Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Beschluss, 08. Juni 2018 - 5/17

ECLI:ECLI:DE:LVGSH:2018:0608.1LV5.17.00
bei uns veröffentlicht am08.06.2018

Tenor

1. Der Antrag wird verworfen.

2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.

3. Der Gegenstandswert wird auf 100.000 Euro festgesetzt.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Organstreitverfahrens ist ein an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landespolizei gerichtetes Schreiben des ehemaligen Ministers für Inneres und Bundesangelegenheiten, Stefan Studt, wenige Monate vor der Wahl zum 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag.

I.

2

Mit Beschluss vom 26. April 2016 bestimmte die Landesregierung den Wahltag zum 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag auf den 7. Mai 2017.

3

Die Antragstellerin ist der Landesverband der CDU in Schleswig-Holstein, die seit 1947 in allen Schleswig-Holsteinischen Landtagen vertreten war und sich auch im Rahmen der Wahl zum 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag um den Einzug in diesen bewarb.

4

Im Intranet der Landespolizei wurde ein Schreiben des Ministers Stefan Studt vom 30. Januar 2017 veröffentlicht, das sich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landespolizei richtete und folgenden Wortlaut aufwies:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landespolizei,

ein ereignisreiches Jahr 2016 liegt hinter uns und ein spannendes, herausforderndes Jahr hat begonnen. Die unruhige Lage in der Welt hat sich nicht stabilisiert; vielmehr strahlen die Unruhen in verschiedenen Lebensregionen jetzt auch unmittelbar in unser Land zwischen den Meeren. Die Festnahme von drei jungen ausländischen Männern im September im Kreis Stormarn war ein nach außen wahrnehmbares Indiz dafür, dass der islamistische Terror auch in Schleswig-Holstein angekommen zu sein scheint. Und auch das fürchterliche Attentat kurz vor Weihnachten in Berlin hat zu den Ihnen bekannten Auswirkungen bei uns geführt.

Wir wollen und müssen unsere Freiheit bewahren. Als Gesellschaft müssen wir dem Terrorismus die Stirn bieten. Unsere Bürgerinnen und Bürger können zu Recht darauf vertrauen, dass unsere Sicherheitsbehörden die weitest gehende Gewähr dafür bieten. Trotzdem gehört es hier und anderswo betont, dass es keine absolute und garantierte Sicherheit geben kann. Daher gilt es auch jetzt, mit Augenmaß auf die Erkenntnisse aus dem Fall Amri zu reagieren. In der Berliner Regierungskoalition sind Regelungsvorschläge vereinbart worden, die jetzt alsbald beraten und umgesetzt werden. Für weitere Schritte sind die fachlichen Aus- und Bewertungen abzuwarten.

Ihnen möchte ich an dieser Stelle für die im vergangenen Jahr geleisteten Dienste ganz persönlich, aber auch im Namen aller politisch Verantwortlichen ganz herzlich danken. Danken möchte ich Ihnen auch für die Arbeit und die erzielten Erfolge in anderen Kriminalitätsphänomenen, wie zum Beispiel bei der Bekämpfung des Wohnungseinbruchsdiebstahls. Durch Ihr Engagement und die konzeptionelle Schwerpunktsetzung können wir offenbar – so sind die Zeichen zu bewerten – beträchtliche Erfolge und Festnahmen in diesem schwierigen Kriminalitätsfeld verzeichnen.

Ein weiteres Themenfeld beschäftigt mich ganz persönlich: Nicht erst seit meinem Krankenhausbesuch bei dem Kollegen aus Kiel-Gaarden im Sommer vergangenen Jahres erfüllt mich die immer wieder offen zutage getragene Respektlosigkeit Ihnen gegenüber mit zunehmender Sorge. Es vergeht kaum eine Woche, in der ich in den täglichen Lageberichten nicht von angegriffenen Polizeibeamtinnen und -beamten lese. Die Anzahl der Gewaltdelikte gegen unsere Einsatzkräfte der Polizei hat im letzten Jahr im Vergleich zu 2015 noch einmal um über 17 % zugenommen. Was bisher eher gefühlte Lage war, ist nun auch statistisch unterlegt. Es ist mir wichtig, dass wir unsere Anstrengungen weiter hochhalten, diesen Trend umzukehren.

Nach wie vor gilt: Wir tun alles, was wir im Bereich Ihrer persönlichen Schutz- und Einsatzausstattung sowie immer wieder angepasster Fortbildung tun können. Sollten Sie noch Optimierungspotenzial sehen, scheuen Sie sich bitte nicht, diesen auch gegenüber Ihrer Polizeiführung zu artikulieren. Nur so können wir jede möglicherweise noch vorhandene Schutzlücke schließen.

Die Diskussion um die Frage, ob eine Verschärfung des Strafrechts hier auch einen Beitrag leisten kann, läuft noch. Nach den bei uns gewonnenen Erkenntnissen habe ich mich zuletzt in einer Gesprächsrunde mit der Frau Bundeskanzlerin und den Spitzen der Berliner Regierungskoalition für eine tatbestandliche Erweiterung und eine Strafmaßerhöhung ausgesprochen. Es steht zu erwarten, dass auch hierzu bald ein Regelungsvorschlag aus Berlin vorliegen wird.

Neben dieser größer werdenden Gefahr, einem gewaltsamen Angriff ausgesetzt zu sein, sehe ich darüber hinaus zwei wesentliche Bereiche, in denen die Belastungsgrenze erreicht ist.

Auf der einen Seite leidet die Landespolizei insgesamt unter einer hohen Belastung, die zu nach wie vor hohen Überstundenbergen führt. Hier haben wir den Grundstein für eine strukturelle Entlastung gelegt, indem wir, beginnend seit 2015 die Ausbildungszahlen – so weit wie in Abstimmung mit den beiden Ausbildungsstätten in Eutin und Altenholz zuträglich und verantwortbar – hochgeschraubt haben. Wir werden ab 2019 spürbar mehr ausgebildete Kolleginnen und Kollegen auf der Straße haben als heute – bis Ende der nächsten Legislaturperiode werden das dann rund 500 zusätzliche Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte sein. Die Polizeiführung habe ich gebeten, mir für das zweite Halbjahr eine Konzeption über den Einsatz und die Verteilung der neuen Kolleginnen und Kollegen vorzulegen.

Auf der anderen Seite trägt eine Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine besonders hohe Last, die erwiesenermaßen auf lange Sicht gesundheitsgefährdend ist. Die über 1 000 Kolleginnen und Kollegen, die anhaltend Wechselschichtdienst versehen, müssen wir bei der Frage nach möglichen Entlastungen besonders und prioritär in den Blick nehmen. Zumindest ein Teil der zusätzlichen Neueinstellung wird hierfür Verwendung finden. Ich bin sehr froh, dass ich jetzt mit unserem Ministerpräsidenten grundsätzliche Einigkeit erzielen konnte, dass wir die monatliche und wöchentliche Arbeitszeit in mehreren Schritten reduzieren werden. Und dies nicht erst ab 2019, sondern beginnend noch in diesem Jahr auf Basis des von der Behördenleiterrunde vorgeschlagenen Vorgehens. Ministerpräsident Albig hat anlässlich der Ernennungsfeier der frisch gebackenen Polizeiobermeisterinnen und -obermeister am 20. Januar zugesagt, dass dieses Projekt das erste in einem nächsten Koalitionsvertrag sein wird, das wir umsetzen. Die Polizeiabteilung in meinem Hause habe ich beauftragt, die erforderlichen Umsetzungsschritte zu skizzieren und interne Abstimmungsgespräche – auch mit anderen betroffenen Ressorts wie z. B. Justiz – zu führen.

Ich wünsche Ihnen allen ein gesundes und hoffentlich friedliches Jahr. Bitte kehren Sie stets wohlbehalten von Ihren Einsätzen zurück. Ich freue mich auf die weiteren Begegnungen mit Ihnen und die stets offenen Gespräche. Auch in den nächsten Monaten werde ich meine Dienststellenbesuche und die nächtlichen Begleitfahrten fortsetzen – in Itzehoe, Kiel-Mettenhof, Pinneberg.

Mit freundlichen Grüßen

Stefan Studt

5

Unter anderem anlässlich dieses Schreibens brachte die Fraktion der CDU am 10. März 2017 einen Antrag unter der Überschrift „Verbot der Wahlwerbung durch die Landesregierung einhalten“ in den Landtag ein. Der Antrag hatte folgenden Inhalt:

Der Landtag wolle beschließen:

Der Landtag stellt fest, dass die Landesregierung in mehreren Fällen durch Veröffentlichungen und weitere Maßnahmen das Gebot die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität verletzt hat. Bereits im September 2016 hat der Ministerpräsident in einem Video der Landesregierung offen und aktiv für seine Wiederwahl geworben. Ebenfalls wahlwerbenden Charakter hatte das Anschreiben des Ministerpräsidenten an Eltern in Schleswig-Holstein anlässlich der Einführung des sog. Kita-Geldes.

Die nun bekannt gewordenen Schreiben der Bildungsministerin und des Innenministers stellen ebenfalls reine Wahlwerbemaßnahmen dar, die der Regierung – vor allem in Vorwahlzeiten – eindeutig verboten sind.

Der Landtag missbilligt deshalb, dass die Landesregierung durch wahlwerbende Maßnahmen die Chancengleichheit der politischen Parteien bei Wahlen verletzt. Er fordert die Landesregierung auf, weitere Veröffentlichungen oder Maßnahmen mit wahlwerbendem Charakter zu unterlassen (LT-Drucksache 18/5346).

6

Der Antrag wurde abgelehnt.

7

Nachfolgend äußerte der damalige Ministerpräsident Torsten Albig in der Ausgabe der Zeitung Kieler Nachrichten vom 23. März 2017, dass es „Wahlschreiben wie diese (gemeint war unter anderem das streitgegenständliche Schreiben) nicht mehr geben“ würde.

8

Durch die Landtagswahl am 7. Mai 2017 änderten sich die Mehrheitsverhältnisse im Landtag und es kam zu einem Regierungswechsel. Die neue Regierung wird von den Fraktionen der CDU, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN getragen. Das Innenministerium (vormals: Ministerium für Inneres und Bundesangelegenheiten; nunmehr: Ministerium für Inneres, ländliche Räume und Integration) wird jetzt von Minister Hans-Joachim Grote (CDU) geführt.

II.

9

Die Antragstellerin hat am 7. April 2017 ein Organstreitverfahren mit der Behauptung eingeleitet, dass das Schreiben vom 30. Januar 2017 gegen das Gebot der Neutralität des Staates und seiner Amtsträger im Wahlkampf (Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 4 Abs. 1 Landesverfassung) sowie gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien im Wahlkampf (Art. 3 LV i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz) verstoße. Sie beanstandet das streitbefangene Schreiben als unzulässigen staatlichen Eingriff in den Wahlkampf während der unmittelbaren Vorwahlzeit. Hierdurch sei ihr Recht auf demokratische Mitwirkung und Chancengleichheit im Hinblick auf die Wahlen zum 19. Schleswig-Holsteinischen Landtag verletzt worden. Überdies habe der Antragsgegner das Gebot der Neutralität im Wahlkampf verletzt. Die Grenzen der zulässigen Öffentlichkeitsarbeit seien überschritten worden.

10

Die Antragstellerin beantragt,

1. festzustellen, dass der Antragsgegner durch den „Mitarbeiterbrief von Minister Stefan Studt“ vom 30. Januar 2017, veröffentlich im Intranet der Landespolizei Schleswig-Holstein, gegen das Gebot der Neutralität des Staates und seiner Amtsträger im Wahlkampf (Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 4 Abs. 1 LV) sowie gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien im Wahlkampf (Art. 3 LV i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG) verstoßen hat;

2. die Erstattung der Auslagen der Antragstellerin durch den Antragsgegner anzuordnen.

11

Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt, sondern im Juli 2017, das heißt nach der Landtagswahl durch seine Staatssekretärin mitteilen lassen, dass er sich einer Erwiderung auf den gestellten Antrag enthalten wird.

12

Die Landesregierung und der Landtag sind dem Verfahren nicht beigetreten und haben von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

13

Der Antrag ist mittlerweile unzulässig.

14

1. Zwar ist der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht eröffnet. Der Antrag ist statthaft. Es handelt sich um eine Organstreitigkeit nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1 und §§ 35 ff. Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG).

15

2. Die Antragstellerin ist in dem vorliegenden Verfahren antragsberechtigt. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung – einschließlich derer in Fällen, die es als Landesverfassungsgericht entschieden hat – davon aus, dass Parteien im Sinne des Art. 21 GG in einem Organstreitverfahren als „andere Beteiligte“ jedenfalls insoweit antragsberechtigt sind, als sie das in Art. 21 GG garantierte Recht in Gestalt der Mitwirkung an der politischen Willensbildung durch die Beteiligung an Parlamentswahlen wahrnehmen, sie in diesem Bereich tätig werden und um Rechte kämpfen, die sich aus ihrer besonderen Funktion im Verfassungsleben ergeben

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Juli 1954 - 1 PBvU 1/54 -, BVerfGE 4, 27 ff., Juris Rn. 16 f.; Urteile vom 11. August 1954 - 2 BvK 2/54 -, BVerfGE 4, 31 ff., Juris Rn. 21 f.; vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 -, BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 17 und vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -, BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 37 f.; vgl. auch: Zuck, in: Lechner/ Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz - Kommentar, 7. Aufl. 2015, § 63 Rn. 17 f.).

16

Dieser Rechtsprechung hat sich das Landesverfassungsgericht für den schleswig-holsteinischen Verfassungsraum bereits angeschlossen

(Beschluss vom 15. März 2017 - LVerfG 3/17 -, Rn. 3 f.).

Art. 21 GG, nach welchem die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, gilt unmittelbar im schleswig-holsteinischen Verfassungsraum und ist insoweit zugleich Bestandteil der Landesverfassung

(Beschluss vom 15. März 2017 - LVerfG 2/17 -, SchlHA 2017, 135 <137> = BeckRS 2017, 106196 Rn. 29, Juris Rn. 29 m.w.N.).

17

Die Antragstellerin ist eine Partei im Sinne des Art. 21 GG und rügt eine Verletzung des Gebots der Neutralität des Staates und seiner Amtswalter im Wahlkampf sowie eine hieraus folgende Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit politischer Parteien bei Wahlen und deren Vorbereitung. Dies genügt unter Berücksichtigung der vorstehend dargelegten Grundsätze für die Annahme der Antragsberechtigung der Antragstellerin in dem vorliegenden Verfahren

(so in einer vergleichbaren Fallgestaltung auch: BVerfG, Urteil vom 2. März 1977 - 2 BvE 1/76 -, BVerfGE 44, 125 ff., Juris Rn. 39; vgl. auch: Umbach, in: Umbach/ Clemens/ Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz - Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, §§ 63, 64 Rn. 103 ff.).

18

3. Allerdings fehlt der Antragstellerin mittlerweile das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag.

19

Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht grundsätzlich, wenn die Rechtsordnung ein materielles Recht gewährt. Es ist nur ausnahmsweise dann zu verneinen, wenn besondere Umstände das objektive oder subjektive Interesse an der Durchführung des Rechtsstreits entfallen lassen.

20

Allein der Umstand, dass die angegriffene Maßnahme in der Vergangenheit liegt, führt zwar nicht zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses

(Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, SchlHA 2017, 213 <217> = NVwZ-RR 2017, 593 <594> = BeckRS 2017, 110642 Rn. 33, Juris Rn. 33).

Vorliegend lässt jedoch ein weiterer Umstand das Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Es ist aufgrund der Entwicklung nach Einleitung des Organstreitverfahrens die kontradiktorische Beziehung der Beteiligten zueinander aufgelöst worden.

21

Das Organstreitverfahren ist nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1, §§ 35 ff. LVerfGG ein kontradiktorisches Verfahren

(Beschluss vom 21. September 2017 - LVerfG 4/17 -, SchlHA 2017, 417 ff. = NordÖR 2017, 540 ff. = BeckRS 2017, 127167 Rn. 5, Juris Rn. 5).

Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen eines Verfassungsorgans beziehungsweise Organteils

(vgl. BVerfG, Urteile vom 3. Juli 2007 - 2 BvE 2/07 -, BVerfGE 118, 244 ff., Juris Rn. 39 und vom 22. September 2015 - 2 BvE 1/11 -, BVerfGE 140, 115 ff., Juris Rn. 80; Beschlüsse vom 4. Mai 2010 - 2 BvE 5/07 -, BVerfGE 126, 55 ff., Juris Rn. 45, 67 f.; vom 17. September 2013 - 2 BvE 6/08 u.a. -, BVerfGE 134, 141 ff., Juris Rn. 160; und vom 10. Oktober 2017 - 2 BvE 6/16 -, Juris Rn. 17)

und setzt einen zwischen den Beteiligten bestehenden Streit über bestimmte Rechte und Pflichten aus dem zwischen ihnen bestehenden verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis voraus

(vgl. BVerfG, Urteil vom 7. März 1953 - 2 BvE 4/52 -, BVerfGE 2, 143 ff., Juris Rn. 56; Beschluss vom 10. Oktober 2017 - 2 BvE 6/16 -, a.a.O. Rn. 18; Zuck, in: Lechner/ Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz - Kommentar, 7. Aufl. 2015, Vor §§ 63 ff. Rn. 10).

22

Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenz verbunden. Regelmäßig kann die im Organstreitverfahren vorzunehmende Abgrenzung nicht ohne eine konfrontative, die tatsächlichen Umstände einbeziehende Erörterung erfolgen, die grundsätzlich der mündlichen Verhandlung vorbehalten ist. Der Zweck des Organstreitverfahrens ist – ungeachtet eines eventuell bestehenden objektiven Interesses an der Klärung der Rechtsfrage – dementsprechend dann nicht mehr zu erreichen, wenn eine Verteidigung der angefochtenen Maßnahme durch den Antragsgegner im Verfahren nicht mehr zu erwarten ist

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 6. Mai 2014 - 2 BvE 3/12 -, BVerfGE 136, 190 ff., Juris Rn. 8 und vom 10. Oktober 2017 - 2 BvE 6/16 -, a.a.O.)

– und tatsächlich auch gar nicht stattfindet.

23

Im vorliegenden Verfahren sind ein Diskurs oder eine streitige Auseinandersetzung über tatsächliche Umstände und Hintergründe der Maßnahme und deren Bedeutung für die Grenzziehung zwischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit und unzulässiger Wahlwerbung im Vorfeld der Wahl nicht mehr zu erwarten. Ein Interesse des Antragsgegners an einer solchen Auseinandersetzung ist nicht zu erkennen. Sein Verhalten im vorliegenden Verfahren führt vielmehr zu dem Schluss, dass ein für die Abgrenzungsentscheidung im Organstreitverfahren maßgeblicher Diskurs auch in Zukunft – und sei es in der mündlichen Verhandlung – nicht mehr erwartet werden kann. Der ehemalige Minister für Inneres und Bundesangelegenheiten, Stefan Studt, hat sich über Hintergründe, Umstände und Tatsachen zur Begründung beziehungsweise Rechtfertigung der angefochtenen Maßnahme, seines Schreibens an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landespolizei, in diesem Verfahren nicht (mehr) geäußert. Der gegenwärtige Minister hat mitteilen lassen, dass er auf den Antrag nicht erwidern wird und zudem keinerlei Anstalten gemacht, die angefochtene Maßnahme zu rechtfertigen. Danach ist eine Äußerung auch in einer mündlichen Verhandlung nicht zu erwarten.

24

Ohne eine Erwiderung auf den Antrag oder Verteidigung der Maßnahme unter Beleuchtung der Umstände des Einzelfalls ist die für das Organstreitverfahren maßgebliche diskursive Auseinandersetzung jedoch nicht gegeben. Dies gilt hier umso mehr, als angesichts der mittlerweile bestehenden parteipolitischen Zugehörigkeit des Antragsgegners zu der Antragstellerin sowie der nicht erfolgten Stellungnahme zur Verteidigung der Maßnahme davon auszugehen ist, dass zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens jedenfalls nach dem Wechsel in der Führung des beteiligten Ministeriums keine Uneinigkeit mehr über die Zulässigkeit der Maßnahme beziehungsweise die Grenzen der zulässigen Öffentlichkeitsarbeit im Vorfeld einer Wahl besteht.

25

Mangels streitiger Positionen der inzwischen Beteiligten zu den offenen Abgrenzungsfragen ist das vorliegende Organstreitverfahren für eine abstrakte Klärung der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage ungeeignet. Danach besteht auch kein objektives Interesse an der Durchführung des Verfahrens mehr.

C.

26

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG).

27

Der Antragstellerin sind auf ihren Antrag hin nach § 33 Abs. 4 LVerfGG aus Gründen der Billigkeit die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen vom Antragsgegner zu erstatten. Zwar ist die Antragstellerin mit ihrem Antrag im Ergebnis nicht durchgedrungen, allerdings ohne dass sich das Landesverfassungsgericht mit der Begründetheit des Antrages befassen konnte. Gegenstand insoweit wäre eine durch das Landesverfassungsgericht bislang nicht geklärte verfassungsrechtliche Frage gewesen, nämlich die Frage der Abgrenzung der zulässigen Öffentlichkeitsarbeit von unzulässiger Wahlwerbung der Regierung. Die Antragstellerin hat mit nicht unerheblichem Aufwand und – was in Organstreitverfahren nicht die Regel ist – aus parteieigenen Mitteln das Verfahren eingeleitet. Der Umstand, dass eine Entscheidung in der Sache nicht ergehen konnte, ist nicht von der Antragstellerin zu vertreten, sondern den Mehrheitsverhältnissen und der politischen Entwicklung nach der Landtagswahl 2017 geschuldet.

28

Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

29

Die Gegenstandswertfestsetzung ergeht unter Berücksichtigung der (ursprünglichen) Bedeutung für die beteiligten Organe.


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(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.

(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Tenor

Die Nichtanerkennungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe

A.

1

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung der Anerkennung als Partei für die Wahl zum 19. Landtag von Schleswig-Holstein.

2

Die Beschwerdeführerin wurde am 28. Dezember 2016 in N. in Holstein gegründet. Bei dem Gründungsparteitag waren drei Mitglieder anwesend. Es bestehen ein Bundesverband und ein Landesverband in Schleswig-Holstein. Es existiert eine Internetseite, die Informationen sowohl bezüglich des Bundes- als auch des Landesverbandes enthält. Dort befand sich – zumindest noch bis zum 28. Februar 2017 – unter der Rubrik „Landtagswahlen“ ein Verweis auf ein noch nicht veröffentlichtes Landtagswahlprogramm. Unter der Rubrik „Bundestagswahl“ befindet sich ein Link zu dem Bundestagswahlprogramm. Im Weiteren beinhaltet die Internetseite überblicksartige Informationen zu der Vereinigung und ihren Zielen, einen Link zu dem Grundsatzprogramm sowie Hinweise, wie der Beschwerdeführerin Spenden zukommen können oder Interessierte Mitglied werden können. Informationen zu Veranstaltungen der Beschwerdeführerin sind der Internetseite nicht zu entnehmen. Im Impressum ist als verantwortlich für den Inhalt die INITATIVE146 Deutschland, vertreten durch die Bundesvorsitzende X angegeben.

3

Mit Datum vom 1. Januar 2017 wurde unter dem Namen X auf der Internetseite www.freitag.de ein Blogeintrag veröffentlicht, in dem das Auftreten der „INI146“ als Partei und Gründe hierfür mitgeteilt werden. Zugleich wurde zur Gründung von Landesverbänden aufgerufen und darum gebeten, die Gedanken der Vereinigung in die Öffentlichkeit zu tragen und gemeinsam die Landtagswahlen und Bundestagswahl 2017 anzugehen. Eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Ankündigung wurde als Pressemeldung am 1. Januar 2017 auch auf der Internetseite www.sozilaticker.com veröffentlicht. Frau X ist auf der Internetseite www.freitag.de unter Hinweis auf ihre Eigenschaft als Vorsitzende der „neu gegründeten Partei INI146“ seit dem 1. Januar 2017 aktiv. Sie hat einen weiteren Blogeintrag zur Abschaffung der 5-Prozent-Hürde mit Datum vom 2. Januar 2017 verfasst sowie mehrere Beiträge anderer Autoren – teilweise unter ausdrücklichem Hinweis auf die INITATIVE146 im Text – kommentiert.

4

Am 30. Dezember 2016 zeigte die Beschwerdeführerin dem Landeswahlleiter ihre geplante Beteiligung an der Wahl zum Landtag an. Die von drei Mitgliedern des Landesvorstandes, darunter der Landesvorsitzenden, unter dem 28. Dezember 2016 unterzeichnete Beteiligungsanzeige enthielt die Angabe des Namens, unter dem sich die Vereinigung beteiligen will, sowie ihre Kurzbezeichnung. Der Anzeige waren die Satzung der Bundespartei, Stand: 28. Dezember 2016, die der Landesverband für sich übernommen hatte, das Grundsatzprogramm der Partei und das Protokoll des Gründungsparteitages vom 28. Dezember 2016 zum Nachweis der satzungsgemäßen Bestellung des Landevorstandes Schleswig-Holstein beigefügt. Im Briefkopf war der Landesverband als Absender der Beteiligungsanzeige genannt.

5

Ebenfalls unter dem 28. Dezember 2017 zeigte die INITATIVE146 Deutschland bei dem Bundeswahlleiter die Parteigründung sowie die Beteiligung an der Wahl zum 19. Bundestag an. Seit dem 17. Januar 2017 ist die INITIATIVE146 Deutschland bei dem Bundeswahlleiter registriert.

6

Mit Schreiben vom 2. Januar 2017 bat der Landeswahlleiter die Beschwerdeführerin um Stellungnahme, ob sie bereits in Gebietsverbände gegliedert sei, über wie viele Mitglieder sie verfüge sowie auf welche Weise der Landesverband in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten sei. Eine Reaktion der Beschwerdeführerin gegenüber dem Landeswahlleiter oder dem Landeswahlausschuss erfolgte nicht.

7

Zu der Sitzung des Landeswahlausschusses vom 24. Februar 2017 zu dem die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 16. Februar 2017 eingeladen wurde, erschien kein Vertreter der Beschwerdeführerin.

8

In der Sitzung vom 24. Februar 2017 stellte der Landeswahlausschuss einstimmig die Nichtanerkennung der Beschwerdeführerin als Partei für die Landtagswahl 2017 fest und gab dies bekannt. Zwar seien die formellen Voraussetzungen im Hinblick auf die Beteiligungsanzeige durch die Beschwerdeführerin gewahrt worden. Die vorliegenden Informationen ließen aber nicht den Schluss zu, dass die Beschwerdeführerin ihre erklärte Absicht einer Mitwirkung an der politischen Willensbildung im Schleswig-Holsteinischen Landtag ernsthaft verfolge. Zu den subjektiven Anforderungen an eine Partei gehöre es, dass mit ihrer Gründung eine ständige Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes ernstlich beabsichtigt sei. Auch in der Gründungsphase müssten Parteien ansatzweise, mit wachsendem Abstand zum Gründungsdatum zunehmend in der Lage sein, die ihnen nach dem Parteiengesetz zugedachten Aufgaben wirksam zu erfüllen. Dies sei bei der Beschwerdeführerin gegenwärtig nicht der Fall. Dass sie mittlerweile über mehr als die drei Gründungsmitglieder verfüge sei ebenso wenig vorgetragen oder sonst erkennbar wie ein Hervortreten in der Öffentlichkeit mit zielgerichteten Aktivitäten im Hinblick auf eine Teilnahme an der Landtagswahl 2017.

9

Am selben Tag wurde die Beschwerdeführerin per E-Mail über die Entscheidung des Landeswahlausschuss unter Hinweis auf die bestehende Beschwerdemöglichkeit bei dem Landesverfassungsgericht informiert. Ein Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Landeswahlausschuss wurde an diesem Tag nicht übersandt. Dies wurde am 27. Februar 2017 um 16:52 Uhr durch Übersendung per E-Mail nachgeholt.

10

Gegen die Nichtanerkennung hat die Beschwerdeführerin am 27. Februar 2017 um 11:26 Uhr Beschwerde erhoben.

11

In der Beschwerdeschrift wurde als Beschwerdeführerin „die INITIATIVE146 (INI) Deutschland in Verbindung mit der INITIATIVE146 (INI146), Landesverband Schleswig-Holstein,“ angegeben. Im Briefkopf war allein die Kurzbezeichnung „INI146“ benannt. Unterschrieben war die Beschwerde von Frau X. Unterhalb der Unterschrift befand sich die Formulierung „Partei INITATIVE146 (INI146) vertreten durch Bundesvorsitzende X, vertreten durch die Landesvorsitzende des Landesverbandes Schleswig-Holstein, X“. In der Fußzeile der Beschwerdeschrift waren jeweils postalische Erreichbarkeiten der INITATIVE146 Deutschland sowie der INITATIVE146, Landesverband Schleswig-Holstein, angegeben.

12

Zur Begründung trägt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, dass alle förmlichen Anforderungen des § 24 Abs. 2 Landeswahlgesetz (LWahlG) von ihr erfüllt seien. Die Parteieigenschaft könne bereits nicht von einem Landeswahlausschuss in Frage gestellt werden, weil diese dann den subjektiven Bewertungskriterien des Landeswahlausschusses unterläge. Dies könnte zu unterschiedlichen Beurteilungen in den Bundesländern führen, was mit dem Gleichbehandlungsgebot des § 5 Abs. 1 Satz 1 Parteiengesetz (PartG) nicht vereinbar sei. Auch finde bei nach § 24 Abs. 1 LWahlG eingereichten Vorschlägen von Parteien und Einzelbewerbern eine subjektive Bewertung über politische Eigenschaften der Kandidatinnen und Kandidaten nicht statt. Darüber hinaus sei es zweifelhaft, ob der Landeswahlausschuss die nötige erforderliche Neutralität bei der Beurteilung aufweise, da dessen Mitglieder von bereits vorhandenen Parteien vorgeschlagen seien. Im Übrigen seien die Anzahl der Mitglieder einer Vereinigung, die Gliederung in Gebietsverbände sowie das In-Erscheinung-Treten in der Öffentlichkeit keine geeigneten Maßstäbe zur Beurteilung der Parteieigenschaft. In Zeiten der modernen Kommunikationsmedien sei eine politische Willensbildung nicht mehr von der Anzahl der Mitglieder abhängig, sondern erfolge über gesellschaftspolitische Foren und Vernetzungsmechanismen. Den Umfang einer Organisation über die Willensbildung des Volkes zu stellen, sei mit Art. 21 GG nicht vereinbar. Weder das Grundgesetz noch das Parteiengesetz regelten, wie viele Mitglieder eine Partei innerhalb welchen Zeitfensters aufweisen und mit welchen Methoden eine Partei ihre Öffentlichkeitsarbeit vorantreiben müsse. Ein messbarer und nachvollziehbarer Handlungsrahmen unter gleichen Bedingungen für alle Bundesländer sei insofern nicht vorhanden.

13

Der Landeswahlleiter führt in seiner Stellungnahme vom 1. März 2017 aus, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 PartG hinsichtlich der Beschwerdeführerin derzeit nicht vorlägen. Zur Begründung wiederholt er die in der Sitzung vom 24. Februar 2017 bereits dargelegten Gründe. Ergänzend führt er aus, dass sich auch aus der Beschwerdeschrift kein abweichendes Bild ergebe. In Ermangelung anderer Informationen, die nach § 24 Abs. 2 Satz 4 LWahlG von der Beschwerdeführerin hätten beigebracht werden müssen, müsse weiterhin davon ausgegangen werden, dass sich der Mitgliederbestand seit der Gründung nicht nennenswert erhöht habe. Zwar lasse sich den wahlrechtlichen Vorschriften eine exakte Mindestmitgliederanzahl, ab welcher eine für die Teilnahme an Landtagswahlen erforderlichen „Verfestigung“ zu bejahen sei, nicht entnehmen. Eine derart geringe Zahl könne jedenfalls nicht ausreichend sein. Hierfür spreche, dass das Engagement von Parteien, die sich für Landtagsmandate bewerben, grundsätzlich landesweit ausgerichtet sein müsse; zudem sei die Aufstellung einer Landesliste nur bei einer weit höheren Mitgliederzahl möglich. Auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführerin der Verpflichtung, dem Bundeswahlleiter die Parteiunterlagen vorzulegen, nachgekommen sei, folge nichts anderes. Vorliegend sei vielmehr von entscheidendem Gewicht, dass die Beschwerdeführerin bisher nicht mit zielgerichteten Aktivitäten im Hinblick auf eine Teilnahme an der Landtagswahl 2017 in der Öffentlichkeit hervorgetreten sei. Gegen eine im Sinne des § 2 Abs. 1 PartG ausreichende Aufstellung spreche auch das Auftreten des Bundesverbandes im Rahmen des Beschwerdeverfahrens für den für sich genommen faktisch nicht handlungsfähigen Landesverband.

14

Nach dem 28. Februar 2017 wurde auf der Internetseite der INITATIVE146 unter der Rubrik Landtagswahl anstelle des bisherigen Hinweises auf ein zukünftiges Landtagswahlprogramm ein Text eingestellt, in dem über die Entscheidung des Landeswahlausschuss über die Nichtanerkennung berichtet und mitgeteilt wird, dass die Beschwerdeführerin ein Organstreitverfahren vor dem Landesverfassungsgericht mit dem Ziel eingeleitet habe, die Regelungen über die Anerkennung von Parteien sowie die Notwendigkeit von Unterstützungsunterschriften streichen zu lassen. Dies solle dazu dienen, die politischen Verantwortlichen von der politischen Ernsthaftigkeit der INITATIVE146 zu überzeugen. Sonstige Aktivitäten im Hinblick auf die bevorstehende Landtags- beziehungsweise Bundestagswahl entfaltet die Beschwerdeführerin – soweit ersichtlich – nicht. Insbesondere sind keine Veranstaltungen oder anderweitige Öffentlichkeitsarbeit angekündigt.

15

Die Beschwerdeführerin beantragt wörtlich,

1. die INITIATIVE146 (INI146) als vorschlagsberechtigte Partei zur Landtagswahl 2017 zuzulassen;

2. der Beschwerde der Partei INITIATIVE (INI146), gegen die Feststellung des Landeswahlausschusses vom 24.02.2017 gem. § 24 Wahlvorschlagrecht, Beteiligungsanzeige Absatz 6 LWahlG stattzugeben sowie

3. das Landeswahlamt zu rügen, weil bereits durch ein Unterlassen die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt wurde.

B.

16

Die Nichtanerkennungsbeschwerde ist unzulässig (I.). Sie wäre überdies im Falle der Zulässigkeit unbegründet (II.).

I.

17

Die Nichtanerkennungsbeschwerde ist nicht hinreichend im Sinne des § 51 Abs. 2 Satz 2 Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG) begründet worden.

18

1. Gemäß § 24 Abs. 6 Satz 1 LWahlG kann eine Partei oder Vereinigung gegen die Feststellung des Landeswahlausschusses, mit der sie als nicht als Partei anerkannt worden ist, binnen vier Tagen nach der Bekanntgabe Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erheben (Nichtanerkennungsbeschwerde, vgl. auch § 51 LVerfGG). § 51 Abs. 2 LVerfGG stellt insoweit klar, dass die Viertagesfrist bereits mit der Bekanntgabe der Entscheidung in der Sitzung des Landeswahlausschusses zu laufen beginnt (Satz 1) und innerhalb der genannten Frist die Beschwerde auch zu begründen ist (Satz 2).

19

Trotz der im Rubrum der Beschwerdeschrift vorgenommenen Aufführung des Bundesverbandes „in Verbindung mit“ dem Landesverband ist Beschwerdeführerin nach der gebotenen Auslegung des Begehrens allein die INITIATIVE146 (INI146), Landesverband Schleswig-Holstein. Mit den Anträgen zu 1. und 2. verfolgt die Beschwerdeführerin das Ziel der Anerkennung der INITIATIVE146 (INI146) als Partei im Sinne des § 24 Abs. 2 LWahlG, da diese Anerkennung zu der begehrten Wahlvorschlagsberechtigung führt. Die Anträge beziehen sich unter Berücksichtigung der verwendeten Kurzbezeichnung „INI146“ auf die Anerkennung der INITIATIVE146, Landesverband Schleswig-Holstein, als Partei mit dem Ziel der Ermöglichung der Einreichung von Wahlvorschlägen und der Teilnahme an der Landtagswahl 2017. Zudem kann nach § 51 Abs. 1 LVerfGG nur eine Vereinigung beschwerdeberechtigt sein, der die Anerkennung als Partei durch den Landewahlausschuss versagt wurde. Allein der Landesverband hat eine Beteiligungsanzeige für die Landtagswahl 2017 eingereicht, nicht aber der Bundesverband.

20

Soweit die Beschwerdeführerin begehrt, das „Landeswahlamt“ – gemeint ist wohl der Landeswahlleiter – zu rügen, weil bereits durch ein Unterlassen die Beschwerdeführerin in ihren Rechten verletzt worden sei, ist ein solcher Antrag bei dem Landesverfassungsgericht nicht statthaft. Er gibt dem Landesverfassungsgericht jedoch Anlass zu dem folgenden Hinweis:

21

Nach § 22 Abs. 4 Satz 3 Landeswahlordnung (LWO) hat die Landeswahlleiterin oder der Landeswahlleiter den Parteien oder Vereinigungen, die durch die Feststellung des Landeswahlausschusses an der Einreichung von Wahlvorschlägen gehindert sind, unverzüglich, spätestens am Tag nach der Sitzung des Landeswahlausschusses, auf schnellstem Wege eine Ausfertigung des sie betreffenden Teils der Niederschrift mit dem nach § 22 Abs. 2 Satz 2 LWO erforderlichen Hinweis auf den Rechtsbehelf der Nichtanerkennungsbeschwerde zu übersenden. Eine förmliche Zustellung ist nicht erforderlich. Die Übersendung der Niederschrift drei Tage nach der Sitzung des Landeswahlausschusses am 27. Februar 2017 erfolgte jedoch in Ansehung der kurzen Beschwerdefrist des § 24 Abs. 6 Satz 1 LWahlG (§ 51 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG) nicht mehr unverzüglich in diesem Sinne. Dies könnte daher grundsätzlich Anlass für eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand für die Begründung der Nichtanerkennungsbeschwerde sein und zur Berücksichtigung von nach Ablauf der Beschwerdefrist des § 24 Abs. 6 Satz 1 LWahlG eingegangenen Vortrages führen. Das Landesverfassungsgericht muss sich indes damit nicht näher befassen, weil sich die Beschwerdeführerin auch innerhalb von vier Tagen nach der Übersendung der Niederschrift nicht weiter mit den Argumenten des Landeswahlausschusses auseinander gesetzt hat.

22

2. Die Beschwerdeschrift erfüllt nicht die Anforderungen an die Begründung der Nichtanerkennungsbeschwerde aus § 20 Abs. 1 Satz 2, § 51 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG.

23

§ 20 Abs. 1 Satz 2 LVerfGG erfordert, dass eine bestimmte Rechtsverletzung konkret darzulegen ist

(für kommunale Verfassungsbeschwerden: Urteile vom 27. Januar 2017 - LVerfG 5/15 -, Rn. 70 f., und vom 3. September 2012 - LVerfG 1/12 -, LVerfGE 23, 361 ff., Rn. 28 = SchlHA 2012, 431 ff. = NVwZ-RR 2012, 913 ff., - Juris Rn. 39; Beschluss vom 17. Juni 2016 - LVerfG 3/15, LVerLVerfG 1/16 = SchlHA 2016, 250 ff., Juris Rn. 23 ff.).

24

Dies gilt auch für die Nichtanerkennungsbeschwerde. Die Beschwerdeführerin muss sich grundsätzlich in ihrer Begründung mit den Erwägungen des Landeswahlausschusses auseinandersetzen und die gegebenenfalls erforderlichen Beweismittel vorlegen

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 1/13 -, BeckRS 2013, 53739 Rn. 9, und vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 8/13 -, BeckRS 2013, 53749 Rn. 11 ff.).

25

Die Beschwerdeführerin muss sich zudem mit dem einschlägigen einfachen Recht auseinandersetzen und die verfassungsrechtliche Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts darlegen. Soweit Gerichte dazu schon rechtliche Maßstäbe entwickelt haben, sind diese miteinzubeziehen. Es muss insoweit eigenständig und detailliert vorgetragen werden

(vgl. Zuck, in: Lechner/ Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz - Kommentar, 7. Aufl. 2015, § 96a Rn. 16 ff.).

Sofern sie geltend macht, dass die rechtlichen Maßstäbe für die Anerkennung einer Partei fehlerhaft seien, gilt Folgendes: Angesichts der in der Vergangenheit durch das Bundesverfassungsgericht geprägten Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer Parteieigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG muss sich die Beschwerdeführerin mit der zu dieser Frage bereits ergangenen Rechtsprechung auseinander setzen.

26

Offenbleiben kann an dieser Stelle, ob angesichts der kurzen Rechtsbehelfsfrist von vier Tagen die Substantiierungsanforderungen überspannt würden, wenn dieselbe vertiefte Auseinandersetzung mit der Sach- und Rechtslage wie bei einer Verfassungsbeschwerde oder einer Wahlprüfungsbeschwerde verlangt würde

(vgl. Bechler/ Neidhardt, NVwZ 2013, 1438 <1439 f.>).

Die Beschwerdeführerin hat sich weder mit den in der Sitzung vom 24. Februar 2017 vorgebrachten Argumenten des Landeswahlausschusses noch mit der zu den Voraussetzungen der Parteieigenschaft ergangenen Rechtsprechung auseinander gesetzt.

27

Da der Landeswahlausschuss seine ablehnende Entscheidung maßgeblich darauf gestützt hat, dass die Beschwerdeführerin nur über drei Mitglieder und keine ausreichende Organisationstruktur verfüge und somit die ernsthafte Möglichkeit zur Einflussnahme auf die politische Willensbildung nicht gewährleistet sei, hätte sich die Beschwerdeführerin mit dieser Argumentation auseinander setzen müssen. Sie hätte demnach entweder konkret zur Mitglieder- und Strukturentwicklung vortragen müssen oder dezidiert darlegen müssen, warum solche Merkmale zur Beurteilung der Parteieigenschaft nicht heranzuziehen sind. Allein der Vortrag, dass die Anzahl der Mitglieder einer Vereinigung, die Gliederung in Gebietsverbände sowie das In-Erscheinung-Treten in der Öffentlichkeit keine geeigneten Maßstäbe zur Beurteilung der Parteieigenschaft seien, da in Zeiten der modernen Kommunikationsmedien eine politische Willensbildung nicht mehr von der Anzahl der Mitglieder abhängig sei, sondern über gesellschaftspolitische Foren und Vernetzungsmechanismen erfolge, genügt nicht. Zumindest hätte die Beschwerdeführerin konkret ausführen müssen, wie eine von der Anzahl der Mitglieder unabhängige politische Willensbildung über gesellschaftspolitische Foren und Vernetzungsmechanismen konkret erfolgen soll. Ein konkretes Konzept, das Entsprechendes ermöglichen könnte, ist auch sonst nicht ersichtlich. Es fehlt insoweit vollständig an substantiiertem Vortrag.

II.

28

Doch selbst wenn von einer Zulässigkeit der Beschwerde auszugehen wäre, hätte sie keinen Erfolg. Zwar bestehen keine Zweifel, dass die Beteiligungsanzeige der Beschwerdeführerin den formellen Anforderungen im Sinne des § 24 Abs. 2 LWahlG genügt. Die Beschwerdeführerin erfüllt jedoch gegenwärtig nicht die materiellen Anforderungen, die gemäß § 24 Abs. 2 LWahlG an eine Partei zu stellen sind.

29

Gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Art. 21 GG gilt nicht nur für den Bereich des Bundes. Er gilt vielmehr unmittelbar auch für die Länder und ist insoweit zugleich Bestandteil der jeweiligen Landesverfassung

(BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -, BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 64, und vom 24. Januar 1984 - 2 BvH 3/83 -, BVerfGE 66, 107 ff., Juris Rn. 23).

30

Durch die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG hat der Gesetzgeber den Parteienbegriff des Art. 21 Abs. 1 GG in verfassungsmäßiger Weise konkretisiert

(BVerfG, Beschlüsse vom 21. Oktober 1993 - 2 BvC 7/91 u.a. -,
BVerfGE 89, 266 ff., Juris Rn. 14 m.w.N., vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 3/13 -, BVerfGE 134, 124 ff., Juris Rn. 15, und vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 4/13 -, BVerfGE 134, 131 ff. Rn. 7; stRspr).

31

Im Geltungsbereich der Schleswig-Holsteinischen Landesverfassung richtet sich der Parteibegriff ebenfalls nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG

(Urteil vom 13. September 2013 - LVerfG 9/12 -, LVerfGE 24, 467 ff., Juris Rn. 41).

32

Die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG ist auch im Rahmen des gemäß § 24 Abs. 5 Satz 1 LWahlG für alle Wahlorgane verbindliche Feststellungsverfahrens maßgeblich. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG sind Parteien Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.

33

Bei der Anwendung der Legaldefinition durch den Landeswahlausschuss droht entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin auch keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes des § 5 Abs. 1 Satz 1 PartG. Da es bei der Entscheidung nach § 24 Abs. 2 LWahlG allein auf die Anerkennung als Partei für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein ankommt und diese einheitlich durch den Landeswahlausschuss für alle Vereinigungen getroffen wird, die eine Beteiligungsanzeige im Hinblick auf die Wahl des Schleswig-Holsteinischen Landtags abgegeben haben, kommt es auf die Frage nicht an, ob Landeswahlausschüsse anderer Bundesländer gegebenenfalls die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG im Einzelfall anders anwenden als der Landeswahlausschuss in Schleswig-Holstein. Maßgeblich für die Ungleichbehandlung ist allein die Behandlung innerhalb desselben Verfassungsraums – hier also desjenigen von Schleswig-Holstein.

34

Dementsprechend muss eine Vereinigung als Voraussetzung für die Anerkennung als Partei im Sinne von § 24 Abs. 2 LWahlG dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen wollen. Sie muss dabei nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung bieten. Es ist entscheidend, ob die Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse einer Partei – auch unter Berücksichtigung der Dauer ihrer Existenz – den Schluss zulässt, dass sie die erklärte Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ernsthaft verfolgt

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 1994 - 2 BVB 1/93 -, BVerfGE 91, 262 ff., Juris Rn. 31, 34 m.w.N.).

35

Parteien müssen schon in der Gründungsphase ansatzweise in der Lage sein, die ihnen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zugedachten Aufgaben wirksam zu erfüllen. Allein der Wille, „Partei“ zu sein, ist nicht ausreichend

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 3/13 -, BVerfGE 134, 124 ff., Juris Rn. 16, und vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 4/13 -,
BVerfGE 134, 131 ff. Rn. 8).

Durch die bei der Zulassung zur Wahl zu stellenden Anforderungen soll gewährleistet werden, dass sich nur ernsthafte politische Vereinigungen und keine Zufallsbildungen von kurzer Lebensdauer um Wähler bewerben

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Oktober 1993 - 2 BvC 7/91 u.a. -, BVerfGE 89, 266 ff., Juris Rn. 14).

36

Daraus folgt, dass es gewisser objektiver, im Ablauf der Zeit an Gewicht gewinnender Voraussetzungen bedarf, um eine politische Vereinigung als Partei anzuerkennen. Wegen der den Parteien um der Offenheit des politischen Prozesses willen verfassungsrechtlich verbürgten Gründungsfreiheit ist bei politischen Vereinigungen, die am Beginn ihres Wirkens stehen, zu berücksichtigen, dass der Aufbau einer Organisation, die sie zur Wahrnehmung ihrer Funktionen befähigt, eine gewisse Zeit erfordert. Entscheidend ist das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 3/13 -, BVerfGE 134, 124 ff., Juris Rn. 16 ff., und vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 4/13 -, BVerfGE 134, 131 ff. Rn. 8 ff.).

37

Die in § 2 Abs. 1 Satz 1 PartG angesprochenen, nicht trennscharf voneinander abzugrenzenden objektiven Merkmale – deren Aufzählung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht nicht erschöpfend ist denen regelmäßig aber ein großes Gewicht zukommt sind Indizien für die Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Oktober 1993 - 2 BvC 7/91 u.a. -, BVerfGE 89, 266 ff., Juris Rn. 14, und vom 23. November 1993 - 2 BvC 15/91 -, BVerfGE 89, 291 ff., Juris Rn. 60).

Keines ist für sich genommen ausschlaggebend und nicht alle müssen von der Partei stets im gleichen Umfang erfüllt werden. Es bleibt der Partei grundsätzlich selbst überlassen, wie sie die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung unter Beweis stellt. Ihr ist es unbenommen, in ihrer politischen Arbeit Schwerpunkte zu setzen. Zurückhaltung in einem Bereich kann durch verstärkte Bemühungen auf anderen Gebieten in gewissen Grenzen ausgeglichen werden. Insgesamt kommt es darauf an, ob die Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse einer Partei unter Berücksichtigung der Dauer ihres Bestehens den Schluss zulässt, dass sie ihre erklärte Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ernsthaft verfolgt. Umgekehrt sind Vereinigungen, die nach ihrem Organisationsgrad und ihren Aktivitäten offensichtlich nicht imstande sind, auf die politische Willensbildung des Volkes Einfluss zu nehmen, nicht als Partei anzusehen. Bei ihnen ist die Verfolgung dieser Zielsetzung erkennbar unrealistisch und aussichtslos und kann damit nicht, nicht mehr oder noch nicht als ernsthaft eingestuft werden

(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17. November 1994 - 2 BvB 1/93 -, BVerfGE 91, 262 ff., Juris Rn. 33 f., vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 3/13 -, BVerfGE 134, 124 ff., Juris Rn. 17 f., und vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 4/13 -, BVerfGE 134, 131 ff. Rn. 9 f.).

38

Gemessen an diesen Maßstäben erfüllt die Beschwerdeführerin nach der erforderlichen Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse gegenwärtig nicht die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Partei. Selbst unter Berücksichtigung der besonderen Situation von Parteien in der Gründungsphase kann von einer Ernsthaftigkeit der politischen Zielsetzung der Beschwerdeführerin im Ergebnis jedenfalls gegenwärtig nicht ausgegangen werden. Angesichts der Zahl ihrer Mitglieder sowie ihres Organisationsgrades ist sie derzeit außerstande, auf die politische Willensbildung des Volkes Einfluss zu nehmen. Auch ihr Hervortreten in der Öffentlichkeit bietet bisher nicht eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer politischen Zielsetzung.

39

Die Beschwerdeführerin verfügte bei der Gründung über nur drei Mitglieder und es ist nicht ersichtlich, dass sich der Mitgliederbestand relevant erhöht hat. Es ist nicht erkennbar, wie die Vereinigung mit dieser Mitgliederzahl in Schleswig-Holstein Einfluss auf die politische Willensbildung des Volkes nehmen und einen Wahlkampf mit dem Ziel parlamentarischer Vertretung führen will.

40

Auch unter Nutzung moderner Kommunikationsmittel bietet eine Mitgliederanzahl von nicht wesentlich mehr als drei Mitgliedern keine hinreichende Gewähr dafür, dass die Vereinigung Einfluss auf die politische Willensbildung des Volkes nehmen und einen Wahlkampf mit dem Ziel parlamentarischer Vertretung führen kann. Selbst unter Berücksichtigung der Möglichkeiten der modernen Kommunikation ist vor dem Hintergrund des in Art. 16 Abs. 2 LV verankerten Systems der personalisierten Verhältniswahl

(vgl. hierzu: Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 -, LVerfGE 21, 434 ff., Juris Rn. 105 ff.)

nicht erkennbar, wie eine solche Einflussnahme und Wahlkampfführung mit einer solch geringen Anzahl von Mitgliedern und keinen weiteren Organisationsstrukturen erfolgen soll.

41

Überdies ist zu berücksichtigen, dass eine Landesversammlung einer Partei zur Wahl der Landeslistenbewerberinnen und -bewerber gemäß § 23 Abs. 4 Satz 4 Nr. 3 LWahlG erst beschlussfähig ist, wenn auf der Landesversammlung 50 Parteimitglieder oder Delegierte erschienen sind. Es ist nicht ersichtlich, wie die Beschwerdeführerin bei der geringen Mitgliederzahl überhaupt wirksam eine Landesliste aufstellen kann, um über diese an der Wahl teilzunehmen und darüber auf die politische Willensbildung Einfluss zu nehmen.

42

Zudem ist bei einer solch geringen Mitgliederanzahl nicht gewährleistet, dass die Beschwerdeführerin eine politische Vereinigung mit einer nachhaltigen Zielsetzung und einer entsprechenden Lebensdauer ist. Ein hinreichend dauerhafter Bestand der Vereinigung – auch unter Berücksichtigung der erst vor kurzem erfolgten Gründung – ist ebenfalls nicht gewährleistet. Nicht gesichert ist des Weiteren, dass die Vereinigung von einem Mitgliederwechsel unabhängig ist

(vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2013 - 2 BvC 4/13 -, BVerfGE 134, 131 ff. Rn. 12).

43

Selbst wenn man berücksichtigt, dass an einen Organisationsausbau seit der Gründung am 28. Dezember 2016 angesichts der kurzen Zeit keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden können, kann nicht außer Acht bleiben, dass eine konkrete Struktur, die eine Einflussnahme beziehungsweise eine Wahlkampfführung unterstützen würde, nicht gegeben ist. Die Vereinigung weist über den Bundesverband und den Landesverband in Schleswig-Holstein hinaus keine weiteren organisatorischen Strukturen auf. Ein Ausbau der Organisation hat seit der Gründung nicht stattgefunden.

44

Darüber hinaus ist die Beschwerdeführerin in der Öffentlichkeit bisher nahezu nicht hervorgetreten. Bis auf eine Internetseite, zwei veröffentlichte Meldungen sowie einige wenige Äußerungen der Vorsitzenden der INITIATIVE146 auf insgesamt zwei anderen Internetseiten ist ein öffentliches Auftreten der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich. Öffentliche oder öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen wurden bisher weder durchgeführt noch sind solche angekündigt.

45

Die Einleitung eines weiteren Verfahrens (LVerfG 3/17) vor dem Landesverfassungsgericht mit dem Ziel, unter anderem auf die Feststellung der Parteieigenschaft durch den Landeswahlausschuss zu verzichten, führt zu keiner anderen Bewertung.

C.

46

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

47

Der Beschluss ist einstimmig ergangen.


(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.

(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner den Antragsteller durch den Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung des Antragsgegners vom 23. Januar 2017 in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter aus Artikel 17 Absatz 1 der Landesverfassung verletzt hat.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Organstreitverfahrens ist ein Ordnungsruf, den der Antragsteller – ein Abgeordneter – für seinen Redebeitrag in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 erhalten hat.

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (LV) lauten:

Artikel 17

Stellung der Abgeordneten

(1) Die Abgeordneten vertreten das ganze Volk. Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.

(2) Die Abgeordneten haben das Recht, im Landtag sowie in den ständigen Ausschüssen und in den Sonderausschüssen des Landtages Fragen und Anträge zu stellen. Sie können bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben; Stimmrecht in den Ausschüssen des Landtages haben nur die Ausschussmitglieder.

(3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Dieser Anspruch ist weder übertragbar, noch kann auf ihn verzichtet werden. Das Nähere regelt ein Gesetz.

Artikel 18

Parlamentarische Opposition

(1) Die parlamentarische Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Die Opposition hat die Aufgabe, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren. Sie steht den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber. Insoweit hat sie das Recht auf politische Chancengleichheit.

(2) Die oder der Vorsitzende der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion ist die Oppositionsführerin oder der Oppositionsführer. Bei gleicher Fraktionsstärke ist das bei der letzten Landtagswahl erzielte Stimmenergebnis der Parteien maßgeblich. Im Übrigen entscheidet das von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtages zu ziehende Los.

3

2. Die Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages (in ihrer Fassung vom 8. Februar 1991 , zuletzt geändert am 22. Juli 2016 , im Folgenden: GO LT) sieht verschiedene Formen von Redebeiträgen Abgeordneter vor. Zum einen können sich Abgeordnete durch Redebeiträge im Rahmen der Beratung der festgesetzten Tagesordnungspunkte zu Wort melden. Während der Beratung sind zudem unter Umständen Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen sowie Bemerkungen zur Geschäftsordnung zuzulassen. Nach dem Schluss der Beratung sind daneben persönliche Bemerkungen möglich. Durch diese können Abgeordnete ausschließlich Angriffe auf die eigene Person zurückweisen oder eigene Ausführungen berichtigen. Als weitere Form des Redebeitrages steht den Abgeordneten im Zusammenhang mit Abstimmungen das Recht zu, ihr Abstimmungsverhalten kurz zu begründen. Eine derartige Erklärung zum Abstimmungsverhalten kann auch von einer Fraktion abgegeben werden.

4

Die Wahrung der Ordnung obliegt der Präsidentin beziehungsweise dem Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Hierzu kann sie oder er Abgeordnete unter anderem „zur Sache“ rufen oder einen Ordnungsruf erteilen.

5

Die maßgeblichen Vorschriften der Geschäftsordnung lauten:

§ 52

Worterteilung, Liste der Rednerinnen und Redner

(1) Eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter darf sprechen, wenn ihr oder ihm die Präsidentin oder der Präsident das Wort erteilt hat.

(2) Wer zur Sache sprechen will, hat sich bei der Schriftführerin oder dem Schriftführer, die oder der die Liste der Rednerinnen und Redner führt, zu Wort zu melden.

(3) Die Präsidentin oder der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner. Sie oder er kann dabei von der Reihenfolge der Wortmeldungen abweichen.

(4) Nach der Rede der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten kann die Oppositionsführerin oder der Oppositionsführer das Wort ergreifen. In diesem Falle ist den Vorsitzenden der anderen Fraktionen nach der Oppositionsführerin oder dem Oppositionsführer auf Wunsch das Wort zu erteilen.

(5) Zu einem durch Abstimmung erledigten Gegenstand darf in derselben Sitzung nicht mehr das Wort erteilt werden.

(6) Einem Mitglied des Sitzungspräsidiums kann das Wort nicht erteilt werden.

§ 55

Persönliche Bemerkungen

(1) Persönliche Bemerkungen sind erst nach Schluss der Beratung eines Gegenstandes oder im Falle der Vertagung am Schluss der Sitzung zulässig. Wer das Wort zu einer persönlichen Bemerkung erhält, darf nur Angriffe auf die eigene Person zurückweisen oder eigene Ausführungen berichtigen.

(2) Auch außerhalb der Tagesordnung kann die Präsidentin oder der Präsident das Wort zu einer persönlichen Erklärung erteilen, die ihr oder ihm vorher schriftlich mitzuteilen ist.

§ 64

Abstimmungsergebnis

(1) Nach jeder Abstimmung wird das Ergebnis durch die Präsidentin oder den Präsidenten festgestellt und mitgeteilt. Dabei ist die Zusammensetzung von Mehrheit und Minderheit bekanntzugeben. Bei alternativer Abstimmung stellt die Präsidentin oder der Präsident fest, welcher der Anträge angenommen und welcher abgelehnt ist.

(2) Jede Abgeordnete oder jeder Abgeordnete hat das Recht, ihre oder seine Abstimmung kurz zu begründen. Eine Erklärung zur Abstimmung kann auch von einer Fraktion abgegeben werden. Erklärungen nach Satz 1 und 2 dürfen die Dauer von drei Minuten nicht überschreiten. Anstelle einer mündlichen Begründung kann die Erklärung zu Protokoll gegeben werden.

§ 66

Ordnungsruf

(1) Wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter die Ordnung verletzt, wird sie oder er von der Präsidentin oder dem Präsidenten "zur Ordnung" gerufen. Ist der Präsidentin oder dem Präsidenten eine Ordnungsverletzung entgangen, so kann sie oder er diese Ordnungsverletzung in der nächsten Sitzung erwähnen und gegebenenfalls rügen.

(2) Die oder der Abgeordnete kann hiergegen spätestens bis zum folgenden Werktag bei der Präsidentin oder dem Präsidenten schriftlich Einspruch erheben.

(3) Der Einspruch ist auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen. Der Landtag entscheidet ohne Beratung, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war.

§ 67

Wortentziehung

(1) Ist eine Rednerin oder ein Redner bei derselben Rede dreimal „zur Sache" oder „zur Ordnung" gerufen worden, so entzieht ihr oder ihm die Präsidentin oder der Präsident das Wort. Nach dem zweiten Ruf „zur Sache" oder „zur Ordnung" muss die Präsidentin oder der Präsident auf diese Folge hinweisen.

(2) Ist einer Rednerin oder einem Redner das Wort entzogen worden, so darf sie oder er es zu diesem Beratungsgegenstand bis zur Eröffnung der Abstimmung nicht wieder erhalten.

§ 74

Auslegung der Geschäftsordnung

(1) Während einer Sitzung auftauchende Fragen zur Auslegung der Geschäftsordnung entscheidet die Präsidentin oder der Präsident.

(2) Eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Auslegung einer Vorschrift der Geschäftsordnung kann nur der Landtag nach Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss beschließen.

§ 75

Abweichung von der Geschäftsordnung

Abweichungen von der Geschäftsordnung können im Einzelfall durch Beschluss des Landtages zugelassen werden, wenn keine Abgeordnete und kein Abgeordneter widerspricht und Vorschriften der Landesverfassung nicht entgegenstehen.

II.

6

Der Antragsteller ist Abgeordneter des 18. Schleswig-Holsteinischen Landtages und Vorsitzender der Piratenfraktion.

7

Vom 14. bis 16. Dezember 2016 fand im Schleswig-Holsteinischen Landtag dessen 48. Tagung statt. Als Tagesordnungspunkt 17 war die Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein festgesetzt. Bereits am Vortag, dem 13. Dezember 2016, meldete der Antragsteller beim Parlamentarischen Dienst einen Wortbeitrag zu Tagesordnungspunkt 17 in Form einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten seiner Fraktion an. Den Zeitpunkt seines beantragten Beitrages (vor oder nach der Abstimmung) ließ er dabei offen.

8

Zu Beginn der Tagung nahm der Landtagspräsident – der Antragsgegner – einleitend Bezug auf eine den Abgeordneten vorab übermittelte Aufstellung über die Reihenfolge der Beratung und die Verteilung der Redezeiten. Hierin war für den hier streitgegenständlichen Tagesordnungspunkt 17 keine angemeldete Redezeit enthalten. Im Folgenden führte der Antragsgegner wie folgt aus:

Ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verständigt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Reihenfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln:

Zu den Tagesordnungspunkten (…) 15 bis 19, (…) ist eine Aussprache nicht geplant.

Von der Tagesordnung abgesetzt werden sollen (…).

Zur gemeinsamen Beratung sind folgende Tagesordnungspunkte vorgesehen: (…).

Widerspruch sehe ich nicht, dann werden wir so verfahren (PlPr 18/135, S. 11270).

9

Bereits vor Aufruf des vorgenannten Tagesordnungspunktes versandte das Büro des Antragstellers – nach den unwidersprochenen Ausführungen des Antragstellers versehentlich vorab – die im Folgenden wiedergegebene Presseerklärung:

Patrick B. zu Top 17: "Unwürdige Postenschieberei nicht mit PIRATEN!"

Bernt W. ist soeben gegen die Stimmen der PIRATEN zum Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs gewählt worden. Der Fraktionsvorsitzende der PIRATEN, Dr. Patrick B., erklärte das Nein so: "Nach einem Bericht der Kieler Nachrichten vom 23. September haben die Fraktionschefs von SPD und CDU Stellen am Landesrechnungshof und Landesverfassungsgericht untereinander aufgeteilt. Teil dieses Deals ist das Amt des Vizepräsidenten am Landesrechnungshof. Dieses unwürdige Postengeschachere beschädigt das Vertrauen in die Unabhängigkeit der höchsten Kontrollinstitutionen unseres Landes und befeuert das öffentliche Misstrauen in die herrschende Politik. Rechnungshofspitze und Landesverfassungsgericht dürfen keine aufzuteilende Beute der Parteien sein, sondern müssen mit den Besten besetzt werden, um unser Steuergeld bestmöglichst einzusetzen und unsere Verfassung zu wahren! Wir PIRATEN arbeiten seit Jahren daran, diesen Filz zu sprengen und eine öffentliche Ausschreibung der Spitzenpositionen in unserem Land durchzusetzen. Doch mit Ausnahme der Landesdatenschutzbeauftragten, wo anders keine Mehrheit zu bekommen war, blocken die etablierten Fraktionen ab. Ohne öffentliche Ausschreibung haben topqualifizierte Interessenten, von denen die Fraktionschefs nicht wissen, von vornherein keine Chance. Mit Herrn W. jemanden in eine Führungsposition am Landesrechnungshof zu wählen, der nie auch nur als Mitglied dort tätig gewesen ist, ist aus Piratensicht nicht die beste Wahl. Eine persönliche Freundschaft mit SPD-Chef St., Mitgliedschaft in seiner SPD-Linken und eine 25-jährige SPD-Parteimitgliedschaft ersetzen keine Bestenauslese!" Hintergrund: Im Rechnungshof war jahrelang eine Stelle vakant. SPD-Chef St. blockierte deren Besetzung durch den früheren FDP-Sprecher Christian Albrecht, obwohl dieser sich nach öffentlicher Ausschreibung durchgesetzt und vom Rechnungshof als bester Bewerber vorgeschlagen worden war. Präsident und Vizepräsident des Rechnungshofs und die Mitglieder des Landesverfassungsgerichts werden dagegen bisher ohne öffentliche Ausschreibung alleine von der Politik ausgewählt, wobei die etablierten Parteien das Vorschlagsrecht untereinander aufteilen. Ein Gesetzentwurf der PIRATEN zur öffentlichen Ausschreibung der Stellen am Landesverfassungsgericht wird von Experten vielfach unterstützt, jedoch von CDU, FDP, SPD, Grünen und SSW blockiert. (http://www.ltsh.de/presseticker/2016-12/14/15-14-00-17be/PI-WFFTqBe_-piraten.pdf)

10

Im Plenum selbst standen am ersten Sitzungstag (135. Sitzung), dem 14. Dezember 2016, vor der Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein die Haushalts-beratungen 2017 und die Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jugendförderungsgesetzes auf der Tagesordnung. In der Haushaltsdebatte äußerte sich der Antragsteller

(PlPr 18/135).

Zum nachfolgenden Tagesordnungspunkt (Änderung des Jugendförderungs-gesetzes) gab es keine Aussprache; der Gesetzentwurf wurde einstimmig an den Sozialausschuss überwiesen.

11

Im Anschluss rief der Antragsgegner den hier verfahrensgegenständlichen Tagesordnungspunkt 17 auf. Der weitere Verlauf ist wie folgt protokolliert:

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 17 auf:

Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein,

Wahlvorschlag der Landesregierung

Drucksache 18/4861

Dazu begrüße ich Herrn Bernt W. auf der Tribüne. Meine Damen und Herren, eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Der Abgeordnete Dr. B. hat für die Piratenfraktion darum gebeten, eine persönliche Erklärung abzugeben.

(Unruhe)

- Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielleicht dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. - Sehr geehrter Herr Dr. B., ich möchte Sie inständig darum bitten zu überlegen, ob Sie diese persönliche Erklärung, die Sie schon im weiten Vorfeld vor dem Aufrufen dieses Tagesordnungspunktes per Presseerklärung abgegeben haben, in diesem Hause tatsächlich wiederholen wollen oder ob Sie die Gelegenheit nutzen wollen, sich in Ihrer persönlichen Erklärung in förmlicher Weise dafür zu entschuldigen, was in dieser Pressemitteilung steht. Sie haben dazu die Chance.

(Vereinzelter Beifall - Unruhe)

Dr. Patrick B. [PIRATEN]:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gilt das gesprochene Wort. Das gilt auch für die Begründung des Abstimmungsverhaltens meiner Fraktion zu diesem Punkt.

Meine Fraktion stimmt gegen die Wahl von Herrn W., weil wir nicht überzeugt sind, dass er für diese Position am besten qualifiziert ist oder dass man auch nur versucht hat, die Person mit der besten Qualifikation zu finden.

Der Landesrechnungshof soll die Haushaltsführung der Landesregierung kontrollieren. Er ist ein wichtiges Kontrollorgan der Politik. Die Qualifikation und Unabhängigkeit seiner Mitglieder sind deswegen so wichtig, weil es darum geht, unser Steuergeld bestmöglich einzusetzen und es nicht zu verschwenden.

(Wolfgang K. [FDP]: Deshalb fliegen Sie auch aus dem Landtag! - Unruhe)

Wir PIRATEN halten eine öffentliche Ausschreibung solcher Positionen für nötig, um den besten Interessenten überhaupt eine Chance zu geben, sich zu melden und ins Gespräch zu bringen. Aus meiner Sicht ist zum Beispiel für eine Führungsposition am Landesrechnungshof geeigneter, wer schon länger Mitglied dieser Institution gewesen ist.

Nach einem Bericht der „Kieler Nachrichten“ vom 23. September haben hier aber die Vorsitzenden von SPD und CDU ein Personalpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, ein FDP-Mitglied zum Abteilungsleiter im Landesrechnungshof zu wählen, dem Herr Dr. St. zuvor noch mangelnde Kompetenz vorgeworfen hatte, Herrn W. als langjähriges SPD-Mitglied und persönlichen Freund von Herrn Dr. St. aus dem Finanzministerium direkt an die Spitze des Landesrechnungshofs zum Vizepräsidenten zu wählen, und die CDU soll den Vorschlag zum nächsten Präsidenten des Landesverfassungsgerichts unterbreiten dürfen.

(Anhaltende Unruhe)

Wir wollen nicht sagen, dass Herr W. für dieses Amt ungeeignet wäre.

(Zurufe: Haben Sie aber! Unverschämt!)

Wohl aber stellen wir infrage, dass hier die fachlich beste Person ohne Rücksicht auf Parteienproporz ausgewählt worden ist.

(Dr. Heiner G. [FDP]: Sie sagen jetzt am besten gar nichts mehr, Herr Kollege! - Anhaltende Unruhe)

Die höchsten Ämter in unserem Land auf diese Art und Weise untereinander aufzuteilen, das lehnen wir PIRATEN ab.

Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich noch eines: So gewinnen wir keine Bürger zurück, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und vielleicht zu Rechtspopulisten abgewandert sind. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall PIRATEN - Anhaltende Unruhe)

Präsident Klaus S.: Meine Damen und Herren, eine Erklärung zur Abstimmung ist mit einer Dauer von 3 Minuten in unserer Geschäftsordnung vorgesehen. Ich halte dies für keine Erklärung, die ausschließlich zur Abstimmung erfolgt ist, sondern für eine Bewertung der Person, um die es geht. Ich beziehe das ein, was im Vorfeld des Aufrufens dieses Tagesordnungspunktes schriftlich von Ihnen mitgeteilt worden ist. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf, Herr Abgeordneter Dr. B..

Ich finde dieses Verhalten diesem Hause gegenüber und vor allen Dingen auch gegenüber der Person in höchstem Maße unwürdig. Sie beschädigen hier Persönlichkeitsrechte. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie nicht Chance genutzt haben, sich hier öffentlich zu entschuldigen.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen, auch geschäftsordnungsmäßig nicht.

(Wolfgang K. [FDP]: Ich will jetzt auch eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten abgeben! - Unruhe)

- Wenn das notwendig ist, ist es natürlich möglich, Herr Abgeordneter K., aber ich würde einmal sagen: Wir haben deutlich gemacht, wie wir das alle gemeinsam überwiegend beurteilen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich lasse nun über den Wahlvorschlag abstimmen und schlage Ihnen hierfür eine offene Abstimmung vor. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.

Ich weise darauf hin, dass für die Wahl die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Hauses erforderlich ist.

Wer dem Wahlvorschlag, Drucksache 18/4861, seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Das sind die Abgeordneten der Fraktion der PIRATEN bis auf den Abgeordneten Torge Sch..

(Unruhe)

Herr Abgeordneter Sch., ich frage jetzt nach den Enthaltungen. - Der Abgeordnete Torge Sch. enthält sich. - Mit Ja haben 62 Abgeordnete gestimmt, es gibt eine Enthaltung und fünf Neinstimmen. Ich stelle fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Annahme erreicht ist.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Damit ist der vorgeschlagene Vizepräsident gewählt. - Herr W., ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Wahrnehmung Ihrer Aufgaben. Da es der Abgeordnete nicht getan hat, entschuldige ich mich im Namen des Hauses bei Ihnen.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Nun dürfte mein Vizepräsident mich ablösen.

(Hans-Jörn A. [CDU]: Loben wir mal den Präsidenten! - Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW - Unruhe)

12

Am Folgetag legte der Antragsteller schriftlich Einspruch gegen den Ordnungsruf ein. Der Antragsgegner half dem Einspruch nicht ab. Zur Begründung führte er in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2017 aus:

Ordnungsrufe können für verbale Äußerungen oder für ein Verhalten eines Abgeordneten erteilt werden.

Der Abgeordnete Dr. B. hat den Ordnungsruf nicht für eine Äußerung im Rahmen eines Redebeitrags oder einzelne Formulierungen aus der Rede, sondern für sein Verhalten erhalten.

Maßgeblich war zu berücksichtigen, dass eine inhaltliche Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt nicht stattfinden sollte, da es sich um eine Personenwahl handelte und grundsätzlich zu wählende Personen nicht durch eine parlamentarische Debatte in ihrem Ansehen beschädigt werden sollen. Die Piratenfraktion hat sowohl im Ältestenrat als auch zu Beginn der Plenartagung diesem Verfahren zugestimmt. Dem Abgeordneten Dr. B. wurde daher das Wort ausschließlich zur Begründung des Abstimmungsverhaltens und nicht im Rahmen der inhaltlichen Beratung eines Gegenstandes der Tagesordnung erteilt.

In der Gesamtschau hat der Abgeordnete Dr. B. jedoch nicht nur das Abstimmungsverhalten begründet, sondern ein allgemein politisches Statement für die Piratenfraktion abgegeben. Nach Stil, Diktion und Inhalt handelte es sich um einen Debattenbeitrag, wozu ihm aber gerade nicht das Wort erteilt worden war. Dies wird insbesondere aus dem Abschluss der Rede deutlich („Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich …“.). Da der Tagesordnungspunkt jedoch ohne Aussprache aufgerufen wurde, war es den anderen Fraktionen verwehrt, auf die Aussagen des Abgeordneten einzugehen und diese in einer Debatte zu entkräften. Diese Abweichung von der parlamentarischen Verständigung, den Tagesordnungspunkt ohne Aussprache, also ohne inhaltliche Debatte zu behandeln, wurde durch das Verhalten des Abgeordneten missachtet, indem er eine Rede „zur Sache“ und nicht „zum Abstimmungsverhalten“ gehalten hat. Für dieses Verhalten wurde ihm ein Ordnungsruf erteilt.

Auf die vom Abgeordneten Dr. B. vorgetragenen Gesichtspunkte, die sich im Wesentlichen auf die Frage beziehen, welche Inhalte in einem Debattenbeitrag als zulässig anzusehen sind, kam es daher vorliegend nicht an (Landtags-Drucksache 18/5053).

13

Am 25. Januar 2017 wies der Landtag den Einspruch des Antragstellers gegen die Stimmen der Piratenfraktion zurück.

III.

14

Hiergegen hat der Antragsteller am 3. Februar 2017 ein Organstreitverfahren eingeleitet. Er meint, der angegriffene Ordnungsruf stelle eine nicht gerechtfertigte Beschneidung seiner in Art. 17 Abs. 1 LV garantierten Redefreiheit dar.

15

Die beanstandete Äußerung sowie die in Bezug genommene Presseerklärung enthielten keine unzulässige Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Dabei sei bereits zweifelhaft, ob ein Ordnungsruf überhaupt wegen einer Äußerung gegenüber der Presse verhängt werden könnte. Inhaltlich habe er die vorgeschlagene Person weder herabgesetzt noch respektlos behandelt. Seine Kritik habe vielmehr auf diejenigen abgezielt, die den Vorschlag unterbreitet hätten. Ausdrücklich sei nicht erklärt worden, dass der Vorgeschlagene für das fragliche Amt ungeeignet sei. Die Aussagen zur Person des Vorgeschlagenen seien weder falsch noch geheim noch ehrverletzend. Zulässigerweise habe er – der Antragsteller – in Zweifel ziehen dürfen, dass eine Bestenauslese stattgefunden habe. Die Geschäftsordnung gestatte seiner Fraktion, ihr Abstimmungsverhalten zu dem Wahlvorschlag zu begründen. Auf dieses Recht habe seine Fraktion auch nicht verzichtet. Dabei sei zudem in Rechnung zu stellen, dass die thematisierten Fragen für Parlament und Öffentlichkeit von hohem Gewicht seien. Entsprechend werde die parlamentarische Auseinandersetzung über die thematisierten parlamentarischen und politischen Spielregeln von allen Seiten scharf geführt.

16

Im Übrigen könne der Antragsgegner den Ordnungsruf auch nicht damit begründen, dass es sich um ein unzulässiges „allgemein politisches Statement“ und nicht nur um die Begründung des Abstimmungsverhaltens gehandelt habe. Ein solches Nachschieben von Gründen sei schon an sich unzulässig und unbeachtlich. Tatsächlich sei der Ordnungsruf auch nicht erteilt worden, weil der Redebeitrag formal über die Begründung des Abstimmungsverhaltens hinausgegangen sei, sondern wegen einer vermeintlichen Persönlichkeits-rechtsverletzung. Dies zeige der protokollierte Ablauf. Es sei nicht möglich, das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion – wie in der Geschäftsordnung vorgesehen – zu begründen, ohne die tragenden politischen Gründe für das Abstimmungsverhalten darzulegen. Die Geschäftsordnung begrenze die Abstimmungsbegründung zeitlich auf drei Minuten, eine inhaltliche Beschränkung sei hingegen nicht vorgesehen. Hätte der Antragsgegner tatsächlich nur einen formalen Verstoß durch über die Begründung des Abstimmungsverhaltens hinausgehende Äußerungen beanstanden wollen, hätte er dies durch einen Hinweis oder einen Sachruf als milderes Mittel tun können und müssen. Im Übrigen habe es den anderen Fraktionen freigestanden, ihrerseits ihr Abstimmungsverhalten zu begründen.

17

Der Antragsteller beantragt,

festzustellen, dass der Antragsgegner ihn – den Antragsteller – durch den ihm gegenüber ausgesprochenen Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in seinen verfassungs-rechtlichen Rechten als Abgeordneter aus Artikel 17 Absatz 1 der Landesverfassung verletzt habe.

18

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

19

Er ist der Auffassung, es liege schon keine Verletzung des Antragstellers in seinem Rederecht vor. Zum einen sei zu erwägen, dass eine Aussprache bei Wahlen aufgrund entsprechender parlamentarischer Gepflogenheiten und analog anderer Wahlvorschriften ausgeschlossen sei (etwa zur Wahl der Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts, § 6 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht oder zur Wahl der oder des Landesdatenschutzbeauftragten, § 35 Abs. 1 Satz 1 Landesdatenschutzgesetz). Zum anderen habe der Antragsteller zu Beginn der Tagung durch Beschluss über die Tagesordnung ohne Änderungswunsch konkludent auf sein Rederecht verzichtet.

20

Jedenfalls aber habe der Antragsteller mit seinem Wortbeitrag die Grenzen dessen überschritten, was im Rahmen einer Erklärung zum Abstimmungs-verhalten geäußert werden dürfe. Bei einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten dürfe es sich nicht um einen „verkappten Diskussionsbeitrag“ handeln. Entsprechend sei es demjenigen, der eine derartige Erklärung abgebe, verwehrt, sich mit anderen vorgetragenen Auffassungen inhaltlich auseinanderzusetzen. Zudem müsse er sich jeder Polemik gegen die Regierung oder andere Mitglieder des Parlaments oder andere Fraktionen enthalten. Für eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten bedürfe es überdies eines besonderen Anlasses, etwa eines ungewöhnlichen oder nicht zu erwartenden Abstimmungsverhaltens, eines Abweichens von der eigenen Fraktion oder eines versehentlichen Abstimmungsverhaltens.

21

Diesen Anforderungen werde die Wortmeldung des Antragstellers nicht gerecht. Zum einen habe es schon keinen hinreichenden Anlass für eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten gegeben. Zum anderen habe der Antragsteller faktisch eine unzulässige politische Rede gehalten und nicht nur sein Abstimmungsverhalten begründet. Hierdurch habe er sich und seiner Fraktion einen gegenüber den anderen Abgeordneten und Fraktionen ungerechtfertigten Vorteil durch die rechtswidrige Beanspruchung von Redezeit verschafft.

22

Vor diesem Hintergrund habe er – der Antragsgegner – einen Ordnungsruf aussprechen müssen. Ihm stehe insoweit nach der Geschäftsordnung kein Ermessensspielraum zu. Auch sei er nicht verpflichtet, das mildeste Mittel zu wählen. Eine Überprüfung seiner Maßnahme müsse im Übrigen den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum beachten. Der Ordnungsruf sei nicht inhaltsbezogen gewesen, sondern habe an den Umstand der Äußerung zur falschen Zeit und unter falschem Vorzeichen angeknüpft. Insbesondere habe der Antragsteller am Folgetag Gelegenheit gehabt, seine Vorstellung zur Wahl herausgehobener Funktionsträger im Rahmen der Debatte des Gesetzentwurfes zur Neuregelung der Wahl der Mitglieder des Landesverfassungsgerichts zu äußern. Der mündlich abgegebenen Begründung des Ordnungsrufes durch ihn – den Antragsgegner – komme dabei nur eingeschränkte Bedeutung zu. Maßgeblich sei vorrangig die schriftliche Begründung.

IV.

23

Der Schleswig-Holsteinische Landtag ist dem Verfahren auf Seiten des Antragsgegners beigetreten.

B.

24

Der Antrag ist zulässig (I.) und begründet (II.).

I.

25

1. Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Es handelt sich um eine Organstreitigkeit nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1 und §§ 35 ff. LVerfGG.

26

2. Gemäß Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 35 LVerfGG sind der Landtag, die Landesregierung und andere Beteiligte, die durch die Landesverfassung oder die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind, antragsberechtigt. Hierzu zählen auch einzelne Landtagsabgeordnete, da sie bereits durch Art. 17 LV als Mitglieder des Landtages, eines obersten Verfassungsorgans des Landes, mit eigenen Rechten ausgestattet sind

(Urteil vom 30. September 2013 - LVerfG 13/12 -, SchlHA 2013, 465 ff. = NVwZ-RR 2014, 3 ff. = NordÖR 2014, 20 ff. = KommJur 2014,
137 ff., Juris Rn. 33).

27

3. Antragsteller und Antragsgegner stehen in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander. Zwischen den Verfahrensbeteiligten besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus der parlamentarischen Ordnungs- und Disziplinargewalt des Präsidenten einerseits und aus dem Abgeordneten-status andererseits. Dabei steht die Ordnungsgewalt zwar an sich dem Plenum des Landtages insgesamt zu

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 14 Rn. 4).

Sie wird allerdings gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 GO LT durch die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten des Landtages in eigener Verantwortung ausgeübt

(vgl. Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 4. a); Waack, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 5 Seite 22),

die beziehungsweise der in dieser Funktion im Organstreitverfahren mit der Behauptung in Anspruch genommen werden kann, sie beziehungsweise er habe bei der Ausübung der Ordnungsgewalt den Status einer oder eines Abgeordneten verletzt

(vgl. zur Rechtslage in den anderen Verfassungsräumen jeweils BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 18; Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, Juris Rn. 39; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 23; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 108).

28

4. Der Antragsteller hat im Sinne von § 36 Abs. 1 LVerfGG geltend gemacht, durch den angegriffenen Ordnungsruf in seinen Rechten aus Art. 17 LV verletzt zu sein. Er hat hinreichende Tatsachen vorgetragen, die eine unmittelbare Rechtsverletzung durch den Antragsgegner möglich erscheinen lassen. Ein Ordnungsruf stellt – im Gegensatz zu einer nicht förmlichen Rüge oder einer bloßen Unterbrechung der Rede durch Bemerkungen der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten

(vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 23 und 29) –

regelmäßig einen Eingriff in das verfassungsrechtlich durch Art. 17 LV verbürgte Rederecht der Abgeordneten dar

(vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 29; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92 ff., Juris Rn. 36 ff.; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 111; Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 10; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 – 41, 3.).

29

Unerheblich ist, dass der Ordnungsruf erst nach dem Wortbeitrag des Antragstellers ausgesprochen wurde und deshalb keine Grundlage mehr für weitere Maßnahmen der Ordnungsgewalt des Antragsgegners sein konnte. Ein förmlicher Ordnungsruf ist stets ein rechtserheblicher Eingriff in das durch Art. 17 LV garantierte Rederecht der Abgeordneten, und zwar unabhängig davon, ob er zur Grundlage weiterer ordnungsrechtlicher Maßnahmen wurde oder werden konnte. Dies folgt schon aus seinem disziplinarrechtlichen Charakter

(BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 -, BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 104; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 – 41, 1. b); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlaments-praxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 3).

Ein Ordnungsruf ist darauf gerichtet, betroffene Abgeordnete nicht nur für zurückliegendes Verhalten zu tadeln, sondern sie auch durch die öffentliche und förmliche Aussprache des Tadels im künftigen Verhalten bei der Ausübung des Rederechts im Sinne des Ordnungsrufs zu beeinflussen.

30

Der Ordnungsruf ist durch den Landtag in seiner Geschäftsordnung – anders als der bloße Sachruf – rechtsförmig ausgestaltet worden, indem nach § 66 Abs. 2 und 3 GO LT hiergegen ein Einspruchsverfahren möglich ist. Im Hinblick auf die Justiziabilität eines (wie hier) förmlich ergangenen und als solchen im Einspruchsverfahren nach § 66 Abs. 2 f. GO LT beschiedenen Ordnungsrufes kommt es daher weder auf seinen genauen Zeitpunkt noch auf die Frage an, ob er Grundlage weiterer Sanktionen wurde

(vgl. etwa VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011
- Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 14 und 21 ff.; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23. Januar 2014
- LVerfG 5/13 -, NordÖR 2014, 197 ff., Juris Rn. 6 f. und 25 ff.).

31

5. Der Antrag ist fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntwerden der angegriffenen Maßnahme gestellt worden, § 36 Abs. 3 LVerfGG. Der Antrag ist ordnungsgemäß, insbesondere schriftlich und mit Begründung gemäß § 20 Abs. 1 LVerfGG eingereicht worden und bezeichnet gemäß § 36 Abs. 2 LVerfGG mit Art. 17 Abs. 1 LV eine Bestimmung der Landesverfassung, gegen die nach Auffassung des Antragstellers verstoßen wird.

32

6. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Alternative und in ihrer Effektivität gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller nicht. Das Einspruchsverfahren gemäß § 66 Abs. 2 und 3 GO LT hat der Antragsteller erfolglos durchgeführt. Zwar kann durch das Organstreitverfahren der Ordnungsruf nicht wieder rückgängig gemacht werden. Indes begründet er – seine Unzulässigkeit unterstellt – eine auch im Nachhinein noch feststellungsfähige Rechtsbeeinträchtigung des Antragstellers

(vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 31; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, a.a.O., Juris Rn. 113).

33

Dem steht nicht entgegen, dass der Ordnungsruf nach Ende der fraglichen Tagung erledigt war. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts zu §§ 63, 64 BVerfGG, der sich soweit ersichtlich alle anderen Landesverfassungsgerichte, die mit vergleichbaren Fragestellungen befasst waren, angeschlossen haben, besteht im Organstreitverfahren das erforderliche Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers selbst dann, wenn die angegriffene Maßnahme inzwischen keine konkreten Wirkungen mehr entfaltet

(BVerfG, Urteile vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 31 und vom 17. Dezember 2001 - 2 BvE 2/00 -, BVerfGE 104, 310 ff., Juris Rn. 78; sowie Beschluss vom 10. Februar 1976 - 2 BvG 1/74 -, BVerfGE 41, 291 ff., Juris Rn. 37; für die Verfassungsräume der Länder vgl. zuletzt etwa StGH Bremen, Urteil vom 14. Februar 2017 - St 4/16 -, noch unveröffentlicht; Umbach, in: Umbach/ Clemens/ Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, §§ 63, 64 Rn. 146 m.w.N.).

II.

34

Der Antrag ist begründet. Der gegen den Antragsteller ausgesprochene Ordnungsruf vom 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Januar 2017 hat diesen in seinen durch Art. 17 LV gesicherten Abgeordnetenrechten verletzt.

35

1. Gemäß Art. 17 Abs. 1 LV vertreten die Abgeordneten das ganze Volk. Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Nach Art. 17 Abs. 2 LV haben sie das Recht, im Landtag sowie in den ständigen Ausschüssen und in den Sonderausschüssen des Landtages Fragen und Anträge zu stellen. Sie können bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben.

36

Zu diesem verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten gehört das Rederecht im Landtag

(vgl. zur vergleichbaren Rechtslage auf Bundesebene: BVerfG, Urteile vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 u.a. -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 40; vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 21; und vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 -, BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 102; Burghart, in: Leibholz/ Rinck, Grundgesetz, Stand August 2016, Art. 38 Rn. 521; Klein, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 51 Rn. 32; vgl. zur Rechtslage in anderen Bundesländern: VerfGH Bayern, Entscheidung vom 17. Februar 1998 - Vf. 81-IVa-96 -, NVwZ-RR 1998, 409 ff., Juris Rn. 47; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, Juris Rn. 39; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 24; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 116).

Dies folgt ohne ausdrückliche Nennung in Art. 17 LV aus der Funktion und den Aufgaben des Parlaments in einer repräsentativen Demokratie

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 11 Rn. 17).

Vom Schutzbereich des in Art. 17 LV gewährleisteten Rederechts sind dabei sämtliche Wortbeiträge im Plenum umfasst, unabhängig von deren Einstufung als Debattenbeiträge, persönliche Erklärungen oder Erklärungen zum Abstimmungsverhalten. Die hohe Bedeutung des derart geschützten parlamentarischen Rederechts wird für die Abgeordneten der Opposition durch Art. 18 Abs. 1 LV noch gesondert hervorgehoben. Das dort benannte Recht der Opposition, Vorstellungen und Entscheidungen der die Regierung tragenden Mehrheit öffentlich im Plenum zu beurteilen, zu bewerten und zu kritisieren wirkt sich schutzbereichsverstärkend aus und ist daher bei der Auslegung der Redeordnung besonders zu beachten

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 12 Rn. 1 und 8).

37

Der Antragsteller kann sich grundsätzlich für seinen verfahrensgegenständlichen Wortbeitrag auf sein Rederecht aus Art. 17 LV berufen. Ein wirksamer Verzicht auf sein Rederecht liegt nicht vor. Zwar hat der Antragsteller durch seinen fehlenden Widerspruch zur Tagesordnung, die eine „Aussprache“ zum Tagesordnungs-punkt 17 nicht vorsah, zu Beginn der Sitzung diese genehmigt

(vgl. hierzu etwa Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 13; Fensch, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 186).

Hierdurch hat er jedoch nur auf eine „Aussprache“, also eine Debatte nach §§ 52 ff. GO LT zu dem streitgegenständlichen Tagesordnungspunkt

(vgl. zu den Begrifflichkeiten etwa Besch, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 33 Rn. 41)

verzichtet, nicht aber auf eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT. Anhaltspunkte dafür, dass er von seiner bereits am Vortag angemeldeten Erklärung absehen wollte, lagen nicht vor. Dies wurde im Übrigen auch vom Antragsgegner selbst so verstanden. Wäre dieser von einem konkludenten Verzicht auch auf eine Wortmeldung nach § 64 Abs. 2 GO LT ausgegangen, hätte er keinen Anlass gehabt, dem Antragssteller – wie aber geschehen – das Wort für eine Erklärung zu erteilen.

38

2. Ein verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftiger Eingriff des Antragsgegners in das Rederecht des Antragstellers aus Art. 17 LV liegt vor. Ein Ordnungsruf ist regelmäßig ein Eingriff in das Rederecht des Abgeordneten (siehe oben I. 4., Rn. 28).

39

3. Hinreichende Rechtfertigungsgründe für den angegriffenen Ordnungsruf bestehen nicht. Die angegriffene Maßnahme ist verfassungswidrig und verletzt den Antragsteller in seinem Rederecht aus Art. 17 LV.

40

a) Das Rederecht der Abgeordneten aus Art. 17 LV ist nicht schrankenlos gewährt.

41

aa) Einschränkungen des Rederechts sind zum einen in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ausdrücklich benannt (Ausschluss der Aussprache bei der Wahl der Ministerpräsidentin beziehungsweise des Ministerpräsidenten, Art. 33 Abs. 2 Satz 1 LV). Zum anderen bedarf es des Ausgleichs mit anderen, gleichrangigen Verfassungsgütern, wie insbesondere dem Rederecht der anderen Abgeordneten, der Funktionsfähigkeit des Parlaments und geschützten Rechtsgütern Dritter. Dieser obliegt in erster Linie dem Parlament selbst, das teilweise gesetzliche Regelungen geschaffen hat (etwa Ausschluss der Aussprache bei der Wahl der Verfassungsrichterinnen beziehungsweise Verfassungsrichter, § 6 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG) und sich im Übrigen nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 LV eine Geschäftsordnung gegeben hat. Bei der Ausgestaltung seiner Geschäftsordnung steht dem Landtag dabei ein hohes, mit Blick auf verfassungsrechtlich verbürgte Minderheitenrechte aber nicht unbegrenztes Maß an Autonomie zu

(vgl. zur parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie etwa BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1991 - 2 BvE 1/91-, BVerfGE 84, 304 ff., Juris Rn. 96; Cancik, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 9 Rn. 9; Besch, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 33 Rn. 7).

42

Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat sich insoweit in den Abschnitten XI. (§§ 52 ff. GO LT) und XII. (§§ 59 ff. GO LT) seiner Geschäftsordnung eine Rede- beziehungsweise Abstimmungsordnung gegeben, in Abschnitt XIII. (§§ 65 ff. GO LT) Ordnungsbestimmungen geregelt und in § 5 Abs. 1 Satz 2 GO LT seiner Präsidentin beziehungsweise seinem Präsidenten die Ordnungsgewalt übertragen. Die möglichen Ordnungsmaßnahmen reichen dabei vom Sachruf (§ 65 GO LT) über den Ordnungsruf (§ 66 GO LT), die Wortentziehung (§ 67 GO LT), den Ausschluss einzelner Abgeordneter (§ 68 GO LT) bis hin zur Unterbrechung und Aufhebung der Sitzung (§ 69 GO LT). Enthalten sind zudem Vorgaben zur Auslegung (§ 74 GO LT) und zur Abweichung von der Geschäftsordnung (§ 75 GO LT).

43

bb) Bei der Anwendung der vorgenannten Einschränkungen des Rederechts unterliegt die Präsidentin beziehungsweise der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages einerseits einer strengen parteipolitischen Neutralitätspflicht

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 121).

Andererseits kommt ihr beziehungsweise ihm ein erheblicher, von dem Landesverfassungsgericht zu respektierender Beurteilungsspielraum zu

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009
- LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 256 ff., Juris Rn. 39 ff.; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 39; vgl. auch Klein, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 53 Rn. 36; Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 230; Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 14 Rn. 13; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, § 36, 2. b); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 21; Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 64),

welcher es verbietet, die Verhängung einer konkreten Ordnungsmaßnahme in der Art der Überprüfung eines Verwaltungsaktes verfassungsgerichtlich zu überprüfen

(LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 42).

44

Durch die Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Einordnung des Verhaltens einer oder eines Abgeordneten als Ordnungsverletzung immer der wertenden Betrachtung im Hinblick auf Ablauf und Atmosphäre der jeweiligen Sitzung bedarf, damit stark situativ bedingt ist und stets eine zeitnahe Entscheidung durch die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten erfordert

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 42; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011
- Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 34).

Zudem wird so berücksichtigt, dass die Anwendung der Geschäftsordnung in Anerkennung der Selbstorganisationsgewalt des Parlaments zuvörderst diesem selbst und seinen Organen überlassen bleiben muss

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 40; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 34).

45

cc) Allerdings ist der Beurteilungsspielraum nicht grenzenlos, da sonst Verletzungen des verfassungsrechtlich geschützten Rederechts aus Art. 17 LV nicht justiziabel wären. Entsprechend überprüft das Verfassungsgericht, ob Grenzen des Beurteilungsspielraumes überschritten wurden

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 28 ff.; in diesem Sinne auch VerfG Brandenburg, Urteil vom 17. September 2009 - VfGBbg 45/08 -, NJ 2009, 508 ff, Juris Rn. 36; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 120 ff.).

46

Bei der Überprüfung dieser Grenzen ist danach zu differenzieren, ob die konkret verhängte Ordnungsmaßnahme der äußeren Ordnung der parlamentarischen Arbeit diente, mithin nur an die Form einer Äußerung oder an das Verhalten einer oder eines Abgeordneten anknüpft, oder ob ihr Gegenstand der Inhalt einer Äußerung ist. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist umso intensiver, je deutlicher die angegriffene Maßnahme nicht bloß auf das Verhalten der oder des Abgeordneten, sondern auf den Inhalt der jeweiligen Äußerung reagiert. Die zur Verfügung stehenden Ordnungsinstrumentarien dürfen nicht dazu dienen, bestimmte inhaltliche Sichtweisen aus der parlamentarischen Debatte auszuschließen

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 28 ff.; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012
- Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 36; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 121).

47

Wenn die jeweilige Maßnahme nur an das Verhalten der oder des Abgeordneten anknüpft, prüft das Gericht unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Parlaments lediglich, ob der Präsidentin oder dem Präsidenten bei der Entscheidung alle relevanten Tatsachen bekannt waren, ob die Bewertung des Verhaltens gemessen an der sonstigen Parlamentspraxis dem Gleichheitssatz genügt und ob die Maßnahme im Übrigen nicht offensichtlich fehlerhaft oder willkürlich erscheint

(i.d.S. auch LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27. Januar 2011 - LVerfG 4/09 -, DÖV 2011, 409, Juris Rn. 30; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 41).

Weiter prüft es – auf der Rechtsfolgenseite –, ob die von der Präsidentin oder dem Präsidenten vorgenommene Auswahl unter verschiedenen zur Verfügung stehenden Ordnungsmitteln zumindest vertretbar erscheint

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 35; enger : LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 53).

48

Bezieht sich die Maßnahme hingegen nicht auf Form oder Verhalten, sondern (auch) auf die inhaltliche Aussage, prüft das Landesverfassungsgericht darüber hinaus, ob tatsächlich gleichrangige Rechtsgüter von Verfassungsrang verletzt oder gefährdet waren, was allein eine Sanktionierung inhaltlicher Aussagen rechtfertigen könnte

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 35; VerfGH Sachsen, Urteil vom 30. September 2014
- Vf. 48-I-13 -, NVwZ-RR 2012, 89 f., Juris Rn. 35; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, S. 381 ff., Juris Rn. 121).

49

Als gegen das Recht der freien Rede aus Art. 17 LV abzuwägende Rechtsgüter kommen Rechte anderer Verfassungsorgane, Rechte Dritter oder Interessen der Allgemeinheit mit Verfassungsrang in Betracht. Insbesondere Redebeiträge, die den Tatbestand von Straftaten (beispielsweise der §§ 185 ff. StGB) oder Ordnungswidrigkeiten erfüllen, können Maßnahmen nach §§ 65 ff. GO LT rechtfertigen

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 31 f.; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 1. c); Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 61).

Allerdings bedarf es in jedem Einzelfall einer Abwägung zwischen dem zu schützenden Rechtsgut und dem Recht der oder des Abgeordneten aus Art. 17 LV. Je gewichtiger die von der oder dem Abgeordneten thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffentlichkeit sind und je intensiver die politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher kommt dem Recht der freien Rede Vorrang zu

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 32; ebenso: Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 230).

Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass in der parlamentarischen Auseinandersetzung überspitzte und polemische Formulierungen in einem gewissen Maße hinzunehmen sind

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 30. September 2014 - Vf. 48-I-13 -, NVwZ-RR 2012, 89 f., Juris Rn. 30; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, a.a.O., Juris Rn. 124).

50

b) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist der jeweils angegriffene Ordnungsruf in der Gestalt der Entscheidung des Antragsgegners über den hiergegen erhobenen Einspruch. Diese Beschränkung des verfassungs-gerichtlichen Prüfgegenstandes auf die nach dem Einspruchsverfahren vorliegende Gestalt des Ordnungsrufes ist Ausdruck der zentralen Bedeutung der Geschäftsordnungsautonomie des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Damit wird zugleich die Bedeutung der in der Geschäftsordnung vorgesehenen parlamentsinternen Selbstkorrekturmechanismen respektiert. Zudem wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Antragsgegner seine Ordnungsmaßnahmen regelmäßig ohne Überlegungsfrist ad hoc treffen muss und daher einer Möglichkeit der Selbstkorrektur, sei es auch nur in der Begründung, bedarf.

51

Durch die damit maßgebliche Entscheidung des Antragsgegners vom 23. Januar 2017 ist die in der Sitzung durch den Antragsgegner abgegebene Begründung dahin eingegrenzt worden, dass Anknüpfungspunkt des Ordnungsrufes allein ein Verstoß des Antragstellers gegen die sich spezifisch aus § 64 Abs. 2 GO LT ergebenden Grenzen des Rederechts sein soll. Soweit die mündliche Einlassung des Antragsgegners unmittelbar vor und nach dem Ordnungsruf auch als Bezugnahme auf die für jeden Wortbeitrag geltende Grenze der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verstanden werden konnte

(Ich halte dies für <…> eine Bewertung der Person, um die es geht. Ich beziehe das ein, was im Vorfeld des Aufrufens dieses Tagesordnungspunktes schriftlich von Ihnen mitgeteilt worden ist. <…> Ich finde dieses Verhalten diesem Hause gegenüber und vor allen Dingen auch gegenüber der Person in höchstem Maße unwürdig. Sie beschädigen hier Persönlichkeitsrechte),

ist dies jedenfalls durch die vorgenannte Entscheidung nicht weiter aufrechterhalten worden

(zur Möglichkeit der Rücknahme des Ordnungsrufes vgl. etwa Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 5. c); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 26).

Es bedarf daher im Folgenden keiner Erörterung mehr, ob der Antragsteller durch seinen Wortbeitrag Persönlichkeitsrechte des zur Wahl Stehenden verletzt haben könnte.

52

Durch die Entscheidung vom 23. Januar 2017 ist die Begründung der Maßnahme nicht nachträglich ausgetauscht worden. Der der Entscheidung zugrunde liegende formale Begründungsstrang war zumindest auch in der zuvor in der Sitzung abgegebenen Begründung des Antragsgegners bereits enthalten

(Ich halte dies für keine Erklärung, die ausschließlich zur Abstimmung erfolgt ist, <…>).

Das Gericht kann daher offenlassen, wie bei einem Austausch der Begründung zu entscheiden wäre.

53

c) Der Antragsgegner hat durch seinen Ordnungsruf in der entscheidungs-erheblichen Fassung der Einspruchsentscheidung seinen Beurteilungsspielraum überschritten.

54

aa) Dabei ist der Ordnungsruf – trotz der gegenteiligen Benennung in der Einspruchsentscheidung – inhaltsbezogen. Er knüpft nicht an ein äußeres Verhalten des Antragstellers an, sondern an den Inhalt seiner Äußerung. Auf eine Verletzung des äußeren Rahmens einer Wortmeldung nach § 64 Abs. 2 GO LT, etwa der dort geregelten Begrenzung der Redezeit, hat sich der Antragsgegner nicht berufen. Anlass des Ordnungsrufes war vielmehr der politische Sinn- und Aussagegehalt der Ausführungen des Antragstellers. Dies legt auch der Antragsgegner selbst jedenfalls in seiner hier maßgeblichen Entscheidung über den Einspruch des Antragstellers dar

(<…> In der Gesamtschau hat der Abgeordnete Dr. B. jedoch nicht nur das Abstimmungsverhalten begründet, sondern ein allgemein politisches Statement für die Piratenfraktion abgegeben. Nach Stil, Diktion und Inhalt handelte es sich um einen Debattenbeitrag, wozu ihm aber gerade nicht das Wort erteilt worden war ).

55

bb) Entsprechend den dargelegten Maßstäben dürfen inhaltsbezogene Maßnahmen nur an die Verletzung von Rechten anderer Verfassungsorgane, von Rechten Dritter oder von Interessen der Allgemeinheit mit Verfassungsrang anknüpfen (siehe oben a) bb), Rn. 48). Ein derartiger Sachverhalt liegt hier nicht vor. Den Vorwurf einer Verletzung Rechtsgüter Dritter hat der Antragsgegner bereits selbst fallen gelassen (siehe oben b), Rn. 51). Aber auch auf die durch die Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages geschützten und im Verhältnis zueinander in Ausgleich gebrachten Rechte der anderen Abgeordneten und Fraktionen kann der Ordnungsruf nicht gestützt werden. Das Gericht folgt insoweit insbesondere nicht der Ansicht des Antragsgegners, dass der Antragsteller geschäftsordnungswidrig, nämlich unter Verletzung der inhaltlichen Grenzen des § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT, und damit zulasten der anderen Abgeordneten Redezeit in Anspruch genommen habe. Denn eine Verletzung der Geschäftsordnung, insbesondere von § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT, durch den Antragsteller ist nicht festzustellen.

56

(1) § 64 Abs. 2 Satz 1 GO LT enthält das Recht jedes Abgeordneten, vor oder im Anschluss an eine Abstimmung sein Abstimmungsverhalten zu begründen

(Fensch, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 64, Seite 223).

Eine Erklärung zur Abstimmung kann nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT auch von einer Fraktion abgegeben werden. Begrenzt wird dieses Recht zeitlich durch die vorgeschriebene Dauer von maximal drei Minuten (§ 64 Abs. 2 Satz 3 GO LT) und inhaltlich durch das Erfordernis des allgemeinen Sachbezuges (vgl. § 65 GO LT). Dabei verpflichtet dieses die Abgeordneten (bei jeder Form von Wortmeldung) darauf, sich inhaltlich im Rahmen des jeweiligen Beratungsgegenstandes der Tagesordnung zu bewegen und nicht vom jeweiligen Tagesordnungspunkt „abzuschweifen“

(Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 65 Seite 227).

Eine Verletzung dieses äußeren Rahmens eines Wortbeitrages nach § 64 Abs. 2 GO LT durch den Antragsteller liegt nicht vor und ist auch vom Antragsgegner nicht geltend gemacht worden.

57

(2) Ob § 64 Abs. 2 GO LT eine weitergehende – vom Antragsgegner so angenommene – Einschränkung enthält, dass die hierunter abgegebene Erklärung einen inhaltlichen Bezug zum jeweils begründeten Abstimmungsverhalten aufweisen muss und keinen allgemein-politischen Debattenbeitrag darstellen darf

(vgl. Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, § 31, 1. c); Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages – Kommentar, 1977, § 59 Rn. 1 und 6),

kann dahinstehen. Denn selbst bei Zugrundelegung dieses engeren Verständnisses von § 64 Abs. 2 GO LT wäre die beanstandete Wortmeldung des Antragstellers nicht geschäftsordnungswidrig. Der verfahrensgegenständliche Beitrag hat einen Bezug gerade zum Abstimmungsverhalten der Fraktion des Antragstellers im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT und überschreitet nicht die Grenze zum allgemein-politischen Debattenbeitrag. Der Antragsteller hat eingangs erklärt, das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion begründen zu wollen und hat die beiden hierfür tragenden Erwägungen seiner Fraktion skizziert, nämlich zum einen allgemeine Verfahrensvorbehalte und zum anderen Vorbehalte bezogen auf die Qualifikation der zur Wahl gestellten Person

(Meine Fraktion stimmt gegen die Wahl von Herrn W., weil wir nicht überzeugt sind, dass er für diese Position am besten qualifiziert ist oder dass man auch nur versucht hat, die Person mit der besten Qualifikation zu finden).

Im Folgenden hat er beide Gesichtspunkte näher ausgeführt. Dabei hat er in formal nicht zu beanstandender Weise erläutert, weshalb seine Fraktion insoweit eine öffentliche Ausschreibung befürworte

(Der Landesrechnungshof soll die Haushaltsführung der Landesregierung kontrollieren. Er ist ein wichtiges Kontrollorgan der Politik. Die Qualifikation und Unabhängigkeit seiner Mitglieder sind deswegen so wichtig, weil es darum geht, unser Steuergeld bestmöglich einzusetzen und es nicht zu verschwenden. (…). Wir PIRATEN halten eine öffentliche Ausschreibung solcher Positionen für nötig, um den besten Interessenten überhaupt eine Chance zu geben, sich zu melden und ins Gespräch zu bringen),

weshalb die Fraktion Vorbehalte gegen die von ihr wahrgenommene bisherige Handhabung habe

(Nach einem Bericht der „Kieler Nachrichten“ vom 23. September haben hier aber die Vorsitzenden von SPD und CDU ein Personalpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, ein FDP-Mitglied zum Abteilungsleiter im Landesrechnungshof zu wählen, dem Herr Dr. St. zuvor noch mangelnde Kompetenz vorgeworfen hatte, Herrn W. als langjähriges SPD-Mitglied und persönlichen Freund von Herrn Dr. St. aus dem Finanzministerium direkt an die Spitze des Landesrechnungshofs zum Vizepräsidenten zu wählen, und die CDU soll den Vorschlag zum nächsten Präsidenten des Landesverfassungsgerichts unterbreiten dürfen. (…) Die höchsten Ämter in unserem Land auf diese Art und Weise untereinander aufzuteilen, das lehnen wir PIRATEN ab)

und welche Vorbehalte hinsichtlich der Qualifikation des zur Wahl Gestellten in der Fraktion bestünden

(Aus meiner Sicht ist zum Beispiel für eine Führungsposition am Landesrechnungshof geeigneter, wer schon länger Mitglied dieser Institution gewesen ist. (…) Wir wollen nicht sagen, dass Herr W. für dieses Amt ungeeignet wäre. Wohl aber stellen wir infrage, dass hier die fachlich beste Person ohne Rücksicht auf Parteienproporz ausgewählt worden ist).

58

Weder hat der Antragsteller dabei Bezug auf – nicht erfolgte – Stellungnahmen anderer Fraktionen genommen und seinen Redebeitrag dadurch in eine allgemeine Debatte überführt, noch hat er andere Fraktionen oder Abgeordnete in polemischer Art und Weise herabgewürdigt. Auch dass der Antragsteller in seinem Schlusssatz offenkundig auf seine eigene Wortmeldung in der Haushaltsdebatte (siehe oben, A. I. 2., Rn. 10) Bezug genommen hat

(Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich noch eines: So gewinnen wir keine Bürger zurück, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und vielleicht zu Rechtspopulisten abgewandert sind),

lässt in der Gesamtbetrachtung seines Redebeitrages den Bezug zum Abstimmungsverhalten nicht entfallen.

59

(3) Weitergehende Grenzen des Rederechts sind § 64 Abs. 2 GO LT nicht zu entnehmen. Soweit der Antragsgegner insoweit vortragen lässt, es bedürfe für die Zulässigkeit einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten jeweils eines ungewöhnlichen oder nicht zu erwartenden Abstimmungsverhaltens, könnte dies schon im Regelfall nur für das Abstimmungsverhalten einer oder eines einzelnen Abgeordneten nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GO LT gelten, nicht aber für die nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT auch zugelassene – und hier vorliegende – Erklärung zum Abstimmungsverhalten einer Fraktion.

60

Aus dem Wortlaut des § 64 Abs. 2 GO LT ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine derart restriktive Interpretation. Dem Gericht liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Schleswig-Holsteinische Landtag diese Auslegung der Geschäftsordnung bisher im Wege des hierfür vorgesehenen förmlichen Beschlusses nach Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss nach § 74 Abs. 2 GO LT zu Eigen gemacht hätte. Eine Abweichung von der Geschäftsordnung im Einzelfall durch Beschluss des Landtages nach § 75 GO LT lag nicht vor, und kann auch nicht in der Genehmigung der Tagesordnung gesehen werden, da der Antragsteller hierdurch – wie bereits ausgeführt – nicht auf sein Rederecht nach § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT verzichtet hat (siehe oben 1. Rn. 37). Dies wäre aber nach § 75 GO LT erforderlich gewesen, da dieser voraussetzt, dass keine Abgeordnete und kein Abgeordneter der Abweichung widerspricht.

61

Zudem steht diese eingrenzende Auslegung des Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners auch im Widerspruch zur eigenen Praxis des Antragsgegners, wie sie sich etwa in der Behandlung des Zwischenrufes des Abgeordneten Wolfgang K. in der hier verfahrensgegenständlichen Sitzung durch den Antragsgegner selbst zeigt

(Wolfgang K. [FDP]: Ich will jetzt auch eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten abgeben! - Unruhe) –

Präsident S.: - Wenn das notwendig ist, ist es natürlich möglich, Herr Abgeordneter K.).

Auch aus den Ausführungen des Antragsgegners in der 140. Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 22. Februar 2017 ergeben sich keine Anhaltspunkte für diese restriktive Auslegung. Dort hat der Antragsgegner die aus seiner Sicht maßgebliche Auslegung des § 64 Abs. 2 GO LT wie folgt definiert:

Sie können gemäß § 64 Absatz 2 der Geschäftsordnung Ihr behauptetes Abstimmungsverhalten kurz begründen. Das heißt, Sie können kurz und knapp die maßgebenden Gründe für Ihre Entscheidung darlegen. Damit ist Ihnen jedoch nicht das Wort zu einem allgemeinen Debatten- oder Diskussionsbeitrag erteilt. Sie haben sich daher jedweder Polemik gegen andere Fraktionen oder andere Personen zu enthalten. Auch eine Entgegnung auf Beiträge anderer Mitglieder des Hauses in anderen Zusammenhängen ist unzulässig. Ich erwarte, dass Sie (…) sich entsprechend den Regelungen unserer Geschäftsordnung verhalten (PlPr 18/140, S. 11766).

62

Dem Landtag steht kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie die Kompetenz zu, durch eine Änderung der Geschäftsordnung den zulässigen Inhalt einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten einzuschränken. Vorbild könnte § 54 Abs. 1 Satz 2 GO LT sein, der die Möglichkeiten einer persönlichen Bemerkung deutlich begrenzt. In der jetzigen Fassung der Geschäftsordnung ist eine derartige inhaltliche Begrenzung nicht normiert. Die zahlreichen vom Prozess-bevollmächtigten des Antragsgegners für eine hiervon abweichende Auslegung vorgebrachten Beispiele mögen zwar die bisherige praktische Nutzung des Instruments der Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT durch die Abgeordneten widerspiegeln, belegen aber nicht, dass nach dem Willen des Schleswig-Holsteinischen Landtages eine darüber hinausgehende Nutzung im obigen Sinne formal unzulässig sein soll.

63

(4) Unerheblich ist im Übrigen, ob der Antragsteller mit seinem Beitrag gegen einen etwaigen bisherigen Konsens der übrigen Fraktionen verstoßen hat, im Kontext personenbezogener Abstimmungen grundsätzlich Wortbeiträge über die zu Wählenden zu unterlassen. Zum einen bedarf eine Abänderung oder Einschränkung der in der Geschäftsordnung vorgesehenen Möglichkeit einer Erklärung nach § 64 Abs. 2 GO LT eines Beschlusses des Landtages nach § 74 Abs. 2 oder § 75 GO LT, so dass schon insoweit entgegenstehendes parlamentarisches Gewohnheitsrecht nicht genügt. Zum anderen ist nichts dafür ersichtlich, dass eine etwaige dahingehende praktische Übung aller Beteiligten derart zu Gewohnheitsrecht erstarkt wäre, dass eine abweichende Handhabung zur gemeinsamen Überzeugung aller Mitglieder des Schleswig-Holsteinischen Landtages sanktionierbar sein soll. Deshalb kann dahinstehen, ob ein parlamentarisches Gewohnheitsrecht Anlass eines Ordnungsrufes sein kann, was zweifelhaft erscheint

(Insoweit führt das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in seinem Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 - aus: „Auch ein noch so überwiegender Konsens einer Parlamentsmehrheit in einer bestimmten Angelegenheit kann angesichts der essentiellen Funktion des Parlamentes als Ort einer gerade gewollten gegensätzlichen Erörterung in der Sache sowie der Bedeutung des Rederechtes der übrigen Abgeordneten grundsätzlich nicht dafür maßgeblich sein, was eine Minderheit zur Verteidigung ihres Standpunktes vorbringen darf“).

III.

64

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

65

Das Urteil ist mit 6:1 Stimmen ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum des Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts Schmalz
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -

A.

1

Der im oben genannten verfassungsgerichtlichen Organstreit gestellte Antrag ist meines Erachtens zu verwerfen, weil bereits unzulässig. Denn dafür fehlt die Antragsbefugnis.

2

Als verletzt oder unmittelbar gefährdet durch den Ordnungsruf kommen insofern im Organstreitverfahren nur organschaftlich verliehene Rechte aus der Landesverfassung und der Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Betracht (Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, §§ 35 f. GO LT), hier also die allein aus Art. 17 LV (allgemeiner Abgeordnetenstatus) und aus Art. 31 LV (Indemnität wegen Äußerung im Landtag) herzuleitende Redefreiheit der Abgeordneten im Parlament

(vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 20 f.).

3

In diese Redefreiheit kann durch einen Ordnungsruf des Antragsgegners im Grundsatz eingegriffen sein

(BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 19).

Jedoch entfällt diese Möglichkeit, wenn parlamentarische Rechtsfolgen bei einer formlosen Rüge rechtlich ausgeschlossen sind

(BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 29).

Die Möglichkeit des Eingriffs entfällt ebenso, wenn die Rüge (obwohl als förmlicher Ordnungsruf rechtsfolgenfähig) tatsächlich keine Rechtsfolgen bewirken konnte, weil sie – wie hier – zu spät erteilt worden ist.

4

Ein Ordnungsruf während laufender Rede kann Abgeordnete „zur Ordnung“ zurückführen (§ 66 Abs. 1 GO LT). Ein zweiter Ordnungsruf bei derselben Rede muss mit dem Hinweis verbunden sein, dass der Präsident der oder dem Abgeordneten bei einem dritten Ordnungsruf das Wort für diese Rede entziehe. Derartiges kam hier jedoch gar nicht erst in Betracht. Denn der Antragsteller hatte seine Rede zu Tagesordnungspunkt 17 bereits beendet, als ihn der Präsident in diesem Zusammenhang erstmals „zur Ordnung“ rief.

5

Andere oder weitere Rechtsfolgen sind parlamentsrechtlich nicht vorgesehen. Auch böte der fehlgegangene Ordnungsruf keine Grundlage für Rechtsfolgen etwa bei erneutem „Fehlverhalten“ in ähnlichem oder anderem Zusammenhang. Dennoch sollte dieser Ordnungsruf wohl disziplinierend wirken und den Antragsteller persönlich zu künftiger Verhaltensänderung bewegen. Diszipliniert wird auf diese Weise der Abgeordnete allenfalls als Amtsinhaber. Seine Organstellung als Mitglied des Landtags bleibt davon rechtlich unberührt. Eine bloß disziplinierende Zielsetzung beeinträchtigt das Rederecht des Abgeordneten nicht. Anderes vermag ich auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 1989 – 2 BvE 1/88 -

(BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 104)

nicht zu entnehmen.

6

Der Ordnungsruf ist schließlich nicht allein deshalb justiziabel, weil im nach der Geschäftsordnung durchgeführten Einspruchsverfahren bestätigt. Daraus ergibt sich nichts. Das Landesverfassungsgericht entscheidet nur in den von Landesverfassung und Landesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehenen Fällen (Art. 51 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 LV). Der vorliegende gehört nicht dazu.

7

Was bleibt, sind womöglich außerrechtliche Auswirkungen, und zwar von politischer Zustimmung bis Ablehnung. Grundrechte des Abgeordneten Dr B. können zwar berührt sein, etwa sein Recht auf Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht, allgemeine Handlungsfreiheit. Diese Freiheiten stehen ihm aber nicht als Parlamentsmitglied

(vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 20 f.),

sondern wie anderen Bürgern zu. Sie wären nicht verfassungsprozessual, sondern anderweit geltend zu machen.

B.

8

Der Antrag ist jedenfalls zurückzuweisen, weil unbegründet.

9

Sachverhalt und rechtliche Parameter gehen aus dem Urteil zutreffend hervor. Nur liegt der konkrete Fall besonders. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist der hier angegriffene Ordnungsruf nicht in seiner situativ ursprünglichen, auch nicht in der auf Einspruch hin schriftlich erteilten Fassung des Landtagspräsidenten, sondern allein in den Begründungsgrenzen der den Einspruch ablehnenden Mehrheit der Mitglieder des Landtages.

10

Bei den Abgeordneten liegt der Beurteilungsspielraum. Es geht nicht um den Verständnishorizont des Antragstellers, auch nicht des Landtagspräsidenten, sondern um den Erlebnishorizont im Plenum des Landtags. Vor den Abgeordneten hatte sich der Antragsteller zur Qualifikation des von der Landesregierung zur Wahl Vorgeschlagenen geäußert, dessen Qualifikation als suboptimal eingestuft und als wohl oder vielleicht durch parteipolitische Absprache ersetzt dargestellt.

11

Damit war die Ordnung im Sinne von § 66 Abs. 1 GO LT verletzt. Denn zum Tagesordnungspunkt 17 war keine Aussprache vorgesehen, und nach unstreitigem Vortrag des Landtagspräsidenten gibt es in personalia kraft Parlamentsbrauchs keine Erörterung ad personam. Dies hat der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt und betont, seine Fraktion sei angetreten, es zu ändern. Es gehe darum, durch den Landtag in Spitzenfunktionen die jeweils Besten zu wählen, ohne Parteienproporz. Eine ausdrückliche Personaldebatte dazu habe er deswegen für entbehrlich gehalten, weil die Geschäftsordnung des Landtags keine inhaltliche Schranke vorsehe, die Haltung seiner Fraktion in einer Erklärung zur Abstimmung zu verdeutlichen, wie geschehen. Was er übersieht: Auch ein Parlamentsbrauch gehört zur parlamentarischen Ordnung, so im Bund

(vgl. BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 26),

in anderen Bundesländern

(vgl LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009
- LVerfG 5/08 -, LVerfGE 447 ff., Juris Rn 36; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 35-I-11 -, Juris Rn. 30)

und auch in Schleswig-Holstein

(Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 229 Anmerkung 2).

12

Das Ziel, einen Parlamentsbrauch zu ändern, ist legitim. Eine Änderung wäre allerdings durch die vom Antragsteller für entbehrlich gehaltene offene Personaldebatte geschäftsordnungsgemäß erreichbar gewesen, da hier gesetzlich gerade nicht ausgeschlossen (Art. 65 Abs. 2 LV, § 4 des Gesetzes über den Landesrechnungshof Schleswig-Holstein vom 2. Januar 1991 ). Die Änderung stattdessen eigenmächtig und eher verdeckt durch Erklärung zum Abstimmungsverhalten bewirken zu wollen, wenn dies denn unbeanstandet geblieben wäre, konnte keinen Erfolg haben. Der dagegen gebotene Ordnungsruf hätte allerdings früher erteilt werden dürfen. Zumal der Antragsteller sein durch die Geschäftsordnungsautonomie des Landtags (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 LV) relativiertes Rederecht in offener Debatte hätte durchsetzen können, blieb es hier unverletzt.


Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Organstreitverfahrens ist ein Wortentzug, den der Antragsgegner in der 50. Tagung (140. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 22. Februar 2017 gegenüber dem Antragsteller – einem Abgeordneten und Vorsitzenden der Piratenfraktion des 18. Schleswig-Holsteinischen Landestages – ausgesprochen hat. Der Wortentzug erfolgte während der Behandlung des Tagesordnungspunktes 25 (Wahl von Mitgliedern und stellvertretenden Mitgliedern des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts) und ist wie folgt protokolliert:

Präsident Klaus Schlie:

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Abgeordnete Dr. Breyer hat angekündigt, gemäß § 64 Absatz 2 unserer Geschäftsordnung

(Unruhe)

- ich würde sagen: hören Sie mir einfach zu - sein Abstimmungsverhalten kurz begründen zu wollen. Da die Wahl der Mitglieder des Landesverfassungsgerichts gemäß § 6 Absatz 2 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes geheim ist, kann man sich schon die Frage stellen, ob eine solche Erklärung überhaupt zulässig ist. Immerhin dient das Wahlgeheimnis der Sicherung der Freiheit der Wahl - beides prägende Wahlgrundsätze in einer Demokratie. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich der Sache nach um eine Erklärung zu einem behaupteten Abstimmungsverhalten handeln wird. Da wir die entsprechenden verfahrensmäßigen Vorkehrungen getroffen haben, wie wir alle gemeinsam ja gesehen haben, kann niemand wissen, wo der Abgeordnete Dr. Breyer oder andere Mitglieder des Landtags in der Abgeschiedenheit der Wahlkabine ihr Kreuz tatsächlich gesetzt haben. Ich kann auch nicht erkennen, dass andere Mitglieder des Hauses durch die freiwillige Erklärung des Abgeordneten Dr. Breyer genötigt würden, sich ihrerseits zu ihrem Wahlverhalten zu erklären. Daher werde ich das Wort nach § 64 Absatz 2 der Geschäftsordnung erteilen.

Zuvor möchte ich allerdings noch auf einige Punkte eindringlich aufmerksam machen:

Erstens. Ich erteile Ihnen, Herr Dr. Breyer, das Wort zur Begründung Ihres eigenen Abstimmungsverhaltens, nicht aber für Ihre Fraktion. Wie die anderen Mitglieder Ihrer Fraktion abgestimmt haben, können Sie, da es sich um eine geheime Wahl gehandelt hat, nicht wissen. Sie können insoweit also auch nicht für die anderen Mitglieder Ihrer Fraktion sprechen.

Zweitens. § 6 Absatz 2 des Landesverfassungsgerichtsgesetzes sieht vor, dass die Wahl der Mitglieder des Landesverfassungsgerichts ohne Aussprache stattfindet. Sinn dieser Regelung ist es, die Wahl von einer parteipolitisch gefärbten Personaldebatte freizuhalten, um nicht die Autorität des Amtes durch den Wahlvorgang zu beschädigen. Ich werde darauf achten, dass diese Vorschrift durch Ihre Erklärung nicht umgangen wird. Sie können gemäß § 64 Absatz 2 der Geschäftsordnung Ihr behauptetes Abstimmungsverhalten kurz begründen. Das heißt, Sie können kurz und knapp die maßgebenden Gründe für Ihre Entscheidung darlegen. Damit ist Ihnen jedoch nicht das Wort zu einem allgemeinen Debatten- oder Diskussionsbeitrag erteilt. Sie haben sich daher jedweder Polemik gegen andere Fraktionen oder andere Personen zu enthalten. Auch eine Entgegnung auf Beiträge anderer Mitglieder des Hauses in anderen Zusammenhängen ist unzulässig. Ich erwarte, dass Sie die Vorschriften des Landesverfassungsgerichtsgesetzes respektieren und sich entsprechend den Regelungen unserer Geschäftsordnung verhalten. Mit dieser Maßgabe erteile ich Ihnen, Herr Dr. Breyer, nunmehr das Wort.

Dr. Patrick Breyer [PIRATEN]:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde versuchen, den detaillierten Vorgaben gerecht zu werden, und möchte zur Begründung des Abstimmungsverhaltens Folgendes ausführen: Dieser Wahlvorschlag zum Landesverfassungsgericht ist nicht zustimmungsfähig, weil ihm keine offene Ausschreibung der Stellen und keine ergebnisoffene gemeinsame Suche nach den bestqualifizierten Juristen vorausgegangen ist. Das Landesverfassungsgericht ist Hüter unserer Verfassung und Kontrollorgan auch des Landtages. Wir brauchen die besten Verfassungsrichter für diese wichtige Aufgabe.

(Zuruf Beate Raudies [SPD])

Das Landesverfassungsgericht entscheidet auch über die Gültigkeit und Wiederholung von Landtagswahlen. Die Top-Qualifikation und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder sind deswegen wichtig, um jeden Anschein zu verhindern, politisch brisante Entscheidungen könnten politisch und nicht verfassungsrechtlich motiviert sein. Genau dieser Eindruck kann entstehen,

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Wenn Sie reden!)

wenn sich die Chefs von –

Präsident Klaus Schlie:

Ich bitte Sie, zur Sache zu sprechen, Herr Abgeordneter, und zu beachten, was ich eingangs gesagt habe. Ich habe das ernst gemeint.

Dr. Patrick Breyer [PIRATEN]:

Herr Präsident, dann überspringe ich diesen Teil und sage: Genau dieser Eindruck kann entstehen, wenn die Richterstellen am Landesverfassungsgericht von Parteien untereinander aufgeteilt werden und statt einer offenen Bestenauslese –

Präsident Klaus Schlie:

Herr Abgeordneter Dr. Breyer, ich bitte Sie noch einmal sehr eindringlich zu beachten, was ich eingangs gesagt habe, und weise Sie darauf hin, dass ich Ihnen sonst das Wort entziehe.

Dr. Patrick Breyer [PIRATEN]:

Dann überspringe ich diesen Teil und fahre wie folgt fort: Nach unserem Grundgesetz hat jeder deutsche Staatsbürger nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung den gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Richter- und Anwaltsverbände fordern dementsprechend eine öffentliche Ausschreibung auch der Stellen am Landesverfassungsgericht. Das ist nötig, um den besten Interessenten überhaupt eine Chance zu geben, sich zu melden und sich ins Gespräch zu bringen. Ohne öffentliche Ausschreibung haben selbst top-qualifizierte Verfassungsrechtslehrer, zum Beispiel aus benachbarten Bundesländern,

(Zurufe)

die zum Teil jahrelange Arbeitserfahrung an Verfassungsgerichten erworben haben, keine Chance.

(Dr. Heiner Garg [FDP]: Das ist keine Erklärung zur Abstimmung!)

Präsident Klaus Schlie:

Herr Abgeordneter, ich entziehe Ihnen hiermit das Wort.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

2

Hiergegen hat der Antragsteller am 16. März 2017 ein Organstreitverfahren mit der Behauptung eingeleitet, der angegriffene Wortentzug stelle einen nicht gerechtfertigten Eingriff in seine in Art. 17 Abs. 1 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (LV) garantierte Redefreiheit dar. Er hat beantragt, festzustellen, dass der Antragsgegner ihn – den Antragsteller – durch den Ordnungsruf in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter aus Art. 17 Abs. 1 LV verletzt habe. Der Antragsgegner hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er hat den Antrag bereits als unzulässig, jedenfalls aber unbegründet erachtet.

3

Mit Ende der 18. Wahlperiode ist der Antragsteller aus dem Schleswig-Holsteinischen Landtag ausgeschieden. Mit Schriftsatz vom 14. August 2017 erklärt der Antragsteller, an seinem Antrag nicht länger festzuhalten.

B.

I.

4

Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung des gemäß § 13 Abs. 2 Landesverfassungsgerichtsgesetz (LVerfGG) in Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht geltenden § 92 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) durch einstimmigen Beschluss (§ 21 Satz 1 LVerfGG) einzustellen, nachdem der Antragsteller seinen Antrag zurückgenommen hat.

5

Bei dem Organstreitverfahren nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1, §§ 35 ff. LVerfGG handelt es sich um ein kontradiktorisches Verfahren

(vgl. zur vergleichbaren Rechtslage auf Bundesebene: BVerfG, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 2 BvE 5/12 -, BVerfGE 139, 239 ff., Juris Rn. 13 m.w.N.).

Durch die Antragsrücknahme ist das für das Verfahren erforderliche Rechtschutzbedürfnis

(Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, SchlHA 2017, 213 ff., NVwZ-RR 2017, 593 ff., NordÖR 2017, 378 ff.; Juris Rn. 32 m.w.N.)

weggefallen. Ein öffentliches Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens besteht nicht, so dass dahinstehen kann, ob ein Organstreitverfahren in diesem Fall fortgesetzt werden könnte

(i.d.S. etwa BVerfG, Beschluss vom 26. November 1968 - 2 BvE 5/67 -, BVerfGE 24, 299 ff., Juris Rn. 1; VerfGH Sachsen, Urteil vom 17. Februar 1995 - Vf.4-I-93 -, SächsVBl 1995, 227; VerfGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. Oktober 2000 - VerfGH 16/98 -, NVwZ 2002, 75 ff., Juris Rn. 48; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27. Mai 2003 - LVerfG 10/02 -, NordÖR 2003, 359 ff., Juris Rn. 38; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, S. 115 f.; 118 Fn. 141).

6

Das vorliegende Organstreitverfahren gibt insbesondere keinen Anlass, ungeklärte verfassungsrechtliche Fragen, die für das künftige Verfassungsleben bedeutsam sind

(vgl. hierzu etwa StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 1977 - 1 VB 2/76 -, ESVGH 27, 1, 4 ff.; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27. Mai 2003 - LVerfG 10/02 -, NordÖR 2003, 359 ff., Juris Rn. 309; StGH Hessen, Urteil vom 13. Juli 2016 - P.St. 2431 -, ESVGH 67, 62 f., Juris Rn. 116),

einer Klärung zuzuführen. Maßgeblich für die Entscheidung in der Hauptsache ist, ob der Antragsteller bei seiner Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages (in ihrer Fassung vom 8. Februar 1991 , zuletzt geändert am 22. Juli 2016 , im Folgenden: GO LT) den Rahmen des nach der Geschäftsordnung Zulässigen überschritten und in eine in diesem Format unzulässige Debatte nach §§ 52 ff. GO LT eingestiegen ist. Denn nur auf eine solche angebliche Überschreitung des zulässigen Inhalts einer Erklärung nach § 64 Abs. 2 GO LT hat sich der Antragsgegner mit der Erläuterung seiner Auslegung des § 64 Abs. 2 GO LT zu Beginn des Redebeitrages des Antragstellers (s.o. A., Rn. 1) bezogen, gegen die er im Folgenden nur noch ohne weitere Begründungen Verstöße festgestellt hat.

7

Die damit aufgeworfene Rechtsfrage des zulässigen Inhalts einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT in Abgrenzung zu einer Debatte nach §§ 52 ff. GO LT bedarf keiner weiteren Klärung. Das Landesverfassungsgericht hat in dem vorangegangenen Verfahren zwischen den Beteiligten - LVerfG 1/17 - mit Urteil vom 17. Mai 2017

(SchlHA 2017, 213 ff., NVwZ-RR 2017, 593 ff., NordÖR 2017, 378 ff., Juris Rn. 55)

bereits entschieden, welche Voraussetzungen und Grenzen für Erklärungen zum Abstimmungsverhalten gelten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das vorgenannte Urteil Bezug genommen.

8

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass – anders als in dem Verfahren LVerfG 1/17 – vorliegend zusätzlich die Vorschrift des § 6 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG im Streit steht. Diesbezüglich kann dahinstehen, ob aus dieser Vorschrift im Kontext von Wahlen zum Landesverfassungsgericht nicht nur ein Ausschluss von Redebeiträgen nach §§ 52 ff. GO LT folgt, sondern zugleich ein Ausschluss von Erklärungen zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT. Denn Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist die angegriffene Maßnahme gerade in der konkreten Form und mit der jeweiligen konkreten Begründung

(vgl. hierzu Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -, SchlHA 2017, 213 ff., NVwZ-RR 2017, 593 ff., NordÖR 2017, 378 ff., Juris Rn. 51).

9

Aus den einleitenden Worten des Antragsgegners (s.o. A., Rn. 1) folgt, dass Anlass der Sachrufe und des anschließenden Wortentzuges nur der Inhalt des Redebeitrages des Antragsgegners war, nicht hingegen der Umstand, dass er überhaupt einen Redebeitrag nach § 64 Abs. 2 GO LT abgegeben hat. Es war der Antragsgegner selbst, der dem Antragsteller unter ausdrücklicher Erwähnung des § 6 LVerfGG das Wort zu einer Erklärung nach § 64 Abs. 2 GO LT eingeräumt hat. Zudem hat sich der Antragsgegner bei der angegriffenen Maßnahme nicht auf etwaige besondere inhaltliche Einschränkungen gestützt, die sich aus § 6 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG ergeben könnten. Vielmehr hat er nur den allgemeinen, oben (s.o. A., Rn. 1) bereits wiedergegebenen Rechtsgedanken dargelegt, dass das Rederecht nach § 64 Abs. 2 GO LT auch in dem vorliegenden Kontext einer Wahl zum Landesverfassungsgericht nicht dazu missbraucht werden dürfte, de facto in eine allgemeine Debatte nach §§ 52 ff. GO LT einzusteigen.

II.

10

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine – auf Antrag mögliche –Auslagenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG), da von keiner Seite ein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).


Gründe

1

Das Organstreitverfahren betrifft die Frage, ob die Antragsgegnerin vor dem Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm im Juni 2007 die Zustimmung des Deutschen Bundestages hätte einholen oder das Grundgesetz hätte geändert werden müssen.

A.

I.

2

1. In der Zeit vom 6. bis zum 8. Juni 2007 fand unter deutscher Präsidentschaft in Heiligendamm in Mecklenburg-Vorpommern das 33. Treffen des Weltwirtschaftsgipfels der Gruppe der Acht (G8) unter dem Motto "Wachstum und Verantwortung" statt. Daran nahmen außer den Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten Repräsentanten der Europäischen Union, der großen Schwellenländer Brasilien, China, Indien, Mexiko und Südafrika sowie der afrikanischen Staaten Ägypten, Algerien, Nigeria, Senegal und Ghana teil.

3

Die zuständigen Sicherheitsbehörden gingen im Hinblick auf die bisherigen Erfahrungen mit G8-Gipfeln davon aus, dass nicht alle der angekündigten Demon-strationen und Aktionen friedlich verlaufen würden. Darüber hinaus stufte das Bundeskriminalamt in seiner Gefährdungseinschätzung die Bundesrepublik Deutschland wegen des islamistischen Terrorismus als einen Teil des europaweiten Gefahrenraums ein, in dem während des Gipfels mit Anschlägen gerechnet werden müsse. Die Sicherheitsbehörden des Landes Mecklenburg-Vorpommern entwickelten daraufhin in enger Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden ein umfassendes Sicherheitskonzept.

4

2. Das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern beauftragte am 1. September 2005 den Leiter der Polizeidirektion Rostock, den Polizeieinsatz während des G8-Gipfels 2007 zu organisieren und zu leiten. Da man davon ausging, dass zur Wahrnehmung der komplexen und umfangreichen Aufgaben die Grenze der Leistungsfähigkeit der Alltagsorganisation der Polizei überschritten werden würde, wurde eine nach dem griechischen Wort "Kavala" benannte "Besondere Aufbauorganisation" (BAO Kavala) als besondere Organisationseinheit der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern unter Mitarbeit anderer Sicherheitsbehörden, unter anderem des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei, zur Leitung und Koordinierung der Sicherheitskräfte als Teil der Polizeidirektion Rostock eingerichtet. Sie war zuständig für alle polizeilichen Einsatzlagen im Zusammenhang mit dem Weltwirtschaftsgipfel der G8 im Jahr 2007 im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Rostock. Die BAO Kavala bestand seit dem 1. März 2006.

5

3. Das Land Mecklenburg-Vorpommern und der Bund kamen im Vorfeld des Gipfels zu der gemeinsamen Einschätzung, dass Mecklenburg-Vorpommern ohne Hilfeleistungen des Bundes und anderer Länder mit der Gewährleistung der Sicherheit anlässlich des Gipfels überfordert sein würde.

6

a) Mit Schreiben vom 21. März 2006 wandte sich der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern an den für die Billigung von Streitkräfteanforderungen durch die Vollzugsorgane zuständigen Bundesminister der Verteidigung und bat unter Verweis auf eine Zusage des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in allgemeiner Form um Unterstützung seitens der Bundeswehr durch die Bereitstellung von Unterbringungs-, Ver- und Entsorgungskapazitäten sowie von noch zu spezifizierendem technischen Gerät. Der Bundesminister der Verteidigung sagte dem Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit Schreiben vom 8. Mai 2006 die technisch-logistische Unterstützung grundsätzlich zu. Dabei gingen der Bund und das Land davon aus, dass es sich bei den zu treffenden Maßnahmen um Amtshilfe handele.

7

An den in der Folge erbrachten Unterstützungsleistungen der Bundeswehr waren rund 1.100 Soldaten und zivile Mitarbeiter beteiligt, die für die Unterbringung und Verpflegung der Sicherheitskräfte sorgten, Personen mit Hubschraubern und Booten transportierten, die medizinische Versorgung und Notfallvorsorge übernahmen, Aufklärungs- und Radartechnik zur Verfügung stellten sowie Aufklärungsmissionen mit Tornado-Flugzeugen durchführten, das seeseitige Sperrgebiet und die Seebrücke Heiligendamm absuchten, Wege und Flächen befestigten sowie Sperrvorrichtungen errichteten und Gerät und Betriebsstoffe bereitstellten. Das Vorbringen der Antragstellerin bezieht sich allein auf die Aufklärungsflüge mit Tornado-Flugzeugen, den Einsatz von Aufklärungssystemen Fennek (Spähpanzer), die Unterstützung bei der Gewährleistung der Sicherheit im Luftraum, die Errichtung eines mobilen Sanitätsrettungszentrums in Bad Doberan sowie den Einsatz von Feldjägerkräften.

8

b) Das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern beantragte mit Schreiben vom 13. März 2007 unter Bezugnahme auf die Zusage technischer Unterstützung des Bundesministers der Verteidigung beim Wehrbereichskommando I "Küste" (im Folgenden: WBK I "Küste") den Einsatz von Tornado-Flugzeugen des Aufklärungsgeschwaders 51 "Immelmann" zu Aufklärungszwecken, da die Sicherheitsbehörden aufgrund polizeilicher Prognosen, auch im Hinblick auf Erfahrungen bei Castor-Transporten, damit rechneten, dass G8-Gipfelgegner versuchen würden, Blockaden auf den Zufahrtswegen nach Heiligendamm und zum Flughafen Rostock-Laage zu errichten. Insbesondere wurde befürchtet, dass sie Erddepots für Werkzeuge und Blockademittel anlegen und Manipulationen an Straßenzügen wie Unterspülungen oder Unterhöhlungen vornehmen würden. Ziel der Luftaufklärung war die Erkennung dessen.

9

Die Aufklärungssysteme Tornado sind mit einer Kamerakassette ausgestattet, mit der deckungsgleiche Aufnahmen mittels optischer Kameras und Infrarotsensoren gefertigt werden können. Dies erlaubt die genaue Erfassung von Bodenveränderungen. Die optischen Bilder eignen sich nach Angaben der Antragsgegnerin mangels hinreichender Auflösung jedoch nicht zur Identifizierung von Personen. Bei den Polizeien des Landes Mecklenburg-Vorpommern und auch anderer Länder sowie des Bundes stand eine entsprechende Technik nicht zur Verfügung.

10

Der Bundesminister der Verteidigung billigte am 26. April 2007 gemeinsam mit einer Vielzahl von beantragten Unterstützungsleistungen die Durchführung von zwei Aufklärungsflügen. Dies wurde durch den Befehl Nr. 1 vom 30. April 2007 des WBK I "Küste" sowie den Befehl 23/2007 vom 10. Mai 2007 des Befehlshabers Luftwaffenführungskommando und den Divisionsbefehl Nr. 33/07 der 4. Luftwaffendivision konkretisiert, mit denen das Aufklärungsgeschwader 51 "Immelmann" angewiesen wurde, Aufklärungsflüge auf Anforderung des WBK I "Küste" durchzuführen. Der Aufklärungsbedarf wurde für bestimmte Straßenabschnitte festgestellt und bei einer Besprechung der BAO Kavala mit dem Aufklärungsgeschwader am 9. Mai 2007 nochmals konkretisiert.

11

In der Folge wurden insgesamt sieben Missionen mit Tornado-Flugzeugen geflogen, und zwar eine Demonstrationsmission am 3. Mai 2007 sowie Aufklärungsmissionen am 15. Mai, 22. Mai, 30. Mai, 31. Mai, 4. Juni und 5. Juni 2007. Dabei wurden pro Mission bis zu drei Luftfahrzeuge, insgesamt 14 (teilweise wiederholt dieselben) eingesetzt. Die Flugdauer betrug jeweils zwischen einer und zweieinhalb Stunden. Die Mindestflughöhe betrug bei den meisten Flügen 1.000 Fuß (etwa 300 m), zum Teil auch 500 Fuß (etwa 150 m). Beim letzten Flug wurde über dem bevölkerten Demonstranten-Camp Reddelich die Mindestflughöhe von 500 Fuß für die Dauer von 1 Minute und 22 Sekunden um 119 Fuß unterschritten. Bei den Flügen wurden Bilder angefertigt, auf denen zum Teil Personen zu sehen sind, die aber nicht identifiziert werden können. Bei keinem der Flüge waren die Bordkanonen der Tornado-Flugzeuge aufmunitioniert. Die Bordkanonen sind integraler Bestandteil der Tornados. Mit dem bloßen Auge sind deren Mündungsöffnungen nur aus geringem Abstand erkennbar.

12

c) Weiterhin beantragte das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern beim WBK I "Küste" den Einsatz von neun geschlossenen Spähsystemen Fennek, bestehend aus je einem Spähpanzer zur Geländeaufklärung. Das Spähsystem Fennek ist durch die Ausstattung mit optischen Sensoren bei Tag und Nacht für die weitreichende Beobachtung von Geländeabschnitten geeignet. Der Bundesminister der Verteidigung billigte den Einsatz am 4. Juni 2007.

13

Die Spähsysteme wurden zur Überwachung von Räumen und Straßen sowie der Anflugrouten von Gipfelteilnehmern verwendet und hatten den Auftrag, zu beobachten und Wahrnehmungen an die Polizei weiter zu melden. Eigenständige Reaktionen auf wahrgenommene Beobachtungen und Vorfälle waren untersagt. Es wurde kein Bild- oder Tonmaterial aufgezeichnet, vor allem keine Fotos gemacht. Die Waffenanlagen (Nebelmittelwurfanlage und Granatmaschinenwaffe oder Maschinengewehr) waren im Heimatstandort der Spähsysteme abgebaut worden und dort verblieben. Die Kommandanten waren zur Eigensicherung mit einer Pistole P8 mit fünf Schuss Munition ausgestattet. Die Spähsysteme wurden nach Angaben der Antragsgegnerin durch Polizeikräfte begleitet.

14

d) Nachdem das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern auch die Unterstützung zur Abwehr von Gefahren aus der Luft durch zivile Flugobjekte beantragt hatte, wurden zur Gewährleistung der Sicherheit im Luftraum drei AWACS-Luftfahrzeuge im Rahmen des NATO-Verbandes eingesetzt, die ein Luftlagebild erstellten. Daran waren auch eine Fregatte 124 der Marine und ein Luftraumüberwachungsradar Heer für den Nahbereich Heiligendamm beteiligt; weiter stand eine Funkanbindung mit der Flugeinsatzzentrale im Einsatzabschnitt Luft bereit.

15

Darüber hinaus hielt die Luftwaffe vor und während des G8-Gipfels vier Luftfahrzeuge Eurofighter und acht Luftfahrzeuge Phantom bereit, die etwa 23 Flugstunden erbrachten. Zu besonderen Kernzeiten waren jeweils zwei Jagdflugzeuge in der Luft, um die Reaktionszeiten für den Fall des Eingreifens auf ein Minimum zu verkürzen. In den übrigen Zeiträumen befanden sich die Alarmrotten im sogenannten Ground Alert in einem 15-Minuten-Bereitschaftsstatus am Boden auf den Einsatzflugplätzen. Die Jagdflugzeuge waren bewaffnet. In keinem Fall mussten sie tatsächlich eingreifen. Nach Angaben der Antragsgegnerin wurden die Maßnahmen vom Inspekteur der Luftwaffe in seiner Zuständigkeit für die Gewährleistung der Sicherheit im Luftraum über der Bundesrepublik Deutschland angewiesen.

16

Unabhängig davon überflogen am 31. Mai 2007 zwei Luftfahrzeuge der Bundeswehr vom Typ Eurofighter das Camp Wichmannsdorf in einer Flughöhe von nicht unter 2.650 Fuß (etwa 800 m). Sie befanden sich nach Angaben der Antragsgegnerin auf einem routinemäßigen Ausbildungsflug.

17

e) Zur Sicherung der notärztlichen Versorgung während des Gipfels beantragte das Land Mecklenburg-Vorpommern darüber hinaus die Errichtung eines mobilen Sanitätsrettungszentrums der Bundeswehr, einer mobilen Dekontaminationseinrichtung sowie die Verlegung von Luftrettungsmitteln mit Sanitätspersonal in den Bereich des Krankenhauses Bad Doberan/Hohenfelde. Diesem Antrag kam die Bundeswehr nach. Die Einrichtungen wurden von Sanitätssoldaten betrieben.

18

Der Bundeswehr wurde dabei für räumlich begrenzte Teilbereiche im Liegenschaftsbereich des Krankenhauses Bad Doberan die Ausübung des Hausrechts übertragen.

19

f) Zur Sicherung der Tätigkeit der Sanitätssoldaten und zur Wahrnehmung des Hausrechts wurden 83 Feldjäger im Schichtdienst eingesetzt. Dabei handelte es sich nach Angaben der Antragsgegnerin um Maßnahmen zur Eigensicherung und nicht um Amtshilfe. Unabhängig von der Ausübung des Hausrechts standen den Feldjägern dabei die Befugnisse des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen (UZwGBw) zu.

20

Darüber hinaus wurden weitere Feldjägerkräfte zum Schutz militärischer Liegenschaften eingesetzt, da deren Gefährdung im Umfeld des Gipfels als erhöht bewertet worden war.

21

Die Sanitätssoldaten und Feldjäger waren uniformiert und mit Pistole oder Gewehr bewaffnet. Sie fertigten auf dem Gelände des Krankenhauses Bad Doberan und auch außerhalb Fotos an, auf denen zum Teil auch Zivilpersonen zu sehen sind.

II.

22

Die Antragstellerin beantragt in ihrer Antragsschrift vom 29. September 2007, die am 1. Oktober 2007 beim Bundesverfassungsgericht einging, festzustellen, dass die Antragsgegnerin dadurch, dass sie es unterlassen hat, vor dem Einsatz der Bundeswehr anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm den Deutschen Bundestag damit zu befassen, Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 87a Abs. 2 GG verletzt hat.

23

1. Der Antrag sei auf die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen gerichtet (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Im Verhältnis zwischen Deutschem Bundestag und Bundesregierung seien die Gesetzgebungsbefugnisse und sonstigen Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages rügefähig. Hier werde eine unterlassene Mitwirkung am Einsatz der Streitkräfte anlässlich des G8-Gipfels gerügt.

24

2. Die Antragstellerin sei als Fraktion des Deutschen Bundestages im Organstreitverfahren gemäß § 13 Nr. 5 und §§ 63 ff. BVerfGG parteifähig; als dessen Organ könne sie gemäß § 64 BVerfGG dessen Mitwirkungsrechte im Wege der Prozessstandschaft geltend machen.

25

3. Antragsgegenstand sei eine Unterlassung der Antragsgegnerin, die darin bestehe, dass die Mitwirkung des Deutschen Bundestages unterblieben und dies der Antragsgegnerin zuzurechnen sei. Aufgrund des Charakters der Bundeswehr als Parlamentsarmee und wegen der Regelung des Art. 87a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 GG, wonach die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden dürften, soweit das Grundgesetz dies ausdrücklich zulasse, sei die Mitwirkung des Deutschen Bundestages verfassungsrechtlich geschuldet gewesen. Der Charakter der Bundeswehr als Parlamentsarmee lasse sich auch für Inlandseinsätze auf die Kontrollrechte des Parlaments, etwa nach Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG, die Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages nach Art. 45b GG und den Verfassungsvorbehalt nach Art. 87a Abs. 2 GG stützen.

26

Es gehe nicht darum, ein Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Grundgesetzes einzuleiten. Die Antragstellerin wolle vielmehr festgestellt wissen, dass der Einsatz der Streitkräfte in Heiligendamm ohne hinreichende verfassungsrechtliche Ermächtigung angeordnet worden sei und damit Rechte des Deutschen Bundestages im Sinne von § 64 BVerfGG verletzt worden seien.

27

4. Die Antragstellerin sei antragsbefugt. Dabei genüge es, dass die behauptete Rechtsverletzung nach dem vorgetragenen Sachverhalt nicht von vornherein auszuschließen sei. Das Bundesverfassungsgericht lasse ein "Handeln ohne Grundgesetzänderung" zur Begründung der Antragsbefugnis ausreichen, soweit die übergangene Norm zumindest auch Rechte des Deutschen Bundestages zur Gesetzgebung zu gewährleisten bestimmt sei.

28

Art. 87a Abs. 2 GG habe auch die Funktion, Rechte des Deutschen Bundestages zur Gesetzgebung zu gewährleisten. Insoweit komme der historischen Zielrichtung der Vorschrift entscheidendes Gewicht zu. Nach Art. 143 GG in der Fassung von 1956 hätten die Voraussetzungen, unter denen es zulässig werde, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstands in Anspruch zu nehmen, nur durch ein Gesetz geregelt werden können, das die Voraussetzungen des Art. 79 GG erfülle. Für die Verankerung spezifischer Rechte des Deutschen Bundestages spreche auch die Gesetzesbegründung. Der Ablösung des Art. 143 GG durch Art. 87a GG habe die Zielrichtung des parlamentarischen Kompetenzschutzes zu Grunde gelegen. Dass Art. 87a Abs. 4 GG nicht ausdrücklich eine vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages bei den dort genannten Inlandseinsätzen fordere, führe nicht zur Preisgabe des Kompetenzschutzes, weil diese Regelung im Hinblick auf die spezifische Gefahrendimension Praktikabilitätserwägungen geschuldet gewesen sei. Für den kompetenzschützenden Charakter von Art. 87a Abs. 2 GG spreche auch, dass das Grundgesetz dem Parlament generell in Fragen der Streitkräfte eine starke Rolle zuweise: Dies werde deutlich an den Kontroll- und Begrenzungsrechten des Parlaments nach Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG, der Institution des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages und der Bindungswirkung des Aufhebungsverlangens nach Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG. Auch aus einer systematischen Auslegung ergebe sich daher, dass Art. 87a Abs. 2 GG nicht nur objektivrechtlichen Charakter habe. Die Antragsbefugnis ergebe sich daher aus Art. 87a Abs. 2 GG und dem Verfassungsvorbehalt für Einsätze der Streitkräfte im Innern, nicht aus Art. 35 Abs. 1 GG. Die Verletzung von Rechten des Deutschen Bundestages beruhe darauf, dass die Antragsgegnerin einen Einsatz der Streitkräfte im Innern angeordnet habe, ohne dazu vorher durch eine besondere, von Verfassungs wegen erforderliche Regelung ermächtigt worden zu sein.

29

In der Replik ergänzt die Antragstellerin, mit der Rüge der Verletzung des Art. 87a Abs. 2 GG werde diejenige der Verletzung der Art. 20 Abs. 3, Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG verknüpft. Das Einsatz-Spektrum dürfe über Art. 87a Abs. 3 und Abs. 4 sowie Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 GG hinaus nur im Verfahren nach Art. 79 GG ausgeweitet werden.

30

5. Der Antrag sei begründet, weil es sich bei der Verwendung der Tornado-Flugzeuge, der Spähwagen Fennek, der Jagdflugzeuge, der Feldjäger und Sanitätssoldaten um einen Einsatz der Streitkräfte im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG gehandelt habe und dieser nicht auf Art. 35 GG, vor allem nicht auf Art. 35 Abs. 1 GG, habe gestützt werden können.

31

6. Mit am 18. Juni 2008 beim Bundesverfassungsgericht eingegangener Replik beantragt die Antragstellerin hilfsweise, falls das Bundesverfassungsgericht der Auffassung sei, dass die Verwendung der Bundeswehr dem Grundgesetz entsprochen habe, festzustellen, dass der Parlamentsvorbehalt es geboten hätte, den Deutschen Bundestag vor dem Einsatz damit zu befassen.

III.

32

Die Antragsgegnerin hält den Antrag für unzulässig, jedenfalls für unbegründet.

33

1. Der Sachverhalt sei von der Antragstellerin nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Der Verweis auf einen Bericht des Bundesministeriums der Verteidigung sowie auf Drucksachen des Deutschen Bundestages genüge insoweit nicht.

34

2. Die Antragstellerin mache nicht deutlich, was die Antragsgegnerin hätte tun müssen, ob sie den Deutschen Bundestag vor der gesamten Amtshilfeleistung oder vor nur einem Teil davon hätte beteiligen und ob die übrigen Handlungen hätten unterbleiben müssen. Weiter sei offen, ob die Antragsgegnerin um Zustimmung zu den Maßnahmen hätte ersuchen oder nur davon hätte informieren müssen. In letzterem Fall stelle sich die Frage, inwieweit die Antragsgegnerin dieser Pflicht durch die Beantwortung der parlamentarischen Anfragen schon nachgekommen sei.

35

3. § 64 Abs. 2 BVerfGG verpflichte die Antragstellerin zur Nennung der Norm, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung verstoßen worden sei. Die Antragstellerin bezeichne Art. 87a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 GG als verletzte Normen. Diese vermittelten dem Deutschen Bundestag jedoch keine Organrechte; Art. 87a Abs. 2 GG habe einen rein objektiven Inhalt. Der Charakter der Bundeswehr als Parlamentsheer könne einen ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt für Einsätze bewaffneter Streitkräfte begründen, nicht aber den subjektivrechtlichen Charakter des Art. 87a Abs. 2 GG. Nichts anderes folge aus der Entstehungsgeschichte der Wehrverfassung. Selbst wenn Art. 143 GG in der Fassung von 1956 drittschützend gewesen wäre, gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber Art. 87a Abs. 2 GG subjektive Wirkung hätte beimessen wollen. Dagegen spreche auch die Stellung der Norm im achten Abschnitt des Grundgesetzes sowie die Tatsache, dass Art. 87a Abs. 2 GG den Deutschen Bundestag gerade nicht erwähne.

36

Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Rechtsprechung zu den Blauhelm-Einsätzen (BVerfGE 90, 286) ausdrücklich offen gelassen, ob Art. 87a Abs. 2 GG subjektivrechtlichen Charakter habe. Entscheidend sei der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gewesen. Geschriebenes Recht könne aber nicht unter Hinweis auf ungeschriebenes Recht unangewendet bleiben. Der Entscheidung liege daher konkludent die Aussage zu Grunde, dass die aus Art. 87a GG ableitbaren Rechte jedenfalls nicht weitergehen könnten als die Rechte aus dem ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt. Wenn daher in der konkreten Situation der Einsätze bei dem G8-Gipfel der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt keine subjektiven Rechte vermittle, dann könne Art. 87a Abs. 2 GG dies auch nicht tun und zwar auch dann nicht, wenn er eine subjektiv-rechtliche Dimension besitzen sollte.

37

Selbst wenn Art. 87a Abs. 2 GG drittschützend sei, so decke sich das von der Antragstellerin als verletzt gerügte subjektive Recht nicht mit dem Verfahrensgegenstand: Nach Auffassung der Antragstellerin habe die Antragsgegnerin Art. 87a Abs. 2 GG dadurch verletzt, dass die Schwelle zum Einsatz überschritten worden sei. Daran hätte sich aber auch nichts ändern können, wenn die Antragsgegnerin den Deutschen Bundestag vorher beteiligt und dieser zugestimmt hätte. Ein zustimmender Beschluss könne einen Einsatz, der mit Art. 87a Abs. 2 GG nicht vereinbar sei, nicht verfassungsgemäß werden lassen. In diesem Fall wäre vielmehr eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen.

38

Eine Berufung auf das Recht der Verfassungsänderung würde seitens des jeweiligen Antragstellers voraussetzen, dass dieser über eine Sperrminorität von mehr als einem Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages im Sinne von Art. 79 Abs. 2 GG verfüge, weil ihm sonst ein vorheriges Verfahren, das auf Verfassungsänderung gerichtet sei, nichts nütze.

39

4. Der Antrag könne nicht - auch nicht mit Blick auf den Hilfsantrag - in eine Rüge der Verletzung des unbestritten kompetenzschützenden ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts umgedeutet werden. Der Antragstellerin gehe es erkennbar um eine Überprüfung der Maßnahmen am Maßstab des Art. 87a Abs. 2 GG. Der Parlamentsvorbehalt werde von ihr in der Antragsschrift nicht als verletzt gerügt; die als verletzt gerügte Verfassungsbestimmung müsse aber innerhalb der Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG benannt werden.

40

Selbst wenn die Antragstellerin den ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt als verletzt gerügt hätte, sei der Antrag unzulässig, weil ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte offensichtlich nicht vorgelegen habe. Dies sei nur der Fall, wenn die Streitkräfte in militärische Gewaltaktionen einbezogen würden. Das Tragen von Waffen und die Verwendung schweren militärischen Geräts ohne Waffen machten keinen Einsatz bewaffneter Streitkräfte aus. Darüber hinaus gelte der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt nur für Auslandseinsätze, was sich aus einem Umkehrschluss aus Art. 87a Abs. 4 GG, der ausdrücklich keinen solchen Vorbehalt enthalte, ergebe. Dagegen spreche auch die unterschiedliche Funktion des Parlaments bei Inlands- und Auslandseinsätzen im Hinblick auf das Verfassungsprozessrecht: Bei Auslandseinsätzen ermögliche der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt die verfassungsgerichtliche Überprüfung; dies sei bei Inlandseinsätzen nicht erforderlich, weil diese im Wege einer Bund-Länder-Streitigkeit oder durch Verfassungsbeschwerden Einzelner überprüft werden könnten. Wegen des Gebots der strikten Texttreue des Art. 87a Abs. 2 GG bedürften Inlandseinsätze darüber hinaus keiner zusätzlichen rechtlichen Eingrenzung.

41

5. Der Antragstellerin fehle zudem das Rechtsschutzbedürfnis, weil sie eine unzulässige objektive Verfassungskontrolle verlange.

42

6. Der Antrag sei schließlich auch unbegründet, weil die Maßnahmen als Amtshilfe auf Art. 35 Abs. 1 GG gestützt werden könnten.

IV.

43

Der Bundespräsident, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat wurden von dem Verfahren in Kenntnis gesetzt (§ 65 Abs. 2 BVerfGG).

B.

44

Die Anträge im Organstreitverfahren sind jedenfalls offensichtlich unbegründet.

I.

45

Der Organstreit zielt auf die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Der Organstreit ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner und kein objektives Verfahren. Das Organstreitverfahren dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>; 73, 1 <29 f.>; 80, 188 <212>; 104, 151 <193 f.>; 118, 244 <257>). Der Organstreit ist keine objektive Beanstandungsklage. Das Grundgesetz hat den Deutschen Bundestag als Gesetzgebungsorgan, nicht aber als umfassendes "Rechtsaufsichtsorgan" über die Bundesregierung eingesetzt. Aus dem Grundgesetz lässt sich kein eigenes Recht des Deutschen Bundestages dahingehend ableiten, dass jegliches materiell oder formell verfassungswidrige Handeln der Bundesregierung unterbleibe (vgl. BVerfGE 68, 1 <72 f.>). Mit Rechten im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG sind daher allein diejenigen Rechte gemeint, die dem Antragsteller zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung oder zur Mitwirkung übertragen sind oder deren Beachtung erforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen und die Gültigkeit seiner Akte zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 68, 1 <73>). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist daher anerkannt, dass die Grundrechte als solche Rechte des Deutschen Bundestages im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG nicht begründen (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>). Ein Recht im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG erwächst dem Deutschen Bundestag darüber hinaus nicht aus jeder Bestimmung des Grundgesetzes mit Blick darauf, dass infolge von Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG keine dieser Bestimmungen ohne Mitwirkung des Deutschen Bundestages abgeändert oder aufgehoben werden kann. Nur dann, wenn eine Bestimmung selbst Rechte oder Pflichten im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG begründet, kann ihre Verletzung befugtermaßen gerügt werden (vgl. BVerfGE 68, 1 <73>).

II.

46

Soweit die Antragstellerin beantragt festzustellen, dass die Antragsgegnerin es unterlassen hat, den Deutschen Bundestag vorab mit der Verwendung der Bundeswehr anlässlich des G8-Gipfels zu befassen, die nach ihrer Auffassung die Grenzen des Art. 87a Abs. 2 GG überschritten hat, und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 87a Abs. 2 GG verletzt hat, bleibt der Antrag ohne Erfolg.

47

1. Soweit der Hauptantrag dahin zu verstehen sein sollte, dass die Antragstellerin die Verletzung eines Beteiligungsrechts des Deutschen Bundestages festgestellt wissen möchte, das sich gerade aus der von ihr angenommenen Verfassungswidrigkeit der Verwendung der Bundeswehr anlässlich des G8-Gipfels ergebe, fehlte es bereits an der Antragsbefugnis.

48

Unterstellt man im vorliegenden Fall - wie von der Antragstellerin angenommen - einen Verstoß gegen Art. 87a Abs. 2 GG dadurch, dass die Streitkräfte im Sinne dieser Vorschrift eingesetzt worden wären, ohne dass dies der Verteidigung diente und ohne dass dies im Grundgesetz ausdrücklich zugelassen war, so hätte auch durch eine vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages in Form eines einfachen Beschlusses ein verfassungskonformer Zustand nicht hergestellt werden können. Durch die Mitwirkung des Deutschen Bundestages wäre ein Verfassungsverstoß der Antragsgegnerin nicht geheilt, sondern allenfalls vertieft worden. Im Fall einer Überschreitung der Grenzen des Art. 87a Abs. 2 GG wäre zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Zustandes vielmehr eine Verfassungsänderung erforderlich gewesen, die durch schlichten Parlamentsbeschluss nicht erfolgen kann.

49

2. Der Antrag festzustellen, dass die Zustimmung zu der hier in Streit stehenden Verwendung der Bundeswehr nicht eingeholt und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages verletzt worden seien, bleibt zudem jedenfalls in der Sache offensichtlich ohne Erfolg, weil mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des Senats nicht ersichtlich ist, dass sich Art. 87a Abs. 2 GG oder anderen Vorschriften des Grundgesetzes ein entsprechendes Zustimmungserfordernis - sei es in Bezug auf Maßnahmen unterhalb oder oberhalb der Schwelle eines Einsatzes der Streitkräfte im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG - entnehmen ließe.

50

a) Das Bundesverfassungsgericht hat nur für Auslandsverwendungen der Bundeswehr aus dem Grundgesetz das Erfordernis der konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages zu bewaffneten Einsätzen abgeleitet.

51

aa) In der Entscheidung BVerfGE 90, 286 hat der Senat der deutschen Verfassungstradition seit 1918 sowie den wehrverfassungsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes das Prinzip eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts für den militärischen Einsatz von Streitkräften entnommen (vgl. BVerfGE 90, 286 <381 ff.>). Nach Art. 45 Abs. 2 WRV waren Kriegserklärungen und Friedensschlüsse der Legislative vorbehalten; Art. 59a Abs. 1 GG in der Fassung von 1956 knüpfte daran an, indem die "schicksalhafte politische Entscheidung über Krieg und Frieden" der obersten Vertretung des ganzen Volkes, mithin dem Deutschen Bundestag, übertragen wurde, dem die Feststellung des Eintritts des Verteidigungsfalles oblag (vgl. BVerfGE 90, 286 <384>). Dies findet im geltenden Recht seine Fortsetzung in Art. 115a Abs. 1 GG. Die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes sind danach darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen, sondern sie als "Parlamentsheer" in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen (vgl. BVerfGE 90, 286 <381 f.>; 121, 135 <153 f.>).

52

In Bezug auf die innere Verwendung der Bundeswehr im Verteidigungsfall, das heißt soweit die Streitkräfte nach Art. 87a Abs. 3 GG befugt sind oder ermächtigt werden können, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, ergibt sich die Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften aus der vom Deutschen Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 115a Abs. 1 beziehungsweise Art. 80a Abs. 1 Satz 1 GG zu treffenden vorherigen Feststellung des Verteidigungsfalles beziehungsweise des Spannungsfalles (vgl. BVerfGE 90, 286 <386>).

53

Mit Blick auf die Verwendungsmöglichkeiten der Bundeswehr im Innern außerhalb des Verteidigungsfalles und des Spannungsfalles hat der Senat darauf hingewiesen, dass ein nach Art. 87a Abs. 4 Satz 1 GG möglicher Einsatz von Streitkräften beim Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einzustellen ist, wenn der Deutsche Bundestag oder der Bundesrat es verlangen (Satz 2). Bei Naturkatastrophen oder Unglücksfällen, die das Gebiet mehr als eines Landes betreffen, wird der Einsatz von Streitkräften zur Unterstützung der Polizeikräfte vom Grundgesetz vor allem als bundesstaatliches Problem verstanden: Er ist nach Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben (vgl. BVerfGE 90, 286 <386 f.>).

54

Ein allgemeines Zustimmungsrecht des Deutschen Bundestages in Bezug auf konkrete Verwendungen der Bundeswehr im Inland, seien es bewaffnete oder unbewaffnete Verwendungen, ist dem Grundgesetz nach den Ausführungen des Senats daher gerade nicht zu entnehmen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Verteidigungsfall oder der Spannungsfall vorliegt oder ob dies nicht der Fall ist; denn auch Art. 87a Abs. 3 GG sieht die Zustimmung des Deutschen Bundestages zum konkreten Einsatz der Bundeswehr nicht vor.

55

bb) Auch die der Entscheidung BVerfGE 121, 135 zu Grunde liegenden Überlegungen haben den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt lediglich als ein wirksames Mitentscheidungsrecht des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der auswärtigen Gewalt behandelt. Dort hat der Senat ausgeführt, dass das Grundgesetz die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Deutschen Bundestag nicht nur mit Blick auf die Feststellung des Verteidigungsfalles und des Spannungsfalles, sondern darüber hinaus für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG übertragen hat (vgl. BVerfGE 121, 135 <153 f.>).

56

Art. 24 Abs. 2 GG ermächtigt den Bund dazu, sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einzuordnen sowie die Bundeswehr im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems einzusetzen (vgl. BVerfGE 90, 286 <345 ff.>; 121, 135 <156>). Die innerstaatliche Kompetenzverteilung des Grundgesetzes verlangt dabei, dass der Deutsche Bundestag der Vertragsgrundlage des jeweiligen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit zugestimmt hat (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Mit der Zustimmung zu einem Vertragsgesetz bestimmen der Deutsche Bundestag und der Bundesrat den Umfang der auf dem Vertrag beruhenden Bindungen und tragen dafür die politische Verantwortung gegenüber dem Bürger (vgl. BVerfGE 104, 151 <209>; 118, 244 <260>; 121, 135 <157>).

57

Die Bundesregierung ist allerdings befugt, die Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit in den Formen des Völkerrechts ohne Beteiligung des Deutschen Bundestages fortzuentwickeln, solange sie über die mit dem Zustimmungsgesetz erteilte Ermächtigung nicht hinausgeht und somit nicht ultra vires handelt (vgl. BVerfGE 104, 151 <209 f.>; 118, 244 <260>; 121, 135 <158>). Das Grundgesetz räumt der Bundesregierung für die Regelung der auswärtigen Beziehungen einen grundsätzlich weit bemessenen Spielraum eigener Gestaltung ein (vgl. BVerfGE 121, 135 <158, 160>).

58

Die bündnispolitische Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung endet aber dort, wo es darum geht, innerstaatlich darüber zu befinden, ob sich Soldaten der Bundeswehr an einem konkreten Einsatz beteiligen, der im Bündnis beschlossen wurde. Die Verantwortung dafür liegt in der Hand des Repräsentationsorgans des Volkes, mithin des Deutschen Bundestages. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt stellt insoweit ein wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parlamentarischen Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik dar. Der weit bemessene Gestaltungsspielraum der Exekutive im auswärtigen Bereich endet mit der Anwendung militärischer Gewalt (vgl. BVerfGE 121, 135 <160 f.>). Die funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten gestaltet sich im Hinblick auf Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit nach der Rechtsprechung des Senats daher so, dass das Parlament durch seine Mitentscheidung grundlegende Verantwortung für die vertragliche Grundlage des Systems einerseits und für die Entscheidung über den konkreten bewaffneten Streitkräfteeinsatz andererseits übernimmt, während im Übrigen die nähere Ausgestaltung der Bündnispolitik als Konzeptverantwortung ebenso wie konkrete Einsatzplanungen der Bundesregierung obliegen (vgl. BVerfGE 121, 135 <162>).

59

b) Angesichts dieser Rechtsprechung ist nicht erkennbar, inwieweit Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages mit Blick auf Verwendungen der Bundeswehr im Innern auch dort bestehen könnten, wo das Grundgesetz sie nicht selbst vorsieht, das heißt über die von Art. 87a Abs. 3 GG zu Grunde gelegte Feststellung des Verteidigungsfalles beziehungsweise Spannungsfalles und das in Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG geregelte Rückrufrecht hinaus. Aus der im Kontext von Auslandseinsätzen verwendeten Bezeichnung der Bundeswehr als Parlamentsheer alleine lässt sich keine Befugnis des Deutschen Bundestages ableiten.

III.

60

Auch soweit unter Berücksichtigung der Begründung des Antrags das Begehren der Antragstellerin dahin verstanden werden kann, dass sie festgestellt wissen möchte, dass es der Verwendung der Bundeswehr mit Blick auf den Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG an einer verfassungsrechtlichen Grundlage fehlte und dadurch Rechte des Deutschen Bundestages verletzt worden seien, bleibt der Antrag ohne Erfolg. Art. 87a Abs. 2 GG kann ein Recht des Deutschen Bundestages im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG nicht vermitteln.

61

Der Senat hat in der Entscheidung BVerfGE 90, 286 ausdrücklich offen gelassen, ob Art. 87a Abs. 2 GG kompetenzschützenden Charakter habe und damit Rechte des Deutschen Bundestages im Sinne von § 64 BVerfGG begründe (vgl. BVerfGE 90, 286 <356>). Dem Vortrag der Antragstellerin kann nichts dafür entnommen werden und auch sonst ist nicht ersichtlich, dass diese Frage nunmehr in ihrem Sinne zu beantworten wäre.

62

1. Nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen die Streitkräfte außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Art. 87a Abs. 2 GG ist mithin der Grundsatz zu entnehmen, dass jedenfalls ein Einsatz der Streitkräfte im Innern, der nicht der Verteidigung dient, einer verfassungsrechtlichen Grundlage bedarf. Für Einsätze im Sinne der Norm im Inland, die über die im Grundgesetz zugelassenen Fälle (Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1, Art. 87a Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 GG) hinausgehen, ist somit eine Verfassungsänderung erforderlich. Im Falle einer Überschreitung der Grenzen des Art. 87a Abs. 2 GG wäre der Deutsche Bundestag in seiner Funktion als verfassungsändernder Gesetzgeber betroffen. Seine Stellung als verfassungsändernder Gesetzgeber räumt ihm nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats aber gerade kein eigenes Recht im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG ein, weil ihm anderenfalls im Wege des Organstreitverfahrens eine abstrakte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Verhaltens des Antragsgegners schlechthin ermöglicht würde (vgl. BVerfGE 68, 1 <73>). Der Deutsche Bundestag oder eine seiner Fraktionen kann die Verletzung einer Bestimmung des Grundgesetzes nur dann befugtermaßen im Organstreitverfahren rügen, wenn diese ihm - gegebenenfalls über die Stellung als verfassungsändernder Gesetzgeber hinaus - eigene Rechte einräumt oder Pflichten begründet.

63

2. Art. 87a Abs. 2 GG vermittelt dem Deutschen Bundestag jenseits des Verfassungsvorbehalts keine eigenen Rechte.

64

a) Dem Wortlaut der Norm ist kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass dem Deutschen Bundestag hier ein Recht im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG übertragen würde. Anders als etwa in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, der ausdrücklich von der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften spricht, wird der Deutsche Bundestag in Art. 87a Abs. 2 GG nicht erwähnt.

65

b) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin sind auch der Entstehungsgeschichte und der Zielsetzung des Art. 87a Abs. 2 GG keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Norm über ihren objektiven Aussagegehalt hinaus kompetenzschützende Wirkung zu Gunsten des Deutschen Bundestages zukäme. Die Vorgängernorm von Art. 87a Abs. 2 GG, Art. 143 GG in der Fassung von 1956 (vgl. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956, BGBl I S. 111), lautete: "Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Artikels 79 erfüllt." Auch dieser Wortlaut lässt die Verankerung von Rechten des Deutschen Bundestages nicht erkennen. Es ist zwar richtig, dass es Ziel der zweiten Wehrnovelle im Jahr 1956 war, eine Armee zu schaffen, "die eingebettet ist in das Staatsganze und in die demokratische freiheitliche Ordnung" (vgl. den Redebeitrag des Abgeordneten Dr. Arndt [SPD], Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, 132. Sitzung vom 6. März 1956, S. 6825 B). Es sollte ein Missbrauch der Bundeswehr als innenpolitisches Machtinstrument vermieden werden (vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a Rn. 28 [August 1971]). Dem diente und dient gerade der Verfassungsvorbehalt des Art. 143 GG in der Fassung von 1956 sowie des Art. 87a Abs. 2 GG in der heutigen Fassung, der einen Einsatz der Streitkräfte jedenfalls im Innern ohne verfassungsrechtliche Grundlage nicht zulässt. Ein kompetenzschützender Gehalt zu Gunsten des Deutschen Bundestages mit der Folge, dass dieser sich im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auf eine Verletzung der Norm berufen könnte, lässt sich aus diesem Umstand aber nicht herleiten. Das der parlamentarischen Debatte um Art. 143 GG a.F. zu entnehmende Ziel der Einbettung der Bundeswehr in die demokratische freiheitliche Ordnung weist vielmehr auf eine freiheitssichernde Funktion der Bestimmung wie ihres Nachfolgers hin (vgl. Linke, AöR 129 [2004], S. 489 <510 ff.>). In diese Richtung deutet auch der Schriftliche Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, auf dessen Vorschlag die geltende Fassung des Art. 87a Abs. 2 GG zurückgeht. Dort heißt es, die Bestimmung beschränke nur den Einsatz der Streitkräfte, das heißt ihre Verwendung als Mittel der vollziehenden Gewalt (vgl. BTDrucks V/2873, S. 13).

66

c) Ein kompetenzschützender Gehalt des Art. 87a Abs. 2 GG ergibt sich auch nicht daraus, dass nach Art. 59a Abs. 1 GG in der Fassung von 1956 ebenso wie nach Art. 115a Abs. 1 Satz 1 GG in der heute gültigen Fassung die Feststellung des Verteidigungsfalles sowie nach Art. 80a Abs. 1 Satz 1 GG die Feststellung des Spannungsfalles durch den Deutschen Bundestag getroffen wird. Ebenso wenig kann ein solcher Schluss aus dessen Rückrufrecht aus Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG gezogen werden. Wie bereits unter B.II.2.a)aa) dargelegt, können die genannten Regelungen zum einen nicht ohne weiteres dahin generalisiert werden, dass auch Verwendungen der Bundeswehr im Inland wie die in Streit stehende, die mit weit weniger Gefahrenpotenzial behaftet war, der Zustimmung des Deutschen Bundestages unterliegen. Zum anderen kann aus ihnen nicht gefolgert werden, dass der eventuelle Mangel der verfassungsrechtlichen Grundlage der angegriffenen Verwendung der Bundeswehr vom Deutschen Bundestag im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden kann, und zwar jedenfalls dann nicht, wenn - wie hier - die Verwendung offensichtlich nicht in einer Situation erfolgte, die einer der von den genannten Vorschriften in den Blick genommenen Situationen nahekommt.

67

d) Gerade auch mit Blick auf die vorliegende Fallkonstellation wird deutlich, dass die erhobene Rüge, im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel seien die Streitkräfte im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG ohne die erforderliche verfassungsrechtliche Grundlage eingesetzt worden, in erster Linie der Geltendmachung möglicher Grundrechtsverstöße dient. Hauptanliegen der Antragstellerin ist es, feststellen zu lassen, dass die Überflüge der Demonstranten-Camps mit Tornado-Flugzeugen der Bundeswehr, die Anfertigung von Fotos aus der Luft wie auch die Beobachtung durch die Spähsysteme Fennek die Grundrechte der Demonstranten und Gipfelgegner verletzten.

68

Selbst wenn man davon ausginge - was hier offen bleiben kann -, dass die getroffenen Maßnahmen in Grundrechte eingegriffen hätten, könnte der Deutsche Bundestag derartige eventuelle Rechtsverletzungen Einzelner nicht im Wege des Organstreits vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen. Das gilt auch für den Fall, dass die Schwelle zum Einsatz der Streitkräfte im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG überschritten worden wäre. Die Rüge von Grundrechtsverletzungen im Verfassungsprozess muss auch in dieser Konstellation den Betroffenen vorbehalten bleiben (vgl. dazu schon BVerfGE 68, 1 <69 ff.>).

IV.

69

Der Hilfsantrag ist darauf gerichtet, feststellen zu lassen, dass der Deutsche Bundestag den getroffenen Maßnahmen auch dann hätte zustimmen müssen, wenn es für sie im Grundgesetz eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage gäbe. Ungeachtet der Frage, ob der Hilfsantrag fristgemäß erhoben wurde und ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen er gestellt ist, ergibt sich seine Erfolglosigkeit jedenfalls aus den obigen Erwägungen zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts für Verwendungen der Bundeswehr.

Tenor

Der Antrag wird verworfen.

Gründe

A.

1

Die Antragstellerin, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wendet sich dagegen, dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin, ihre Schriftliche Frage zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung von sexuellen Übergriffen während der Kölner Silvesternacht 2015/2016 unrichtig beantwortet habe.

I.

2

Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

3

1. In der Silvesternacht 2015/2016 wurde im Bereich des Kölner Doms und des Hauptbahnhofs eine Vielzahl von Sexual-, Raub- und Diebstahlsdelikten begangen. Opfer waren nahezu ausschließlich Frauen. Sowohl Einsatzkräfte der Polizei Köln und der Bundespolizei als auch Opfer und Zeugen berichteten von zeitweilig chaotischen Zuständen.

4

2. Im Rahmen der Aufklärung der Vorfälle und der politischen Debatte über die Verantwortlichkeit des Bundes stellten Abgeordnete und die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 28. Januar 2016 eine Kleine Anfrage zum Einsatz der Bundespolizei in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und insbesondere zum Informationsaustausch zwischen der Kölner Polizei und dem Bundesministerium des Innern (BTDrucks 18/7441). Diese beantwortete die Bundesregierung am 18. Februar 2016 (BTDrucks 18/7590). Am 1. März 2016 begehrte die Antragstellerin als Mitglied der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Schriftlicher Frage vom 1. März 2016 (BTDrucks 18/7920, Nr. 17, S. 11) Auskunft zur Erkennbarkeit der Dimension der Ereignisse in der Silvesternacht. Die Schriftliche Frage wurde durch die Staatssekretärin Dr. Emily Haber am 8. März 2016 beantwortet.

5

Daraufhin stellte die Antragstellerin die hier verfahrensgegenständliche Schriftliche Frage vom 8. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):

Ist in der Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern (ggf. bei der Bundespolizei) in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe (vgl. die Antwort auf meine Schriftliche Frage 17 auf Bundestagsdrucksache 18/7920) bzw. eine Fortschreibung einer solchen Meldung eingegangen, und wenn ja, wann erlangten die einzelnen behördeninternen Stellen einschließlich der Behördenleitung davon jeweils Kenntnis?

6

Für die Antragsgegnerin antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder am 16. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):

Weder dem Bundesministerium des Innern noch der Bundespolizei sind derzeit Meldungen bekannt, in denen in den ersten Tagen des Jahres 2016 in Nordrhein-Westfalen elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe enthalten sind. Die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort erschwerten die Recherchen.

7

Mit dieser Antwort ließ es die Antragstellerin bewenden.

8

3. Zur Klärung etwaiger Fehler und Versäumnisse von Landesbehörden, insbesondere der Polizei, auch im Zusammenwirken mit der Bundespolizei setzte der Landtag Nordrhein-Westfalen im Januar 2016 auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP einen Untersuchungsausschuss zu den Straftaten in der Silvesternacht 2015 und zur Frage von rechtsfreien Räumen in Nordrhein-Westfalen ("Untersuchungsausschuss Silvesternacht 2015") ein (LTDrucks 16/10798).

9

In seiner 50. Sitzung am 31. Oktober 2016 befragte der Untersuchungsausschuss unter anderem den Bundesminister des Innern zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht, insbesondere zum Inhalt und zur Bewertung der sogenannten WE-Meldungen (Meldungen über wichtige Ereignisse). In seiner Erklärung führte der Bundesminister des Innern unter anderem aus (APr 16/1488, S. 94):

(…) Aus den vom Land Nordrhein-Westfalen am 1. Januar 2016 bundesweit und auch an das BMI versandten drei Meldungen waren für das BMI die Brisanz und das Ausmaß der Ereignisse nicht zu entnehmen.

(…)

Ich selbst habe am Montag, den 4. Januar 2016, aus den Medien von der Brisanz und dem Ausmaß der Ereignisse erfahren. Das Bundesministerium des Innern hat am selben Tag beim Bundespolizeipräsidium einen Bericht angefordert, auf dessen Grundlage ich dann von der Fachabteilung des Bundesministeriums des Innern informiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich von den Mitarbeitern meines Hauses fortlaufend über die neu bekannt werdenden Einzelheiten unterrichtet.

10

Im Rahmen der Zeugenvernehmung stellte die Abgeordnete Ina Scharrenbach (CDU) folgende Frage (APr 16/1488, S. 100):

(…) Herr Jäger beruft sich hier in dem, was Ihnen aufgespielt ist, auch auf das Bundesministerium des Innern, das durch die WE-Meldung die Dimension nicht habe erkennen können. Herr Minister, hat das BMI diese erste WE-Meldung eigentlich erreicht?

11

Der Bundesminister des Innern antwortete (APr 16/1488, S. 100 ff.):

(…) Da das eine Landesmeldung war und Sie sozusagen das Recht haben zu kontrollieren, was aus dieser Landesmeldung geworden ist und Sie sie auch kennen, will ich gern noch einmal diese Meldungen, die im Bundesministerium des Innern eingegangen sind, kurz zitieren. Und dann kann sich jeder einen Eindruck darüber verschaffen, ob das der Dimension der Ereignisse entsprochen hat, die wir dann hinterher diskutiert haben.

In der Silvesternacht 03:15 Uhr - Zitat:

'Sachverhalt: Auf der Platzfläche/Treppenaufgang zur Domplatte hielten sich 1.000 Menschen auf, (…). Die Situation wurde stetig brisanter und es drohte, eine Massenpanik auszubrechen. Ferner stieg feststellbar das Aggressionspotenzial der anwesenden, meist alkoholisierten Personen. Zwecks Gefahrenabwehr wurde die Platzfläche/Treppe geräumt. (…) Ereignisse über Verletzte liegen derzeit nicht vor. Tatverdächtige Personen konnten nicht ermittelt werden. Es bestand geringes Medieninteresse.'

(…)

Dann gibt es eine Meldung vom 1. Januar, 21:23 Uhr, also dann später, am ersten Abend danach, wo schon etliche Stunden vergangen waren. Da lautet die Meldung, die beim Bundesministerium des Innern eingegangen ist, 21:23 Uhr:

'Im Rahmen der Silvesterfeierlichkeiten kam es auf dem Bahnhofsvorplatz in der Innenstadt zu insgesamt bislang bekannten elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe. Die Frauen wurden hierbei von der Personengruppe umzingelt, oberhalb der Bekleidung begrapscht, bestohlen, und Schmuck wurde entrissen. (…)'

Das war die Meldung um 21:23 Uhr. Und um 21:43 Uhr - also wenige Minuten später - hieß es dann weiter:

'Der Grundsachverhalt wird als bekannt vorausgesetzt. Im Laufe des 01.01. ist es zu weiteren Anzeigeerstattungen beim Polizeipräsidium Köln, in umliegenden Behörden sowie bei der Bundespolizei gekommen, die mit dem geschilderten Grundsachverhalt im Zusammenhang stehen könnten. Zur Erhellung der Sachverhalte hat das Polizeipräsidium Köln eine Ermittlungsgruppe gebildet, die die weiteren Ermittlungen übernimmt.'

II.

12

Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, sie sei durch die Antragsgegnerin dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden, dass ihre Schriftliche Frage vom 8. März 2016 durch die Antragsgegnerin falsch oder unzureichend beantwortet worden sei. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:

13

1. Der Antrag sei zulässig. Es bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, da die streitgegenständliche Schriftliche Frage der Aufklärung eines Sachverhalts von erheblicher öffentlicher Bedeutung gedient habe. Es sei zu befürchten, dass die Bundesregierung auch bei zukünftigen Fragen zu diesem Themenkomplex ihrer Antwortpflicht nicht in vollem Umfang nachkommen werde. Eine andere Möglichkeit, ihren verfassungsmäßigen Informationsanspruch leichter oder schneller durchzusetzen, bestehe nicht. Solange über die Rechtsverletzung zwischen Beteiligten Streit bestehe, sei das Rechtsschutzbedürfnis gegeben.

14

2. Der Antrag sei auch begründet. Es liege ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vor, weil ihre Frage nicht richtig beantwortet worden sei.

15

Durch die Aussage des Bundesministers des Innern vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen sei belegt, dass das Bundesinnenministerium am 1. Januar 2016 WE-Meldungen aus Nordrhein-Westfalen erhalten habe, bei denen es sich um Fortschreibungen einer WE-Meldung mit dem Titel "Vergewaltigung, Beleidigung auf sexueller Basis, Diebstahlsdelikte, Raubdelikte begangen durch größere ausländische Personengruppen" gehandelt und die in der dritten Fortschreibung ausdrücklich von elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe, berichtet habe. Diese Information über den Eingang der Meldung sei in der Antwort der Antragsgegnerin vom 16. März 2016 auf ihre Schriftliche Frage nicht enthalten; vielmehr sei jegliche Kenntnis von einer solchen Meldung verneint worden. Die Kritik, die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort hätten die Recherchen erschwert, sei unbegründet, da sie die Frage so konkret gestellt habe, wie ihr dies im Hinblick auf die öffentliche Beantwortung der Frage geboten erschienen sei.

B.

16

Der Antrag ist unzulässig. Der Antragstellerin fehlt jedenfalls das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

I.

17

Auch im Organstreitverfahren ist das Rechtsschutzbedürfnis des Organs grundsätzlich Voraussetzung für die Sachentscheidung (vgl. BVerfGE 62, 1 <33>; 67, 100 <127>; 68, 1 <77>; 119, 302 <307 f.>; 124, 78 <113>; 140, 115 <146 Rn. 80>; 142, 25 <52 Rn. 76>). Das Organstreitverfahren ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner. Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>; 73, 1 <29 f.>; 80, 188 <212>; 104, 151 <193 f.>; 118, 244 <257>; 126, 55 <67 f.>; 134, 141 <194 Rn. 160>; 136, 190 <192 Rn. 5>; 140, 115 <146 Rn. 80>).

18

Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenzen intendiert (vgl. BVerfGE 136, 190 <192 Rn. 5>). Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht (vgl. Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 50; vgl. auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 17. Juni 1993 - Vf.85-IV-91 -, juris, Rn. 32).

19

Allerdings muss der Konflikt, dessen Bereinigung der Antragsteller im kontradiktorischen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begehrt, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden sein. Bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen trifft den Antragsteller daher eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Die damit verbundene Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern, stellt keine unzumutbare Belastung dar. Denn sie ist lediglich Konsequenz dessen, dass der Organstreit als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist, und geht nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>).

II.

20

Die Antragstellerin behauptet lediglich, es bestehe zwischen ihr und der Antragsgegnerin Streit über die Richtigkeit der Beantwortung der Schriftlichen Frage. Sie legt jedoch nicht näher dar, worin sich die Kontroverse manifestiert.

21

Von der sich aufdrängenden Möglichkeit, die Aussage des Bundesministers des Innern am 31. Oktober 2016 vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen zum Anlass zu nehmen, die Antragsgegnerin durch eine Nachfrage zur Klarstellung aufzufordern, ob sie an der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 16. März 2016 festhält oder sich die Darstellung des Bundesministers des Innern zu eigen macht, hat die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht. Mit diesem zeitnahen Verfahren wäre die Chance verbunden gewesen, dass dem Anliegen der Antragstellerin durch Auskunftserteilung und Klarstellung Rechnung getragen wird, ohne dass es einer - hier erst später erfolgten - Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedurft hätte.

22

Eine Nachfrage der Antragstellerin lag auch vor dem Hintergrund der aus Sicht der Antragsgegnerin unklaren Schriftlichen Frage nahe. Die Antragsgegnerin hat ihre Antwort inhaltlich mit einem Vorbehalt versehen (vgl. hierzu Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 52). In ihrer Antwort machte sie deutlich, in welchem Sinne sie die Frage verstanden hatte, und fügte hinzu, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Wollte die Antragstellerin ihre Frage in einem anderen oder eingeschränkten Sinne verstanden wissen, hätte es ihr oblegen, sie von vornherein so zu formulieren. Vom Fragesteller kann eine sorgfältige Formulierung seiner Fragen erwartet werden (vgl. BVerfGE 137, 185 <228 f. Rn. 123 f.>). Jedenfalls wäre es der Antragstellerin aber ohne Weiteres möglich gewesen, das hinter ihrer Frage stehende Informationsinteresse erneut zum Gegenstand einer klarstellenden Nachfrage zu machen und damit zu klären, ob eine Kontroverse zwischen ihr und der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Beantwortung der Schriftlichen Anfrage angesichts der späteren Äußerungen des Bundesministers des Innern im Untersuchungsausschuss überhaupt besteht. Kritik an den Antworten der Antragsgegnerin auf Einzelfragen kann in weiteren Nachfragen in der Fragestunde oder in der Befragung der Bundesregierung sowie in Großen und Kleinen Anfragen aufgegriffen werden. Dies ist für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>) und entspricht den Gepflogenheiten zwischen Parlament und Regierung.

C.

23

Besondere Billigkeitsgründe, die die Anordnung einer Auslagenerstattung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG ausnahmsweise angezeigt erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 96, 66 <67>), liegen nicht vor.

Gründe

1

Der Antrag richtet sich gegen Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit der FDP-Fraktion im 17. Deutschen Bundestag.

I.

2

Der Antragsgegner zu 2. versandte im Frühjahr sowie im November 2012 an zahlreiche Haushalte im gesamten Bundesgebiet Schreiben, in denen es um den Abbau der Staatsverschuldung und weitere wirtschaftspolitische Positionen ging. Die Antragsgegnerin zu 1. ließ in diesen Zeiträumen bundesweit in einer Reihe von Kinos zwei Kurzfilme mit Aussagen zu verschiedenen politischen Themen zeigen. Die Antragstellerin hält die Briefe und die Kinospots für unzulässige Wahlwerbung zugunsten der Freien Demokratischen Partei (FDP), sieht sich hierdurch in ihrem Recht auf Neutralität des Staates im Wahlkampf sowie in ihrem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt und beantragt im Wege der Organklage die im Rubrum wiedergegebenen Feststellungen. Die Antragsgegner halten den Antrag für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.

3

Bei der Bundestagswahl 2013 erreichte die FDP nicht die erforderliche Mindeststimmenzahl und ist daher im 18. Deutschen Bundestag nicht vertreten. Die Antragstellerin verfolgt dessen ungeachtet ihren Antrag weiter. Die Antragsgegner haben sich nicht weiter geäußert.

II.

4

Der Antrag ist unzulässig. Der Antragstellerin fehlt nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Deutschen Bundestag mit Ende der 17. Wahlperiode und der damit verbundenen Liquidation der Antragsgegnerin zu 1. (vgl. § 54 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 7 AbgG) jedenfalls das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BVerfGE 62, 1 <33>; 67, 100 <127>; 68, 1 <77>), so dass es auf Fragen eines Verlusts der Parteifähigkeit auf Antragsgegnerseite nicht ankommt.

5

Der Organstreit ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner und kein objektives Verfahren. Das Organstreitverfahren dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl. BVerfGE 126, 55 <67 f.> m.w.N.). Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenzen intendiert (vgl. Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 12). In der vorliegenden Konstellation kann das Organstreitverfahren die ihm zugedachten Funktionen nicht mehr erfüllen.

6

Die Antragsgegner sind nicht mehr im Deutschen Bundestag vertreten. Das Organstreitverfahren hat sich daher, da es die konkrete Öffentlichkeitsarbeit der FDP-Bundestagsfraktion während der früheren Wahlperiode betrifft, erledigt. Eine - ausschließlich retrospektive - Feststellung der Verletzung organschaftlicher Rechte, wie sie die Antragstellerin in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Feststellungsinteresse bei schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen (vgl. BVerfGE 104, 220 <233 ff.> m.w.N.) für geboten hält, entspräche nicht der den Organstreit prägenden Zielsetzung, die Kompetenzen von Organen und ihren Teilen abzugrenzen. Vielmehr bedarf es eines über ein bloßes "Rehabilitationsinteresse" hinausgehenden Interesses an der Klärung der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Auslegungsfrage.

7

Die Antragstellerin kann ihr Rechtsschutzinteresse nicht aus einer absehbaren Wiederholungsgefahr herleiten (vgl. BVerfGE 87, 207 <208 f.>; 99, 332 <336 f.>). Insbesondere gibt es keinen Anhalt dafür, dass die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen durch ihre Öffentlichkeitsarbeit unter Verstoß gegen die maßgeblichen Rechtsvorschriften (vgl. § 47 Abs. 3, § 50 Abs. 4 Satz 2 AbgG) das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit verletzen könnten.

8

Soweit die Antragstellerin die Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundestagsfraktionen abstrakt für klärungsbedürftig erachtet, mag dies zutreffen, weil sich dazu bislang lediglich ein Vorprüfungsausschuss des Bundesverfassungsgerichts geäußert hat (vgl. Beschluss vom 19. Mai 1982 - 2 BvR 630/81 -, NVwZ 1982, S. 613). Indes lassen sich diese Grenzen im vorliegenden Organstreitverfahren nicht ohne eine kontradiktorische, anders als bei anderen Rechtsfragen notwendig tatsächliche Umstände einbeziehende Erörterung bestimmen, die gemäß § 25 Abs. 1 BVerfGG grundsätzlich der mündlichen Verhandlung vorbehalten ist. Eine sachgerechte abschließende Erörterung in mündlicher Verhandlung ist hier jedoch nicht mehr gewährleistet. Die mit dem Ende der Wahlperiode erloschene Fraktion (§ 54 Abs. 1 Nr. 3 AbgG) gilt gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 AbgG als fortbestehend, soweit der Zweck der Liquidation dies erfordert. Zweck der Liquidation ist die Abwicklung des Fraktionsvermögens (vgl. § 54 Abs. 2 bis 6 AbgG; BTDrucks 12/4756, S. 9 f.). Die weitere Rechtsverteidigung im vorliegenden Verfahren ist für die Antragsgegner praktisch ohne Belang. Bei objektiver Würdigung kann von einer auf gegenseitige Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen gerichteten Auseinandersetzung nicht mehr ausgegangen werden.

Tenor

Der Antrag wird verworfen.

Gründe

A.

1

Die Antragstellerin, Abgeordnete des Deutschen Bundestages, wendet sich dagegen, dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin, ihre Schriftliche Frage zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung von sexuellen Übergriffen während der Kölner Silvesternacht 2015/2016 unrichtig beantwortet habe.

I.

2

Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

3

1. In der Silvesternacht 2015/2016 wurde im Bereich des Kölner Doms und des Hauptbahnhofs eine Vielzahl von Sexual-, Raub- und Diebstahlsdelikten begangen. Opfer waren nahezu ausschließlich Frauen. Sowohl Einsatzkräfte der Polizei Köln und der Bundespolizei als auch Opfer und Zeugen berichteten von zeitweilig chaotischen Zuständen.

4

2. Im Rahmen der Aufklärung der Vorfälle und der politischen Debatte über die Verantwortlichkeit des Bundes stellten Abgeordnete und die Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 28. Januar 2016 eine Kleine Anfrage zum Einsatz der Bundespolizei in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und insbesondere zum Informationsaustausch zwischen der Kölner Polizei und dem Bundesministerium des Innern (BTDrucks 18/7441). Diese beantwortete die Bundesregierung am 18. Februar 2016 (BTDrucks 18/7590). Am 1. März 2016 begehrte die Antragstellerin als Mitglied der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Schriftlicher Frage vom 1. März 2016 (BTDrucks 18/7920, Nr. 17, S. 11) Auskunft zur Erkennbarkeit der Dimension der Ereignisse in der Silvesternacht. Die Schriftliche Frage wurde durch die Staatssekretärin Dr. Emily Haber am 8. März 2016 beantwortet.

5

Daraufhin stellte die Antragstellerin die hier verfahrensgegenständliche Schriftliche Frage vom 8. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):

Ist in der Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern (ggf. bei der Bundespolizei) in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe (vgl. die Antwort auf meine Schriftliche Frage 17 auf Bundestagsdrucksache 18/7920) bzw. eine Fortschreibung einer solchen Meldung eingegangen, und wenn ja, wann erlangten die einzelnen behördeninternen Stellen einschließlich der Behördenleitung davon jeweils Kenntnis?

6

Für die Antragsgegnerin antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder am 16. März 2016 (BTDrucks 18/7985, Nr. 16, S. 10):

Weder dem Bundesministerium des Innern noch der Bundespolizei sind derzeit Meldungen bekannt, in denen in den ersten Tagen des Jahres 2016 in Nordrhein-Westfalen elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen durch jeweils eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe enthalten sind. Die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort erschwerten die Recherchen.

7

Mit dieser Antwort ließ es die Antragstellerin bewenden.

8

3. Zur Klärung etwaiger Fehler und Versäumnisse von Landesbehörden, insbesondere der Polizei, auch im Zusammenwirken mit der Bundespolizei setzte der Landtag Nordrhein-Westfalen im Januar 2016 auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP einen Untersuchungsausschuss zu den Straftaten in der Silvesternacht 2015 und zur Frage von rechtsfreien Räumen in Nordrhein-Westfalen ("Untersuchungsausschuss Silvesternacht 2015") ein (LTDrucks 16/10798).

9

In seiner 50. Sitzung am 31. Oktober 2016 befragte der Untersuchungsausschuss unter anderem den Bundesminister des Innern zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht, insbesondere zum Inhalt und zur Bewertung der sogenannten WE-Meldungen (Meldungen über wichtige Ereignisse). In seiner Erklärung führte der Bundesminister des Innern unter anderem aus (APr 16/1488, S. 94):

(…) Aus den vom Land Nordrhein-Westfalen am 1. Januar 2016 bundesweit und auch an das BMI versandten drei Meldungen waren für das BMI die Brisanz und das Ausmaß der Ereignisse nicht zu entnehmen.

(…)

Ich selbst habe am Montag, den 4. Januar 2016, aus den Medien von der Brisanz und dem Ausmaß der Ereignisse erfahren. Das Bundesministerium des Innern hat am selben Tag beim Bundespolizeipräsidium einen Bericht angefordert, auf dessen Grundlage ich dann von der Fachabteilung des Bundesministeriums des Innern informiert wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde ich von den Mitarbeitern meines Hauses fortlaufend über die neu bekannt werdenden Einzelheiten unterrichtet.

10

Im Rahmen der Zeugenvernehmung stellte die Abgeordnete Ina Scharrenbach (CDU) folgende Frage (APr 16/1488, S. 100):

(…) Herr Jäger beruft sich hier in dem, was Ihnen aufgespielt ist, auch auf das Bundesministerium des Innern, das durch die WE-Meldung die Dimension nicht habe erkennen können. Herr Minister, hat das BMI diese erste WE-Meldung eigentlich erreicht?

11

Der Bundesminister des Innern antwortete (APr 16/1488, S. 100 ff.):

(…) Da das eine Landesmeldung war und Sie sozusagen das Recht haben zu kontrollieren, was aus dieser Landesmeldung geworden ist und Sie sie auch kennen, will ich gern noch einmal diese Meldungen, die im Bundesministerium des Innern eingegangen sind, kurz zitieren. Und dann kann sich jeder einen Eindruck darüber verschaffen, ob das der Dimension der Ereignisse entsprochen hat, die wir dann hinterher diskutiert haben.

In der Silvesternacht 03:15 Uhr - Zitat:

'Sachverhalt: Auf der Platzfläche/Treppenaufgang zur Domplatte hielten sich 1.000 Menschen auf, (…). Die Situation wurde stetig brisanter und es drohte, eine Massenpanik auszubrechen. Ferner stieg feststellbar das Aggressionspotenzial der anwesenden, meist alkoholisierten Personen. Zwecks Gefahrenabwehr wurde die Platzfläche/Treppe geräumt. (…) Ereignisse über Verletzte liegen derzeit nicht vor. Tatverdächtige Personen konnten nicht ermittelt werden. Es bestand geringes Medieninteresse.'

(…)

Dann gibt es eine Meldung vom 1. Januar, 21:23 Uhr, also dann später, am ersten Abend danach, wo schon etliche Stunden vergangen waren. Da lautet die Meldung, die beim Bundesministerium des Innern eingegangen ist, 21:23 Uhr:

'Im Rahmen der Silvesterfeierlichkeiten kam es auf dem Bahnhofsvorplatz in der Innenstadt zu insgesamt bislang bekannten elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe. Die Frauen wurden hierbei von der Personengruppe umzingelt, oberhalb der Bekleidung begrapscht, bestohlen, und Schmuck wurde entrissen. (…)'

Das war die Meldung um 21:23 Uhr. Und um 21:43 Uhr - also wenige Minuten später - hieß es dann weiter:

'Der Grundsachverhalt wird als bekannt vorausgesetzt. Im Laufe des 01.01. ist es zu weiteren Anzeigeerstattungen beim Polizeipräsidium Köln, in umliegenden Behörden sowie bei der Bundespolizei gekommen, die mit dem geschilderten Grundsachverhalt im Zusammenhang stehen könnten. Zur Erhellung der Sachverhalte hat das Polizeipräsidium Köln eine Ermittlungsgruppe gebildet, die die weiteren Ermittlungen übernimmt.'

II.

12

Die Antragstellerin begehrt die Feststellung, sie sei durch die Antragsgegnerin dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden, dass ihre Schriftliche Frage vom 8. März 2016 durch die Antragsgegnerin falsch oder unzureichend beantwortet worden sei. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus:

13

1. Der Antrag sei zulässig. Es bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, da die streitgegenständliche Schriftliche Frage der Aufklärung eines Sachverhalts von erheblicher öffentlicher Bedeutung gedient habe. Es sei zu befürchten, dass die Bundesregierung auch bei zukünftigen Fragen zu diesem Themenkomplex ihrer Antwortpflicht nicht in vollem Umfang nachkommen werde. Eine andere Möglichkeit, ihren verfassungsmäßigen Informationsanspruch leichter oder schneller durchzusetzen, bestehe nicht. Solange über die Rechtsverletzung zwischen Beteiligten Streit bestehe, sei das Rechtsschutzbedürfnis gegeben.

14

2. Der Antrag sei auch begründet. Es liege ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vor, weil ihre Frage nicht richtig beantwortet worden sei.

15

Durch die Aussage des Bundesministers des Innern vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen sei belegt, dass das Bundesinnenministerium am 1. Januar 2016 WE-Meldungen aus Nordrhein-Westfalen erhalten habe, bei denen es sich um Fortschreibungen einer WE-Meldung mit dem Titel "Vergewaltigung, Beleidigung auf sexueller Basis, Diebstahlsdelikte, Raubdelikte begangen durch größere ausländische Personengruppen" gehandelt und die in der dritten Fortschreibung ausdrücklich von elf Übergriffen zum Nachteil von jungen Frauen, begangen durch eine 40- bis 50-köpfige Personengruppe, berichtet habe. Diese Information über den Eingang der Meldung sei in der Antwort der Antragsgegnerin vom 16. März 2016 auf ihre Schriftliche Frage nicht enthalten; vielmehr sei jegliche Kenntnis von einer solchen Meldung verneint worden. Die Kritik, die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort hätten die Recherchen erschwert, sei unbegründet, da sie die Frage so konkret gestellt habe, wie ihr dies im Hinblick auf die öffentliche Beantwortung der Frage geboten erschienen sei.

B.

16

Der Antrag ist unzulässig. Der Antragstellerin fehlt jedenfalls das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

I.

17

Auch im Organstreitverfahren ist das Rechtsschutzbedürfnis des Organs grundsätzlich Voraussetzung für die Sachentscheidung (vgl. BVerfGE 62, 1 <33>; 67, 100 <127>; 68, 1 <77>; 119, 302 <307 f.>; 124, 78 <113>; 140, 115 <146 Rn. 80>; 142, 25 <52 Rn. 76>). Das Organstreitverfahren ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit mit Antragsteller und Antragsgegner. Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (vgl. BVerfGE 68, 1 <69 ff.>; 73, 1 <29 f.>; 80, 188 <212>; 104, 151 <193 f.>; 118, 244 <257>; 126, 55 <67 f.>; 134, 141 <194 Rn. 160>; 136, 190 <192 Rn. 5>; 140, 115 <146 Rn. 80>).

18

Mit der kontradiktorischen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens ist eine diskursive Auseinandersetzung der Verfassungsorgane um ihre Kompetenzen intendiert (vgl. BVerfGE 136, 190 <192 Rn. 5>). Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht (vgl. Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 50; vgl. auch Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 17. Juni 1993 - Vf.85-IV-91 -, juris, Rn. 32).

19

Allerdings muss der Konflikt, dessen Bereinigung der Antragsteller im kontradiktorischen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begehrt, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden sein. Bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen trifft den Antragsteller daher eine Konfrontationsobliegenheit. Er muss der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Die damit verbundene Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern, stellt keine unzumutbare Belastung dar. Denn sie ist lediglich Konsequenz dessen, dass der Organstreit als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist, und geht nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>).

II.

20

Die Antragstellerin behauptet lediglich, es bestehe zwischen ihr und der Antragsgegnerin Streit über die Richtigkeit der Beantwortung der Schriftlichen Frage. Sie legt jedoch nicht näher dar, worin sich die Kontroverse manifestiert.

21

Von der sich aufdrängenden Möglichkeit, die Aussage des Bundesministers des Innern am 31. Oktober 2016 vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalen zum Anlass zu nehmen, die Antragsgegnerin durch eine Nachfrage zur Klarstellung aufzufordern, ob sie an der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 16. März 2016 festhält oder sich die Darstellung des Bundesministers des Innern zu eigen macht, hat die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht. Mit diesem zeitnahen Verfahren wäre die Chance verbunden gewesen, dass dem Anliegen der Antragstellerin durch Auskunftserteilung und Klarstellung Rechnung getragen wird, ohne dass es einer - hier erst später erfolgten - Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedurft hätte.

22

Eine Nachfrage der Antragstellerin lag auch vor dem Hintergrund der aus Sicht der Antragsgegnerin unklaren Schriftlichen Frage nahe. Die Antragsgegnerin hat ihre Antwort inhaltlich mit einem Vorbehalt versehen (vgl. hierzu Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Urteil vom 17. August 2012 - 1/12 -, juris, Rn. 52). In ihrer Antwort machte sie deutlich, in welchem Sinne sie die Frage verstanden hatte, und fügte hinzu, dass die fehlenden Angaben in der Frage zum Zeitpunkt und zum Ereignisort die Recherchen erschwert hätten. Wollte die Antragstellerin ihre Frage in einem anderen oder eingeschränkten Sinne verstanden wissen, hätte es ihr oblegen, sie von vornherein so zu formulieren. Vom Fragesteller kann eine sorgfältige Formulierung seiner Fragen erwartet werden (vgl. BVerfGE 137, 185 <228 f. Rn. 123 f.>). Jedenfalls wäre es der Antragstellerin aber ohne Weiteres möglich gewesen, das hinter ihrer Frage stehende Informationsinteresse erneut zum Gegenstand einer klarstellenden Nachfrage zu machen und damit zu klären, ob eine Kontroverse zwischen ihr und der Antragsgegnerin im Hinblick auf die Beantwortung der Schriftlichen Anfrage angesichts der späteren Äußerungen des Bundesministers des Innern im Untersuchungsausschuss überhaupt besteht. Kritik an den Antworten der Antragsgegnerin auf Einzelfragen kann in weiteren Nachfragen in der Fragestunde oder in der Befragung der Bundesregierung sowie in Großen und Kleinen Anfragen aufgegriffen werden. Dies ist für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>) und entspricht den Gepflogenheiten zwischen Parlament und Regierung.

C.

23

Besondere Billigkeitsgründe, die die Anordnung einer Auslagenerstattung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG ausnahmsweise angezeigt erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 96, 66 <67>), liegen nicht vor.