemäß §§ 24, 31 AsylVfG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Diese darf auf der Rechtsgrundlage der §§ 27a, 34a AsylVfG die weitere Prüfung eines Asylantrages nur dann ablehnen und eine Abschiebungsanordnung in einen anderen Mitgliedstaat erlassen, wenn dieser andere Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Zugleich verletzt der objektiv rechtswidrige Verwaltungsakt das subjektiv-öffentliche Recht der Kläger aus §§ 24, 31 AsylVfG, und zwar unabhängig vom Schutzzweck der Norm, deren Verletzung zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt. Der Individualschutzzweck von Normen ist nur für diejenigen von Bedeutung, die keine materielle Beeinträchtigung ihrer Rechtsstellung durch den angefochtenen Verwaltungsakt dartun können.
38Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., 2014, § 45 Rdn. 126.
39Die Kläger hingegen werden durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in ihrer Rechtstellung aus §§ 24, 31 AsylVfG materiell beeinträchtigt, wenn die Beklagte die Prüfung der Schutzgesuche mit Verweis auf die Zuständigkeit eines anderen Staates ablehnt, obwohl ihre Zuständigkeit nach den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung objektiv begründet ist.
40Dem nach nationalem Recht bestehenden subjektiv-öffentlichen Recht der Kläger auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die nach der Dublin-III-VO objektiv hierfür zuständige Beklagte steht auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht entgegen. Denn es liegt schon keine Kollision des nationalen Rechts mit der gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV vorrangig anzuwendenden Dublin-III-VO vor.
41Die Zuständigkeitsregelungen in der Dublin-III-VO begründen unmittelbare Rechte der betroffenen Ausländer auf Beachtung dieser Regelungen durch alle Behörden der Mitgliedstaaten. Dies folgt schon aus der Rechtsnatur der Dublin-III-VO. Diese gilt (wie alle EU-Verordnungen) gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Verordnungen nicht nur für die Mitgliedstaaten (untereinander) gelten, sondern in den Mitgliedstaaten,
42Ulrich Haltern, Europarecht, Tübingen 2005, S. 284 (Hervorhebung im Original).
43Hierin unterscheidet sich das Unionsrecht gerade von Völkervertragsrecht, mit dem sich lediglich die Vertragsstaaten untereinander binden. Das Unionsrecht ist eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Unionsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen,
44EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 25.
45Die Dublin-III-VO regelt damit schon aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten untereinander, sondern auch unmittelbar die Rechtsstellung jedes einzelnen Normunterworfenen, das heißt auch der Drittstaatsangehörigen, auf die die Dublin-III-VO Anwendung findet.
46Der Dublin-III-VO kann auch nicht entnommen werden, dass in Bezug auf die dort geregelten Zuständigkeitsbestimmungen ausnahmsweise etwas anderes gelten sollte, insbesondere ein Asylbewerber, der für die Prüfung seines Asylantrages an einen anderen Mitgliedstaat verwiesen wird, einen hierin liegenden objektiven Verstoß gegen die Zuständigkeitsbestimmungen der Verordnung nicht oder nur unter bestimmten Umständen rügen kann.
47Dies unter Verweis auf den Zweck der Dublin-II-VO erwägend und im Ergebnis ein subjektiv-öffentliches Recht des Ausländers aus der Ermessensvorschrift des Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO (Selbsteintrittsrecht) verneinend: Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 58.
48Indem der Unionsgesetzgeber die ursprünglich in einem völkerrechtlichen Vertrag (Dubliner Übereinkommen) vereinbarten Zuständigkeitskriterien für die Prüfung eines Schutzgesuchs ausdifferenziert und in einer EU-Verordnung kodifiziert hat, hat er diese Regelungen zugleich mit den aus Art. 288 Abs. 2 AEUV folgenden Rechtswirkungen ausgestattet. Diese Rechtsqualität der Regelungen steht auch nicht in Widerspruch zu ihrem Sinn und Zweck. Der Unionsgesetzgeber hat die Zuständigkeitsbestimmungen erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern,
49dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen,
50EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, C‑394/12 (Abdullahi), Rdn. 53, juris; vgl. auch Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 57.
51Diese Ziele werden am effektivsten durch die zuverlässige und gleichmäßige Befolgung der in der Dublin-III-VO geregelten Zuständigkeitskriterien in allen Mitgliedstaaten erreicht. Das „forum shopping“ wird unterbunden, indem einem einzigen Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung des Schutzgesuches zugeordnet wird; die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des zuständigen Staates wird durch detaillierte Kriterien, die keine Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten vorsehen, erhöht; die Asylverfahren werden insgesamt beschleunigt, indem das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates verbindlich geltenden kurzen Fristen unterworfen wird.
52Die unmittelbare, auch von den Betroffenen durchsetzbare Rechtswirkung der Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin-III-VO ‑ soweit sie einem Mitgliedstaat die Zuständigkeit ohne Ermessensspielraum zuweisen ‑ widerspricht diesen Zielen nicht, sondern fördert ihre Erreichung. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts („effet utile“) findet eine wesentliche Stütze gerade darin, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar geltendes Unionsrecht berufen kann. Mit Hilfe der Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit werden die an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Betroffenen zu Wächtern des Unionsrechtssystems erhoben, die dessen effektive Anwendung in den Mitgliedstaaten sichern,
53Vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 49 m.w.N.
54Zum Zweck der effektiven und gleichen Wirkung des Unionsrechts sollen die Einzelnen, soweit es um den staatlichen Vollzug des Unionsrechts geht, eine dezentrale, die Kommission entlastende Vollzugskontrolle vornehmen können,
55vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 44.
56Andernfalls könnte auch Art. 267 AEUV, der zum Zweck der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten das Verfahren zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen auf Vorlage nationaler Gerichte vorsieht, seine Wirkung nicht entfalten. Art. 267 AEUV setzt voraus, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar anwend-
57bares Unionsrecht berufen kann und damit die Frage der Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung vor dem nationalen Gericht streitentscheidende Bedeutung gewinnt. Der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH bei der Auslegung des Unionsrechts liefe es zuwider, einer unionsrechtlichen Bestimmung in einem Verfahren vor einem nationalen Gericht (ohne vorherige Klärung der Rechtsfrage durch den EuGH) mit Verweis auf mangelnde individualschützende Wirkung eine streitentscheidende Bedeutung von vornherein abzusprechen.
58Aufgrund dieser generellen Bedeutung der unmittelbaren, individualrechtsbegründenden Anwendbarkeit des Unionsrechts für die Sicherstellung seiner Effektivität kommt es für die Frage, ob sich der Einzelne auf Unionsrecht berufen kann, auch nicht darauf an, ob eine Vorschrift des Unionsrechts bezweckt, individuelle Rechte zu schaffen. Entscheidend ist vielmehr, ob die sich aus der Vorschrift ergebende Verpflichtung anderer Rechtssubjekte eindeutig ist, weil sie hinreichend klar und unbedingt formuliert ist.
59Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 46; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 51 m.w.N.
60Dies ist bei Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO der Fall. Die Norm regelt den Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Überstellungsfrist eindeutig, klar und unbedingt, insbesondere sieht sie auch keinen Entscheidungsspielraum einer nationalen Behörde vor.
61Der Annahme, dass sich ein Asylbewerber auf die nach der Dublin-III-Verordnung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung objektiv begründete Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung seines Schutzgesuches berufen kann, steht auch die Rechtsprechung des EuGH,
62Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi), - C-394/12 -, juris,
63sowie des Bundesverwaltungsgerichts,
64Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rdn. 7 und vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6,
65nicht entgegen.
66Diesen Entscheidungen ist keine Aussage zur subjektiv-rechtlichen Dimension von (Überstellungs-)Fristen zu entnehmen,
67vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 13 K 471/14.A -, Rdn. 41, juris mit Hinweis auf VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 - 13 K 1117/14.A -, Rdn. 54 ff., juris.
68Insbesondere lässt sich eine dahingehende Aussage nicht aus dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz entnehmen, dass der betreffende Ausländer in einem Fall, in dem
69ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin-II-VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (Mitgliedstaat der ersten Einreise), der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
70Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi) - C-394/12 -, Rdn. 62, juris,
71Mit diesem Rechtssatz betont der EuGH gerade die Verbindlichkeit der in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriterien, die ihre Grenze erst in der im Einzelfall anzunehmenden tatsächlichen Gefahr der Verletzung eines in der Grundrechtecharta verbürgten Rechts findet. Demgegenüber lässt sich dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz keine Aussage des Inhalts entnehmen, dass sich ein Asylbewerber nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) auf die Beachtung eines in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriteriums berufen kann.
72So liegt der Fall hier. Mit dem von den Klägern geltend gemachten Einwand, dass die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Schutzgesuche wegen Überschreitens der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen ist, wenden sich die Kläger ‑ anders als in dem vom EuGH entschiedenen Fall ‑ gerade nicht gegen die Heranziehung eines in der Dublin-III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriteriums, sondern berufen sich auf dieses.
73Auch das BVerwG geht erkennbar nicht davon aus, dass andere Einwände gegen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat als der Einwand systemischer Mängel unbeachtlich wären. Vielmehr benennt es in dem zuletzt ergangenen Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – konkret die als unbeachtlich einzustufenden Einwände:
74„Aus der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann und es nicht darauf ankommt, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war.“
75BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6, Hervorhebung nicht im Original.
76Dies verdeutlicht, dass die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates der Prüfung vorgelagert ist, ob einer Überstellung dorthin systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen. Auch wird die Beschränkung berücksichtigungsfähiger Einwände auf den Einwand systemischer Mängel nur insoweit ausgesprochen, als der Asylbewerber der Überstellung mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen in diesem Staat entgegentritt.
77Eine Beschränkung der Rechtsstellung des betroffenen Ausländers im Hinblick auf die Geltendmachung objektiver Verstöße gegen die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung lässt sich auch nicht mit der Überlegung belegen oder bekräftigen, dass es dem Asylbewerber unbenommen ist, sich freiwillig bei der ihm genannten Stelle des anderen Mitgliedstaates zu melden und hierdurch selbst das Verfahren zu beschleunigen.
78Zu den Modalitäten einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers siehe Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003, zuletzt geändert durch Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (DVO Dublin III).
79Zwar kann der Asylbewerber damit zu einer Beschleunigung beitragen. Aus einer fehlenden Inanspruchnahme dieses Rechts kann jedoch nicht auf den Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts des Asylbewerbers auf materielle Prüfung seines Schutzgesuches durch die Beklagte geschlossen werden. Insbesondere steht der vom Gebot von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB abgeleitete Grundsatz des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") der Geltendmachung dieses subjektiv-öffentlichen Rechts nicht entgegen.
80So aber VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 45 ff.
81Ein widersprüchliches Verhalten der Kläger liegt
82– ganz abgesehen davon, dass im deutschen Recht die Möglichkeit der Überstellung des betroffenen Asylbewerbers auf eigene Initiative gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. hierzu: VGH BW, Beschluss vom 4. Juli 2014 – A 11 S 1230/14 ‑, juris, Rdn. 4) und die Kläger im vorliegenden Fall (soweit ersichtlich) über dieses ihnen zustehende Initiativrecht auch nicht unterrichtet wurden –
83nicht vor. Die Kläger rügen nicht etwa eine unangemessene Dauer ihrer Verfahren, die sie selbst hätten beschleunigen können. Vielmehr begehren sie die materielle Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Selbst wenn zwischenzeitlich ein anderer Staat für die Durchführung ihrer Asylverfahren zuständig gewesen sein sollte, kann ein widersprüchliches Verhalten der Kläger nicht darin gesehen werden, dass sie an ihrem Begehren der Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte festgehalten haben. Die Kläger haben sich zur Begründung ihres Begehrens nicht auf eine drohende unzumutbare Dauer ihrer Schutzgesuche gestützt, sondern auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die der tatsächlichen Durchführung ihrer Überstellung entgegenstünden.“
84Auch im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob ein Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts auf Prüfung des Schutzgesuches durch den Staat, der infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zuständig geworden ist, dann eintreten kann, wenn dieses Recht missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Denn dafür fehlen hier jegliche Anhaltspunkte. Insbesondere hat sich der Kläger zu 2 weder der ausländerrechtlichen Überwachung entzogen noch Überstellungsmaßnahmen widersetzt.
852. Ist somit nach Auffassung der Kammer der Asylantrag des Klägers zu 2 nicht gemäß § 27 a AsylVfG als unzulässig anzusehen, liegen auch die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG für die in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung nicht vor.
86III. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Klage des Klägers zu 2 auf §§ 154 Abs.1 VwGO. Soweit der Rechtsstreit hinsichtlich des Begehrens des Klägers zu 1 in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, ist gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Dem entspricht es, die Kosten der Beklagten aufzuerlegen, weil die Klage auch insoweit Aussicht auf Erfolg hatte.
87Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
88Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 wird aufgehoben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der am 0.00.2010 geborenen Klägerin zu 3). Sie meldeten sich am 13. Januar 2014 bei der zentralen Ausländerbehörde E. als Asylsuchende. Am 17. Januar 2014 nahm die Außenstelle E. des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zur Niederschrift auf. Hierbei gaben die Kläger an, iranische Staatsangehörige christlichen Glaubens zu sein. Am gleichen Tag teilten sie im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens mit: Sie seien am 19. November 2013 mit dem Reisebus in Richtung Istanbul aus dem Iran ausgereist. Nach einem 40-tägigen Aufenthalt in der Türkei seien sie am 31. Dezember 2013 mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Personalpapiere oder andere Dokumente über ihre Person könnten sie nicht vorlegen.
3Ausweislich einer zum Verwaltungsvorgang des Bundesamtes genommenen Auskunft vom 17. Januar 2014 aus dem VIS-Datenbestand war den Klägern zu 1) und 2) am 27. November 2013 durch die französische Botschaft in Teheran jeweils ein Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt erteilt worden, und zwar mit Gültigkeit vom 30. November 2013 bis zum 25. Dezember 2013.
4Am 13. Februar 2014 stellte das Bundesamt bezüglich aller Kläger ein Übernahmeersuchen an die Republik Frankreich. Mit Schreiben vom gleichen Tag unterrichtete das Bundesamt die Kläger über die Einleitung eines Dublin-Verfahrens nach Frankreich und gab ihnen Gelegenheit, sich innerhalb von zwei Wochen zu den Gründen zu äußern, die gegen ihre Überstellung nach Frankreich sprächen. Mit Schreiben vom 28. Februar 2014, beim Bundesamt eingegangen am 4. März 2014, bestellte sich die Prozessbevollmächtigte unter Vorlage schriftlicher Vollmachten für die Kläger und erklärte, die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft würden zurückgenommen, aufrechterhalten würden lediglich die Anträge auf Gewährung subsidiären Schutzes.
5Die Republik Frankreich stimmte mit Schreiben vom 13. März 2014 der Aufnahme der Kläger gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) zu.
6Mit Bescheid vom 25. März 2014 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylverfahren der Kläger eingestellt sind (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Frankreich an (Ziffer 2). Zur Begründung wird ausgeführt, dass in Anbetracht der Rücknahme der Asylanträge gemäß § 32 S. 1, 1. HS AsylVfG festzustellen sei, dass die Asylverfahren eingestellt sind. Die Rücknahme beseitige indes nicht die Regelungswirkung der Dublin-III-VO in Bezug auf den zuständigen Mitgliedstaat. Die Zuständigkeit gelte seit der Asylantragstellung in Deutschland. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die zur Ausübung eines Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO führen könnten, seien nicht ersichtlich. Von einer Prüfung des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sei abzusehen, da eine Überstellung in das Herkunftsland nicht beabsichtigt sei. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft; Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Frankreich als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG.
7Der an die Kläger adressierte Bescheid ist ausweislich eines Aktenvermerks am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post gegeben worden. Mit Schreiben vom 26. März 2014 wurde ferner der Prozessbevollmächtigten der Kläger eine Kopie des Bescheides übersandt.
8Die Kläger haben am 1. April 2014 Klage erhoben und in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Zur Begründung geben sie an, es lägen außergewöhnliche humanitäre Gründe vor, die die Beklagte zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts verpflichteten, jedenfalls aber zu einer ermessensfehlerfreien Entscheidung, die mit dem streitgegenständlichen Bescheid nicht erfolgt sei. Der Kläger zu 1) habe zwei Cousinen, die in Nordrhein-Westfalen lebten. Diese hätten sich seit dem Eintreffen der Kläger in Deutschland um diese gekümmert. Die Kläger seien durch die ihnen widerfahrenen Erlebnisse im Iran traumatisiert und hätten lediglich Halt aufgrund der Anwesenheit der Verwandtschaft in Deutschland gefunden. Sie hätten für ihre Ausreise aus dem Iran die Hilfe eines Schleppers in Anspruch genommen. Dieser habe ihnen unter Vorlage falscher Unterlagen einen Termin bei einer Botschaft verschafft, wo sie lediglich einmal ihre Fingerabdrücke hätten abgeben müssen. Ihnen sei bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal sicher bekannt gewesen, dass die in ihren Pässen angebrachten Visa tatsächlich echt seien. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie von Frankreich aus in den Iran abgeschoben würden. Wegen der hohen Zahl der Asylbewerber sei nicht sichergestellt, dass Frankreich für die Kläger eine zumutbare Wohnung zur Verfügung stellen und somit die Mindeststandards einhalten könne.
9Mit Beschluss vom 7. Mai 2014 hat das Gericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt (22 L 791/14.A).
10Am 7. August 2014 haben die Kläger beantragt, unter Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 nunmehr die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes anzuordnen. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor: Die Kläger zu 1) und 2) befänden sich aufgrund ihres psychischen Zustandes bereits seit einiger Zeit in neurologischer Behandlung. Dennoch sei am 31. Juli 2014 ein unangekündigter Abschiebeversuch unternommen worden. Die Abschiebemaßnahme sei abgebrochen worden, als die Klägerin zu 3) auf der Fahrt zum Flughafen kollabiert sei und sich im Polizeiauto übergeben habe. Durch diese Abschiebemaßnahme habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) derart verschlechtert, dass sie am 2. August 2014 stationär in die Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) eingewiesen worden sei. Zum Beleg haben die Kläger mehrere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt, darunter Bescheinigungen des LVR-Klinikums E1. , Abteilung für allgemeine Psychiatrie II vom 6. August 2014 und vom 22. August 2014, ausweislich derer sich die Klägerin zu 2) seit dem 2. August 2014 aufgrund der Schwere ihrer psychischen Erkrankung mit akuter Suizidalität bis auf weiteres in stationärer Behandlung befinde und aufgrund ihrer instabilen psychopathologischen Verfassung sowie konkreten Suizidgefährdung bis auf weiteres reiseunfähig sei.
11Mit Beschluss vom 15. September 2014 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 – 22 L 791/14. A – angeordnet (22 L 1814/14. A).
12Im Klageverfahren haben die Kläger weitere ärztliche Bescheinigungen zum Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) vorgelegt und schriftsätzlich beantragt, die behandelnden Ärzte Dr. N. und Dr. U. als Zeugen zu vernehmen zum Beweis der aus den ärztlichen Attesten hervorgehenden, eine Reiseunfähigkeit begründenden Krankheiten der Klägerin zu 2). Ferner haben die Kläger beantragt, zum Beweis ebendieser Tatsachen ein Sachverständigengutachten einzuholen. Schließlich verweisen die Kläger darauf, dass die in Art. 29 Dublin-III-VO bestimmte Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich bereits abgelaufen sei.
13Die Kläger beantragen,
14den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 aufzuheben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
15Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
18Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der dazu beigezogenen Gerichtsakten 22 L 791/14.A und 22 L 1814/14.A und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerbehörde des Kreises L. Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten zum Termin der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beteiligten hierauf in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen wurden, § 102 Abs. 1 und 2 VwGO.
21Die Klage ist zulässig (nachfolgend I.) und begründet (nachfolgend II.).
22I. Die Klage ist zulässig.
23Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO statthaft. Die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelungen führt auf die weitere Prüfung der Anträge der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel. Denn mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides in dem angefochtenen Umfang werden die Verwaltungsverfahren in den Verfahrensstand zurückversetzt, in dem sie vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen waren. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 AsylVfG gesetzlich verpflichtet, die Asylverfahren weiterzuführen. Das Bundesamt hat sich in dem vorliegenden Fall lediglich mit der – einer materiellen Prüfung der Asylanträge vorgelagerten – Frage befasst, in welchem Umfang die Asylverfahren eingestellt werden und welcher Staat nach den Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Prüfung der verbleibenden Schutzgesuche zuständig ist. Mit der Aufhebung des Bescheides wird ein Verfahrenshindernis für die inhaltliche Prüfung der Asylbegehren beseitigt und die Asylverfahren sind in dem Stadium, in dem sie zu Unrecht beendet worden sind, durch das Bundesamt weiterzuführen.
24Vgl. zu Entscheidungen nach § 27a AsylVfG: OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, Rdn. 28 ff.; zu Entscheidungen nach §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 –, juris, Rdn. 15 ff.
25Die Kläger sind auch klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Aus ihrem Vorbringen lässt sich herleiten, dass sie – sollte sich der Bescheid in dem angefochtenen Umfang als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt sind. Denn die angefochtenen Regelungen belasten die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylVfG auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt.
26Ob und gegebenenfalls inwieweit dieses Recht durch Unionsrecht, namentlich die Dublin-III-VO, beschränkt wird, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, da eine Rechtsverletzung zumindest möglich erscheint.
27Die Kläger haben die Klage auch fristgerecht im Sinne von § 74 Abs. 1 AsylVfG, nämlich innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheides, erhoben. Die Klagefrist begann mit der wirksamen Bekanntgabe des Bescheides am 29. März 2014. Der Bescheid wurde den Klägern (wie von § 31 Abs. 1 S. 4 AsylVfG vorausgesetzt) persönlich zugestellt, und zwar gemäß § 4 Abs. 1 VwZG durch die Post mittels Einschreiben durch Übergabe oder Einschreiben mit Rückschein. Damit wurde der Bescheid zugleich gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG wirksam bekanntgegeben. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG gilt das Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, es ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Angesichts der Tatsache, dass der Bescheid ausweislich des Verwaltungsvorgangs am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post aufgegeben wurde, gilt er gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, mithin am 29. März 2014 als zugestellt. Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass ihnen der Bescheid nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Die am 29. März 2014 begonnene Klagefrist war bei Klageerhebung am 1. April 2014 noch nicht abgelaufen.
28II. Die Klage ist begründet. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) ist der Bescheid des Bundesamtes vom 25. März 2014 in dem Umfang, in dem er angefochten ist, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Dies gilt sowohl für Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides, soweit darin die Asylverfahren der Kläger auch insoweit eingestellt wurden, als diese die Zuerkennung subsidiären Schutzes begehren (nachfolgend 1.), als auch für Ziffer 2 des Bescheides, mit der die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde (nachfolgend 2.).
291. Die Feststellung der Einstellung der Asylverfahren auch insoweit, als die Kläger die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG begehren, findet ihre Rechtsgrundlage nicht in der hier allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommenden Regelung des § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG. Nach dieser Norm stellt das Bundesamt im Falle der Antragsrücknahme in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier hinsichtlich des Antrages der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG nicht vor. Die Kläger hatten mit anwaltlichem Schreiben vom 28. Februar 2014 ihre ursprünglich auf die Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG sowie auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG insgesamt gerichteten Asylanträge nur teilweise zurückgenommen, nämlich in Bezug auf die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention). Aufrechterhalten haben sie hingegen ihre Anträge auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), § 4 AsylVfG. Durch die rechtswidrige Einstellung ihrer Antragsverfahren auf Zuerkennung subsidiären Schutzes werden die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt gemäß §§ 4, 24, 31 AsylVfG verletzt.
302. Die Abschiebungsanordnung nach Frankreich in Ziffer 2 des Bescheides ist ebenfalls rechtswidrig. Sie lässt sich nicht auf die allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG stützen. Danach ordnet das Bundesamt in den Fällen, in denen der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
31Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob eine Abschiebungsanordnung nach dieser Norm überhaupt ergehen kann, wenn das Bundesamt – wie hier, wenn auch zu Unrecht – die Asylverfahren insgesamt gemäß § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG eingestellt hat. Denn jedenfalls ist Frankreich weder ein sicherer Drittstaat, aus dem die Kläger nach Deutschland eingereist sind (§ 26a AsylVfG) noch ist Frankreich für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig (§ 27a AsylVfG).
32Die Voraussetzungen des § 26a AsylVfG sind
33– unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit dieser Norm im Anwendungsbereich derDublin-III-VO –
34schon deshalb nicht erfüllt, weil die Kläger nach eigenen Angaben aus der Türkei kommend auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist sind und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für einen Aufenthalt in oder eine Durchreise durch Frankreich vorliegen.
35Auch die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG sind nicht erfüllt. Die Republik Frankreich ist nicht auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig.
36Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Dublin-III-VO. Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in Deutschland ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf die im Januar 2014 gestellten Schutzgesuche der Kläger.
37Die Zuständigkeit Frankreichs für die Prüfung der Asylanträge der Kläger dürfte zwar zunächst nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO begründet worden sein. Die Republik Frankreich hat das an sie gerichtete Übernahmeersuchen der Beklagten vom 13. Februar 2014 auch am 13. März 2014 auf dieser Rechtsgrundlage akzeptiert. Die Zuständigkeit ist jedoch mittlerweile auf die Beklagte übergegangen. Dies folgt aus Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO genannten Frist von sechs Monaten, die unter bestimmten Voraussetzungen auf höchstens 18 Monate verlängert werden kann, durchgeführt wird.
38Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Übernahmeersuchens durch die Republik Frankreich am 13. März 2014.
39Die Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich wurde nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom 1. April 2014 (22 L 791/14.A) für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens, hier also bis zum ablehnenden Eilbeschluss vom 7. Mai 2014, unterbrochen oder gehemmt,
40vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014, - 13 A 1347/14.A -, juris, Rdn. 5 ff. m.w.N..
41Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO vor. Die sechsmonatige Frist endete nach alledem mit Ablauf des 13. September 2014.
42Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes ist damit auf die Beklagte übergegangen.
43Die Kläger können sich im vorliegenden Klageverfahren auch auf den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte berufen.
44A.A. VGH BW, Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rdn. 59 (soweit eine Überstellung in den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist); Nds.OVG, Beschluss vom 6. November 2014 – 13 LA 66/14 ‑, juris, Rdn. 9 ff (ohne Einschränkung); HessVGH, Beschluss vom 25. August 2014 – 2 A 976/14.A ‑, juris, Rdn. 15 (obiter dictum); VG Düsseldorf , Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 43; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: 102. Ergänzungslieferung, November 2014, § 27a, Rdn. 234, 196.1 (mit Ausnahmen); Hailbronner, Ausländerrecht, 88. Ergänzungslieferung, Oktober 2014, § 27a AsylVfG, Rdn. 20 ff.; Günther, in: Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 5. Edition, Stand: 1. September 2014, § 27a AsylVfG Rdn. 29 ff.; offen gelassen: OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 ‑ 14 A 1943/11.A ‑, juris, Rdn. 24 (das Vorabentscheidungsverfahren bei EuGH, Rs. C-666/11 endete ohne Sachentscheidung nach Rücknahme des Ersuchens wegen Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache beim OVG NRW); vgl. ferner zum Ablauf der Frist zur Stellung des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens: VGH BW, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris; Rdn. 25, 27 (bei zeitnaher Überstellung); OVG RhPf, Urteil vom 21. Februar 2014 ‑ 10 A 10656/13 ‑, juris, Rdn. 33.
45Die Kläger haben gemäß §§ 24, 31 AsylVfG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Diese darf auf der Rechtsgrundlage der §§ 27a, 34a AsylVfG die weitere Prüfung eines Asylantrages nur dann ablehnen und eine Abschiebungsanordnung in einen anderen Mitgliedstaat erlassen, wenn dieser andere Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Zugleich verletzt der objektiv rechtswidrige Verwaltungsakt das subjektiv-öffentliche Recht der Kläger aus §§ 24, 31 AsylVfG, und zwar unabhängig vom Schutzzweck der Norm, deren Verletzung zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt. Der Individualschutzzweck von Normen ist nur für diejenigen von Bedeutung, die keine materielle Beeinträchtigung ihrer Rechtsstellung durch den angefochtenen Verwaltungsakt dartun können.
46Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., 2014, § 45 Rdn. 126.
47Die Kläger hingegen werden durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in ihrer Rechtstellung aus §§ 24, 31 AsylVfG materiell beeinträchtigt, wenn die Beklagte die Prüfung der Schutzgesuche mit Verweis auf die Zuständigkeit eines anderen Staates ablehnt, obwohl ihre Zuständigkeit nach den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung objektiv begründet ist.
48Dem nach nationalem Recht bestehenden subjektiv-öffentlichen Recht der Kläger auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die nach der Dublin-III-VO objektiv hierfür zuständige Beklagte steht auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht entgegen. Denn es liegt schon keine Kollision des nationalen Rechts mit der gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV vorrangig anzuwendenden Dublin-III-VO vor.
49Die Zuständigkeitsregelungen in der Dublin-III-VO begründen unmittelbare Rechte der betroffenen Ausländer auf Beachtung dieser Regelungen durch alle Behörden der Mitgliedstaaten. Dies folgt schon aus der Rechtsnatur der Dublin-III-VO. Diese gilt (wie alle EU-Verordnungen) gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Verordnungen nicht nur für die Mitgliedstaaten (untereinander) gelten, sondern in den Mitgliedstaaten,
50Ulrich Haltern, Europarecht, Tübingen 2005, S. 284 (Hervorhebung im Original).
51Hierin unterscheidet sich das Unionsrecht gerade von Völkervertragsrecht, mit dem sich lediglich die Vertragsstaaten untereinander binden. Das Unionsrecht ist eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Unionsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen,
52EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 25.
53Die Dublin-III-VO regelt damit schon aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten untereinander, sondern auch unmittelbar die Rechtsstellung jedes einzelnen Normunterworfenen, das heißt auch der Drittstaatsangehörigen, auf die die Dublin-III-VO Anwendung findet.
54Der Dublin-III-VO kann auch nicht entnommen werden, dass in Bezug auf die dort geregelten Zuständigkeitsbestimmungen ausnahmsweise etwas anderes gelten sollte, insbesondere ein Asylbewerber, der für die Prüfung seines Asylantrages an einen anderen Mitgliedstaat verwiesen wird, einen hierin liegenden objektiven Verstoß gegen die Zuständigkeitsbestimmungen der Verordnung nicht oder nur unter bestimmten Umständen rügen kann.
55Dies unter Verweis auf den Zweck der Dublin-II-VO erwägend und im Ergebnis ein subjektiv-öffentliches Recht des Ausländers aus der Ermessensvorschrift des Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO (Selbsteintrittsrecht) verneinend: Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 58.
56Indem der Unionsgesetzgeber die ursprünglich in einem völkerrechtlichen Vertrag (Dubliner Übereinkommen) vereinbarten Zuständigkeitskriterien für die Prüfung eines Schutzgesuchs ausdifferenziert und in einer EU-Verordnung kodifiziert hat, hat er diese Regelungen zugleich mit den aus Art. 288 Abs. 2 AEUV folgenden Rechtswirkungen ausgestattet. Diese Rechtsqualität der Regelungen steht auch nicht in Widerspruch zu ihrem Sinn und Zweck. Der Unionsgesetzgeber hat die Zuständigkeitsbestimmungen erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen,
57EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, C‑394/12 (Abdullahi), Rdn. 53, juris; vgl. auch Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 57.
58Diese Ziele werden am effektivsten durch die zuverlässige und gleichmäßige Befolgung der in der Dublin-III-VO geregelten Zuständigkeitskriterien in allen Mitgliedstaaten erreicht. Das „forum shopping“ wird unterbunden, indem einem einzigen Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung des Schutzgesuches zugeordnet wird; die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des zuständigen Staates wird durch detaillierte Kriterien, die keine Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten vorsehen, erhöht; die Asylverfahren werden insgesamt beschleunigt, indem das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates verbindlich geltenden kurzen Fristen unterworfen wird.
59Die unmittelbare, auch von den Betroffenen durchsetzbare Rechtswirkung der Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin-III-VO ‑ soweit sie einem Mitgliedstaat die Zuständigkeit ohne Ermessensspielraum zuweisen ‑ widerspricht diesen Zielen nicht, sondern fördert ihre Erreichung. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts („effet utile“) findet eine wesentliche Stütze gerade darin, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar geltendes Unionsrecht berufen kann. Mit Hilfe der Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit werden die an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Betroffenen zu Wächtern des Unionsrechtssystems erhoben, die dessen effektive Anwendung in den Mitgliedstaaten sichern,
60Vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 49 m.w.N.
61Zum Zweck der effektiven und gleichen Wirkung des Unionsrechts sollen die Einzelnen, soweit es um den staatlichen Vollzug des Unionsrechts geht, eine dezentrale, die Kommission entlastende Vollzugskontrolle vornehmen können,
62vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 44.
63Andernfalls könnte auch Art. 267 AEUV, der zum Zweck der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten das Verfahren zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen auf Vorlage nationaler Gerichte vorsieht, seine Wirkung nicht entfalten. Art. 267 AEUV setzt voraus, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht berufen kann und damit die Frage der Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung vor dem nationalen Gericht streitentscheidende Bedeutung gewinnt. Der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH bei der Auslegung des Unionsrechts liefe es zuwider, einer unionsrechtlichen Bestimmung in einem Verfahren vor einem nationalen Gericht (ohne vorherige Klärung der Rechtsfrage durch den EuGH) mit Verweis auf mangelnde individualschützende Wirkung eine streitentscheidende Bedeutung von vornherein abzusprechen.
64Aufgrund dieser generellen Bedeutung der unmittelbaren, individualrechtsbegründenden Anwendbarkeit des Unionsrechts für die Sicherstellung seiner Effektivität kommt es für die Frage, ob sich der Einzelne auf Unionsrecht berufen kann, auch nicht darauf an, ob eine Vorschrift des Unionsrechts bezweckt, individuelle Rechte zu schaffen. Entscheidend ist vielmehr, ob die sich aus der Vorschrift ergebende Verpflichtung anderer Rechtssubjekte eindeutig ist, weil sie hinreichend klar und unbedingt formuliert ist.
65Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 46; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 51 m.w.N.
66Dies ist bei Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO der Fall. Die Norm regelt den Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Überstellungsfrist eindeutig, klar und unbedingt, insbesondere sieht sie auch keinen Entscheidungsspielraum einer nationalen Behörde vor.
67Der Annahme, dass sich ein Asylbewerber auf die nach der Dublin-III-Verordnung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung objektiv begründete Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung seines Schutzgesuches berufen kann, steht auch die Rechtsprechung des EuGH,
68Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi), - C-394/12 -, juris,
69sowie des Bundesverwaltungsgerichts,
70Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rdn. 7 und vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6,
71nicht entgegen.
72Diesen Entscheidungen ist keine Aussage zur subjektiv-rechtlichen Dimension von (Überstellungs-)Fristen zu entnehmen,
73vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 13 K 471/14.A -, Rdn. 41, juris mit Hinweis auf VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 - 13 K 1117/14.A -, Rdn. 54 ff., juris.
74Insbesondere lässt sich eine dahingehende Aussage nicht aus dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz entnehmen, dass der betreffende Ausländer in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin-II-VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (Mitgliedstaat der ersten Einreise), der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
75Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi) - C-394/12 -, Rdn. 62, juris,
76Mit diesem Rechtssatz betont der EuGH gerade die Verbindlichkeit der in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriterien, die ihre Grenze erst in der im Einzelfall anzunehmenden tatsächlichen Gefahr der Verletzung eines in der Grundrechtecharta verbürgten Rechts findet. Demgegenüber lässt sich dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz keine Aussage des Inhalts entnehmen, dass sich ein Asylbewerber nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) auf die Beachtung eines in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriteriums berufen kann.
77So liegt der Fall hier. Mit dem von den Klägern geltend gemachten Einwand, dass die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Schutzgesuche wegen Überschreitens der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen ist, wenden sich die Kläger ‑ anders als in dem vom EuGH entschiedenen Fall ‑ gerade nicht gegen die Heranziehung eines in der Dublin-III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriteriums, sondern berufen sich auf dieses.
78Auch das BVerwG geht erkennbar nicht davon aus, dass andere Einwände gegen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat als der Einwand systemischer Mängel unbeachtlich wären. Vielmehr benennt es in dem zuletzt ergangenen Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – konkret die als unbeachtlich einzustufenden Einwände:
79„Aus der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann und es nicht darauf ankommt, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war.“
80BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6, Hervorhebung nicht im Original.
81Dies verdeutlicht, dass die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates der Prüfung vorgelagert ist, ob einer Überstellung dorthin systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen. Auch wird die Beschränkung berücksichtigungsfähiger Einwände auf den Einwand systemischer Mängel nur insoweit ausgesprochen, als der Asylbewerber der Überstellung mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen in diesem Staat entgegentritt.
82Eine Beschränkung der Rechtsstellung des betroffenen Ausländers im Hinblick auf die Geltendmachung objektiver Verstöße gegen die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung lässt sich auch nicht mit der Überlegung belegen oder bekräftigen, dass es dem Asylbewerber unbenommen ist, sich freiwillig bei der ihm genannten Stelle des anderen Mitgliedstaates zu melden und hierdurch selbst das Verfahren zu beschleunigen.
83Zu den Modalitäten einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers siehe Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003, zuletzt geändert durch Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (DVO Dublin III).
84Zwar kann der Asylbewerber damit zu einer Beschleunigung beitragen. Aus einer fehlenden Inanspruchnahme dieses Rechts kann jedoch nicht auf den Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts des Asylbewerbers auf materielle Prüfung seines Schutzgesuches durch die Beklagte geschlossen werden. Insbesondere steht der vom Gebot von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB abgeleitete Grundsatz des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") der Geltendmachung dieses subjektiv-öffentlichen Rechts nicht entgegen.
85So aber VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 45 ff.
86Ein widersprüchliches Verhalten der Kläger liegt
87– ganz abgesehen davon, dass im deutschen Recht die Möglichkeit der Überstellung des betroffenen Asylbewerbers auf eigene Initiative gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. hierzu: VGH BW, Beschluss vom 4. Juli 2014 – A 11 S 1230/14 ‑, juris, Rdn. 4) und die Kläger im vorliegenden Fall (soweit ersichtlich) über dieses ihnen zustehende Initiativrecht auch nicht unterrichtet wurden –
88nicht vor. Die Kläger rügen nicht etwa eine unangemessene Dauer ihrer Verfahren, die sie selbst hätten beschleunigen können. Vielmehr begehren sie die materielle Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Selbst wenn zwischenzeitlich ein anderer Staat für die Durchführung ihrer Asylverfahren zuständig gewesen sein sollte, kann ein widersprüchliches Verhalten der Kläger nicht darin gesehen werden, dass sie an ihrem Begehren der Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte festgehalten haben. Die Kläger haben sich zur Begründung ihres Begehrens nicht auf eine drohende unzumutbare Dauer ihrer Schutzgesuche gestützt, sondern auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die der tatsächlichen Durchführung ihrer Überstellung entgegenstünden.
89Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob ein Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts auf Prüfung des Schutzgesuches durch den Staat, der infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zuständig geworden ist, dann eintreten kann, wenn dieses Recht missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Denn dafür fehlen hier jegliche Anhaltspunkte. Insbesondere haben sich die Kläger weder der ausländerrechtlichen Überwachung entzogen noch Überstellungsmaßnahmen widersetzt. Dass sie unter Vorlage ärztlicher Atteste Rechtsschutz gegen die Abschiebungsanordnung gesucht haben und sich insoweit auf gesundheitliche Überstellungshindernisse berufen, kann nicht als missbräuchliches Verhalten gewertet werden.
90Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. November 2014 - A 3 K 4877/13 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. Mai 2014 - A 4 K 1410/14 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. November 2014 - A 3 K 4877/13 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. September 2014 geändert.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Oktober 2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Instanzen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
Tatbestand:
2Der Kläger ist guineischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben Anfang Oktober 2012 nach Melilla in Spanien, wo er am 25. Oktober 2012 erkennungsdienstlich behandelt wurde. Am 14. Januar 2013 beantragte er unter dem Namen U. E. in der Bundesrepublik Deutschland Asyl. Den Antrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch Bescheid vom 13. März 2013 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Spanien an. Die Überstellung erfolgte am 10. April 2013.
3Am 3. Juni 2013 reiste der Kläger erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 7. Juni 2013 – unter dem im Rubrum angegebenen Namen – Asyl. Ausweislich seiner eigenen Mitteilung und der Abfrage des Bundesamtes in der Eurodac-Datenbank vom 27. August 2013 war der Kläger zuvor in Spanien erkennungsdienstlich behandelt worden. Das Bundesamt richtete am 29. August 2013 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin II-VO an Spanien. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 17. September 2013 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags.
4Durch Bescheid vom 4. Oktober 2013 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete die Abschiebung nach Spanien an (Ziff. 2). Der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Spanien auf Grund der dort erfolgten illegalen Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei.
5Am 25. Oktober 2013 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage erhoben.
6Der zugleich gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung dieser Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 7. Januar 2014 abgelehnt (13 L 2168/13.A). Auf den weiteren, unter dem 18. März 2014 gestellten Antrag des Klägers gemäß § 80 Abs. 7 VwGO ordnete das Verwaltungsgericht Düsseldorf durch Beschluss vom 24. März 2014 (13 L 644/14.A) mit der Begründung die aufschiebende Wirkung an, die sechsmonatige Überstellungsfrist sei abgelaufen.
7Zur Klagebegründung hat der Kläger ausgeführt: In Spanien werde kein ordnungsgemäßes Asylverfahren durchgeführt. Ihm sei dort die Asylantragstellung verweigert worden. Zudem sei die Überstellungsfrist abgelaufen. Hierauf könne er sich auch berufen. Ihm werde sein Recht auf Durchführung eines Asylverfahrens abgesprochen, hielte sich Spanien im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr für zuständig. Ob die spanischen Behörden sich noch an ihre Zustimmung gebunden fühlten, sei völlig offen.
8Der Kläger hat beantragt,
9den Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2013 aufzuheben.
10Die Beklagte hat beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung hat sie auf die angefochtene Entscheidung des Bundesamtes verwiesen. Ergänzend hat sie ausgeführt, dass die Überstellungsfrist mit der Bekanntgabe des ablehnenden Eilbeschlusses vom 7. Januar 2014 neu zu laufen begonnen habe bzw. auf Grund des gemäß § 80 Abs. 7 VwGO erlassenen Eilbeschlusses vom 24. März 2014 bis zur Erledigung des Hauptsacheverfahrens ausgesetzt sei.
13Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 12. September 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die zulässige, insbesondere statthafte Anfechtungsklage sei unbegründet. Nach den anwendbaren Vorschriften der Dublin II-VO sei Spanien für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig. Die Zuständigkeit sei nicht nach Maßgabe der Art. 16 ff. Dublin II-VO auf Deutschland übergegangen. Die Überstellungsfrist des Art. 19 Abs. 3 Uabs. 1 Dublin II-VO sei noch nicht abgelaufen. Weil durch Beschluss vom 24. März 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet worden sei, beginne sie erst zu laufen, nachdem das Gericht in der Hauptsache entschieden habe. Selbst wenn man auf die Sechsmonatsfrist ab Annahme des Aufnahmegesuchs abstelle, könne sich der Kläger hierauf jedenfalls nicht berufen. Ein Verstoß gegen die Fristenregelungen der Dublin II-VO verletze nach der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts keine subjektiven Rechte der Asylbewerber. Zudem sei es dem Asylbewerber unbenommen, sich freiwillig beim anderen Mitgliedstaat zu melden, weil die Überstellung auch auf Initiative des Asylbewerbers erfolgen könne. Habe er es selbst in der Hand, wann die Überstellung erfolge und dass sie erfolge, könne er sich nach § 242 BGB nicht auf eine verspätete Überstellung seitens der Bundesrepublik Deutschland berufen. Es bestehe auch keine Verpflichtung der Beklagten, vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO Gebrauch zu machen. Von einer unangemessenen Verfahrensdauer könne nicht ausgegangen werden. Es lägen auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in Spanien systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestünden.
14Mit Beschlüssen vom 15. Dezember 2014 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen und auf Antrag des Klägers die Fortdauer der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 4. Oktober 2013 angeordnet (11 B 1338/14.A).
15Zur Begründung seiner Berufung führt der Kläger aus: Die Überstellungsfrist von sechs Monaten ab der Zustimmung Spaniens zum Übernahmeersuchen am 17. September 2013 sei am 17. März 2014 abgelaufen. Durch die Stattgabe des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO habe die bereits abgelaufene Überstellungsfrist nicht wieder neu zu laufen begonnen. Aus der Dublin II-VO ergebe sich keine Rechtsgrundlage, wonach eine Rückübertragung der Zuständigkeit auf Spanien erfolgen könne. Der Kläger könne sich auch auf den Ablauf der Frist berufen. Die EuGH-Entscheidung Abdullahi beziehe sich lediglich auf die Anwendung der in Kapitel III der Dublin II-VO genannten Zuständigkeitskriterien, nicht jedoch auf den nachfolgend geregelten Ablauf der Überstellungsfrist und die dies mit Sanktionscharakter ausfüllenden Vorschriften des Kapitels V der Verordnung. Bestehe keine Übernahmebereitschaft Spaniens, wäre dem Kläger das unstreitig bestehende subjektive Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren genommen, könnte er sich nicht auf den Fristablauf berufen. Zudem räume die Dublin II-VO zumindest in bestimmten Punkten, etwa der Mitteilung von Daten, subjektive Rechte ein. Eine Beschränkung der Einwände des Asylbewerbers auf die Prüfung systemischer Mängel in einem Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen könne nur dann angenommen werden, wenn de facto ein anderer Mitgliedstaat im Zeitpunkt dieser Prüfung eigentlich noch zuständig wäre. Sei Deutschland wegen Fristablaufs zuständig, ergebe sich aus Art. 16a GG bzw. dem Asylverfahrensgesetz ein einklagbarer Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens.
16Der Kläger beantragt,
17das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12. September 2014 zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Berufung zurückzuweisen.
20Zur Begründung verweist sie auf das Urteil des Verwaltungsgerichts. Ergänzend trägt sie vor: Asylbewerber könnten sich nicht mit Erfolg auf einen Zuständigkeitsübergang nach den Art. 16 ff. Dublin II-VO berufen. Ein Asylbewerber habe kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der nach dem Zuständigkeitsregime der Dublin II-VO zuständige Mitgliedstaat sei oder ob durch Zeitablauf Deutschland zuständig geworden sei. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Spanien eine Überstellung bereits endgültig abgelehnt habe. Zwar lehnten die Mitgliedstaaten Rechtsmittelmeldungen nach Ablauf der Überstellungsfrist ab, jedoch könne im besonderen Einzelfall durchaus auch ein Einlenken des Mitgliedstaats erzielt werden.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Gerichtsakten der Eilverfahren sowie die Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe:
23Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Sie ist zulässig und begründet.
24A. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig.
25Die isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2013, mit dem der Asylantrag des Klägers wegen fehlender Zuständigkeit der Beklagten als unzulässig abgelehnt worden ist, ist statthaft.
26Einer auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungs- oder allgemeinen Leistungsklage bedarf es nicht. Dieser fehlte schon das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt, wenn es zuständig ist, den Asylantrag von Amts wegen sachlich prüfen muss, und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es hier nach Aufhebung der Verfügung untätig bleiben würde.
27Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 31; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
28Auch eine Verpflichtungsklage, die auf das Ziel gerichtet ist, als Asylberechtigter anerkannt zu werden, die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuerkannt oder nationale Abschiebungsverbote festgestellt zu bekommen, scheidet aus.
29Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 28 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 20; Bay. VGH, Urteil vom 28. Februar 2014 - 13a B 13.30295 -, BayVBl. 2014, 628, und Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6; Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6. November 2014 - 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris, Rn. 11; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293 = juris, Rn. 18; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 -, juris, Rn. 21.
30Wird der Asylantrag unter Verweis auf die fehlende Zuständigkeit nach § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt, hat das Bundesamt ihn in der Sache noch gar nicht geprüft. Die Zuständigkeitsprüfung und die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Die Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist der materiell-rechtlichen Prüfung, ob ein Anspruch auf Asylanerkennung oder Gewährung eines anderen Schutzstatus besteht, vorgelagert. Die Verwaltungsgerichte haben deshalb das Asylbegehren auch nicht in der Sache spruchreif zu machen.
31Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 34 ff., Beschluss vom 18. Mai 2015 - 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11.
32Andernfalls ginge dem Asylbewerber eine Tatsacheninstanz verloren, die mit umfassenden Verfahrensgarantien (vgl. insbesondere §§ 24, 25 AsylVfG) ausgestattet ist.
33Ferner muss die Beklagte nach der Rechtsprechung des EuGH zunächst die Möglichkeit haben, einen anderen Mitglied- oder Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist, zu ersuchen. Ist die Überstellung in den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (im Folgenden: Dublin II-VO) als zuständig bestimmten Mitgliedstaat etwa wegen systemischer Mängel nicht möglich, hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob danach ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
34Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 95 f., und vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 32 f.; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 29 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris, Rn. 18.
35Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach das Gericht im Asylrechtsstreit die Sache spruchreif zu machen hat, wenn ein Asylfolgeantrag nach § 71 AsylVfG vorliegt. Im Asylfolgeverfahren kann nicht lediglich isoliert auf "Wiederaufgreifen" geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, lediglich die (Vor-)Frage nach der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betrifft.
36Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 = juris, Rn. 10.
37Diese Erwägungen sind auf die hier gegenständliche Entscheidung nach § 27a AsylVfG nicht übertragbar. In diesem Verfahren steht weder die Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss, noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Vielmehr geht es, wie ausgeführt, um die der materiell-rechtlichen Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Frage der Zuständigkeit.
38Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 11; Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; siehe auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
39B. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2013 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
40I. Ziffer 1 des Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren, der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblich ist, nicht gemäß § 27a AsylVfG unzulässig ist. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Hier ist aber entgegen der Auffassung des Bundesamts nach der Dublin II-VO nicht Spanien, sondern Deutschland für die sachliche Prüfung und Entscheidung des Asylantrags zuständig (1.). Darauf kann sich der Kläger auch berufen (2.).
411. Die Zuständigkeit Deutschlands ergibt sich aus der Dublin II-VO. Diese ist ungeachtet des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und des Umstands anwendbar, dass sie durch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) ersetzt worden ist. Nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO erfolgt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats weiterhin nach den Kriterien der Dublin II-VO, wenn der Asylantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat sein hier maßgebliches Schutzgesuch am 7. Juni 2013 angebracht. Es kann offen bleiben, ob nach Art. 49 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Verordnung ab dem 1. Januar 2014 – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern gilt, auch bei vor dem 1. Januar 2014 gestellten Asylanträgen für das Überstellungsverfahren die Dublin III-VO gilt, wenn das Übernahmeersuchen nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde.
42Denn hier lagen auch das Aufnahmeersuchen und dessen Annahme vor dem 1. Januar 2014. Ferner spricht alles dafür, dass nach Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO nicht nur die Zuständigkeitskriterien des Kapitels III, sondern auch diejenigen des Kapitels V der Dublin II-VO fortgelten.
43Vgl. zum Ganzen Bergmann, ZAR 2015, 81 (83); Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 3.
44Die zunächst bestehende Zuständigkeit Spaniens (a.) ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Deutschland übergegangen (b.).
45a. Der zuständige Mitgliedstaat bestimmt sich auf der Grundlage der in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien, zunächst nach dem Kapitel III.
46aa. Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO war ursprünglich Spanien zuständig. Danach gilt: Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Hier erfolgte der erstmalige illegale Grenzübertritt zu einem EU-Mitgliedstaat in Spanien. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.
47bb. Die Zuständigkeit Spaniens ist nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO entfallen. Danach endet die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.
48Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO greift nur dann ein, wenn die Frist bereits bei erstmaliger Stellung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat abgelaufen ist.
49Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rn. 47.
50Diese Auslegung ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, wonach bei der Bestimmung des nach den in Kapitel III bestimmten Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen wird, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Das geschah hier am 14. Januar 2013 (mit einem Alias-Namen) sowie nach erneuter Einreise nach Deutschland von Spanien aus am 7. Juni 2013 und damit innerhalb der Jahresfrist seit der erstmaligen illegalen Einreise nach Spanien im Oktober 2012.
51Selbst wenn man aber nicht auf den Asylantrag, sondern auf den spätesten Zeitpunkt des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens, den Abschluss durch die Aufnahmeerklärung Spaniens am 17. September 2013, abstellt, waren zwölf Monate nicht verstrichen. Ein noch späterer Zeitpunkt kommt hingegen nicht in Betracht. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, gilt die in Kapitel III der Verordnung normierte Frist nur für das in diesem Kapitel geregelte Zuständigkeitsbestimmungsverfahren (vgl. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), berechtigt also nur einen Mitgliedstaat - hier: Spanien -, das an ihn gerichtete (Wieder‑) Aufnahmeersuchen eines anderen Mitgliedstaats - hier: Deutschland – abzulehnen, wenn der Grenzübertritt länger als zwölf Monate zurückliegt. Nach erfolgter Zuständigkeitsbestimmung nach Kapitel III hingegen – die im Kapitel V in Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO geregelte Mitteilung an den Asylbewerber gehört nicht dazu – kann die Zuständigkeit hingegen nicht mehr nach einer dort geregelten Vorschrift, sondern allenfalls nach Kapitel V entfallen.
52b. Die Zuständigkeit ist aber nach Kapitel V der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen.
53aa. Dies ergibt sich allerdings nicht aus Art. 17 Abs. 1 Uabs. 2 Dublin II-VO. Danach gilt: Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der Frist von drei Monaten unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Prüfung zuständig. Das Bundesamt hat hier gemäß Art. 17 Abs. 1 Uabs. 1 Dublin II-VO innerhalb von drei Monaten nach Stellung des Asylantrags Spanien ersucht, den Kläger aufzunehmen. Der Kläger hat am 7. Juni 2013 Asyl beantragt, das Aufnahmeersuchen datiert vom 29. August 2013.
54bb. Die Beklagte ist aber gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO zuständig geworden. Nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Ein solcher Fall ist hier gegeben.
55(1) Die 6-Monats-Frist des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO ist am 17. März 2014 abgelaufen. Die spanischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 17. September 2013 - fristgerecht innerhalb von zwei Monaten (vgl. Art. 18 Abs. 1, 7 Dublin II-VO) - ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags und nahmen damit den Antrag auf Aufnahme des Klägers an. Da die Überstellung binnen dieser Frist nicht durchgeführt worden ist, ist die Zuständigkeit gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO auf die Beklagte als den Staat übergegangen, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Fristverlängerungen nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO scheiden hier aus.
56(2) Die Überstellungsfrist verlängert sich nicht um die Dauer des erfolglosen ersten gerichtlichen Eilverfahrens und der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz führt auch nicht zum erneuten Beginn der 6-Monats-Frist ab dem Zeitpunkt der Ablehnung des Antrags durch das Gericht. Der Antrag des Klägers vom 25. Oktober 2013, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 7. Januar 2014 - 13 L 2168/13.A - abgelehnt. Das erfolglose Eilverfahren wirkt sich auf die Dauer der Überstellungsfrist nicht aus.
57Die Dublin II-VO sieht weder eine Unterbrechung oder Hemmung (§ 209 BGB entsprechend),
58so VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris,
59noch, wovon das Bundesamt ausgeht, einen Neubeginn der Frist in solchen Fällen vor. Dies lässt sich ihr auch nicht im Wege der Auslegung entnehmen.
60Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO bestimmt eine Frist von sechs Monaten ab Annahme des Aufnahmegesuchs. Nur wenn ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, gilt nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Dublin II-VO eine abweichende Frist von sechs Monaten ab der Entscheidung über diesen Rechtsbehelf. Entscheidung über den Rechtsbehelf in diesem Sinne ist aber nicht der Beschluss im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, sondern – die Fortdauer der Aussetzung der Vollziehung vorausgesetzt – die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung über die Klage gegen die Überstellungsentscheidung im Hauptsacheverfahren.
61Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 - Rs. C-19/08 (Petrosian u.a.) -, Slg. 2009, I-495; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, DVBl. 2014, 790 = juris, Rn. 53 ff., Beschlüsse vom 8. Mai 2014 - 13 A 827/14.A -, juris, Rn. 5 und vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, AuAS 2014, 237 = juris, Rn. 5.
62Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Bestimmung. Dem Rechtsbehelf selbst muss aufschiebende Wirkung zukommen. Dies trifft - auch nach dem Unionsrecht - nur auf einen Rechtsbehelf zu, mit dem über die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung und ihren Bestand (abschließend) entschieden wird. Mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes kann nicht die Aufhebung der behördlichen Entscheidung, sondern nur die Aussetzung des Vollzugs erreicht werden. Zudem vermag nicht die Antragstellung, sondern nur die stattgebende gerichtliche Entscheidung die aufschiebende Wirkung herbeizuführen, deren Endpunkt die Hauptsacheentscheidung ist.
63Diese Überlegungen werden durch die Systematik der Dublin II-VO bestätigt. Gegenstand des Rechtsbehelfs ist die Entscheidung des Beklagten nach Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO, den Asylantrag nicht zu prüfen und den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Nach Art. 19 Abs. 2 Satz 3 Dublin II-VO kann gegen diese Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Dass dies allein die Klage, nicht aber der Antrag auf Aussetzung sein kann, zeigt vor allem Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO. Danach hat der gegen die Überstellungsentscheidung eingelegte Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders. An diese Vorgaben, die der Sache nach zwischen dem Hauptsache- und dem Aussetzungsverfahren trennen, knüpft der folgende Absatz 3 des Art. 19 Dublin II-VO an, indem er die Frist nur dann erst mit der Entscheidung über den Rechtsbehelf beginnen lässt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat, wenn er also - so lässt sich mit Blick auf Absatz 2 präzisieren - im Einzelfall aufgrund einer Entscheidung der Gerichte oder zuständigen Stellen nach Maßgabe des mitgliedstaatlichen Rechts aufschiebende Wirkung hat. Dem entspricht das nationale Recht. Ein Rechtsbehelf, dem aufschiebende Wirkung zukommt, ist nach § 80 Abs. 1 VwGO - neben dem Widerspruch - nur die Klage. Die Klage gegen die Überstellungsentscheidung des Bundesamts hat - unionsrechtskonform - aber nach § 75 AsylVfG keine aufschiebende Wirkung, es sei denn, diese wird gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG in der seit dem 6. September 2013 gültigen Fassung im Einzelfall durch das Gericht angeordnet.
64Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 7 ff.
65Bei dieser Ausgangslage rechtfertigt allein der Sinn und Zweck der Überstellungsfrist, den Mitgliedstaaten Zeit zu geben, um die (technischen) Modalitäten der Durchführung der Überstellung zu regeln, wofür grundsätzlich die vollen sechs Monate zur Verfügung stehen sollen,
66vgl. dazu EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 ‑ Rs. C-19/08 (Petrosian u.a.) -, Slg. 2009, I-495,
67keine andere Auslegung des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO.
68Auch § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG führt jedenfalls bei der Dublin II-VO nicht dazu, dass der Lauf der Überstellungsfrist gehemmt wird oder diese erst oder erneut mit der Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu laufen beginnt.
69Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 15 ff.; a. A. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. August 2014 ‑ A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 36 ff., und vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 28; Funke- Kaiser, in: GK-AsylVfG, November 2013, § 27a Rn. 227 f.
70Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung bei rechtzeitiger Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Damit wird aber weder eine aufschiebende Wirkung der Klage begründet noch der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu einem Rechtsbehelf im Sinne des Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO, sondern lediglich vorübergehend die Vollziehung der Überstellungsentscheidung durch die Ausländerbehörde gehemmt. Die Anordnung eines Vollziehungshindernisses durch den nationalen Gesetzgeber kann ferner deshalb nicht mit der vorläufigen Aussetzung des Vollzugs der Abschiebungsanordnung durch gerichtlichen Eilbeschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO gleichgesetzt werden, weil dies den unmittelbar geltenden Vorgaben der Dublin II-VO zuwider liefe. Wie bereits ausgeführt, verankert Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, ferner das Erfordernis einer gerichtlichen oder behördlichen, konkret-individuellen Anordnung. Dem liegt der Beschleunigungsgedanke zugrunde, der auch Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO ist. Im Übrigen beruht der Umstand, dass aufgrund des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG bei Stellung eines Eilantrags der Ausländerbehörde nicht die vollen sechs Monate für die Organisation der Überstellung zur Verfügung stehen mögen, sondern diese sich um die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens verkürzen können, auf einer Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, die durch die Dublin II-VO nicht vorgegeben ist. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie II) vom 28. August 2013 (BGBl. I, S. 3474) ist § 34a Abs. 2 AsylVfG bereits mit Wirkung vom 6. September 2013 geändert worden, obwohl zu dem Zeitpunkt noch die Dublin II-VO anwendbar war. Die Vorgabe des Art. 27 Abs. 3 lit. c Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Überstellung auszusetzen ist, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ihrer Durchführung ergangen ist, ist erst ab dem 1. Januar 2014 anwendbar.
71Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014 - 13 A 1347/14.A -, juris, Rn. 15 ff.
72(3) Die Überstellungsfrist läuft hier auch nicht gemäß Art. 19 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Dublin II-VO deshalb erst sechs Monate nach der Entscheidung über die vorliegende Klage ab, weil das Verwaltungsgericht im (zweiten) Eilverfahren mit Beschluss vom 24. März 2014 -13 L 644/14.A - die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat. In diesem Zeitpunkt – und schon bei Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO durch den Kläger – war, wie ausgeführt, die Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO abgelaufen. Dies war auch der Grund für die stattgebende Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts.
73Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stehen die beiden Alternativen des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nicht selbstständig nebeneinander, sondern schließen sich im folgenden Sinne aus: Ist Art. 19 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. Dublin II-VO einschlägig, weil kein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, und ist diese Frist abgelaufen, kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht dadurch eine neue Frist nach der 2. Alternative der Vorschrift in Lauf gesetzt werden, dass danach (in der Regel gerade wegen des Fristablaufs) die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet wird.
74Dies ergibt sich nicht nur aus dem oben dargelegten Normgefüge des Art. 19 Abs. 2 und 3 Dublin II-VO, sondern vor allem aus der in Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO geregelten Rechtsfolge, die sich aus dem Ablauf der Überstellungsfrist ergibt. Danach geht mit Ablauf der Überstellungsfrist die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. In Anwendung dieser Vorschrift ist am 17. März 2014 die Beklagte zuständig geworden. Die Dublin II-VO enthält aber keine Bestimmung, nach der die Zuständigkeit wieder an den ursprünglich zuständigen Staat – hier Spanien – zurückfallen kann. Dann kann auch keine neue Frist für die Überstellung in den „zuständigen“ Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO zu laufen beginnen. Überdies widerspräche ein erneuter Fristlauf dem Beschleunigungszweck der Dublin II-VO.
752. Der Kläger kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten auch berufen.
76Die Fristregelungen der Dublin II-VO begründen zwar für sich genommen keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers (a.). Der Kläger hat aber aus dem materiellen Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt (b.). Etwas anderes gilt nur dann, wenn feststeht, dass der andere Mitgliedstaat den Asylbewerber aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird; das ist hier aber nicht der Fall (c.). Die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer freiwilligen Ausreisemöglichkeit ausgeschlossen (d.).
77a. Die Vorschriften über die Überstellungsfrist, Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, und die an ihren Ablauf geknüpfte Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO, begründen ebenso wie Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO und die sonstigen Fristregelungen keine einklagbaren subjektiven Rechte der Asylbewerber.
78Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO); BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4 (für Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO), vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12 (für Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO), und vom 19. März 2014 ‑ 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 5 ff. (für Art. 16 Abs. 3 Dublin II-VO); Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37; Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2014 - 2 A 976/14.A -, InfAuslR 2014, 457 -, juris, Rn. 15; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2014 - 10 A 10656/13 -, juris, Rn. 33; Bergmann, ZAR 2015, 81 (84); Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 196.1 (für die Aufnahmeersuchensfrist) und Rn. 234 (für die Überstellungsfrist); Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 65 (allg. für Fristen); a. A. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 46 f. (für Art. 19 Abs. 4 Dublin II-VO); VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 47 ff.; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 12. August 2015 - 18a L 1441/15.A -, juris, Rn. 19 ff. (für Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO); wohl auch Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 14 f.
79Der Asylbewerber hat kein umfassendes subjektiv-öffentliches Recht auf eine Überprüfung, ob der zur Aufnahme bereite Mitgliedstaat tatsächlich nach objektivem Recht der nach dem Zuständigkeitsregime der Dublin II-VO auch zuständige Mitgliedstaat ist oder ob nicht zwischenzeitlich ein anderer Mitgliedstaat zuständig geworden ist.
80Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014, Anm. 3; Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
81Die Normen der Dublin II-VO gelten zwar allgemein (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Die unmittelbare Wirkung des Rechtsakts bedeutet jedoch nicht automatisch, dass den Asylbewerbern ein subjektives Recht auf Einhaltung und Beachtung der zuständigkeitsbegründenden Vorschriften eingeräumt wäre. Aus der gewählten Handlungsform folgt allein die Möglichkeit einer Individualberechtigung.
82Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 91.
83Die Dublin II-VO regelt nach ihrem Inhalt und Zweck die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und ordnet damit ihr Zusammenwirken bei der Gewährung von Asyl in der Europäischen Union. Das Dublin-System soll die Behandlung von Asylanträgen rationalisieren, das „forum shopping“ verhindern und eine Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten bewirken. Wie aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Dublin II-VO hervorgeht, soll eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats geschaffen werden, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.
84Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 59, vom 6. November 2012 - Rs. C-245/11 -, juris, Rn. 49, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 79, 84; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 34 ff.; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 = juris, Rn. 5.
85Insbesondere die Fristbestimmungen dienen einer zeitnahen Feststellung des zuständigen Mitgliedstaats und einer zügigen Überstellung an diesen. Zwar liegt dieser Beschleunigungszweck nicht nur im Interesse der teilnehmenden Staaten, sondern auch im Interesse der Asylbewerber.
86Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 53, und vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn.79.
87Sie haben aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Prüfung ihres Asylantrags durch einen bestimmten Mitgliedstaat. Das unionsrechtlich geregelte System der Zuständigkeitsverteilung für die Entscheidung über Asylanträge beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen. Ist ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit, kann der Asylbewerber seiner Überstellung nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden.
88Vgl. EuGH, Urteile vom 10. Dezember 2013 ‑ Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60 und 62; BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, juris, Rn. 6, und vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4; OVG NRW, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 14 A 1140/14.A -, juris, Rn. 6 ff.
89Die zwischenstaatliche Konzeption des Zuständigkeitssystems schließt es zwar nicht aus, dass einzelne Vorschriften der Verordnung subjektive Rechte beinhalten.
90Vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 40 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 63 ff.
91Ausgehend von den vorstehenden Ausführungen gilt dies aber nicht für Art. 19 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO. Allein der Beschleunigungszweck rechtfertigt – auch unter Berücksichtigung des Rechts auf eine gute Verwaltung aus Art. 41 GR-Charta – nicht die Annahme, diese Vorschriften seien derart grundrechtlich aufgeladen, dass sie im objektiv-rechtlichen Dublin-System dazu bestimmt sind, die Rechte Einzelner zu schützen.
92b. Der Kläger hat aber aus den materiell-rechtlichen Asylbestimmungen einen Anspruch darauf, dass die unionsrechtlich zuständige Beklagte seinen Asylantrag prüft.
93aa. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus dem materiellen Recht, das Ausländern einen Anspruch auf Asyl (Art. 16a Abs. 1 GG), Flüchtlingsschutz (§ 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 AsylVfG), subsidiären Schutz (§ 60 Abs. 2 AufenthG, § 4 Abs. 1 AsylVfG) sowie nationalen Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG) gewährt. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens ist notwendiger Bestandteil des materiellen Asylanspruchs. Wird die Beklagte wegen Ablaufs der Überstellungsfrist zuständig zur Prüfung des Antrags, muss sie das Asylverfahren aufnehmen.
94Der sachliche Prüfungsanspruch folgt zunächst unmittelbar aus dem Grundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG. Die – möglicherweise bestehende – Asylberechtigung löst eine Pflicht der zuständigen deutschen Behörden aus, den Antrag zu überprüfen.
95Vgl. Becker, in: Mangold/Klein/Starck, GG, 6. Auflage 2010, Art. 16a, Rn. 27.
96Um die Inanspruchnahme des Grundrechts zu ermöglichen, muss sich der Asylbewerber auf dieses Recht berufen, also eine Prüfung in der Sache verlangen können.
97Dem steht auch Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nicht entgegen. Danach kann sich auf Absatz 1 nicht berufen, wer aus einem EU-Mitgliedstaat oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Der Kläger ist hier u. a. über Spanien nach Deutschland eingereist. Die Vorwirkungen des Art. 16a Abs. 1 GG sind aber nicht davon abhängig, dass ein Asylanspruch besteht. Das Recht, dass der Asylantrag geprüft wird, besteht unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen der Schutzgewährung. Im Übrigen gilt: Ist Deutschland unionsrechtlich zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens, darf dies nicht durch einen grundgesetzlich angeordneten Ausschlussgrund im Sinne einer abdrängenden, negativen Zuständigkeitsbestimmung ausgehöhlt werden. Dementsprechend bestimmt § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG, dass der Schutzbereichsausschluss nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG dann nicht gilt, wenn die Bundesrepublik Deutschland auf Grund von Rechtsvorschriften der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Ob – und inwieweit – Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG deshalb oder wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts oder nach Art. 16a Abs. 5 GG unanwendbar ist, kann hier offen bleiben.
98Vgl. zum Ganzen OVG NRW, Urteil vom 27. April 2015 - 9 A 1380/12.A -, juris; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 226 ff. m.w.N.; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand Mai 2015, § 27a Rn. 8 f.; siehe auch BVerwG, Urteil vom 7. Juli 2011 - 10 C 26.10 -, BVerwGE 140, 114, Rn. 33.
99Darüber hinaus gilt: Verleiht das einfache materielle Recht in Deutschland – hier: das Aufenthalts- und das Asylverfahrensgesetz – eine subjektiv-öffentliche Anspruchsberechtigung, so besteht für jeden potentiell Berechtigten zugleich ein Anspruch auf das Handeln der zuständigen Behörde. Die Zuständigkeit ist eine zwingende Voraussetzung der Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit des Handelns einer Behörde und Anspruchsvoraussetzung für antragsgemäßes Verwaltungshandeln.
100Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11. A -, juris, Rn. 24.
101Ist der Antrag zulässig und die Behörde zuständig, muss diese über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts sachlich entscheiden (s. auch § 75 VwGO).
102Dieser Prüfungsanspruch gilt auch für den Asylantrag, der nach § 13 AsylVfG nicht nur die Anerkennung als Asylberechtigter, sondern auch die Zuerkennung internationalen Schutzes beinhaltet. Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung des Schutzgesuchs durch die Beklagte liegt nicht nur den Regelungen zum Asylantrag in §§ 13, 14 AsylVfG zugrunde, sondern auch § 24 AsylVfG, der im Einzelnen die Pflichten des Bundesamts im Asylverfahren bestimmt, und § 31 AsylVfG, der die Entscheidung des Bundesamts über Asylanträge regelt. Die Prüfung der Schutzgesuche darf nach §§ 27a, 34a AsylVfG nur abgelehnt werden, wenn ein anderer Staat nach Unions- oder Völkerrecht zuständig ist.
103Vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 23. März 2015 ‑ 22 K 4141/14.A -, InfAuslR 2015, 154 = juris, Rn. 35, und vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 27, 43.
104Diese Vorschriften setzen damit einen Anspruch auf Entscheidung durch das Bundesamt im Falle seiner Zuständigkeit voraus. Ergeht eine Entscheidung über den Asylantrag nicht innerhalb von sechs Monaten, hat das Bundesamt dem Ausländer gem. § 34 Abs. 4 AsylVfG auf Antrag mitzuteilen, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden wird. § 31 Abs. 6 AsylVfG verpflichtet das Bundesamt im Falle einer Ablehnung des Asylantrags nach § 27a AsylVfG, den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat zu benennen.
105bb. Die Annahme eines Prüfungsanspruchs und damit des Rechts, sich auf die nach der Dublin II-VO bestehende Zuständigkeit Deutschlands berufen zu können, entspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
106Auch nach Unionsrecht müssen Asylbewerber Zugang zu wirksamen Asylverfahren haben. Die effektive Ausübung des Rechts auf Asyl muss gewährleistet sein.
107Vgl. Grundrechte-Agentur der EU, EGMR, Europarat (Hrsg.): Handbuch zu den europarecht-lichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration (abgerufen von http://fra.europa.eu/sites/default/files/handbook-law-asylum-migration-borders-2nded_de.pdf, 16.9.2015), S. 107; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 38 ff.
108Nach Art. 18 GR-Charta wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Verträge über die Europäische Union und über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistet. Art. 19 Abs. 2 GR-Charta gewährt Abschiebungsschutz bei ernsthaften Risiken der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Auch wenn Uneinigkeit darüber besteht, ob Art. 18 GR-Charta ein subjektives, einklagbares Recht vermittelt oder eine bloße objektiv-rechtliche Garantie formuliert,
109vgl. dazu, Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2013, Art. 18 Rn. 2, 15, m. w. N.; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage 2014, Art. 18, Rn. 7, 11, m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 12; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 153 f.
110begründet die Vorschrift jedenfalls ein Recht des Drittstaatsangehörigen auf ein ausreichendes Verfahren zur Feststellung des Status.
111Vgl. Jarass, a. a. O., Art. 18 Rn. 13.
112Nach Art. 78 Abs. 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll (Satz 1). Die Politik muss mit der Genfer Flüchtlingskonvention sowie den anderen einschlägigen Verträgen im Einklang stehen (Satz 2).
113Auf der Grundlage dieser Vorschrift konkretisiert die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) in materiell-rechtlicher Hinsicht die Schutzrechte, werden in der Verfahrensrichtlinie (2013/32/EU) Verfahrensrechte der Asylbewerber bei der Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz festgelegt und treffen die Dublin-Verordnungen Zuständigkeitsregelungen. Die Dublin II-VO legt – als ein Schritt auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fest (vgl. Erwägungsgründe 4 und 5). Sie begründet zwar grundsätzlich keine subjektiven Rechte der Asylbewerber, setzt aber solche voraus und dient der effektiven Ausübung des Asylrechts. Die Rechtsstellung des Einzelnen wird ferner insoweit geschützt, als jedenfalls ein zuständiger Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylbegehrens gewährleistet sein muss. Das ergibt sich aus Folgendem: Der 15. Erwägungsgrund der Dublin II-VO bestimmt ausdrücklich, sie ziele darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 GR-Charta verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten.
114Vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 15 und 76.
115Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt (Satz 1). Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird (Satz 2). Nach dem 4. Erwägungsgrund der Dublin II-VO dient sie auch dazu, den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten. Dem Zuständigkeitssystem der Dublin II-VO liegt damit die Annahme zugrunde, dass die Antragsteller ein durchsetzbares Recht haben, dass die Anträge jedenfalls von einem Mitglieds- oder Vertragsstaat zeitnah geprüft werden. Lediglich die Prüfung durch einen bestimmten Staat können sie nicht verlangen.
116Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
117Könnte der Asylbewerber sich nicht auf die Zuständigkeit Deutschlands berufen und wäre nicht gesichert, dass ein anderer Mitgliedstaat das Asylverfahren durchführt (vgl. dazu sogleich), würde er zum sogenannten „refugee in orbit“, dessen Schutzgesuch in keinem Mitgliedstaat geprüft würde.
118Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2010, Art. 78 AEUV Rn. 21; Hoppe, Eilrechtsschutz gegen Dublin II-Überstellungen, 2013, S. 67, 69.
119Dies widerspräche aber dem Grundanliegen des europäischen Asylsystems. Dieses darf nicht so ausgelegt und angewendet werden, dass der Antragsteller in keinem Staat eine Prüfung seines Schutzgesuchs erhalten könnte und – wenn auch nicht dem potentiellen Verfolger ausgeliefert – ohne den im Unionsrecht vorgesehenen förmlichen Schutzstatus bliebe.
120Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
121c. Ein Asylbewerber kann, das folgt schon aus den vorstehenden Ausführungen, nur dann nicht die Durchführung des Asylverfahrens in Deutschlands verlangen, wenn die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats feststeht. Das ist hier nicht der Fall.
122aa. Dass einem Asylbewerber die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats entgegengehalten werden kann, folgt aus dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO geregelten Zuständigkeitsübergang, setzt aber auch ein Vorgehen nach dieser Vorschrift voraus. Danach kann jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist (Satz 1). Dadurch wird der andere Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat (Satz 2).
123Erklärt der andere Mitgliedstaat, den Asylbewerber aufzunehmen und das Asylverfahren durchzuführen, obwohl er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht (mehr) zuständig ist, übt er damit das Selbsteintrittsrecht nach der sogenannten Souveränitätsklausel aus.
124Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO räumt den Mitgliedstaaten ein Ermessen ein, das integraler Bestandteil des vom EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Die Ausübung der Befugnis ist an keine Bedingungen geknüpft; ein Anspruch des Asylbewerbers auf Zuständigkeitsübernahme besteht grundsätzlich nicht.
125Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 ‑ Rs. C-411/10 u.a. (N.S.) -, juris, Rn. 65 ff., und vom 30. Mai 2013 - Rs. C-528/11 (Halaf) -, juris, Rn. 36 ff.; siehe zu Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO auch EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11 (Puid) -, juris, Rn. 28 ff.; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 - 14 A 1943/11.A -, juris, Rn. 34.
126Hiervon ausgehend geht die Zuständigkeit über, wenn ein anderer Mitgliedstaat im Einzelfall seine Bereitschaft erklärt, den Asylbewerber aufzunehmen. Der Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland steht damit unter dem unionsrechtlichen Vorbehalt des Fortbestehens der Zuständigkeit.
127Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand März 2015, § 27a Rn. 52.
128Dabei reicht bei sachgerechter Auslegung des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eine Erklärung gegenüber dem ersuchenden Mitgliedstaat aus, die die Zusage beinhaltet, den eingereichten Asylantrag zu prüfen. Um den Zuständigkeitsübergang zu bewirken, ist eine ausdrückliche Berufung auf die Souveränitätsklausel ebenso wenig erforderlich wie der Beginn der tatsächlichen Prüfung des Asylantrags. Förmlichkeiten geben weder die Dublin II-VO selbst noch die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003 vor. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts kann sich auch konkludent aus den Umständen ergeben. Es muss lediglich erkennbar sein, dass der andere Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall die Zuständigkeit übernimmt.
129Nicht ausreichend ist die erteilte Zustimmung zur (Wieder-)Aufnahme nach Art. 18 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 lit. b) Dublin II-VO, die mit der Ausübung des Ermessens nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht vergleichbar ist.
130Vgl. dazu auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 11. Juli 2013 in der Rs. C-394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 32.
131Hier hat Spanien nicht von Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht. Als es am 17. September 2013 dem Aufnahmegesuch stattgegeben hat, war es nach der Dublin II-VO zuständig. Spanien hat aber nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und daraus resultierendem Zuständigkeitsübergang bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht erklärt, dass seine Übernahmebereitschaft gleichwohl fortbesteht. Es hat in keiner Weise im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zu erkennen gegeben, dass es den Asylantrag des Klägers auch nach Ablauf der Überstellungsfrist prüfen, mithin die Zuständigkeit übernehmen wird.
132bb. Auch wenn Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO nicht einschlägig wäre, kann dem Asylbewerber nur dann die Berufung auf die Zuständigkeit Deutschlands verwehrt werden, wenn positiv feststeht, dass ein anderer Mitgliedstaat aufnahmebereit ist. Dies setzt voraus, dass eine Prüfung des Asylgesuchs durch den anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist, hierfür also hinreichende Erkenntnisse vorliegen.
133Die höchstrichterliche Rechtsprechung, wonach Verstöße gegen die Bestimmungen der Dublin II-VO für sich genommen keine subjektiven Rechte der Asyl-bewerber verletzen und der Asylbewerber der Überstellung nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann, betrifft sämtlich Fälle, in denen die Aufnahmebereitschaft eines anderen Mitgliedstaats bestand.
134Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C 394/12 (Abdullahi) -, juris, Rn. 60; BVerwG, Beschlüsse vom 14. Juli 2014 - 1 B 9.14 u.a. -, juris, Rn. 4, vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 = juris, Rn. 6, vom 21. Mai 2014 - 10 B 31.14 -, juris, Rn. 4, vom 15. April 2014 - 10 B 17.14 -, juris, Rn. 12, und vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rn. 7.
135Da die Dublin II-VO gerade dem Zweck dient, den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist (vgl. Art. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Erwägungsgrund 4 der Dublin II-VO), reicht es nicht aus, dass der andere, nicht mehr zuständige Mitgliedstaat der Überstellung nach Fristablauf nicht widersprochen hat bzw. diese nicht endgültig abgelehnt hat und deshalb nicht feststeht, dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann.
136So aber Nds. OVG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 11 LB 248/14 -, juris, Rn. 37.
137Ebensowenig genügt es, dass die Überstellung an den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist.
138Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteile vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 59, und vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 28 (allerdings mit dem Zusatz „weil Polen den Fristablauf nicht einwendet“).
139Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass nach erfolgter Zuständigkeitsbestimmung nur der nach der Dublin-Verordnung zuständige Mitgliedstaat bereit ist, das Asylverfahren durchzuführen.
140Eine rein theoretische Überstellungsmöglichkeit, die nicht durch konkrete aussagekräftige Fakten untermauert wird, kann auch deshalb nicht genügen, weil andernfalls das dem Dublinsystem immanente Beschleunigungsgebot verletzt würde.
141So auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 32.
142Hier fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Annahme, dass Spanien den Fristablauf und die daraus folgende Zuständigkeit der Beklagten – generell oder im Einzelfall – nicht einwendet. Dass Spanien am 17. September 2013 dem Aufnahmeersuchen stattgegeben hat, reicht insoweit nicht aus. Entscheidend ist, dass im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG, und damit auch nach zwischenzeitlichem Ablauf der Überstellungsfrist und dem Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte, die Übernahmebereitschaft besteht. Dafür ist, ausgehend von den obigen Maßstäben, nichts ersichtlich. Das Bundesamt hat auf mehrfache gerichtliche Anfrage mit Schriftsatz vom 13. August 2015 lediglich ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten Rechtsmittelmeldungen nach Ablauf der Überstellungsfrist ablehnten. Der Zusatz, im besonderen Einzelfall könne durchaus auch ein Einlenken des Mitgliedstaats erzielt werden, reicht für die Annahme nicht aus, Spanien werde im vorliegenden Fall eine Überstellung akzeptieren. Zuletzt hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 27. August 2015 mitgeteilt, dass derzeit konkrete Anhaltspunkte weder dafür, dass Spanien trotz zwischenzeit-lichen Ablaufs der Überstellungsfrist seine Zuständigkeit bejaht hätte, noch dafür vorlägen, dass Spanien eine Überstellung des Klägers bereits endgültig abgelehnt hätte. Das reicht für die Annahme nicht aus, Spanien werde im vorliegenden Fall eine Überstellung akzeptieren.
143d. Eine andere Betrachtung lässt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, der Asylbewerber könne freiwillig ausreisen und dadurch das Verfahren selbst beschleunigen.
144Zwar geht das Unionsrecht von der Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise aus (vgl. Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 1560/2003; Art. 19 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 1 lit e) Dublin II-VO). Es ist aber schon fraglich, ob dies eine bindende Vorgabe ist, ob das nationale Recht eine Ausreise auf eigene Initiative ausdrücklich vorsehen muss oder ob die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen haben, in welcher Weise die Aufenthaltsbeendigung erfolgen soll.
145Vgl. dazu ausführlich VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rn. 24 ff.
146Auf diese Fragen kommt es aber ebenso wenig an wie darauf, ob der Kläger auch noch gegenwärtig, d. h. nach dem Zuständigkeitsübergang, nach Spanien ausreisen könnte. Es ist jedenfalls keine rechtliche Grundlage dafür ersichtlich, dass er im nicht mehr zuständigen Staat Spanien eine Prüfung seines Asylantrags verlangen kann. Fehlen jegliche Anhaltspunkte für die Übernahmebereitschaft des anderen Staates auch nach dem Zuständigkeitsübergang auf Deutschland, kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Mitgliedstaat im Falle einer freiwilligen Ausreise ein Asylverfahren durchführen wird.
147Auch das Argument des Verwaltungsgerichts, § 242 BGB schließe eine Berufung auf den Zuständigkeitsübergang aus, weil der Asylbewerber vor Ablauf der Überstellungsfrist freiwillig hätte ausreisen können, überzeugt nicht. Dass der Kläger von dem Recht auf freiwillige Ausreise, das im Übrigen im deutschen Recht nicht ausdrücklich geregelt ist, keinen Gebrauch gemacht hat, lässt es nicht als treuwidrig erscheinen, von der nach Unionsrecht zuständigen Behörde die Prüfung des Schutzgesuchs zu verlangen.
148So auch VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Februar 2015 - 22 K 2262/14.A -, juris, Rn. 82 ff.
149Andernfalls wäre nämlich die materielle Prüfung des Schutzgesuchs nicht gewährleistet und träte damit letztlich ein Rechtsverlust ein. Die Dublin II-VO begründet auch keine Verpflichtung des Asylantragstellers, sich in den nach der Dublin II-VO (ursprünglich) zuständigen Staat zu begeben. Dass gemäß § 50 AufenthG nach allgemeinem nationalem Aufenthaltsrecht eine Ausreisepflicht besteht, ist insoweit unerheblich. Der Zuständigkeitsübergang beruht allein auf dem Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist, nicht hingegen auf einem Verhalten des Klägers (Nichtausreise), mit dem er sich durch die Berufung auf die Zuständigkeit in Widerspruch setzen könnte. Er ist weder untergetaucht noch hat er anderweitig Überstellungsmaßnahmen verhindert.
1503. Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann nicht als negative Entscheidung gemäß § 71a AsylVfG über die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aufrechterhalten oder umgedeutet werden – was im Übrigen die fehlende Statthaftigkeit der Anfechtungsklage und die Zulässigkeit (nur) einer Verpflichtungsklage zur Folge hätte.
151Es ist schon nicht ersichtlich, dass ein Zweitantrag vorliegt. Aus den dem Gericht vorliegenden Akten ergibt sich nur, dass der Kläger in Spanien zweimal erkennungsdienstlich behandelt worden ist, nicht aber, dass er einen Asylantrag gestellt hat.
152Abgesehen davon kommt ein Verständnis eines Dublin-Bescheids der vorliegenden Art als Ablehnung eines Antrags auf Wiederaufgreifen ebensowenig in Betracht wie eine entsprechende Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG.
153Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, juris, Rn. 29, und vom 19. Juni 2015 - 13 A 292/15.A -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 - A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 34 f.
154Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG in dem vom Kläger angefochtenen Bescheid vom 4. Oktober 2013 wird, wie ausgeführt, lediglich ohne materiell-recht-liche Prüfung die Unzulässigkeit des Asylantrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen, ausgehend von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland, eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
155Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2015 ‑ 11 A 2639/14.A -, Rn. 29, juris.
156Die Frage, ob die Voraussetzungen des § 71a AsylVfG, § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, ist im Rahmen eines eigenständigen Verwaltungsverfahrens mit eigenen Verfahrensgarantien zu klären und zu entscheiden.
157Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. April 2015 ‑ A 11 S 121/15 -, juris, Rn. 41.
158II. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziff. 2 des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Spanien ist nach den obigen Ausführungen für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig. Im Übrigen stünde auch nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden könnte, weil die Aufnahmebereitschaft Spaniens nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht – wie hiernach erforderlich – positiv feststeht.
159C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
160Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
161Die Revision ist zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegen. Die Dublin II-VO ist zwar auslaufendes Recht. Die zentralen Rechtsfragen stellen sich aber nach der in weiten Teilen übereinstim-menden Dublin III-VO in gleicher Weise.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 5. Mai 2014 - A 4 K 1410/14 - wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Gründe
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Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 wird aufgehoben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
1
Tatbestand:
2Die Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der am 0.00.2010 geborenen Klägerin zu 3). Sie meldeten sich am 13. Januar 2014 bei der zentralen Ausländerbehörde E. als Asylsuchende. Am 17. Januar 2014 nahm die Außenstelle E. des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zur Niederschrift auf. Hierbei gaben die Kläger an, iranische Staatsangehörige christlichen Glaubens zu sein. Am gleichen Tag teilten sie im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens mit: Sie seien am 19. November 2013 mit dem Reisebus in Richtung Istanbul aus dem Iran ausgereist. Nach einem 40-tägigen Aufenthalt in der Türkei seien sie am 31. Dezember 2013 mit dem Flugzeug nach Deutschland eingereist. Personalpapiere oder andere Dokumente über ihre Person könnten sie nicht vorlegen.
3Ausweislich einer zum Verwaltungsvorgang des Bundesamtes genommenen Auskunft vom 17. Januar 2014 aus dem VIS-Datenbestand war den Klägern zu 1) und 2) am 27. November 2013 durch die französische Botschaft in Teheran jeweils ein Schengen-Visum für einen Kurzaufenthalt erteilt worden, und zwar mit Gültigkeit vom 30. November 2013 bis zum 25. Dezember 2013.
4Am 13. Februar 2014 stellte das Bundesamt bezüglich aller Kläger ein Übernahmeersuchen an die Republik Frankreich. Mit Schreiben vom gleichen Tag unterrichtete das Bundesamt die Kläger über die Einleitung eines Dublin-Verfahrens nach Frankreich und gab ihnen Gelegenheit, sich innerhalb von zwei Wochen zu den Gründen zu äußern, die gegen ihre Überstellung nach Frankreich sprächen. Mit Schreiben vom 28. Februar 2014, beim Bundesamt eingegangen am 4. März 2014, bestellte sich die Prozessbevollmächtigte unter Vorlage schriftlicher Vollmachten für die Kläger und erklärte, die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft würden zurückgenommen, aufrechterhalten würden lediglich die Anträge auf Gewährung subsidiären Schutzes.
5Die Republik Frankreich stimmte mit Schreiben vom 13. März 2014 der Aufnahme der Kläger gemäß Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO) zu.
6Mit Bescheid vom 25. März 2014 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylverfahren der Kläger eingestellt sind (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Frankreich an (Ziffer 2). Zur Begründung wird ausgeführt, dass in Anbetracht der Rücknahme der Asylanträge gemäß § 32 S. 1, 1. HS AsylVfG festzustellen sei, dass die Asylverfahren eingestellt sind. Die Rücknahme beseitige indes nicht die Regelungswirkung der Dublin-III-VO in Bezug auf den zuständigen Mitgliedstaat. Die Zuständigkeit gelte seit der Asylantragstellung in Deutschland. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die zur Ausübung eines Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO führen könnten, seien nicht ersichtlich. Von einer Prüfung des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sei abzusehen, da eine Überstellung in das Herkunftsland nicht beabsichtigt sei. Daher werde der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft; Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Frankreich als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 bzw. Abs. 2 Dublin-III-VO festgesetzten Fristen durchzuführen. Die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG.
7Der an die Kläger adressierte Bescheid ist ausweislich eines Aktenvermerks am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post gegeben worden. Mit Schreiben vom 26. März 2014 wurde ferner der Prozessbevollmächtigten der Kläger eine Kopie des Bescheides übersandt.
8Die Kläger haben am 1. April 2014 Klage erhoben und in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Zur Begründung geben sie an, es lägen außergewöhnliche humanitäre Gründe vor, die die Beklagte zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts verpflichteten, jedenfalls aber zu einer ermessensfehlerfreien Entscheidung, die mit dem streitgegenständlichen Bescheid nicht erfolgt sei. Der Kläger zu 1) habe zwei Cousinen, die in Nordrhein-Westfalen lebten. Diese hätten sich seit dem Eintreffen der Kläger in Deutschland um diese gekümmert. Die Kläger seien durch die ihnen widerfahrenen Erlebnisse im Iran traumatisiert und hätten lediglich Halt aufgrund der Anwesenheit der Verwandtschaft in Deutschland gefunden. Sie hätten für ihre Ausreise aus dem Iran die Hilfe eines Schleppers in Anspruch genommen. Dieser habe ihnen unter Vorlage falscher Unterlagen einen Termin bei einer Botschaft verschafft, wo sie lediglich einmal ihre Fingerabdrücke hätten abgeben müssen. Ihnen sei bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal sicher bekannt gewesen, dass die in ihren Pässen angebrachten Visa tatsächlich echt seien. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie von Frankreich aus in den Iran abgeschoben würden. Wegen der hohen Zahl der Asylbewerber sei nicht sichergestellt, dass Frankreich für die Kläger eine zumutbare Wohnung zur Verfügung stellen und somit die Mindeststandards einhalten könne.
9Mit Beschluss vom 7. Mai 2014 hat das Gericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abgelehnt (22 L 791/14.A).
10Am 7. August 2014 haben die Kläger beantragt, unter Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 nunmehr die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes anzuordnen. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor: Die Kläger zu 1) und 2) befänden sich aufgrund ihres psychischen Zustandes bereits seit einiger Zeit in neurologischer Behandlung. Dennoch sei am 31. Juli 2014 ein unangekündigter Abschiebeversuch unternommen worden. Die Abschiebemaßnahme sei abgebrochen worden, als die Klägerin zu 3) auf der Fahrt zum Flughafen kollabiert sei und sich im Polizeiauto übergeben habe. Durch diese Abschiebemaßnahme habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) derart verschlechtert, dass sie am 2. August 2014 stationär in die Klinik des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) eingewiesen worden sei. Zum Beleg haben die Kläger mehrere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt, darunter Bescheinigungen des LVR-Klinikums E1. , Abteilung für allgemeine Psychiatrie II vom 6. August 2014 und vom 22. August 2014, ausweislich derer sich die Klägerin zu 2) seit dem 2. August 2014 aufgrund der Schwere ihrer psychischen Erkrankung mit akuter Suizidalität bis auf weiteres in stationärer Behandlung befinde und aufgrund ihrer instabilen psychopathologischen Verfassung sowie konkreten Suizidgefährdung bis auf weiteres reiseunfähig sei.
11Mit Beschluss vom 15. September 2014 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage gegen Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in Abänderung des Beschlusses vom 7. Mai 2014 – 22 L 791/14. A – angeordnet (22 L 1814/14. A).
12Im Klageverfahren haben die Kläger weitere ärztliche Bescheinigungen zum Gesundheitszustand der Klägerin zu 2) vorgelegt und schriftsätzlich beantragt, die behandelnden Ärzte Dr. N. und Dr. U. als Zeugen zu vernehmen zum Beweis der aus den ärztlichen Attesten hervorgehenden, eine Reiseunfähigkeit begründenden Krankheiten der Klägerin zu 2). Ferner haben die Kläger beantragt, zum Beweis ebendieser Tatsachen ein Sachverständigengutachten einzuholen. Schließlich verweisen die Kläger darauf, dass die in Art. 29 Dublin-III-VO bestimmte Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich bereits abgelaufen sei.
13Die Kläger beantragen,
14den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2014 aufzuheben, soweit in Ziffer 1 das Verfahren auch bezüglich des Antrags der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG eingestellt wurde und soweit in Ziffer 2 die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde.
15Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
18Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der dazu beigezogenen Gerichtsakten 22 L 791/14.A und 22 L 1814/14.A und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie der Ausländerbehörde des Kreises L. Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe:
20Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten zum Termin der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da die Beteiligten hierauf in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen wurden, § 102 Abs. 1 und 2 VwGO.
21Die Klage ist zulässig (nachfolgend I.) und begründet (nachfolgend II.).
22I. Die Klage ist zulässig.
23Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO statthaft. Die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelungen führt auf die weitere Prüfung der Anträge der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel. Denn mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides in dem angefochtenen Umfang werden die Verwaltungsverfahren in den Verfahrensstand zurückversetzt, in dem sie vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen waren. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 AsylVfG gesetzlich verpflichtet, die Asylverfahren weiterzuführen. Das Bundesamt hat sich in dem vorliegenden Fall lediglich mit der – einer materiellen Prüfung der Asylanträge vorgelagerten – Frage befasst, in welchem Umfang die Asylverfahren eingestellt werden und welcher Staat nach den Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Prüfung der verbleibenden Schutzgesuche zuständig ist. Mit der Aufhebung des Bescheides wird ein Verfahrenshindernis für die inhaltliche Prüfung der Asylbegehren beseitigt und die Asylverfahren sind in dem Stadium, in dem sie zu Unrecht beendet worden sind, durch das Bundesamt weiterzuführen.
24Vgl. zu Entscheidungen nach § 27a AsylVfG: OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, Rdn. 28 ff.; zu Entscheidungen nach §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 – 9 C 264.94 –, juris, Rdn. 15 ff.
25Die Kläger sind auch klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Aus ihrem Vorbringen lässt sich herleiten, dass sie – sollte sich der Bescheid in dem angefochtenen Umfang als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt sind. Denn die angefochtenen Regelungen belasten die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylVfG auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt.
26Ob und gegebenenfalls inwieweit dieses Recht durch Unionsrecht, namentlich die Dublin-III-VO, beschränkt wird, bedarf hier keiner weiteren Prüfung, da eine Rechtsverletzung zumindest möglich erscheint.
27Die Kläger haben die Klage auch fristgerecht im Sinne von § 74 Abs. 1 AsylVfG, nämlich innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheides, erhoben. Die Klagefrist begann mit der wirksamen Bekanntgabe des Bescheides am 29. März 2014. Der Bescheid wurde den Klägern (wie von § 31 Abs. 1 S. 4 AsylVfG vorausgesetzt) persönlich zugestellt, und zwar gemäß § 4 Abs. 1 VwZG durch die Post mittels Einschreiben durch Übergabe oder Einschreiben mit Rückschein. Damit wurde der Bescheid zugleich gemäß § 41 Abs. 5 VwVfG wirksam bekanntgegeben. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG gilt das Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, es ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Angesichts der Tatsache, dass der Bescheid ausweislich des Verwaltungsvorgangs am 26. März 2014 als Einschreiben zur Post aufgegeben wurde, gilt er gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, mithin am 29. März 2014 als zugestellt. Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass ihnen der Bescheid nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Die am 29. März 2014 begonnene Klagefrist war bei Klageerhebung am 1. April 2014 noch nicht abgelaufen.
28II. Die Klage ist begründet. In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) ist der Bescheid des Bundesamtes vom 25. März 2014 in dem Umfang, in dem er angefochten ist, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Dies gilt sowohl für Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides, soweit darin die Asylverfahren der Kläger auch insoweit eingestellt wurden, als diese die Zuerkennung subsidiären Schutzes begehren (nachfolgend 1.), als auch für Ziffer 2 des Bescheides, mit der die Abschiebung der Kläger nach Frankreich angeordnet wurde (nachfolgend 2.).
291. Die Feststellung der Einstellung der Asylverfahren auch insoweit, als die Kläger die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG begehren, findet ihre Rechtsgrundlage nicht in der hier allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommenden Regelung des § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG. Nach dieser Norm stellt das Bundesamt im Falle der Antragsrücknahme in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier hinsichtlich des Antrages der Kläger auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylVfG nicht vor. Die Kläger hatten mit anwaltlichem Schreiben vom 28. Februar 2014 ihre ursprünglich auf die Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG sowie auf Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG insgesamt gerichteten Asylanträge nur teilweise zurückgenommen, nämlich in Bezug auf die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention). Aufrechterhalten haben sie hingegen ihre Anträge auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), § 4 AsylVfG. Durch die rechtswidrige Einstellung ihrer Antragsverfahren auf Zuerkennung subsidiären Schutzes werden die Kläger in ihrem subjektiv-öffentlichen Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch das Bundesamt gemäß §§ 4, 24, 31 AsylVfG verletzt.
302. Die Abschiebungsanordnung nach Frankreich in Ziffer 2 des Bescheides ist ebenfalls rechtswidrig. Sie lässt sich nicht auf die allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG stützen. Danach ordnet das Bundesamt in den Fällen, in denen der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
31Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob eine Abschiebungsanordnung nach dieser Norm überhaupt ergehen kann, wenn das Bundesamt – wie hier, wenn auch zu Unrecht – die Asylverfahren insgesamt gemäß § 32 S. 1, 1. Hs., 1. Alt. AsylVfG eingestellt hat. Denn jedenfalls ist Frankreich weder ein sicherer Drittstaat, aus dem die Kläger nach Deutschland eingereist sind (§ 26a AsylVfG) noch ist Frankreich für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig (§ 27a AsylVfG).
32Die Voraussetzungen des § 26a AsylVfG sind
33– unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit dieser Norm im Anwendungsbereich derDublin-III-VO –
34schon deshalb nicht erfüllt, weil die Kläger nach eigenen Angaben aus der Türkei kommend auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist sind und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für einen Aufenthalt in oder eine Durchreise durch Frankreich vorliegen.
35Auch die Voraussetzungen des § 27a AsylVfG sind nicht erfüllt. Die Republik Frankreich ist nicht auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig.
36Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Dublin-III-VO. Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in Deutschland ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf die im Januar 2014 gestellten Schutzgesuche der Kläger.
37Die Zuständigkeit Frankreichs für die Prüfung der Asylanträge der Kläger dürfte zwar zunächst nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO begründet worden sein. Die Republik Frankreich hat das an sie gerichtete Übernahmeersuchen der Beklagten vom 13. Februar 2014 auch am 13. März 2014 auf dieser Rechtsgrundlage akzeptiert. Die Zuständigkeit ist jedoch mittlerweile auf die Beklagte übergegangen. Dies folgt aus Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO genannten Frist von sechs Monaten, die unter bestimmten Voraussetzungen auf höchstens 18 Monate verlängert werden kann, durchgeführt wird.
38Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Übernahmeersuchens durch die Republik Frankreich am 13. März 2014.
39Die Frist zur Überstellung der Kläger nach Frankreich wurde nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom 1. April 2014 (22 L 791/14.A) für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens, hier also bis zum ablehnenden Eilbeschluss vom 7. Mai 2014, unterbrochen oder gehemmt,
40vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 8. September 2014, - 13 A 1347/14.A -, juris, Rdn. 5 ff. m.w.N..
41Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO vor. Die sechsmonatige Frist endete nach alledem mit Ablauf des 13. September 2014.
42Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge der Kläger auf Gewährung subsidiären Schutzes ist damit auf die Beklagte übergegangen.
43Die Kläger können sich im vorliegenden Klageverfahren auch auf den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte berufen.
44A.A. VGH BW, Urteil vom 27. August 2014 - A 11 S 1285/14 -, juris, Rdn. 59 (soweit eine Überstellung in den bisher zuständigen Mitgliedstaat noch zeitnah möglich ist); Nds.OVG, Beschluss vom 6. November 2014 – 13 LA 66/14 ‑, juris, Rdn. 9 ff (ohne Einschränkung); HessVGH, Beschluss vom 25. August 2014 – 2 A 976/14.A ‑, juris, Rdn. 15 (obiter dictum); VG Düsseldorf , Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 43; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand: 102. Ergänzungslieferung, November 2014, § 27a, Rdn. 234, 196.1 (mit Ausnahmen); Hailbronner, Ausländerrecht, 88. Ergänzungslieferung, Oktober 2014, § 27a AsylVfG, Rdn. 20 ff.; Günther, in: Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 5. Edition, Stand: 1. September 2014, § 27a AsylVfG Rdn. 29 ff.; offen gelassen: OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 19. Dezember 2011 ‑ 14 A 1943/11.A ‑, juris, Rdn. 24 (das Vorabentscheidungsverfahren bei EuGH, Rs. C-666/11 endete ohne Sachentscheidung nach Rücknahme des Ersuchens wegen Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache beim OVG NRW); vgl. ferner zum Ablauf der Frist zur Stellung des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens: VGH BW, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris; Rdn. 25, 27 (bei zeitnaher Überstellung); OVG RhPf, Urteil vom 21. Februar 2014 ‑ 10 A 10656/13 ‑, juris, Rdn. 33.
45Die Kläger haben gemäß §§ 24, 31 AsylVfG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Diese darf auf der Rechtsgrundlage der §§ 27a, 34a AsylVfG die weitere Prüfung eines Asylantrages nur dann ablehnen und eine Abschiebungsanordnung in einen anderen Mitgliedstaat erlassen, wenn dieser andere Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, ist der Verwaltungsakt rechtswidrig. Zugleich verletzt der objektiv rechtswidrige Verwaltungsakt das subjektiv-öffentliche Recht der Kläger aus §§ 24, 31 AsylVfG, und zwar unabhängig vom Schutzzweck der Norm, deren Verletzung zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt. Der Individualschutzzweck von Normen ist nur für diejenigen von Bedeutung, die keine materielle Beeinträchtigung ihrer Rechtsstellung durch den angefochtenen Verwaltungsakt dartun können.
46Vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl., 2014, § 45 Rdn. 126.
47Die Kläger hingegen werden durch Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides in ihrer Rechtstellung aus §§ 24, 31 AsylVfG materiell beeinträchtigt, wenn die Beklagte die Prüfung der Schutzgesuche mit Verweis auf die Zuständigkeit eines anderen Staates ablehnt, obwohl ihre Zuständigkeit nach den Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung objektiv begründet ist.
48Dem nach nationalem Recht bestehenden subjektiv-öffentlichen Recht der Kläger auf Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die nach der Dublin-III-VO objektiv hierfür zuständige Beklagte steht auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht entgegen. Denn es liegt schon keine Kollision des nationalen Rechts mit der gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV vorrangig anzuwendenden Dublin-III-VO vor.
49Die Zuständigkeitsregelungen in der Dublin-III-VO begründen unmittelbare Rechte der betroffenen Ausländer auf Beachtung dieser Regelungen durch alle Behörden der Mitgliedstaaten. Dies folgt schon aus der Rechtsnatur der Dublin-III-VO. Diese gilt (wie alle EU-Verordnungen) gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese unmittelbare Geltung bedeutet, dass die Verordnungen nicht nur für die Mitgliedstaaten (untereinander) gelten, sondern in den Mitgliedstaaten,
50Ulrich Haltern, Europarecht, Tübingen 2005, S. 284 (Hervorhebung im Original).
51Hierin unterscheidet sich das Unionsrecht gerade von Völkervertragsrecht, mit dem sich lediglich die Vertragsstaaten untereinander binden. Das Unionsrecht ist eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Unionsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen,
52EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 25.
53Die Dublin-III-VO regelt damit schon aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten untereinander, sondern auch unmittelbar die Rechtsstellung jedes einzelnen Normunterworfenen, das heißt auch der Drittstaatsangehörigen, auf die die Dublin-III-VO Anwendung findet.
54Der Dublin-III-VO kann auch nicht entnommen werden, dass in Bezug auf die dort geregelten Zuständigkeitsbestimmungen ausnahmsweise etwas anderes gelten sollte, insbesondere ein Asylbewerber, der für die Prüfung seines Asylantrages an einen anderen Mitgliedstaat verwiesen wird, einen hierin liegenden objektiven Verstoß gegen die Zuständigkeitsbestimmungen der Verordnung nicht oder nur unter bestimmten Umständen rügen kann.
55Dies unter Verweis auf den Zweck der Dublin-II-VO erwägend und im Ergebnis ein subjektiv-öffentliches Recht des Ausländers aus der Ermessensvorschrift des Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-VO (Selbsteintrittsrecht) verneinend: Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 58.
56Indem der Unionsgesetzgeber die ursprünglich in einem völkerrechtlichen Vertrag (Dubliner Übereinkommen) vereinbarten Zuständigkeitskriterien für die Prüfung eines Schutzgesuchs ausdifferenziert und in einer EU-Verordnung kodifiziert hat, hat er diese Regelungen zugleich mit den aus Art. 288 Abs. 2 AEUV folgenden Rechtswirkungen ausgestattet. Diese Rechtsqualität der Regelungen steht auch nicht in Widerspruch zu ihrem Sinn und Zweck. Der Unionsgesetzgeber hat die Zuständigkeitsbestimmungen erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrages zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen,
57EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013, C‑394/12 (Abdullahi), Rdn. 53, juris; vgl. auch Schlussanträge des GA Jääskinen vom 18. April 2013 ‑ C‑4/11 ‑, Rdn. 57.
58Diese Ziele werden am effektivsten durch die zuverlässige und gleichmäßige Befolgung der in der Dublin-III-VO geregelten Zuständigkeitskriterien in allen Mitgliedstaaten erreicht. Das „forum shopping“ wird unterbunden, indem einem einzigen Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Prüfung des Schutzgesuches zugeordnet wird; die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des zuständigen Staates wird durch detaillierte Kriterien, die keine Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten vorsehen, erhöht; die Asylverfahren werden insgesamt beschleunigt, indem das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates verbindlich geltenden kurzen Fristen unterworfen wird.
59Die unmittelbare, auch von den Betroffenen durchsetzbare Rechtswirkung der Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin-III-VO ‑ soweit sie einem Mitgliedstaat die Zuständigkeit ohne Ermessensspielraum zuweisen ‑ widerspricht diesen Zielen nicht, sondern fördert ihre Erreichung. Der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts („effet utile“) findet eine wesentliche Stütze gerade darin, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar geltendes Unionsrecht berufen kann. Mit Hilfe der Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit werden die an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Betroffenen zu Wächtern des Unionsrechtssystems erhoben, die dessen effektive Anwendung in den Mitgliedstaaten sichern,
60Vgl. Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 49 m.w.N.
61Zum Zweck der effektiven und gleichen Wirkung des Unionsrechts sollen die Einzelnen, soweit es um den staatlichen Vollzug des Unionsrechts geht, eine dezentrale, die Kommission entlastende Vollzugskontrolle vornehmen können,
62vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 44.
63Andernfalls könnte auch Art. 267 AEUV, der zum Zweck der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten das Verfahren zur Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen auf Vorlage nationaler Gerichte vorsieht, seine Wirkung nicht entfalten. Art. 267 AEUV setzt voraus, dass sich der Einzelne vor nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbares Unionsrecht berufen kann und damit die Frage der Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung vor dem nationalen Gericht streitentscheidende Bedeutung gewinnt. Der alleinigen Entscheidungskompetenz des EuGH bei der Auslegung des Unionsrechts liefe es zuwider, einer unionsrechtlichen Bestimmung in einem Verfahren vor einem nationalen Gericht (ohne vorherige Klärung der Rechtsfrage durch den EuGH) mit Verweis auf mangelnde individualschützende Wirkung eine streitentscheidende Bedeutung von vornherein abzusprechen.
64Aufgrund dieser generellen Bedeutung der unmittelbaren, individualrechtsbegründenden Anwendbarkeit des Unionsrechts für die Sicherstellung seiner Effektivität kommt es für die Frage, ob sich der Einzelne auf Unionsrecht berufen kann, auch nicht darauf an, ob eine Vorschrift des Unionsrechts bezweckt, individuelle Rechte zu schaffen. Entscheidend ist vielmehr, ob die sich aus der Vorschrift ergebende Verpflichtung anderer Rechtssubjekte eindeutig ist, weil sie hinreichend klar und unbedingt formuliert ist.
65Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblatt-Kommentar, Band III, EUV/AEUV, Stand September 2014, Art. 288 AEUV Rdn. 46; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, Kurz-Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 288 AEUV, Rdn. 51 m.w.N.
66Dies ist bei Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO der Fall. Die Norm regelt den Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Überstellungsfrist eindeutig, klar und unbedingt, insbesondere sieht sie auch keinen Entscheidungsspielraum einer nationalen Behörde vor.
67Der Annahme, dass sich ein Asylbewerber auf die nach der Dublin-III-Verordnung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung objektiv begründete Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Prüfung seines Schutzgesuches berufen kann, steht auch die Rechtsprechung des EuGH,
68Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi), - C-394/12 -, juris,
69sowie des Bundesverwaltungsgerichts,
70Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris, Rdn. 7 und vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6,
71nicht entgegen.
72Diesen Entscheidungen ist keine Aussage zur subjektiv-rechtlichen Dimension von (Überstellungs-)Fristen zu entnehmen,
73vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 13 K 471/14.A -, Rdn. 41, juris mit Hinweis auf VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 - 13 K 1117/14.A -, Rdn. 54 ff., juris.
74Insbesondere lässt sich eine dahingehende Aussage nicht aus dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz entnehmen, dass der betreffende Ausländer in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat seiner Aufnahme nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin-II-VO niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (Mitgliedstaat der ersten Einreise), der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
75Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 (Abdullahi) - C-394/12 -, Rdn. 62, juris,
76Mit diesem Rechtssatz betont der EuGH gerade die Verbindlichkeit der in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriterien, die ihre Grenze erst in der im Einzelfall anzunehmenden tatsächlichen Gefahr der Verletzung eines in der Grundrechtecharta verbürgten Rechts findet. Demgegenüber lässt sich dem vom EuGH aufgestellten Rechtssatz keine Aussage des Inhalts entnehmen, dass sich ein Asylbewerber nicht (oder nur unter bestimmten Bedingungen) auf die Beachtung eines in der Dublin-Verordnung niedergelegten Zuständigkeitskriteriums berufen kann.
77So liegt der Fall hier. Mit dem von den Klägern geltend gemachten Einwand, dass die Zuständigkeit für die Prüfung ihrer Schutzgesuche wegen Überschreitens der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen ist, wenden sich die Kläger ‑ anders als in dem vom EuGH entschiedenen Fall ‑ gerade nicht gegen die Heranziehung eines in der Dublin-III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriteriums, sondern berufen sich auf dieses.
78Auch das BVerwG geht erkennbar nicht davon aus, dass andere Einwände gegen eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat als der Einwand systemischer Mängel unbeachtlich wären. Vielmehr benennt es in dem zuletzt ergangenen Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – konkret die als unbeachtlich einzustufenden Einwände:
79„Aus der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten kann und es nicht darauf ankommt, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK kommen kann und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war.“
80BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 ‑, juris, Rdn. 6, Hervorhebung nicht im Original.
81Dies verdeutlicht, dass die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates der Prüfung vorgelagert ist, ob einer Überstellung dorthin systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen. Auch wird die Beschränkung berücksichtigungsfähiger Einwände auf den Einwand systemischer Mängel nur insoweit ausgesprochen, als der Asylbewerber der Überstellung mit Blick auf unzureichende Aufnahmebedingungen in diesem Staat entgegentritt.
82Eine Beschränkung der Rechtsstellung des betroffenen Ausländers im Hinblick auf die Geltendmachung objektiver Verstöße gegen die Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-Verordnung lässt sich auch nicht mit der Überlegung belegen oder bekräftigen, dass es dem Asylbewerber unbenommen ist, sich freiwillig bei der ihm genannten Stelle des anderen Mitgliedstaates zu melden und hierdurch selbst das Verfahren zu beschleunigen.
83Zu den Modalitäten einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers siehe Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003, zuletzt geändert durch Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (DVO Dublin III).
84Zwar kann der Asylbewerber damit zu einer Beschleunigung beitragen. Aus einer fehlenden Inanspruchnahme dieses Rechts kann jedoch nicht auf den Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts des Asylbewerbers auf materielle Prüfung seines Schutzgesuches durch die Beklagte geschlossen werden. Insbesondere steht der vom Gebot von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB abgeleitete Grundsatz des Verbots widersprüchlichen Verhaltens ("venire contra factum proprium") der Geltendmachung dieses subjektiv-öffentlichen Rechts nicht entgegen.
85So aber VG Düsseldorf, Urteil vom 23. Oktober 2014 – 13 K 471/14.A ‑, juris, Rdn. 45 ff.
86Ein widersprüchliches Verhalten der Kläger liegt
87– ganz abgesehen davon, dass im deutschen Recht die Möglichkeit der Überstellung des betroffenen Asylbewerbers auf eigene Initiative gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist (vgl. hierzu: VGH BW, Beschluss vom 4. Juli 2014 – A 11 S 1230/14 ‑, juris, Rdn. 4) und die Kläger im vorliegenden Fall (soweit ersichtlich) über dieses ihnen zustehende Initiativrecht auch nicht unterrichtet wurden –
88nicht vor. Die Kläger rügen nicht etwa eine unangemessene Dauer ihrer Verfahren, die sie selbst hätten beschleunigen können. Vielmehr begehren sie die materielle Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte. Selbst wenn zwischenzeitlich ein anderer Staat für die Durchführung ihrer Asylverfahren zuständig gewesen sein sollte, kann ein widersprüchliches Verhalten der Kläger nicht darin gesehen werden, dass sie an ihrem Begehren der Prüfung ihrer Schutzgesuche durch die Beklagte festgehalten haben. Die Kläger haben sich zur Begründung ihres Begehrens nicht auf eine drohende unzumutbare Dauer ihrer Schutzgesuche gestützt, sondern auf gesundheitliche Beeinträchtigungen, die der tatsächlichen Durchführung ihrer Überstellung entgegenstünden.
89Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob ein Verlust des subjektiv-öffentlichen Rechts auf Prüfung des Schutzgesuches durch den Staat, der infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO zuständig geworden ist, dann eintreten kann, wenn dieses Recht missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Denn dafür fehlen hier jegliche Anhaltspunkte. Insbesondere haben sich die Kläger weder der ausländerrechtlichen Überwachung entzogen noch Überstellungsmaßnahmen widersetzt. Dass sie unter Vorlage ärztlicher Atteste Rechtsschutz gegen die Abschiebungsanordnung gesucht haben und sich insoweit auf gesundheitliche Überstellungshindernisse berufen, kann nicht als missbräuchliches Verhalten gewertet werden.
90Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
(1) Ein Ausländer ist zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht.
(2) Der Ausländer hat das Bundesgebiet unverzüglich oder, wenn ihm eine Ausreisefrist gesetzt ist, bis zum Ablauf der Frist zu verlassen.
(2a) (weggefallen)
(3) Durch die Einreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einen anderen Schengen-Staat genügt der Ausländer seiner Ausreisepflicht nur, wenn ihm Einreise und Aufenthalt dort erlaubt sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der ausreisepflichtige Ausländer aufzufordern, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben.
(4) Ein ausreisepflichtiger Ausländer, der seine Wohnung wechseln oder den Bezirk der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage verlassen will, hat dies der Ausländerbehörde vorher anzuzeigen.
(5) Der Pass oder Passersatz eines ausreisepflichtigen Ausländers soll bis zu dessen Ausreise in Verwahrung genommen werden.
(6) Ein Ausländer kann zum Zweck der Aufenthaltsbeendigung in den Fahndungshilfsmitteln der Polizei zur Aufenthaltsermittlung und Festnahme ausgeschrieben werden, wenn sein Aufenthalt unbekannt ist. Ein Ausländer, gegen den ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 besteht, kann zum Zweck der Einreiseverweigerung zur Zurückweisung und für den Fall des Antreffens im Bundesgebiet zur Festnahme ausgeschrieben werden. Für Ausländer, die gemäß § 15a verteilt worden sind, gilt § 66 des Asylgesetzes entsprechend.
(1) Ein fehlerhafter Verwaltungsakt kann in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind.
(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Eine Umdeutung ist ferner unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte.
(3) Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, kann nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden.
(4) § 28 ist entsprechend anzuwenden.
Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren zweiter Instanz Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlungen - unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. aus N. bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2I. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfüllt und die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
3II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
41. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) ist unbegründet.
5Die Beklagte macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 - ab,
6vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 ‑, BVerwGE 106, 171 = juris,
7und führt aus, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zu dieser Entscheidung die Rechtsauffassung vertreten, gegen die auf § 27a AsylVfG gestützte Antragsablehnung sei die isolierte Anfechtungsklage statthaft. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts habe das Gericht die Streitsache im Asylrechtsstreit aber spruchreif zu machen, auch wenn es sich um einen Asylfolgeantrag handele, bezüglich dessen das Bundesamt noch nicht in die Prüfung eingetreten sei.
8Die gerügte Divergenz besteht nicht. Eine Abweichung läge nur vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre.
9Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1991 - 5 B 68.91 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302, vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712 (713), und vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
10Daran fehlt es hier. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Folgeantragsregelung nach § 71 AsylVfG ergangen. Klagegegenstand der angefochtenen Entscheidung ist demgegenüber eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG. Nach der von der Beklagten genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann im Asylfolgeverfahren nicht lediglich isoliert auf „Wiederaufgreifen“ geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden müsse, lediglich die (Vor-)Frage nach der Erfüllung der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betreffe.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 (172 f.) = juris, Rn. 10.
12Hingegen trifft das Bundesamt im Verfahren nach § 27a AsylVfG allein die der Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags; eine materiell-rechtliche Prüfung, ob ein Anspruch auf Anerkennung auf Asyl besteht, findet nicht statt. Insofern steht in diesem Verfahren weder die (Vor-)Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
13Vgl. zur Erfolglosigkeit der Divergenzrüge in einem solchen Fall: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; ferner auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 ‑ 10 C 1.13 ‑, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
142. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
15Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff., und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
18Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
19„ob bei einem als unzulässig i. S. v. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine auf Statuszuerkennung gerichtete Verpflichtungsklage zu erheben ist sowie ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ferner, ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist“,
20rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
21Die Frage bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 27a AsylVfG allein die Anfechtungsklage statthaft.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn. 28 ff., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH.
23Dem Zulassungsantrag bleibt der Erfolg auch versagt, soweit die Beklagte geltend macht, diese Rechtsfrage sei wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt und es stehe eine Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Rechtsprechung des beschließenden Oberverwaltungsgerichts zur Frage der statthaften Klageart im Falle einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG steht im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung.
24Vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung verschiedener Obergerichte: Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 6. November 2014 ‑ 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 ‑, juris.
25Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem entschieden, dass der Grundsatz, die Sache spruchreif zu machen und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage zu beschränken, nicht ausnahmslos gelte. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 113 Abs. 3 VwGO sei zu entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssten, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben könnten, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Vor allem stehe die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde - gerichtete Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass nur eine auf die Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage, auf die hin das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte, in Betracht käme.
26Vgl. für den Fall der Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264.95 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12, S. 3 ff. = juris, Rn. 15, und vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14.
27Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ohne weiteres auf den Fall der Ablehnung der Durchführung eines Asyl(folge)verfahrens auf der Grundlage des § 27a AsylVfG übertragbar. Auch in diesem Fall trifft das Bundesamt keine Sachentscheidung über den Anspruch auf Asylanerkennung, sondern weist lediglich, ohne dass eine materiell-rechtliche Prüfung stattfindet, auf die Unzulässigkeit des Asylantrags hin.
28Vgl. zur Übertragbarkeit der Ausführungen des BVerwG auf die vorliegende Konstellation: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6.
29Mit Blick darauf kommt es auf die von der Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage nicht an, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ sei.
30Abgesehen davon dürfte sich diese Frage nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen. Es kann insoweit dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne des § 47 Abs. 1 VwVfG in einem solchen Fall vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG wird lediglich ‑ wie in dem von der Klägerin angefochtenen Bescheid vom 12. Februar 2014 - ohne materiell-rechtliche Prüfung die Unzulässigkeit des Asyl(folge)antrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren, wenn die Bundesrepublik Deutschland für dessen Durchführung zuständig ist, auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Jedenfalls dürfte aber die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG und eine Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG gleichermaßen erfüllt sind, allein anhand des konkreten Einzelfalls zu beantworten sein. So hat die Beklagte etwa im Falle der Klägerin zwar geltend gemacht, es habe ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 betreffend Italien vorgelegen, ob der von der Klägerin in Italien gestellte Asylantrag aber bereits erfolglos im Sinne von § 71a AsylVfG abgeschlossen ist, hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist Entsprechendes ersichtlich.
31Im Hinblick darauf führt auch die im Verlaufe des Zulassungsverfahrens unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2015
32- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 3 -
33ergänzend abgegebene Zulassungsbegründung der Beklagten nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. Anders als im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des dortigen Klägers über Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinaus noch eine der Beklagten über eine DublinNET-Mail zugegangene Antwort Italiens, dass für diesen eine anerkennende Entscheidung in Italien ergangen war, und damit „konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits in anderen Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt und diese in einem Mitgliedstaat zu einer Anerkennung geführt haben“.
34Abgesehen davon sieht sich der Senat mit Blick auf die Ausführungen in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass die Frage, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ ist, nur anhand des konkreten Einzelfalls und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise zu beantworten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, es komme „somit in tatsächlicher Hinsicht darauf an, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Hierzu wird das Berufungsgericht den Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann auf dieser neuen Tatsachengrundlage der Rechtsfrage nachzugehen haben, ob der Bescheid auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder umgedeutet werden kann“.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 8.
36Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass ein Asylantrag, der auf der Grundlage des § 27a AsylVfG abgelehnt worden ist, nicht grundsätzlich in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG umgedeutet werden kann, sondern über diese Möglichkeit erst entschieden werden kann, wenn die Tatsachengrundlage des jeweiligen Einzelfalls geklärt ist.
37Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylVfG.
38Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. November 2014 - A 3 K 4877/13 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Gründe
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Tenor
Der Klägerin wird für das Verfahren zweiter Instanz Prozesskostenhilfe - ohne Ratenzahlungen - unter Beiordnung von Rechtsanwalt X. aus N. bewilligt.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e :
2I. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist begründet, weil die Klägerin die Voraussetzungen des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfüllt und die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt hat (§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
3II. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
41. Die erhobene Divergenzrüge (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) ist unbegründet.
5Die Beklagte macht geltend, das angefochtene Urteil weiche von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 - ab,
6vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 ‑, BVerwGE 106, 171 = juris,
7und führt aus, das Verwaltungsgericht habe im Widerspruch zu dieser Entscheidung die Rechtsauffassung vertreten, gegen die auf § 27a AsylVfG gestützte Antragsablehnung sei die isolierte Anfechtungsklage statthaft. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts habe das Gericht die Streitsache im Asylrechtsstreit aber spruchreif zu machen, auch wenn es sich um einen Asylfolgeantrag handele, bezüglich dessen das Bundesamt noch nicht in die Prüfung eingetreten sei.
8Die gerügte Divergenz besteht nicht. Eine Abweichung läge nur vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abgewichen wäre.
9Vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 12. Dezember 1991 - 5 B 68.91 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302, vom 20. Dezember 1995 - 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712 (713), und vom 22. Oktober 2014 - 8 B 99.13 -, juris, Rn. 19, m. w. N.
10Daran fehlt es hier. Die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zur Folgeantragsregelung nach § 71 AsylVfG ergangen. Klagegegenstand der angefochtenen Entscheidung ist demgegenüber eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG. Nach der von der Beklagten genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts kann im Asylfolgeverfahren nicht lediglich isoliert auf „Wiederaufgreifen“ geklagt werden, weil der rechtserhebliche Aspekt, ob das bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren wieder aufgenommen werden müsse, lediglich die (Vor-)Frage nach der Erfüllung der Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids als notwendige Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch auf Asyl, nicht aber einen selbstständig neben diesem stehenden einklagbaren Wiederaufgreifensanspruch betreffe.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1998 - 9 C 28.97 -, BVerwGE 106, 171 (172 f.) = juris, Rn. 10.
12Hingegen trifft das Bundesamt im Verfahren nach § 27a AsylVfG allein die der Prüfung des Asylantrags vorgelagerte Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags; eine materiell-rechtliche Prüfung, ob ein Anspruch auf Anerkennung auf Asyl besteht, findet nicht statt. Insofern steht in diesem Verfahren weder die (Vor-)Frage im Streit, ob ein bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren wieder aufgenommen werden muss noch ob ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht.
13Vgl. zur Erfolglosigkeit der Divergenzrüge in einem solchen Fall: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 3; ferner auch BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 ‑ 10 C 1.13 ‑, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14 zur Anfechtungsklage für den Fall einer Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG.
142. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) wird nicht entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG dargelegt.
15Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung muss eine tatsächliche oder rechtliche Frage aufgeworfen werden, die entscheidungserheblich ist und über den Einzelfall hinaus im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Fortentwicklung des Rechts einer Klärung bedarf.
16Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 -, BVerwGE 70, 24 ff., und Beschlüsse vom 2. Oktober 1984 - 1 B 114.84 -, InfAuslR 1985, 130 f., sowie vom 19. Juli 2011 - 10 B 10.11, 10 PKH 10 PKH 4.11 -, juris, Rn. 3.
17Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
18Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,
19„ob bei einem als unzulässig i. S. v. § 27a AsylVfG abgelehnten Asylantrag deshalb eine isolierte Anfechtungsklage als zulässige Klageart ausscheidet, weil vielmehr auch dann zwingend eine auf Statuszuerkennung gerichtete Verpflichtungsklage zu erheben ist sowie ob die Tatsachengerichte gehalten sind, das Vorliegen eines insgesamt verfahrensrelevanten Asylantrags festzustellen und ferner, ob dann auch das Asylbegehren in der Sache spruchreif zu machen ist“,
20rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.
21Die Frage bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie ist in der Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts zwischenzeitlich geklärt. Danach ist gegen die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 27a AsylVfG allein die Anfechtungsklage statthaft.
22Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12 -, juris, Rn. 28 ff., unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH.
23Dem Zulassungsantrag bleibt der Erfolg auch versagt, soweit die Beklagte geltend macht, diese Rechtsfrage sei wegen der uneinheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt und es stehe eine Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverwaltungsgericht aus. Die Rechtsprechung des beschließenden Oberverwaltungsgerichts zur Frage der statthaften Klageart im Falle einer Entscheidung nach § 27a AsylVfG steht im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung.
24Vgl. hierzu Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf die in diesem Zusammenhang ergangene Rechtsprechung verschiedener Obergerichte: Hamb. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2015 - 1 Bf 208/14.AZ -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 6. November 2014 ‑ 13 LA 66/14 -, AuAS 2014, 273; OVG Saarl., Beschluss vom 12. September 2014 - 2 A 191/14 -, juris; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16. April 2014 ‑ A 11 S 1721/13 -, InfAuslR 2014, 293; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris; OVG S.-A., Urteil vom 2. Oktober 2013 - 3 L 643/12 ‑, juris.
25Das Bundesverwaltungsgericht hat zudem entschieden, dass der Grundsatz, die Sache spruchreif zu machen und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage zu beschränken, nicht ausnahmslos gelte. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 113 Abs. 3 VwGO sei zu entnehmen, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssten, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben könnten, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Vor allem stehe die besondere - auf Beschleunigung und Konzentration auf eine Behörde - gerichtete Ausgestaltung des Asylverfahrens durch das Asylverfahrensgesetz im Falle versäumter Sachentscheidung durch das Bundesamt der Annahme entgegen, dass nur eine auf die Asylanerkennung gerichtete Verpflichtungsklage, auf die hin das Verwaltungsgericht die Sache spruchreif zu machen hätte, in Betracht käme.
26Vgl. für den Fall der Verfahrenseinstellung nach den §§ 32, 33 AsylVfG: BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264.95 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 12, S. 3 ff. = juris, Rn. 15, und vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 -, Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 13, S. 3, Rn. 14 = juris, Rn. 14.
27Diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ohne weiteres auf den Fall der Ablehnung der Durchführung eines Asyl(folge)verfahrens auf der Grundlage des § 27a AsylVfG übertragbar. Auch in diesem Fall trifft das Bundesamt keine Sachentscheidung über den Anspruch auf Asylanerkennung, sondern weist lediglich, ohne dass eine materiell-rechtliche Prüfung stattfindet, auf die Unzulässigkeit des Asylantrags hin.
28Vgl. zur Übertragbarkeit der Ausführungen des BVerwG auf die vorliegende Konstellation: Bay. VGH, Beschluss vom 11. März 2015 - 13a ZB 14.50043 -, juris, Rn. 6.
29Mit Blick darauf kommt es auf die von der Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage nicht an, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ sei.
30Abgesehen davon dürfte sich diese Frage nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lassen. Es kann insoweit dahinstehen, ob die Voraussetzungen für eine Umdeutung im Sinne des § 47 Abs. 1 VwVfG in einem solchen Fall vorliegen. Nach dieser Vorschrift kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Mit der Entscheidung nach § 27a AsylVfG wird lediglich ‑ wie in dem von der Klägerin angefochtenen Bescheid vom 12. Februar 2014 - ohne materiell-rechtliche Prüfung die Unzulässigkeit des Asyl(folge)antrags festgestellt; im Rahmen der Entscheidung nach § 71a AsylVfG findet hingegen eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren, wenn die Bundesrepublik Deutschland für dessen Durchführung zuständig ist, auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Jedenfalls dürfte aber die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG und eine Entscheidung über einen Zweitantrag nach § 71a AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Sinne von § 47 Abs. 1 VwVfG gleichermaßen erfüllt sind, allein anhand des konkreten Einzelfalls zu beantworten sein. So hat die Beklagte etwa im Falle der Klägerin zwar geltend gemacht, es habe ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 betreffend Italien vorgelegen, ob der von der Klägerin in Italien gestellte Asylantrag aber bereits erfolglos im Sinne von § 71a AsylVfG abgeschlossen ist, hat die Beklagte weder vorgetragen noch ist Entsprechendes ersichtlich.
31Im Hinblick darauf führt auch die im Verlaufe des Zulassungsverfahrens unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Februar 2015
32- vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 3 -
33ergänzend abgegebene Zulassungsbegründung der Beklagten nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. Anders als im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des dortigen Klägers über Eurodac-Treffer der Kategorie 1 hinaus noch eine der Beklagten über eine DublinNET-Mail zugegangene Antwort Italiens, dass für diesen eine anerkennende Entscheidung in Italien ergangen war, und damit „konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits in anderen Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt und diese in einem Mitgliedstaat zu einer Anerkennung geführt haben“.
34Abgesehen davon sieht sich der Senat mit Blick auf die Ausführungen in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass die Frage, ob die ablehnende Entscheidung nach § 27a AsylVfG in eine Entscheidung nach § 71a Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG umzudeuten und sodann „durchzuentscheiden“ ist, nur anhand des konkreten Einzelfalls und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise zu beantworten sein dürfte. Das Bundesverwaltungsgericht weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, es komme „somit in tatsächlicher Hinsicht darauf an, ob und mit welchem Ergebnis der Kläger bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat. Hierzu wird das Berufungsgericht den Sachverhalt weiter aufzuklären und sodann auf dieser neuen Tatsachengrundlage der Rechtsfrage nachzugehen haben, ob der Bescheid auf anderer Rechtsgrundlage aufrechterhalten oder umgedeutet werden kann“.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 1 B 2.15 -, juris, Rn. 8.
36Daraus ist nur der Schluss zu ziehen, dass ein Asylantrag, der auf der Grundlage des § 27a AsylVfG abgelehnt worden ist, nicht grundsätzlich in einen Bescheid nach § 71a AsylVfG umgedeutet werden kann, sondern über diese Möglichkeit erst entschieden werden kann, wenn die Tatsachengrundlage des jeweiligen Einzelfalls geklärt ist.
37Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylVfG.
38Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
39Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
(1) Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn
- 1.
sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat; - 2.
neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden; - 3.
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind.
(2) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
(3) Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden. Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat.
(4) Über den Antrag entscheidet die nach § 3 zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Änderung begehrt wird, von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
(5) Die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des § 49 Abs. 1 bleiben unberührt.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 11. November 2014 - A 3 K 4877/13 - wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.
(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.
(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.