Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Urteil, 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17

ECLI: ECLI:DE:LVGSH:2017:0518.1LV1.17.00
published on 17/05/2017 00:00
Schleswig-Holsteinisches Landesverfassungsgericht Urteil, 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17
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Tenor

Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner den Antragsteller durch den Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung des Antragsgegners vom 23. Januar 2017 in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter aus Artikel 17 Absatz 1 der Landesverfassung verletzt hat.

Gründe

A.

1

Gegenstand des Organstreitverfahrens ist ein Ordnungsruf, den der Antragsteller – ein Abgeordneter – für seinen Redebeitrag in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 erhalten hat.

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (LV) lauten:

Artikel 17

Stellung der Abgeordneten

(1) Die Abgeordneten vertreten das ganze Volk. Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.

(2) Die Abgeordneten haben das Recht, im Landtag sowie in den ständigen Ausschüssen und in den Sonderausschüssen des Landtages Fragen und Anträge zu stellen. Sie können bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben; Stimmrecht in den Ausschüssen des Landtages haben nur die Ausschussmitglieder.

(3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Dieser Anspruch ist weder übertragbar, noch kann auf ihn verzichtet werden. Das Nähere regelt ein Gesetz.

Artikel 18

Parlamentarische Opposition

(1) Die parlamentarische Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Die Opposition hat die Aufgabe, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren. Sie steht den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber. Insoweit hat sie das Recht auf politische Chancengleichheit.

(2) Die oder der Vorsitzende der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion ist die Oppositionsführerin oder der Oppositionsführer. Bei gleicher Fraktionsstärke ist das bei der letzten Landtagswahl erzielte Stimmenergebnis der Parteien maßgeblich. Im Übrigen entscheidet das von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtages zu ziehende Los.

3

2. Die Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages (in ihrer Fassung vom 8. Februar 1991 , zuletzt geändert am 22. Juli 2016 , im Folgenden: GO LT) sieht verschiedene Formen von Redebeiträgen Abgeordneter vor. Zum einen können sich Abgeordnete durch Redebeiträge im Rahmen der Beratung der festgesetzten Tagesordnungspunkte zu Wort melden. Während der Beratung sind zudem unter Umständen Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen sowie Bemerkungen zur Geschäftsordnung zuzulassen. Nach dem Schluss der Beratung sind daneben persönliche Bemerkungen möglich. Durch diese können Abgeordnete ausschließlich Angriffe auf die eigene Person zurückweisen oder eigene Ausführungen berichtigen. Als weitere Form des Redebeitrages steht den Abgeordneten im Zusammenhang mit Abstimmungen das Recht zu, ihr Abstimmungsverhalten kurz zu begründen. Eine derartige Erklärung zum Abstimmungsverhalten kann auch von einer Fraktion abgegeben werden.

4

Die Wahrung der Ordnung obliegt der Präsidentin beziehungsweise dem Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Hierzu kann sie oder er Abgeordnete unter anderem „zur Sache“ rufen oder einen Ordnungsruf erteilen.

5

Die maßgeblichen Vorschriften der Geschäftsordnung lauten:

§ 52

Worterteilung, Liste der Rednerinnen und Redner

(1) Eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter darf sprechen, wenn ihr oder ihm die Präsidentin oder der Präsident das Wort erteilt hat.

(2) Wer zur Sache sprechen will, hat sich bei der Schriftführerin oder dem Schriftführer, die oder der die Liste der Rednerinnen und Redner führt, zu Wort zu melden.

(3) Die Präsidentin oder der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner. Sie oder er kann dabei von der Reihenfolge der Wortmeldungen abweichen.

(4) Nach der Rede der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten kann die Oppositionsführerin oder der Oppositionsführer das Wort ergreifen. In diesem Falle ist den Vorsitzenden der anderen Fraktionen nach der Oppositionsführerin oder dem Oppositionsführer auf Wunsch das Wort zu erteilen.

(5) Zu einem durch Abstimmung erledigten Gegenstand darf in derselben Sitzung nicht mehr das Wort erteilt werden.

(6) Einem Mitglied des Sitzungspräsidiums kann das Wort nicht erteilt werden.

§ 55

Persönliche Bemerkungen

(1) Persönliche Bemerkungen sind erst nach Schluss der Beratung eines Gegenstandes oder im Falle der Vertagung am Schluss der Sitzung zulässig. Wer das Wort zu einer persönlichen Bemerkung erhält, darf nur Angriffe auf die eigene Person zurückweisen oder eigene Ausführungen berichtigen.

(2) Auch außerhalb der Tagesordnung kann die Präsidentin oder der Präsident das Wort zu einer persönlichen Erklärung erteilen, die ihr oder ihm vorher schriftlich mitzuteilen ist.

§ 64

Abstimmungsergebnis

(1) Nach jeder Abstimmung wird das Ergebnis durch die Präsidentin oder den Präsidenten festgestellt und mitgeteilt. Dabei ist die Zusammensetzung von Mehrheit und Minderheit bekanntzugeben. Bei alternativer Abstimmung stellt die Präsidentin oder der Präsident fest, welcher der Anträge angenommen und welcher abgelehnt ist.

(2) Jede Abgeordnete oder jeder Abgeordnete hat das Recht, ihre oder seine Abstimmung kurz zu begründen. Eine Erklärung zur Abstimmung kann auch von einer Fraktion abgegeben werden. Erklärungen nach Satz 1 und 2 dürfen die Dauer von drei Minuten nicht überschreiten. Anstelle einer mündlichen Begründung kann die Erklärung zu Protokoll gegeben werden.

§ 66

Ordnungsruf

(1) Wenn eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter die Ordnung verletzt, wird sie oder er von der Präsidentin oder dem Präsidenten "zur Ordnung" gerufen. Ist der Präsidentin oder dem Präsidenten eine Ordnungsverletzung entgangen, so kann sie oder er diese Ordnungsverletzung in der nächsten Sitzung erwähnen und gegebenenfalls rügen.

(2) Die oder der Abgeordnete kann hiergegen spätestens bis zum folgenden Werktag bei der Präsidentin oder dem Präsidenten schriftlich Einspruch erheben.

(3) Der Einspruch ist auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen. Der Landtag entscheidet ohne Beratung, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war.

§ 67

Wortentziehung

(1) Ist eine Rednerin oder ein Redner bei derselben Rede dreimal „zur Sache" oder „zur Ordnung" gerufen worden, so entzieht ihr oder ihm die Präsidentin oder der Präsident das Wort. Nach dem zweiten Ruf „zur Sache" oder „zur Ordnung" muss die Präsidentin oder der Präsident auf diese Folge hinweisen.

(2) Ist einer Rednerin oder einem Redner das Wort entzogen worden, so darf sie oder er es zu diesem Beratungsgegenstand bis zur Eröffnung der Abstimmung nicht wieder erhalten.

§ 74

Auslegung der Geschäftsordnung

(1) Während einer Sitzung auftauchende Fragen zur Auslegung der Geschäftsordnung entscheidet die Präsidentin oder der Präsident.

(2) Eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Auslegung einer Vorschrift der Geschäftsordnung kann nur der Landtag nach Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss beschließen.

§ 75

Abweichung von der Geschäftsordnung

Abweichungen von der Geschäftsordnung können im Einzelfall durch Beschluss des Landtages zugelassen werden, wenn keine Abgeordnete und kein Abgeordneter widerspricht und Vorschriften der Landesverfassung nicht entgegenstehen.

II.

6

Der Antragsteller ist Abgeordneter des 18. Schleswig-Holsteinischen Landtages und Vorsitzender der Piratenfraktion.

7

Vom 14. bis 16. Dezember 2016 fand im Schleswig-Holsteinischen Landtag dessen 48. Tagung statt. Als Tagesordnungspunkt 17 war die Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein festgesetzt. Bereits am Vortag, dem 13. Dezember 2016, meldete der Antragsteller beim Parlamentarischen Dienst einen Wortbeitrag zu Tagesordnungspunkt 17 in Form einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten seiner Fraktion an. Den Zeitpunkt seines beantragten Beitrages (vor oder nach der Abstimmung) ließ er dabei offen.

8

Zu Beginn der Tagung nahm der Landtagspräsident – der Antragsgegner – einleitend Bezug auf eine den Abgeordneten vorab übermittelte Aufstellung über die Reihenfolge der Beratung und die Verteilung der Redezeiten. Hierin war für den hier streitgegenständlichen Tagesordnungspunkt 17 keine angemeldete Redezeit enthalten. Im Folgenden führte der Antragsgegner wie folgt aus:

Ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Der Ältestenrat hat sich verständigt, die Tagesordnung in der ausgedruckten Reihenfolge mit folgenden Maßgaben zu behandeln:

Zu den Tagesordnungspunkten (…) 15 bis 19, (…) ist eine Aussprache nicht geplant.

Von der Tagesordnung abgesetzt werden sollen (…).

Zur gemeinsamen Beratung sind folgende Tagesordnungspunkte vorgesehen: (…).

Widerspruch sehe ich nicht, dann werden wir so verfahren (PlPr 18/135, S. 11270).

9

Bereits vor Aufruf des vorgenannten Tagesordnungspunktes versandte das Büro des Antragstellers – nach den unwidersprochenen Ausführungen des Antragstellers versehentlich vorab – die im Folgenden wiedergegebene Presseerklärung:

Patrick B. zu Top 17: "Unwürdige Postenschieberei nicht mit PIRATEN!"

Bernt W. ist soeben gegen die Stimmen der PIRATEN zum Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs gewählt worden. Der Fraktionsvorsitzende der PIRATEN, Dr. Patrick B., erklärte das Nein so: "Nach einem Bericht der Kieler Nachrichten vom 23. September haben die Fraktionschefs von SPD und CDU Stellen am Landesrechnungshof und Landesverfassungsgericht untereinander aufgeteilt. Teil dieses Deals ist das Amt des Vizepräsidenten am Landesrechnungshof. Dieses unwürdige Postengeschachere beschädigt das Vertrauen in die Unabhängigkeit der höchsten Kontrollinstitutionen unseres Landes und befeuert das öffentliche Misstrauen in die herrschende Politik. Rechnungshofspitze und Landesverfassungsgericht dürfen keine aufzuteilende Beute der Parteien sein, sondern müssen mit den Besten besetzt werden, um unser Steuergeld bestmöglichst einzusetzen und unsere Verfassung zu wahren! Wir PIRATEN arbeiten seit Jahren daran, diesen Filz zu sprengen und eine öffentliche Ausschreibung der Spitzenpositionen in unserem Land durchzusetzen. Doch mit Ausnahme der Landesdatenschutzbeauftragten, wo anders keine Mehrheit zu bekommen war, blocken die etablierten Fraktionen ab. Ohne öffentliche Ausschreibung haben topqualifizierte Interessenten, von denen die Fraktionschefs nicht wissen, von vornherein keine Chance. Mit Herrn W. jemanden in eine Führungsposition am Landesrechnungshof zu wählen, der nie auch nur als Mitglied dort tätig gewesen ist, ist aus Piratensicht nicht die beste Wahl. Eine persönliche Freundschaft mit SPD-Chef St., Mitgliedschaft in seiner SPD-Linken und eine 25-jährige SPD-Parteimitgliedschaft ersetzen keine Bestenauslese!" Hintergrund: Im Rechnungshof war jahrelang eine Stelle vakant. SPD-Chef St. blockierte deren Besetzung durch den früheren FDP-Sprecher Christian Albrecht, obwohl dieser sich nach öffentlicher Ausschreibung durchgesetzt und vom Rechnungshof als bester Bewerber vorgeschlagen worden war. Präsident und Vizepräsident des Rechnungshofs und die Mitglieder des Landesverfassungsgerichts werden dagegen bisher ohne öffentliche Ausschreibung alleine von der Politik ausgewählt, wobei die etablierten Parteien das Vorschlagsrecht untereinander aufteilen. Ein Gesetzentwurf der PIRATEN zur öffentlichen Ausschreibung der Stellen am Landesverfassungsgericht wird von Experten vielfach unterstützt, jedoch von CDU, FDP, SPD, Grünen und SSW blockiert. (http://www.ltsh.de/presseticker/2016-12/14/15-14-00-17be/PI-WFFTqBe_-piraten.pdf)

10

Im Plenum selbst standen am ersten Sitzungstag (135. Sitzung), dem 14. Dezember 2016, vor der Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein die Haushalts-beratungen 2017 und die Erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jugendförderungsgesetzes auf der Tagesordnung. In der Haushaltsdebatte äußerte sich der Antragsteller

(PlPr 18/135).

Zum nachfolgenden Tagesordnungspunkt (Änderung des Jugendförderungs-gesetzes) gab es keine Aussprache; der Gesetzentwurf wurde einstimmig an den Sozialausschuss überwiesen.

11

Im Anschluss rief der Antragsgegner den hier verfahrensgegenständlichen Tagesordnungspunkt 17 auf. Der weitere Verlauf ist wie folgt protokolliert:

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 17 auf:

Wahl der Vizepräsidentin beziehungsweise des Vizepräsidenten des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein,

Wahlvorschlag der Landesregierung

Drucksache 18/4861

Dazu begrüße ich Herrn Bernt W. auf der Tribüne. Meine Damen und Herren, eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Der Abgeordnete Dr. B. hat für die Piratenfraktion darum gebeten, eine persönliche Erklärung abzugeben.

(Unruhe)

- Meine sehr geehrten Damen und Herren, vielleicht dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. - Sehr geehrter Herr Dr. B., ich möchte Sie inständig darum bitten zu überlegen, ob Sie diese persönliche Erklärung, die Sie schon im weiten Vorfeld vor dem Aufrufen dieses Tagesordnungspunktes per Presseerklärung abgegeben haben, in diesem Hause tatsächlich wiederholen wollen oder ob Sie die Gelegenheit nutzen wollen, sich in Ihrer persönlichen Erklärung in förmlicher Weise dafür zu entschuldigen, was in dieser Pressemitteilung steht. Sie haben dazu die Chance.

(Vereinzelter Beifall - Unruhe)

Dr. Patrick B. [PIRATEN]:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gilt das gesprochene Wort. Das gilt auch für die Begründung des Abstimmungsverhaltens meiner Fraktion zu diesem Punkt.

Meine Fraktion stimmt gegen die Wahl von Herrn W., weil wir nicht überzeugt sind, dass er für diese Position am besten qualifiziert ist oder dass man auch nur versucht hat, die Person mit der besten Qualifikation zu finden.

Der Landesrechnungshof soll die Haushaltsführung der Landesregierung kontrollieren. Er ist ein wichtiges Kontrollorgan der Politik. Die Qualifikation und Unabhängigkeit seiner Mitglieder sind deswegen so wichtig, weil es darum geht, unser Steuergeld bestmöglich einzusetzen und es nicht zu verschwenden.

(Wolfgang K. [FDP]: Deshalb fliegen Sie auch aus dem Landtag! - Unruhe)

Wir PIRATEN halten eine öffentliche Ausschreibung solcher Positionen für nötig, um den besten Interessenten überhaupt eine Chance zu geben, sich zu melden und ins Gespräch zu bringen. Aus meiner Sicht ist zum Beispiel für eine Führungsposition am Landesrechnungshof geeigneter, wer schon länger Mitglied dieser Institution gewesen ist.

Nach einem Bericht der „Kieler Nachrichten“ vom 23. September haben hier aber die Vorsitzenden von SPD und CDU ein Personalpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, ein FDP-Mitglied zum Abteilungsleiter im Landesrechnungshof zu wählen, dem Herr Dr. St. zuvor noch mangelnde Kompetenz vorgeworfen hatte, Herrn W. als langjähriges SPD-Mitglied und persönlichen Freund von Herrn Dr. St. aus dem Finanzministerium direkt an die Spitze des Landesrechnungshofs zum Vizepräsidenten zu wählen, und die CDU soll den Vorschlag zum nächsten Präsidenten des Landesverfassungsgerichts unterbreiten dürfen.

(Anhaltende Unruhe)

Wir wollen nicht sagen, dass Herr W. für dieses Amt ungeeignet wäre.

(Zurufe: Haben Sie aber! Unverschämt!)

Wohl aber stellen wir infrage, dass hier die fachlich beste Person ohne Rücksicht auf Parteienproporz ausgewählt worden ist.

(Dr. Heiner G. [FDP]: Sie sagen jetzt am besten gar nichts mehr, Herr Kollege! - Anhaltende Unruhe)

Die höchsten Ämter in unserem Land auf diese Art und Weise untereinander aufzuteilen, das lehnen wir PIRATEN ab.

Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich noch eines: So gewinnen wir keine Bürger zurück, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und vielleicht zu Rechtspopulisten abgewandert sind. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall PIRATEN - Anhaltende Unruhe)

Präsident Klaus S.: Meine Damen und Herren, eine Erklärung zur Abstimmung ist mit einer Dauer von 3 Minuten in unserer Geschäftsordnung vorgesehen. Ich halte dies für keine Erklärung, die ausschließlich zur Abstimmung erfolgt ist, sondern für eine Bewertung der Person, um die es geht. Ich beziehe das ein, was im Vorfeld des Aufrufens dieses Tagesordnungspunktes schriftlich von Ihnen mitgeteilt worden ist. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf, Herr Abgeordneter Dr. B..

Ich finde dieses Verhalten diesem Hause gegenüber und vor allen Dingen auch gegenüber der Person in höchstem Maße unwürdig. Sie beschädigen hier Persönlichkeitsrechte. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie nicht Chance genutzt haben, sich hier öffentlich zu entschuldigen.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen, auch geschäftsordnungsmäßig nicht.

(Wolfgang K. [FDP]: Ich will jetzt auch eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten abgeben! - Unruhe)

- Wenn das notwendig ist, ist es natürlich möglich, Herr Abgeordneter K., aber ich würde einmal sagen: Wir haben deutlich gemacht, wie wir das alle gemeinsam überwiegend beurteilen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich lasse nun über den Wahlvorschlag abstimmen und schlage Ihnen hierfür eine offene Abstimmung vor. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.

Ich weise darauf hin, dass für die Wahl die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Hauses erforderlich ist.

Wer dem Wahlvorschlag, Drucksache 18/4861, seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Das sind die Abgeordneten der Fraktion der PIRATEN bis auf den Abgeordneten Torge Sch..

(Unruhe)

Herr Abgeordneter Sch., ich frage jetzt nach den Enthaltungen. - Der Abgeordnete Torge Sch. enthält sich. - Mit Ja haben 62 Abgeordnete gestimmt, es gibt eine Enthaltung und fünf Neinstimmen. Ich stelle fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Annahme erreicht ist.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Damit ist der vorgeschlagene Vizepräsident gewählt. - Herr W., ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Wahrnehmung Ihrer Aufgaben. Da es der Abgeordnete nicht getan hat, entschuldige ich mich im Namen des Hauses bei Ihnen.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Nun dürfte mein Vizepräsident mich ablösen.

(Hans-Jörn A. [CDU]: Loben wir mal den Präsidenten! - Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW - Unruhe)

12

Am Folgetag legte der Antragsteller schriftlich Einspruch gegen den Ordnungsruf ein. Der Antragsgegner half dem Einspruch nicht ab. Zur Begründung führte er in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2017 aus:

Ordnungsrufe können für verbale Äußerungen oder für ein Verhalten eines Abgeordneten erteilt werden.

Der Abgeordnete Dr. B. hat den Ordnungsruf nicht für eine Äußerung im Rahmen eines Redebeitrags oder einzelne Formulierungen aus der Rede, sondern für sein Verhalten erhalten.

Maßgeblich war zu berücksichtigen, dass eine inhaltliche Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt nicht stattfinden sollte, da es sich um eine Personenwahl handelte und grundsätzlich zu wählende Personen nicht durch eine parlamentarische Debatte in ihrem Ansehen beschädigt werden sollen. Die Piratenfraktion hat sowohl im Ältestenrat als auch zu Beginn der Plenartagung diesem Verfahren zugestimmt. Dem Abgeordneten Dr. B. wurde daher das Wort ausschließlich zur Begründung des Abstimmungsverhaltens und nicht im Rahmen der inhaltlichen Beratung eines Gegenstandes der Tagesordnung erteilt.

In der Gesamtschau hat der Abgeordnete Dr. B. jedoch nicht nur das Abstimmungsverhalten begründet, sondern ein allgemein politisches Statement für die Piratenfraktion abgegeben. Nach Stil, Diktion und Inhalt handelte es sich um einen Debattenbeitrag, wozu ihm aber gerade nicht das Wort erteilt worden war. Dies wird insbesondere aus dem Abschluss der Rede deutlich („Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich …“.). Da der Tagesordnungspunkt jedoch ohne Aussprache aufgerufen wurde, war es den anderen Fraktionen verwehrt, auf die Aussagen des Abgeordneten einzugehen und diese in einer Debatte zu entkräften. Diese Abweichung von der parlamentarischen Verständigung, den Tagesordnungspunkt ohne Aussprache, also ohne inhaltliche Debatte zu behandeln, wurde durch das Verhalten des Abgeordneten missachtet, indem er eine Rede „zur Sache“ und nicht „zum Abstimmungsverhalten“ gehalten hat. Für dieses Verhalten wurde ihm ein Ordnungsruf erteilt.

Auf die vom Abgeordneten Dr. B. vorgetragenen Gesichtspunkte, die sich im Wesentlichen auf die Frage beziehen, welche Inhalte in einem Debattenbeitrag als zulässig anzusehen sind, kam es daher vorliegend nicht an (Landtags-Drucksache 18/5053).

13

Am 25. Januar 2017 wies der Landtag den Einspruch des Antragstellers gegen die Stimmen der Piratenfraktion zurück.

III.

14

Hiergegen hat der Antragsteller am 3. Februar 2017 ein Organstreitverfahren eingeleitet. Er meint, der angegriffene Ordnungsruf stelle eine nicht gerechtfertigte Beschneidung seiner in Art. 17 Abs. 1 LV garantierten Redefreiheit dar.

15

Die beanstandete Äußerung sowie die in Bezug genommene Presseerklärung enthielten keine unzulässige Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Dabei sei bereits zweifelhaft, ob ein Ordnungsruf überhaupt wegen einer Äußerung gegenüber der Presse verhängt werden könnte. Inhaltlich habe er die vorgeschlagene Person weder herabgesetzt noch respektlos behandelt. Seine Kritik habe vielmehr auf diejenigen abgezielt, die den Vorschlag unterbreitet hätten. Ausdrücklich sei nicht erklärt worden, dass der Vorgeschlagene für das fragliche Amt ungeeignet sei. Die Aussagen zur Person des Vorgeschlagenen seien weder falsch noch geheim noch ehrverletzend. Zulässigerweise habe er – der Antragsteller – in Zweifel ziehen dürfen, dass eine Bestenauslese stattgefunden habe. Die Geschäftsordnung gestatte seiner Fraktion, ihr Abstimmungsverhalten zu dem Wahlvorschlag zu begründen. Auf dieses Recht habe seine Fraktion auch nicht verzichtet. Dabei sei zudem in Rechnung zu stellen, dass die thematisierten Fragen für Parlament und Öffentlichkeit von hohem Gewicht seien. Entsprechend werde die parlamentarische Auseinandersetzung über die thematisierten parlamentarischen und politischen Spielregeln von allen Seiten scharf geführt.

16

Im Übrigen könne der Antragsgegner den Ordnungsruf auch nicht damit begründen, dass es sich um ein unzulässiges „allgemein politisches Statement“ und nicht nur um die Begründung des Abstimmungsverhaltens gehandelt habe. Ein solches Nachschieben von Gründen sei schon an sich unzulässig und unbeachtlich. Tatsächlich sei der Ordnungsruf auch nicht erteilt worden, weil der Redebeitrag formal über die Begründung des Abstimmungsverhaltens hinausgegangen sei, sondern wegen einer vermeintlichen Persönlichkeits-rechtsverletzung. Dies zeige der protokollierte Ablauf. Es sei nicht möglich, das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion – wie in der Geschäftsordnung vorgesehen – zu begründen, ohne die tragenden politischen Gründe für das Abstimmungsverhalten darzulegen. Die Geschäftsordnung begrenze die Abstimmungsbegründung zeitlich auf drei Minuten, eine inhaltliche Beschränkung sei hingegen nicht vorgesehen. Hätte der Antragsgegner tatsächlich nur einen formalen Verstoß durch über die Begründung des Abstimmungsverhaltens hinausgehende Äußerungen beanstanden wollen, hätte er dies durch einen Hinweis oder einen Sachruf als milderes Mittel tun können und müssen. Im Übrigen habe es den anderen Fraktionen freigestanden, ihrerseits ihr Abstimmungsverhalten zu begründen.

17

Der Antragsteller beantragt,

festzustellen, dass der Antragsgegner ihn – den Antragsteller – durch den ihm gegenüber ausgesprochenen Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in seinen verfassungs-rechtlichen Rechten als Abgeordneter aus Artikel 17 Absatz 1 der Landesverfassung verletzt habe.

18

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

19

Er ist der Auffassung, es liege schon keine Verletzung des Antragstellers in seinem Rederecht vor. Zum einen sei zu erwägen, dass eine Aussprache bei Wahlen aufgrund entsprechender parlamentarischer Gepflogenheiten und analog anderer Wahlvorschriften ausgeschlossen sei (etwa zur Wahl der Richterinnen und Richter des Landesverfassungsgerichts, § 6 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht oder zur Wahl der oder des Landesdatenschutzbeauftragten, § 35 Abs. 1 Satz 1 Landesdatenschutzgesetz). Zum anderen habe der Antragsteller zu Beginn der Tagung durch Beschluss über die Tagesordnung ohne Änderungswunsch konkludent auf sein Rederecht verzichtet.

20

Jedenfalls aber habe der Antragsteller mit seinem Wortbeitrag die Grenzen dessen überschritten, was im Rahmen einer Erklärung zum Abstimmungs-verhalten geäußert werden dürfe. Bei einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten dürfe es sich nicht um einen „verkappten Diskussionsbeitrag“ handeln. Entsprechend sei es demjenigen, der eine derartige Erklärung abgebe, verwehrt, sich mit anderen vorgetragenen Auffassungen inhaltlich auseinanderzusetzen. Zudem müsse er sich jeder Polemik gegen die Regierung oder andere Mitglieder des Parlaments oder andere Fraktionen enthalten. Für eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten bedürfe es überdies eines besonderen Anlasses, etwa eines ungewöhnlichen oder nicht zu erwartenden Abstimmungsverhaltens, eines Abweichens von der eigenen Fraktion oder eines versehentlichen Abstimmungsverhaltens.

21

Diesen Anforderungen werde die Wortmeldung des Antragstellers nicht gerecht. Zum einen habe es schon keinen hinreichenden Anlass für eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten gegeben. Zum anderen habe der Antragsteller faktisch eine unzulässige politische Rede gehalten und nicht nur sein Abstimmungsverhalten begründet. Hierdurch habe er sich und seiner Fraktion einen gegenüber den anderen Abgeordneten und Fraktionen ungerechtfertigten Vorteil durch die rechtswidrige Beanspruchung von Redezeit verschafft.

22

Vor diesem Hintergrund habe er – der Antragsgegner – einen Ordnungsruf aussprechen müssen. Ihm stehe insoweit nach der Geschäftsordnung kein Ermessensspielraum zu. Auch sei er nicht verpflichtet, das mildeste Mittel zu wählen. Eine Überprüfung seiner Maßnahme müsse im Übrigen den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum beachten. Der Ordnungsruf sei nicht inhaltsbezogen gewesen, sondern habe an den Umstand der Äußerung zur falschen Zeit und unter falschem Vorzeichen angeknüpft. Insbesondere habe der Antragsteller am Folgetag Gelegenheit gehabt, seine Vorstellung zur Wahl herausgehobener Funktionsträger im Rahmen der Debatte des Gesetzentwurfes zur Neuregelung der Wahl der Mitglieder des Landesverfassungsgerichts zu äußern. Der mündlich abgegebenen Begründung des Ordnungsrufes durch ihn – den Antragsgegner – komme dabei nur eingeschränkte Bedeutung zu. Maßgeblich sei vorrangig die schriftliche Begründung.

IV.

23

Der Schleswig-Holsteinische Landtag ist dem Verfahren auf Seiten des Antragsgegners beigetreten.

B.

24

Der Antrag ist zulässig (I.) und begründet (II.).

I.

25

1. Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Es handelt sich um eine Organstreitigkeit nach Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 3 Nr. 1 und §§ 35 ff. LVerfGG.

26

2. Gemäß Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, § 35 LVerfGG sind der Landtag, die Landesregierung und andere Beteiligte, die durch die Landesverfassung oder die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind, antragsberechtigt. Hierzu zählen auch einzelne Landtagsabgeordnete, da sie bereits durch Art. 17 LV als Mitglieder des Landtages, eines obersten Verfassungsorgans des Landes, mit eigenen Rechten ausgestattet sind

(Urteil vom 30. September 2013 - LVerfG 13/12 -, SchlHA 2013, 465 ff. = NVwZ-RR 2014, 3 ff. = NordÖR 2014, 20 ff. = KommJur 2014,
137 ff., Juris Rn. 33).

27

3. Antragsteller und Antragsgegner stehen in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander. Zwischen den Verfahrensbeteiligten besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus der parlamentarischen Ordnungs- und Disziplinargewalt des Präsidenten einerseits und aus dem Abgeordneten-status andererseits. Dabei steht die Ordnungsgewalt zwar an sich dem Plenum des Landtages insgesamt zu

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 14 Rn. 4).

Sie wird allerdings gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 GO LT durch die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten des Landtages in eigener Verantwortung ausgeübt

(vgl. Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 4. a); Waack, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 5 Seite 22),

die beziehungsweise der in dieser Funktion im Organstreitverfahren mit der Behauptung in Anspruch genommen werden kann, sie beziehungsweise er habe bei der Ausübung der Ordnungsgewalt den Status einer oder eines Abgeordneten verletzt

(vgl. zur Rechtslage in den anderen Verfassungsräumen jeweils BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 18; Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, Juris Rn. 39; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 23; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 108).

28

4. Der Antragsteller hat im Sinne von § 36 Abs. 1 LVerfGG geltend gemacht, durch den angegriffenen Ordnungsruf in seinen Rechten aus Art. 17 LV verletzt zu sein. Er hat hinreichende Tatsachen vorgetragen, die eine unmittelbare Rechtsverletzung durch den Antragsgegner möglich erscheinen lassen. Ein Ordnungsruf stellt – im Gegensatz zu einer nicht förmlichen Rüge oder einer bloßen Unterbrechung der Rede durch Bemerkungen der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten

(vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 23 und 29) –

regelmäßig einen Eingriff in das verfassungsrechtlich durch Art. 17 LV verbürgte Rederecht der Abgeordneten dar

(vgl. BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 29; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92 ff., Juris Rn. 36 ff.; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 111; Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 10; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 – 41, 3.).

29

Unerheblich ist, dass der Ordnungsruf erst nach dem Wortbeitrag des Antragstellers ausgesprochen wurde und deshalb keine Grundlage mehr für weitere Maßnahmen der Ordnungsgewalt des Antragsgegners sein konnte. Ein förmlicher Ordnungsruf ist stets ein rechtserheblicher Eingriff in das durch Art. 17 LV garantierte Rederecht der Abgeordneten, und zwar unabhängig davon, ob er zur Grundlage weiterer ordnungsrechtlicher Maßnahmen wurde oder werden konnte. Dies folgt schon aus seinem disziplinarrechtlichen Charakter

(BVerfG, Urteil vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 -, BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 104; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 – 41, 1. b); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlaments-praxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 3).

Ein Ordnungsruf ist darauf gerichtet, betroffene Abgeordnete nicht nur für zurückliegendes Verhalten zu tadeln, sondern sie auch durch die öffentliche und förmliche Aussprache des Tadels im künftigen Verhalten bei der Ausübung des Rederechts im Sinne des Ordnungsrufs zu beeinflussen.

30

Der Ordnungsruf ist durch den Landtag in seiner Geschäftsordnung – anders als der bloße Sachruf – rechtsförmig ausgestaltet worden, indem nach § 66 Abs. 2 und 3 GO LT hiergegen ein Einspruchsverfahren möglich ist. Im Hinblick auf die Justiziabilität eines (wie hier) förmlich ergangenen und als solchen im Einspruchsverfahren nach § 66 Abs. 2 f. GO LT beschiedenen Ordnungsrufes kommt es daher weder auf seinen genauen Zeitpunkt noch auf die Frage an, ob er Grundlage weiterer Sanktionen wurde

(vgl. etwa VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011
- Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 14 und 21 ff.; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 23. Januar 2014
- LVerfG 5/13 -, NordÖR 2014, 197 ff., Juris Rn. 6 f. und 25 ff.).

31

5. Der Antrag ist fristgerecht innerhalb von sechs Monaten nach Bekanntwerden der angegriffenen Maßnahme gestellt worden, § 36 Abs. 3 LVerfGG. Der Antrag ist ordnungsgemäß, insbesondere schriftlich und mit Begründung gemäß § 20 Abs. 1 LVerfGG eingereicht worden und bezeichnet gemäß § 36 Abs. 2 LVerfGG mit Art. 17 Abs. 1 LV eine Bestimmung der Landesverfassung, gegen die nach Auffassung des Antragstellers verstoßen wird.

32

6. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Alternative und in ihrer Effektivität gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller nicht. Das Einspruchsverfahren gemäß § 66 Abs. 2 und 3 GO LT hat der Antragsteller erfolglos durchgeführt. Zwar kann durch das Organstreitverfahren der Ordnungsruf nicht wieder rückgängig gemacht werden. Indes begründet er – seine Unzulässigkeit unterstellt – eine auch im Nachhinein noch feststellungsfähige Rechtsbeeinträchtigung des Antragstellers

(vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 31; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, a.a.O., Juris Rn. 113).

33

Dem steht nicht entgegen, dass der Ordnungsruf nach Ende der fraglichen Tagung erledigt war. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungs-gerichts zu §§ 63, 64 BVerfGG, der sich soweit ersichtlich alle anderen Landesverfassungsgerichte, die mit vergleichbaren Fragestellungen befasst waren, angeschlossen haben, besteht im Organstreitverfahren das erforderliche Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers selbst dann, wenn die angegriffene Maßnahme inzwischen keine konkreten Wirkungen mehr entfaltet

(BVerfG, Urteile vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 31 und vom 17. Dezember 2001 - 2 BvE 2/00 -, BVerfGE 104, 310 ff., Juris Rn. 78; sowie Beschluss vom 10. Februar 1976 - 2 BvG 1/74 -, BVerfGE 41, 291 ff., Juris Rn. 37; für die Verfassungsräume der Länder vgl. zuletzt etwa StGH Bremen, Urteil vom 14. Februar 2017 - St 4/16 -, noch unveröffentlicht; Umbach, in: Umbach/ Clemens/ Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, §§ 63, 64 Rn. 146 m.w.N.).

II.

34

Der Antrag ist begründet. Der gegen den Antragsteller ausgesprochene Ordnungsruf vom 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Januar 2017 hat diesen in seinen durch Art. 17 LV gesicherten Abgeordnetenrechten verletzt.

35

1. Gemäß Art. 17 Abs. 1 LV vertreten die Abgeordneten das ganze Volk. Bei der Ausübung ihres Amtes sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Nach Art. 17 Abs. 2 LV haben sie das Recht, im Landtag sowie in den ständigen Ausschüssen und in den Sonderausschüssen des Landtages Fragen und Anträge zu stellen. Sie können bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abgeben.

36

Zu diesem verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten gehört das Rederecht im Landtag

(vgl. zur vergleichbaren Rechtslage auf Bundesebene: BVerfG, Urteile vom 14. Juli 1959 - 2 BvE 2/58 u.a. -, BVerfGE 10, 4 ff., Juris Rn. 40; vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 21; und vom 13. Juni 1989 - 2 BvE 1/88 -, BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 102; Burghart, in: Leibholz/ Rinck, Grundgesetz, Stand August 2016, Art. 38 Rn. 521; Klein, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 51 Rn. 32; vgl. zur Rechtslage in anderen Bundesländern: VerfGH Bayern, Entscheidung vom 17. Februar 1998 - Vf. 81-IVa-96 -, NVwZ-RR 1998, 409 ff., Juris Rn. 47; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, Juris Rn. 39; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 24; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 116).

Dies folgt ohne ausdrückliche Nennung in Art. 17 LV aus der Funktion und den Aufgaben des Parlaments in einer repräsentativen Demokratie

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 11 Rn. 17).

Vom Schutzbereich des in Art. 17 LV gewährleisteten Rederechts sind dabei sämtliche Wortbeiträge im Plenum umfasst, unabhängig von deren Einstufung als Debattenbeiträge, persönliche Erklärungen oder Erklärungen zum Abstimmungsverhalten. Die hohe Bedeutung des derart geschützten parlamentarischen Rederechts wird für die Abgeordneten der Opposition durch Art. 18 Abs. 1 LV noch gesondert hervorgehoben. Das dort benannte Recht der Opposition, Vorstellungen und Entscheidungen der die Regierung tragenden Mehrheit öffentlich im Plenum zu beurteilen, zu bewerten und zu kritisieren wirkt sich schutzbereichsverstärkend aus und ist daher bei der Auslegung der Redeordnung besonders zu beachten

(Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 12 Rn. 1 und 8).

37

Der Antragsteller kann sich grundsätzlich für seinen verfahrensgegenständlichen Wortbeitrag auf sein Rederecht aus Art. 17 LV berufen. Ein wirksamer Verzicht auf sein Rederecht liegt nicht vor. Zwar hat der Antragsteller durch seinen fehlenden Widerspruch zur Tagesordnung, die eine „Aussprache“ zum Tagesordnungs-punkt 17 nicht vorsah, zu Beginn der Sitzung diese genehmigt

(vgl. hierzu etwa Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 13; Fensch, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 186).

Hierdurch hat er jedoch nur auf eine „Aussprache“, also eine Debatte nach §§ 52 ff. GO LT zu dem streitgegenständlichen Tagesordnungspunkt

(vgl. zu den Begrifflichkeiten etwa Besch, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 33 Rn. 41)

verzichtet, nicht aber auf eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT. Anhaltspunkte dafür, dass er von seiner bereits am Vortag angemeldeten Erklärung absehen wollte, lagen nicht vor. Dies wurde im Übrigen auch vom Antragsgegner selbst so verstanden. Wäre dieser von einem konkludenten Verzicht auch auf eine Wortmeldung nach § 64 Abs. 2 GO LT ausgegangen, hätte er keinen Anlass gehabt, dem Antragssteller – wie aber geschehen – das Wort für eine Erklärung zu erteilen.

38

2. Ein verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftiger Eingriff des Antragsgegners in das Rederecht des Antragstellers aus Art. 17 LV liegt vor. Ein Ordnungsruf ist regelmäßig ein Eingriff in das Rederecht des Abgeordneten (siehe oben I. 4., Rn. 28).

39

3. Hinreichende Rechtfertigungsgründe für den angegriffenen Ordnungsruf bestehen nicht. Die angegriffene Maßnahme ist verfassungswidrig und verletzt den Antragsteller in seinem Rederecht aus Art. 17 LV.

40

a) Das Rederecht der Abgeordneten aus Art. 17 LV ist nicht schrankenlos gewährt.

41

aa) Einschränkungen des Rederechts sind zum einen in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung ausdrücklich benannt (Ausschluss der Aussprache bei der Wahl der Ministerpräsidentin beziehungsweise des Ministerpräsidenten, Art. 33 Abs. 2 Satz 1 LV). Zum anderen bedarf es des Ausgleichs mit anderen, gleichrangigen Verfassungsgütern, wie insbesondere dem Rederecht der anderen Abgeordneten, der Funktionsfähigkeit des Parlaments und geschützten Rechtsgütern Dritter. Dieser obliegt in erster Linie dem Parlament selbst, das teilweise gesetzliche Regelungen geschaffen hat (etwa Ausschluss der Aussprache bei der Wahl der Verfassungsrichterinnen beziehungsweise Verfassungsrichter, § 6 Abs. 3 Satz 1 LVerfGG) und sich im Übrigen nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 LV eine Geschäftsordnung gegeben hat. Bei der Ausgestaltung seiner Geschäftsordnung steht dem Landtag dabei ein hohes, mit Blick auf verfassungsrechtlich verbürgte Minderheitenrechte aber nicht unbegrenztes Maß an Autonomie zu

(vgl. zur parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie etwa BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1991 - 2 BvE 1/91-, BVerfGE 84, 304 ff., Juris Rn. 96; Cancik, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 9 Rn. 9; Besch, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 33 Rn. 7).

42

Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat sich insoweit in den Abschnitten XI. (§§ 52 ff. GO LT) und XII. (§§ 59 ff. GO LT) seiner Geschäftsordnung eine Rede- beziehungsweise Abstimmungsordnung gegeben, in Abschnitt XIII. (§§ 65 ff. GO LT) Ordnungsbestimmungen geregelt und in § 5 Abs. 1 Satz 2 GO LT seiner Präsidentin beziehungsweise seinem Präsidenten die Ordnungsgewalt übertragen. Die möglichen Ordnungsmaßnahmen reichen dabei vom Sachruf (§ 65 GO LT) über den Ordnungsruf (§ 66 GO LT), die Wortentziehung (§ 67 GO LT), den Ausschluss einzelner Abgeordneter (§ 68 GO LT) bis hin zur Unterbrechung und Aufhebung der Sitzung (§ 69 GO LT). Enthalten sind zudem Vorgaben zur Auslegung (§ 74 GO LT) und zur Abweichung von der Geschäftsordnung (§ 75 GO LT).

43

bb) Bei der Anwendung der vorgenannten Einschränkungen des Rederechts unterliegt die Präsidentin beziehungsweise der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages einerseits einer strengen parteipolitischen Neutralitätspflicht

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 121).

Andererseits kommt ihr beziehungsweise ihm ein erheblicher, von dem Landesverfassungsgericht zu respektierender Beurteilungsspielraum zu

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009
- LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 256 ff., Juris Rn. 39 ff.; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 39; vgl. auch Klein, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 53 Rn. 36; Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 230; Hübner, in: von Mutius/ Wuttke/ Hübner, Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 14 Rn. 13; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, § 36, 2. b); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 21; Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 64),

welcher es verbietet, die Verhängung einer konkreten Ordnungsmaßnahme in der Art der Überprüfung eines Verwaltungsaktes verfassungsgerichtlich zu überprüfen

(LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 42).

44

Durch die Anerkennung eines Beurteilungsspielraumes wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Einordnung des Verhaltens einer oder eines Abgeordneten als Ordnungsverletzung immer der wertenden Betrachtung im Hinblick auf Ablauf und Atmosphäre der jeweiligen Sitzung bedarf, damit stark situativ bedingt ist und stets eine zeitnahe Entscheidung durch die Präsidentin beziehungsweise den Präsidenten erfordert

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 42; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011
- Vf. 30-I-11 -, NVwZ-RR 2012, 89 ff., Juris Rn. 34).

Zudem wird so berücksichtigt, dass die Anwendung der Geschäftsordnung in Anerkennung der Selbstorganisationsgewalt des Parlaments zuvörderst diesem selbst und seinen Organen überlassen bleiben muss

(vgl. LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 40; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 34).

45

cc) Allerdings ist der Beurteilungsspielraum nicht grenzenlos, da sonst Verletzungen des verfassungsrechtlich geschützten Rederechts aus Art. 17 LV nicht justiziabel wären. Entsprechend überprüft das Verfassungsgericht, ob Grenzen des Beurteilungsspielraumes überschritten wurden

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 28 ff.; in diesem Sinne auch VerfG Brandenburg, Urteil vom 17. September 2009 - VfGBbg 45/08 -, NJ 2009, 508 ff, Juris Rn. 36; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 120 ff.).

46

Bei der Überprüfung dieser Grenzen ist danach zu differenzieren, ob die konkret verhängte Ordnungsmaßnahme der äußeren Ordnung der parlamentarischen Arbeit diente, mithin nur an die Form einer Äußerung oder an das Verhalten einer oder eines Abgeordneten anknüpft, oder ob ihr Gegenstand der Inhalt einer Äußerung ist. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist umso intensiver, je deutlicher die angegriffene Maßnahme nicht bloß auf das Verhalten der oder des Abgeordneten, sondern auf den Inhalt der jeweiligen Äußerung reagiert. Die zur Verfügung stehenden Ordnungsinstrumentarien dürfen nicht dazu dienen, bestimmte inhaltliche Sichtweisen aus der parlamentarischen Debatte auszuschließen

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 28 ff.; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012
- Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 36; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, 381 ff., Juris Rn. 121).

47

Wenn die jeweilige Maßnahme nur an das Verhalten der oder des Abgeordneten anknüpft, prüft das Gericht unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Parlaments lediglich, ob der Präsidentin oder dem Präsidenten bei der Entscheidung alle relevanten Tatsachen bekannt waren, ob die Bewertung des Verhaltens gemessen an der sonstigen Parlamentspraxis dem Gleichheitssatz genügt und ob die Maßnahme im Übrigen nicht offensichtlich fehlerhaft oder willkürlich erscheint

(i.d.S. auch LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27. Januar 2011 - LVerfG 4/09 -, DÖV 2011, 409, Juris Rn. 30; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2012 - Vf. 77-I-10 -, Juris Rn. 41).

Weiter prüft es – auf der Rechtsfolgenseite –, ob die von der Präsidentin oder dem Präsidenten vorgenommene Auswahl unter verschiedenen zur Verfügung stehenden Ordnungsmitteln zumindest vertretbar erscheint

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 35; enger : LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009, a.a.O., Juris Rn. 53).

48

Bezieht sich die Maßnahme hingegen nicht auf Form oder Verhalten, sondern (auch) auf die inhaltliche Aussage, prüft das Landesverfassungsgericht darüber hinaus, ob tatsächlich gleichrangige Rechtsgüter von Verfassungsrang verletzt oder gefährdet waren, was allein eine Sanktionierung inhaltlicher Aussagen rechtfertigen könnte

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 35; VerfGH Sachsen, Urteil vom 30. September 2014
- Vf. 48-I-13 -, NVwZ-RR 2012, 89 f., Juris Rn. 35; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 -, NordÖR 2015, S. 381 ff., Juris Rn. 121).

49

Als gegen das Recht der freien Rede aus Art. 17 LV abzuwägende Rechtsgüter kommen Rechte anderer Verfassungsorgane, Rechte Dritter oder Interessen der Allgemeinheit mit Verfassungsrang in Betracht. Insbesondere Redebeiträge, die den Tatbestand von Straftaten (beispielsweise der §§ 185 ff. StGB) oder Ordnungswidrigkeiten erfüllen, können Maßnahmen nach §§ 65 ff. GO LT rechtfertigen

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 31 f.; Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 1. c); Schürmann, in: Morlok/ Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2016, § 20 Rn. 61).

Allerdings bedarf es in jedem Einzelfall einer Abwägung zwischen dem zu schützenden Rechtsgut und dem Recht der oder des Abgeordneten aus Art. 17 LV. Je gewichtiger die von der oder dem Abgeordneten thematisierten Fragen für das Parlament und die Öffentlichkeit sind und je intensiver die politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher kommt dem Recht der freien Rede Vorrang zu

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011, a.a.O., Juris Rn. 32; ebenso: Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 230).

Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass in der parlamentarischen Auseinandersetzung überspitzte und polemische Formulierungen in einem gewissen Maße hinzunehmen sind

(vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 30. September 2014 - Vf. 48-I-13 -, NVwZ-RR 2012, 89 f., Juris Rn. 30; LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. Juni 2015, a.a.O., Juris Rn. 124).

50

b) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist der jeweils angegriffene Ordnungsruf in der Gestalt der Entscheidung des Antragsgegners über den hiergegen erhobenen Einspruch. Diese Beschränkung des verfassungs-gerichtlichen Prüfgegenstandes auf die nach dem Einspruchsverfahren vorliegende Gestalt des Ordnungsrufes ist Ausdruck der zentralen Bedeutung der Geschäftsordnungsautonomie des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Damit wird zugleich die Bedeutung der in der Geschäftsordnung vorgesehenen parlamentsinternen Selbstkorrekturmechanismen respektiert. Zudem wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Antragsgegner seine Ordnungsmaßnahmen regelmäßig ohne Überlegungsfrist ad hoc treffen muss und daher einer Möglichkeit der Selbstkorrektur, sei es auch nur in der Begründung, bedarf.

51

Durch die damit maßgebliche Entscheidung des Antragsgegners vom 23. Januar 2017 ist die in der Sitzung durch den Antragsgegner abgegebene Begründung dahin eingegrenzt worden, dass Anknüpfungspunkt des Ordnungsrufes allein ein Verstoß des Antragstellers gegen die sich spezifisch aus § 64 Abs. 2 GO LT ergebenden Grenzen des Rederechts sein soll. Soweit die mündliche Einlassung des Antragsgegners unmittelbar vor und nach dem Ordnungsruf auch als Bezugnahme auf die für jeden Wortbeitrag geltende Grenze der Verletzung von Persönlichkeitsrechten verstanden werden konnte

(Ich halte dies für <…> eine Bewertung der Person, um die es geht. Ich beziehe das ein, was im Vorfeld des Aufrufens dieses Tagesordnungspunktes schriftlich von Ihnen mitgeteilt worden ist. <…> Ich finde dieses Verhalten diesem Hause gegenüber und vor allen Dingen auch gegenüber der Person in höchstem Maße unwürdig. Sie beschädigen hier Persönlichkeitsrechte),

ist dies jedenfalls durch die vorgenannte Entscheidung nicht weiter aufrechterhalten worden

(zur Möglichkeit der Rücknahme des Ordnungsrufes vgl. etwa Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, Vorb. zu §§ 36 - 41, 5. c); Bücker, in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 34 Rn. 26).

Es bedarf daher im Folgenden keiner Erörterung mehr, ob der Antragsteller durch seinen Wortbeitrag Persönlichkeitsrechte des zur Wahl Stehenden verletzt haben könnte.

52

Durch die Entscheidung vom 23. Januar 2017 ist die Begründung der Maßnahme nicht nachträglich ausgetauscht worden. Der der Entscheidung zugrunde liegende formale Begründungsstrang war zumindest auch in der zuvor in der Sitzung abgegebenen Begründung des Antragsgegners bereits enthalten

(Ich halte dies für keine Erklärung, die ausschließlich zur Abstimmung erfolgt ist, <…>).

Das Gericht kann daher offenlassen, wie bei einem Austausch der Begründung zu entscheiden wäre.

53

c) Der Antragsgegner hat durch seinen Ordnungsruf in der entscheidungs-erheblichen Fassung der Einspruchsentscheidung seinen Beurteilungsspielraum überschritten.

54

aa) Dabei ist der Ordnungsruf – trotz der gegenteiligen Benennung in der Einspruchsentscheidung – inhaltsbezogen. Er knüpft nicht an ein äußeres Verhalten des Antragstellers an, sondern an den Inhalt seiner Äußerung. Auf eine Verletzung des äußeren Rahmens einer Wortmeldung nach § 64 Abs. 2 GO LT, etwa der dort geregelten Begrenzung der Redezeit, hat sich der Antragsgegner nicht berufen. Anlass des Ordnungsrufes war vielmehr der politische Sinn- und Aussagegehalt der Ausführungen des Antragstellers. Dies legt auch der Antragsgegner selbst jedenfalls in seiner hier maßgeblichen Entscheidung über den Einspruch des Antragstellers dar

(<…> In der Gesamtschau hat der Abgeordnete Dr. B. jedoch nicht nur das Abstimmungsverhalten begründet, sondern ein allgemein politisches Statement für die Piratenfraktion abgegeben. Nach Stil, Diktion und Inhalt handelte es sich um einen Debattenbeitrag, wozu ihm aber gerade nicht das Wort erteilt worden war ).

55

bb) Entsprechend den dargelegten Maßstäben dürfen inhaltsbezogene Maßnahmen nur an die Verletzung von Rechten anderer Verfassungsorgane, von Rechten Dritter oder von Interessen der Allgemeinheit mit Verfassungsrang anknüpfen (siehe oben a) bb), Rn. 48). Ein derartiger Sachverhalt liegt hier nicht vor. Den Vorwurf einer Verletzung Rechtsgüter Dritter hat der Antragsgegner bereits selbst fallen gelassen (siehe oben b), Rn. 51). Aber auch auf die durch die Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages geschützten und im Verhältnis zueinander in Ausgleich gebrachten Rechte der anderen Abgeordneten und Fraktionen kann der Ordnungsruf nicht gestützt werden. Das Gericht folgt insoweit insbesondere nicht der Ansicht des Antragsgegners, dass der Antragsteller geschäftsordnungswidrig, nämlich unter Verletzung der inhaltlichen Grenzen des § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT, und damit zulasten der anderen Abgeordneten Redezeit in Anspruch genommen habe. Denn eine Verletzung der Geschäftsordnung, insbesondere von § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT, durch den Antragsteller ist nicht festzustellen.

56

(1) § 64 Abs. 2 Satz 1 GO LT enthält das Recht jedes Abgeordneten, vor oder im Anschluss an eine Abstimmung sein Abstimmungsverhalten zu begründen

(Fensch, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 64, Seite 223).

Eine Erklärung zur Abstimmung kann nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT auch von einer Fraktion abgegeben werden. Begrenzt wird dieses Recht zeitlich durch die vorgeschriebene Dauer von maximal drei Minuten (§ 64 Abs. 2 Satz 3 GO LT) und inhaltlich durch das Erfordernis des allgemeinen Sachbezuges (vgl. § 65 GO LT). Dabei verpflichtet dieses die Abgeordneten (bei jeder Form von Wortmeldung) darauf, sich inhaltlich im Rahmen des jeweiligen Beratungsgegenstandes der Tagesordnung zu bewegen und nicht vom jeweiligen Tagesordnungspunkt „abzuschweifen“

(Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 65 Seite 227).

Eine Verletzung dieses äußeren Rahmens eines Wortbeitrages nach § 64 Abs. 2 GO LT durch den Antragsteller liegt nicht vor und ist auch vom Antragsgegner nicht geltend gemacht worden.

57

(2) Ob § 64 Abs. 2 GO LT eine weitergehende – vom Antragsgegner so angenommene – Einschränkung enthält, dass die hierunter abgegebene Erklärung einen inhaltlichen Bezug zum jeweils begründeten Abstimmungsverhalten aufweisen muss und keinen allgemein-politischen Debattenbeitrag darstellen darf

(vgl. Ritzel/ Bücker/ Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Dezember 2014, § 31, 1. c); Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages – Kommentar, 1977, § 59 Rn. 1 und 6),

kann dahinstehen. Denn selbst bei Zugrundelegung dieses engeren Verständnisses von § 64 Abs. 2 GO LT wäre die beanstandete Wortmeldung des Antragstellers nicht geschäftsordnungswidrig. Der verfahrensgegenständliche Beitrag hat einen Bezug gerade zum Abstimmungsverhalten der Fraktion des Antragstellers im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT und überschreitet nicht die Grenze zum allgemein-politischen Debattenbeitrag. Der Antragsteller hat eingangs erklärt, das Abstimmungsverhalten seiner Fraktion begründen zu wollen und hat die beiden hierfür tragenden Erwägungen seiner Fraktion skizziert, nämlich zum einen allgemeine Verfahrensvorbehalte und zum anderen Vorbehalte bezogen auf die Qualifikation der zur Wahl gestellten Person

(Meine Fraktion stimmt gegen die Wahl von Herrn W., weil wir nicht überzeugt sind, dass er für diese Position am besten qualifiziert ist oder dass man auch nur versucht hat, die Person mit der besten Qualifikation zu finden).

Im Folgenden hat er beide Gesichtspunkte näher ausgeführt. Dabei hat er in formal nicht zu beanstandender Weise erläutert, weshalb seine Fraktion insoweit eine öffentliche Ausschreibung befürworte

(Der Landesrechnungshof soll die Haushaltsführung der Landesregierung kontrollieren. Er ist ein wichtiges Kontrollorgan der Politik. Die Qualifikation und Unabhängigkeit seiner Mitglieder sind deswegen so wichtig, weil es darum geht, unser Steuergeld bestmöglich einzusetzen und es nicht zu verschwenden. (…). Wir PIRATEN halten eine öffentliche Ausschreibung solcher Positionen für nötig, um den besten Interessenten überhaupt eine Chance zu geben, sich zu melden und ins Gespräch zu bringen),

weshalb die Fraktion Vorbehalte gegen die von ihr wahrgenommene bisherige Handhabung habe

(Nach einem Bericht der „Kieler Nachrichten“ vom 23. September haben hier aber die Vorsitzenden von SPD und CDU ein Personalpaket geschnürt, das unter anderem vorsieht, ein FDP-Mitglied zum Abteilungsleiter im Landesrechnungshof zu wählen, dem Herr Dr. St. zuvor noch mangelnde Kompetenz vorgeworfen hatte, Herrn W. als langjähriges SPD-Mitglied und persönlichen Freund von Herrn Dr. St. aus dem Finanzministerium direkt an die Spitze des Landesrechnungshofs zum Vizepräsidenten zu wählen, und die CDU soll den Vorschlag zum nächsten Präsidenten des Landesverfassungsgerichts unterbreiten dürfen. (…) Die höchsten Ämter in unserem Land auf diese Art und Weise untereinander aufzuteilen, das lehnen wir PIRATEN ab)

und welche Vorbehalte hinsichtlich der Qualifikation des zur Wahl Gestellten in der Fraktion bestünden

(Aus meiner Sicht ist zum Beispiel für eine Führungsposition am Landesrechnungshof geeigneter, wer schon länger Mitglied dieser Institution gewesen ist. (…) Wir wollen nicht sagen, dass Herr W. für dieses Amt ungeeignet wäre. Wohl aber stellen wir infrage, dass hier die fachlich beste Person ohne Rücksicht auf Parteienproporz ausgewählt worden ist).

58

Weder hat der Antragsteller dabei Bezug auf – nicht erfolgte – Stellungnahmen anderer Fraktionen genommen und seinen Redebeitrag dadurch in eine allgemeine Debatte überführt, noch hat er andere Fraktionen oder Abgeordnete in polemischer Art und Weise herabgewürdigt. Auch dass der Antragsteller in seinem Schlusssatz offenkundig auf seine eigene Wortmeldung in der Haushaltsdebatte (siehe oben, A. I. 2., Rn. 10) Bezug genommen hat

(Im Hinblick auf die vorangegangene Debatte sage ich noch eines: So gewinnen wir keine Bürger zurück, die das Vertrauen in die Politik verloren haben und vielleicht zu Rechtspopulisten abgewandert sind),

lässt in der Gesamtbetrachtung seines Redebeitrages den Bezug zum Abstimmungsverhalten nicht entfallen.

59

(3) Weitergehende Grenzen des Rederechts sind § 64 Abs. 2 GO LT nicht zu entnehmen. Soweit der Antragsgegner insoweit vortragen lässt, es bedürfe für die Zulässigkeit einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten jeweils eines ungewöhnlichen oder nicht zu erwartenden Abstimmungsverhaltens, könnte dies schon im Regelfall nur für das Abstimmungsverhalten einer oder eines einzelnen Abgeordneten nach § 64 Abs. 2 Satz 1 GO LT gelten, nicht aber für die nach § 64 Abs. 2 Satz 2 GO LT auch zugelassene – und hier vorliegende – Erklärung zum Abstimmungsverhalten einer Fraktion.

60

Aus dem Wortlaut des § 64 Abs. 2 GO LT ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine derart restriktive Interpretation. Dem Gericht liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Schleswig-Holsteinische Landtag diese Auslegung der Geschäftsordnung bisher im Wege des hierfür vorgesehenen förmlichen Beschlusses nach Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss nach § 74 Abs. 2 GO LT zu Eigen gemacht hätte. Eine Abweichung von der Geschäftsordnung im Einzelfall durch Beschluss des Landtages nach § 75 GO LT lag nicht vor, und kann auch nicht in der Genehmigung der Tagesordnung gesehen werden, da der Antragsteller hierdurch – wie bereits ausgeführt – nicht auf sein Rederecht nach § 64 Abs. 2 Satz 2 und 3 GO LT verzichtet hat (siehe oben 1. Rn. 37). Dies wäre aber nach § 75 GO LT erforderlich gewesen, da dieser voraussetzt, dass keine Abgeordnete und kein Abgeordneter der Abweichung widerspricht.

61

Zudem steht diese eingrenzende Auslegung des Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners auch im Widerspruch zur eigenen Praxis des Antragsgegners, wie sie sich etwa in der Behandlung des Zwischenrufes des Abgeordneten Wolfgang K. in der hier verfahrensgegenständlichen Sitzung durch den Antragsgegner selbst zeigt

(Wolfgang K. [FDP]: Ich will jetzt auch eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten abgeben! - Unruhe) –

Präsident S.: - Wenn das notwendig ist, ist es natürlich möglich, Herr Abgeordneter K.).

Auch aus den Ausführungen des Antragsgegners in der 140. Sitzung des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 22. Februar 2017 ergeben sich keine Anhaltspunkte für diese restriktive Auslegung. Dort hat der Antragsgegner die aus seiner Sicht maßgebliche Auslegung des § 64 Abs. 2 GO LT wie folgt definiert:

Sie können gemäß § 64 Absatz 2 der Geschäftsordnung Ihr behauptetes Abstimmungsverhalten kurz begründen. Das heißt, Sie können kurz und knapp die maßgebenden Gründe für Ihre Entscheidung darlegen. Damit ist Ihnen jedoch nicht das Wort zu einem allgemeinen Debatten- oder Diskussionsbeitrag erteilt. Sie haben sich daher jedweder Polemik gegen andere Fraktionen oder andere Personen zu enthalten. Auch eine Entgegnung auf Beiträge anderer Mitglieder des Hauses in anderen Zusammenhängen ist unzulässig. Ich erwarte, dass Sie (…) sich entsprechend den Regelungen unserer Geschäftsordnung verhalten (PlPr 18/140, S. 11766).

62

Dem Landtag steht kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie die Kompetenz zu, durch eine Änderung der Geschäftsordnung den zulässigen Inhalt einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten einzuschränken. Vorbild könnte § 54 Abs. 1 Satz 2 GO LT sein, der die Möglichkeiten einer persönlichen Bemerkung deutlich begrenzt. In der jetzigen Fassung der Geschäftsordnung ist eine derartige inhaltliche Begrenzung nicht normiert. Die zahlreichen vom Prozess-bevollmächtigten des Antragsgegners für eine hiervon abweichende Auslegung vorgebrachten Beispiele mögen zwar die bisherige praktische Nutzung des Instruments der Erklärung zum Abstimmungsverhalten nach § 64 Abs. 2 GO LT durch die Abgeordneten widerspiegeln, belegen aber nicht, dass nach dem Willen des Schleswig-Holsteinischen Landtages eine darüber hinausgehende Nutzung im obigen Sinne formal unzulässig sein soll.

63

(4) Unerheblich ist im Übrigen, ob der Antragsteller mit seinem Beitrag gegen einen etwaigen bisherigen Konsens der übrigen Fraktionen verstoßen hat, im Kontext personenbezogener Abstimmungen grundsätzlich Wortbeiträge über die zu Wählenden zu unterlassen. Zum einen bedarf eine Abänderung oder Einschränkung der in der Geschäftsordnung vorgesehenen Möglichkeit einer Erklärung nach § 64 Abs. 2 GO LT eines Beschlusses des Landtages nach § 74 Abs. 2 oder § 75 GO LT, so dass schon insoweit entgegenstehendes parlamentarisches Gewohnheitsrecht nicht genügt. Zum anderen ist nichts dafür ersichtlich, dass eine etwaige dahingehende praktische Übung aller Beteiligten derart zu Gewohnheitsrecht erstarkt wäre, dass eine abweichende Handhabung zur gemeinsamen Überzeugung aller Mitglieder des Schleswig-Holsteinischen Landtages sanktionierbar sein soll. Deshalb kann dahinstehen, ob ein parlamentarisches Gewohnheitsrecht Anlass eines Ordnungsrufes sein kann, was zweifelhaft erscheint

(Insoweit führt das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in seinem Urteil vom 25. Juni 2015 - LVerfG 10/14 - aus: „Auch ein noch so überwiegender Konsens einer Parlamentsmehrheit in einer bestimmten Angelegenheit kann angesichts der essentiellen Funktion des Parlamentes als Ort einer gerade gewollten gegensätzlichen Erörterung in der Sache sowie der Bedeutung des Rederechtes der übrigen Abgeordneten grundsätzlich nicht dafür maßgeblich sein, was eine Minderheit zur Verteidigung ihres Standpunktes vorbringen darf“).

III.

64

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

IV.

65

Das Urteil ist mit 6:1 Stimmen ergangen.

Abweichende Meinung

Sondervotum des Vizepräsidenten des Landesverfassungsgerichts Schmalz
gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 LVerfGG
zum Urteil vom 17. Mai 2017 - LVerfG 1/17 -

A.

1

Der im oben genannten verfassungsgerichtlichen Organstreit gestellte Antrag ist meines Erachtens zu verwerfen, weil bereits unzulässig. Denn dafür fehlt die Antragsbefugnis.

2

Als verletzt oder unmittelbar gefährdet durch den Ordnungsruf kommen insofern im Organstreitverfahren nur organschaftlich verliehene Rechte aus der Landesverfassung und der Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Betracht (Art. 51 Abs. 2 Nr. 1 LV, §§ 35 f. GO LT), hier also die allein aus Art. 17 LV (allgemeiner Abgeordnetenstatus) und aus Art. 31 LV (Indemnität wegen Äußerung im Landtag) herzuleitende Redefreiheit der Abgeordneten im Parlament

(vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 20 f.).

3

In diese Redefreiheit kann durch einen Ordnungsruf des Antragsgegners im Grundsatz eingegriffen sein

(BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 19).

Jedoch entfällt diese Möglichkeit, wenn parlamentarische Rechtsfolgen bei einer formlosen Rüge rechtlich ausgeschlossen sind

(BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 29).

Die Möglichkeit des Eingriffs entfällt ebenso, wenn die Rüge (obwohl als förmlicher Ordnungsruf rechtsfolgenfähig) tatsächlich keine Rechtsfolgen bewirken konnte, weil sie – wie hier – zu spät erteilt worden ist.

4

Ein Ordnungsruf während laufender Rede kann Abgeordnete „zur Ordnung“ zurückführen (§ 66 Abs. 1 GO LT). Ein zweiter Ordnungsruf bei derselben Rede muss mit dem Hinweis verbunden sein, dass der Präsident der oder dem Abgeordneten bei einem dritten Ordnungsruf das Wort für diese Rede entziehe. Derartiges kam hier jedoch gar nicht erst in Betracht. Denn der Antragsteller hatte seine Rede zu Tagesordnungspunkt 17 bereits beendet, als ihn der Präsident in diesem Zusammenhang erstmals „zur Ordnung“ rief.

5

Andere oder weitere Rechtsfolgen sind parlamentsrechtlich nicht vorgesehen. Auch böte der fehlgegangene Ordnungsruf keine Grundlage für Rechtsfolgen etwa bei erneutem „Fehlverhalten“ in ähnlichem oder anderem Zusammenhang. Dennoch sollte dieser Ordnungsruf wohl disziplinierend wirken und den Antragsteller persönlich zu künftiger Verhaltensänderung bewegen. Diszipliniert wird auf diese Weise der Abgeordnete allenfalls als Amtsinhaber. Seine Organstellung als Mitglied des Landtags bleibt davon rechtlich unberührt. Eine bloß disziplinierende Zielsetzung beeinträchtigt das Rederecht des Abgeordneten nicht. Anderes vermag ich auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 1989 – 2 BvE 1/88 -

(BVerfGE 80, 188 ff., Juris Rn. 104)

nicht zu entnehmen.

6

Der Ordnungsruf ist schließlich nicht allein deshalb justiziabel, weil im nach der Geschäftsordnung durchgeführten Einspruchsverfahren bestätigt. Daraus ergibt sich nichts. Das Landesverfassungsgericht entscheidet nur in den von Landesverfassung und Landesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehenen Fällen (Art. 51 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 LV). Der vorliegende gehört nicht dazu.

7

Was bleibt, sind womöglich außerrechtliche Auswirkungen, und zwar von politischer Zustimmung bis Ablehnung. Grundrechte des Abgeordneten Dr B. können zwar berührt sein, etwa sein Recht auf Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht, allgemeine Handlungsfreiheit. Diese Freiheiten stehen ihm aber nicht als Parlamentsmitglied

(vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 8. Juni 1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 ff., Juris Rn. 20 f.),

sondern wie anderen Bürgern zu. Sie wären nicht verfassungsprozessual, sondern anderweit geltend zu machen.

B.

8

Der Antrag ist jedenfalls zurückzuweisen, weil unbegründet.

9

Sachverhalt und rechtliche Parameter gehen aus dem Urteil zutreffend hervor. Nur liegt der konkrete Fall besonders. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist der hier angegriffene Ordnungsruf nicht in seiner situativ ursprünglichen, auch nicht in der auf Einspruch hin schriftlich erteilten Fassung des Landtagspräsidenten, sondern allein in den Begründungsgrenzen der den Einspruch ablehnenden Mehrheit der Mitglieder des Landtages.

10

Bei den Abgeordneten liegt der Beurteilungsspielraum. Es geht nicht um den Verständnishorizont des Antragstellers, auch nicht des Landtagspräsidenten, sondern um den Erlebnishorizont im Plenum des Landtags. Vor den Abgeordneten hatte sich der Antragsteller zur Qualifikation des von der Landesregierung zur Wahl Vorgeschlagenen geäußert, dessen Qualifikation als suboptimal eingestuft und als wohl oder vielleicht durch parteipolitische Absprache ersetzt dargestellt.

11

Damit war die Ordnung im Sinne von § 66 Abs. 1 GO LT verletzt. Denn zum Tagesordnungspunkt 17 war keine Aussprache vorgesehen, und nach unstreitigem Vortrag des Landtagspräsidenten gibt es in personalia kraft Parlamentsbrauchs keine Erörterung ad personam. Dies hat der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich eingeräumt und betont, seine Fraktion sei angetreten, es zu ändern. Es gehe darum, durch den Landtag in Spitzenfunktionen die jeweils Besten zu wählen, ohne Parteienproporz. Eine ausdrückliche Personaldebatte dazu habe er deswegen für entbehrlich gehalten, weil die Geschäftsordnung des Landtags keine inhaltliche Schranke vorsehe, die Haltung seiner Fraktion in einer Erklärung zur Abstimmung zu verdeutlichen, wie geschehen. Was er übersieht: Auch ein Parlamentsbrauch gehört zur parlamentarischen Ordnung, so im Bund

(vgl. BVerfG, a.a.O., Juris Rn. 26),

in anderen Bundesländern

(vgl LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29. Januar 2009
- LVerfG 5/08 -, LVerfGE 447 ff., Juris Rn 36; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. November 2011 - Vf. 35-I-11 -, Juris Rn. 30)

und auch in Schleswig-Holstein

(Wuttke, in: Arens, Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Kommentar für die Praxis, 1999, § 66 Seite 229 Anmerkung 2).

12

Das Ziel, einen Parlamentsbrauch zu ändern, ist legitim. Eine Änderung wäre allerdings durch die vom Antragsteller für entbehrlich gehaltene offene Personaldebatte geschäftsordnungsgemäß erreichbar gewesen, da hier gesetzlich gerade nicht ausgeschlossen (Art. 65 Abs. 2 LV, § 4 des Gesetzes über den Landesrechnungshof Schleswig-Holstein vom 2. Januar 1991 ). Die Änderung stattdessen eigenmächtig und eher verdeckt durch Erklärung zum Abstimmungsverhalten bewirken zu wollen, wenn dies denn unbeanstandet geblieben wäre, konnte keinen Erfolg haben. Der dagegen gebotene Ordnungsruf hätte allerdings früher erteilt werden dürfen. Zumal der Antragsteller sein durch die Geschäftsordnungsautonomie des Landtags (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 LV) relativiertes Rederecht in offener Debatte hätte durchsetzen können, blieb es hier unverletzt.


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Lastenausgleichsgesetz - LAG

(1) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt od
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Tenor Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner den Antragsteller durch den Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung des Antragsgegners vom 23
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Tenor 1. Der Antrag wird verworfen. 2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten. 3. Der Gegenstandswert wird auf 100.000 Euro festgesetzt. Gründe ..
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Tenor Das Verfahren wird eingestellt. Gründe A. 1 Gegenstand des Organstreitverfahrens ist ein Wortentzug, den der Antragsgegner in der 50. Tagung (140. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 22. Februar 2017 gegenüber de
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Tenor Es wird festgestellt, dass der Antragsgegner den Antragsteller durch den Ordnungsruf in der 48. Tagung (135. Sitzung) des Schleswig-Holsteinischen Landtages am 14. Dezember 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung des Antragsgegners vom 23
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Annotations

Antragsteller und Antragsgegner können nur sein: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe.

(1) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist.

(2) Im Antrag ist die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen wird.

(3) Der Antrag muß binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden.

(4) Soweit die Frist bei Inkrafttreten dieses Gesetzes verstrichen ist, kann der Antrag noch binnen drei Monaten nach Inkrafttreten gestellt werden.