Finanzgericht Hamburg Urteil, 04. Jan. 2018 - 6 K 36/17

bei uns veröffentlicht am04.01.2018

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Frage, ob dem Kläger das Kindergeld für seine Tochter ab September 2013 bis Juli 2016 zusteht.

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Die Tochter des Klägers, A, wurde am ... 1994 in Hamburg geboren. Sowohl die Tochter als auch der Kläger und die Kindesmutter haben die deutsche Staatsbürgerschaft.

3

Seit 2012 wohnt die Tochter mit ihrer Mutter in Großbritannien und geht dort auch zur Schule. Im Juli 2013 hat die Tochter in Großbritannien ihr Abitur gemacht. Der Beigeladenen wurde das Kindergeld für die Tochter bis Juli 2013 gezahlt. Noch während ihrer Schulausbildung erkrankte die Tochter und war seitdem in ärztlicher Behandlung. Es liegen mehrere ärztliche Atteste aus England vor, durch welche eine Arbeitsunfähigkeit für folgende Zeiträume bescheinigt wurde: 07.02.2014 bis 10.03.2014, 01.08.2013 bis 02.02.2014 und vom 10.03.2014 bis 05.06.2014. Vom 04.11.2013 bis 24.01.2014 und vom 18.03.2014 bis 27.05.2014 wurde die Tochter in Deutschland teilstationär bzw. stationär im Krankenhaus behandelt.

4

Vom 06.06.2014 bis 07.09.2014 war die Tochter in England als arbeitssuchend gemeldet.

5

Im Juli 2014 teilte die Tochter mit, dass sie sich nach der Besserung ihres gesundheitlichen Zustandes um einen Studienplatz bemühen wollte. Außerdem besuchte sie in diesem Monat einen vorbereitenden Kurs für ihr späteres Studium. Im September 2014 begann die Tochter ihr Studium.

6

Der von der Beigeladenen gestellte Kindergeldantrag wurde abgelehnt. Am 23.01.2015 erging die entsprechende Einspruchsentscheidung mit der Begründung, die Beigeladene habe in Deutschland keinen Wohnsitz.

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Am 31.03.2015 beantragte der Kläger für seine Tochter das Kindergeld mit der Begründung, dass er der alleinige Unterhaltszahler sei und ihr monatlich 670 € zahle.

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Durch den Bescheid vom 09.05.2016 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung zu Gunsten des Klägers ab und begründete diese Entscheidung damit, dass die Tochter mit ihrer Mutter zusammen in einem Haushalt lebe und deshalb die Mutter vorrangig anspruchsberechtigt sei.

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Am 26.05.2016 legte der Kläger Einspruch ein mit der Begründung, dass nur er und nicht die Kindesmutter, den Unterhalt zahle.

10

Die Tochter des Klägers beendete ihre Ausbildung im Juli 2016.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 lehnte die Beklagte den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück.

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Hiergegen hat der Kläger am 07.03.2017 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass seine Tochter nach ihrem Abitur krank gewesen sei und deshalb nicht sofort mit dem geplanten Studium habe beginnen können. Sie habe die Aufnahme des Studiums geplant, sobald ihr Gesundheitszustand dies zulasse.

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Durch den Schriftsatz vom 14.08.2017 hat der Kläger Mails vorgelegt, die seine Tochter im Zeitraum von April 2014 bis August 2014 geschrieben hat und mit denen sie sich um eine Ausbildung/Studium/Praktikum beim Theater beworben hat.

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Er, der Kläger, habe als einziger seiner Tochter Unterhalt gezahlt. Die Beigeladene habe in dem streitigen Zeitraum keine Unterhaltszahlungen geleistet. Seine Tochter habe zwar mit der Beigeladenen in B zusammengelebt, sie habe aber dort keinen gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter geführt. Die Tochter habe ein eigenes Mietverhältnis mit der Vermieterin gehabt. Die Beurteilung, ob eine Haushaltsaufnahme vorliege, müsse bei einem volljährigen Kind in anderer Weise erfolgen als bei Minderjährigen. Entscheidend sei, dass die Tochter die Miete selbst gezahlt und auch Lebensmittel selbst angeschafft habe. Bei ihm, dem Kläger, sei bei der Einkommensteuer auch angenommen worden, dass ihm bzw. der Beigeladenen das Kindergeld zustehe, so dass er, der Kläger, steuerrechtlich keine Unterhaltsaufwendungen habe geltend machen können. Auch immateriell habe er, der Kläger, und nicht die Beigeladene seine Tochter versorgt. Er habe seine Tochter regelmäßig bei ihren Krankenhausaufenthalten in Deutschland besucht. Nach ihrer Rückkehr nach B hätten sie regelmäßig geskypt.

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Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Ablehnungsbescheid vom 09.05.2016 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Kindergeld für A von September 2013 bis Juli 2016 festzusetzen.

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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte trägt zur Begründung vor, dass die vorgelegten Atteste über die Arbeitsunfähigkeiten nicht ausreichten, da in den Attesten nicht bescheinigt werde, dass das Kind aufgrund der Erkrankung derzeit nicht in der Lage sei, eine Ausbildung zu beginnen und wann mit einer Aufnahme der Ausbildung gerechnet werden könne. Die entsprechende Erklärung der Tochter sei erst im Juli 2014 erfolgt. Die Meldung als arbeitssuchend sei im Streitfall nicht einschlägig, da sich die Tochter nur in England, nicht aber in Deutschland habe registrieren lassen. Die Tochter könne daher frühestens ab Juli 2014 berücksichtigt werden. Die mit Schriftsatz vom 14.08.2017 vorgelegten Mails lassen Ausbildungsbemühungen ab April bis August 2014 erkennen.

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Das Kindergeld stehe aber nicht dem Kläger, sondern der Beigeladenen zu, da die Tochter bei ihrer Mutter, der Beigeladenen, im Haushalt aufgenommen sei, nicht aber beim Kläger. Die Tochter habe nach ihrer Rückkehr nach B in ihrem alten Zimmer gewohnt. Es sei nicht überzeugend, dass sie dort von der Beigeladenen nicht mehr immateriell versorgt worden sein soll. Die Unterhaltszahlungen des Klägers seien deshalb nicht entscheidend.

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Durch Erklärung vom 04.08.2017 hat A erklärt, dass die Beigeladene von September 2013 bis Juli 2016 keinen Unterhalt gezahlt habe und sie sich von den Unterhaltszahlungen ihres Vaters selbst versorgt habe. Sie trete einen etwaigen Anspruch auf Kindergeld an ihren Vater, den Kläger ab.

20

Durch den Beschluss vom 02.10.2017 wurde der Rechtsstreit der Einzelrichterin übertragen. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.

21

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Zeugenvernehmung der Tochter des Klägers, A. Auf das Sitzungsprotokoll des Erörterungs- und Beweisaufnahmetermin vom 17.07.2017 wird verwiesen. Dem Gericht haben die Kindergeldakten des Klägers und der Beigeladenen vorgelegen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht gem. § 6 Finanzgerichtsordnung (FGO) durch die Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

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I. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 09.05.2016 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte ist nicht verpflichtet, Kindergeld für die Tochter des Klägers festzusetzen.

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1. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Tochter des Klägers im gesamten Streitraum (September 2013 bis Juli 2016) die Voraussetzungen gem. § 32 Einkommensteuergesetz (EStG) erfüllt hat, denn gem. § 64 Abs. 2 EStG steht dem Kläger das Kindergeld nicht zu, da die Tochter in den Haushalt der Beigeladenen aufgenommen worden war und nicht im Haushalt des Klägers.

25

Eine Haushaltsaufnahme im Sinne des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG liegt vor, wenn das Kind in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist. Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen die Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein. Die Betreuung des Kindes im Haushalt eines Berechtigten muss einen zeitlich bedeutsamen Umfang haben und die Aufenthalte des Kindes dürfen nicht nur Besuchs- oder Feriencharakter haben (vgl. BFH-Beschluss vom 14.12.2004 -VIII R 106/03, juris, Rdn. 21). Bei der Auslegung des Begriffs der Haushaltsaufnahme i. S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Merkmal der Haushaltsaufnahme dazu dienen soll, nur einem von mehreren Kindergeldberechtigten gegenüber den anderen eine Vorrangstellung einzuräumen. Denn gemäß § 64 Abs. 1 EStG ist das Kindergeld an nur einen Berechtigten zu zahlen (vgl. BFH-Beschluss vom 14.12.2004 VIII R 106/03, juris, Rdn. 24). Es kommt grundsätzlich auf die tatsächlichen Verhältnisse an.

26

In Anwendung dieser Grundsätze ist das Gericht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere auch unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme, der Überzeugung (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), dass die Tochter des Klägers im Haushalt ihrer Mutter in B aufgenommen worden ist.

27

a) Unstreitig hat der Kläger seine Tochter nicht in seinem Haushalt aufgenommen, denn die Tochter hat nicht bei dem Kläger gelebt.

28

b) Die Tochter des Klägers und die Beigeladenen hatten während des streitigen Zeitraums ihren Wohnsitz in B. Beide hatten weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Dieses ist jedoch nicht erheblich.

29

Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten (vgl. z. B. Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18, m. w. N.; vom 10. März 2016 III R 8/13, BFH/NV 2016, 1164, Rz 22; III R 25/12, BFH/NV 2016, 1161, Rz 21, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 20).

30

Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Rz 41) ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.

31

Die Fiktionswirkung kommt somit nicht ausschließlich in Bezug auf den im Inland lebenden Elternteil zum Tragen, sondern gilt vielmehr grundsätzlich für sämtliche "beteiligte Personen" i. S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009. Zu den "beteiligten Personen" i. S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i. S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben. Daher wird hiervon nach § 62 Abs. 1 i. V. m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch der andere Elternteil erfasst, wobei unerheblich ist, ob die Elternteile miteinander verheiratet oder -wie im Streitfall- voneinander geschieden sind (vgl. BFH, Urteil vom 27. Juli 2017 - III R 17/16 -, juris m. w. N.).

32

c) Die Beigeladene hatte ihre Tochter im streitigen Zeitraum in ihren Haushalt aufgenommen, so dass der Beigeladenen und nicht dem Kläger das Kindergeld gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG zusteht. Zusätzlich zu dem örtlichen Zusammenleben sind auch die Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) im Streitfall für die Haushaltsaufnahme bei der Beigeladenen erfüllt.

33

aa) Die Haushaltsaufnahme bei der Beigeladenen für die Zeit vor dem Aufenthalt in Deutschland bis Anfang November 2013 ist unstreitig, so dass sich für die Monate September bis November 2013 bereits nach dem eigenen Vortrag des Klägers kein Kindergeldanspruch für ihn ergeben kann.

34

bb) Der gemeinsame Haushalt von Beigeladener und ihrer Tochter wurde auch nicht durch die Krankenhausbehandlungen in Deutschland beendet, da dieser Aufenthalt von Anfang an nur als vorrübergehend geplant war. Die Tochter des Klägers hat bei ihrer Zeugenaussage am 17.07.2017 selbst erklärt, dass sie nach ihrer Rückkehr nach B wieder bei ihrer Mutter gelebt habe und sie mit ihrer Mutter zusammengelebt habe. Zwar sagte die Zeugin auch aus, dass sie und ihre Mutter selbständigen Leben geführt haben, da sie nach ihrer Rückkehr schon erwachsener gewesen sei. Entscheidend ist jedoch, dass sie ihr altes Zimmer wieder bezogen hat.

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aaa) immaterielle Versorgung

36

Bei einer 19jährigen, die nach einem Klinikaufenthalt in den elterlichen Haushalt zurückkehrt, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren wollte. Auch wird ein junger Erwachsener mit 18 Jahren nicht schlagartig erwachsen und benötigt anschließend keine Betreuung mehr. Grundsätzlich ist zwar bei einem "volljährigen Kind" weniger Erziehung notwendig, aber dies führt nicht dazu, dass keinerlei Betreuungsleistungen mehr erforderlich wären. Dies gilt insbesondere, wenn man die persönliche Situation der Tochter einbezieht. Es ist anzunehmen, dass die Tochter auf Grund ihrer psychischen Situation und ihrer ungewissen beruflichen Perspektive einer besonderen Betreuung bedurfte. Auch geht das Gericht davon aus, dass diese Betreuung insbesondere durch die Beigeladene erfolgte.

37

Der Vortrag des Klägers, er habe regelmäßig Kontakt mit seiner Tochter gepflegt und sie auch bei ihren psychischen Problemen unterstützt, kann kein anderes Ergebnis begründen. Denn hieraus folgt nicht, dass nicht auch die Beigeladene ihre Tochter in psychischer Hinsicht unterstützt und betreut hat. Die Beigeladene hat sich nicht zum Sachverhalt geäußert, auch die Tochter hat nicht ausgesagt, dass ihre Mutter sich nicht um sie gekümmert hätte. Hiergegen spricht auch, dass die Tochter selbst ausgesagt hat, dass sie nach Hause zu ihrer Mutter zurückgekehrt sei. Hieraus kann kein schlechtes Verhältnis zur Mutter abgeleitet werden. Die Behauptung des Klägers, die Beigeladene habe ihre Tochter nicht betreut, hat er nicht bewiesen.

38

Es gehört mehr dazu, bei einem 19- bzw. 20-jährigen jungen Erwachsenen, welcher in seinem früheren Kinderzimmer weiter wohnt, eine Haushaltsaufnahme bei dem Elternteil abzulehnen, mit dem das Kind zusammenlebt. Indizien gegen eine Haushaltsaufnahme könnten z. B. sein, dass der Elternteil selbst nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen insbesondere auf Grund von Krankheit oder wenn außer dem Kind und dem Elternteil noch der Lebensgefährte des Kindes auch im selben Haushalt leben würde, denn dann würde der Haushalt mehr als Wohngemeinschaft bestehen und nicht mehr als Haushalt des Elternteils.

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bbb) materieller Unterhalt

40

Zwar hat die Beigeladene nach der Aussage der Zeugin keinen Unterhalt geleistet. Allerdings hat sie dies nach eigener Stellungnahme und Aussage der Zeugin nur explizit für den Barunterhalt ausgesagt. Die Beigeladene kann auch durch Naturalunterhalt ihrer Unterhaltsverpflichtung nachgekommen sein. Dies gilt auch dann, wenn die Zeugin auch selbst eingekauft hat.

41

Zwar hat der Kläger Zahlungsnachweise eingereicht, auf denen "Unterhaltzahl: A" und "inkl. Miete inkl. 190 Euro Kindergeld" steht. Trotz ausdrücklicher gerichtlicher Nachfrage wurde aber kein Mietvertrag für A vorgelegt. Auch kann das Gericht nicht erkennen, in welchem Verhältnis diese Zahlungen zu der "Hauptmiete" stehen, denn das Gericht hat keinerlei Erkenntnisse über die Höhe dieser Miete. Die Behauptung des Klägers, seine Tochter A habe ausschließlich von seinem gezahlten Unterhalt von bis zu 676 € alle angefallenen Aufwendungen bestritten, wurde durch die eingereichten Unterlagen nicht bewiesen. Nach Ansicht des Gerichts kann auch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass diese Beträge ausreichend gewesen sind, um alle notwendigen Kosten der Tochter zu begleichen. Dies gilt insbesondere, weil B eine extrem teure Stadt ist. Auch aus der Erklärung der Zeugin vom 04.08.2017 kann kein anderes Ergebnis hergeleitet werden, denn die Behauptung der Zeugin, sie habe sich selbst versorgt, ist zu pauschal. Insbesondere wurden keine Nachweise dafür vorgelegt, dass die Zeugin regelmäßig auf ihre Kosten Lebensmittel angeschafft hat.

42

Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, dass seine Tochter ein eigenständiges Wohnrecht hat. Insbesondere wurde nicht der vom Gericht angeforderte Mietvertrag der Tochter vorgelegt.

43

Auch die Beigeladene scheint von einer Haushaltsaufnahme bei sich ausgegangen zu sein, da es sich anderenfalls nicht erklären würde, weshalb auch sie einen Kindergeldantrag gestellt hat. Dass dieser mit einer "falschen" Begründung von der Familienkasse abgelehnt wurde, ändert nichts an der Tatsache der Antragstellung.

44

ccc) Im Streitfall handelt es sich um einen Auslandssachverhalt, so dass § 90 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) zur Anwendung gelangt. Das Gericht ist beschränkt in seinen Amtsermittlungspflichten und -möglichkeiten, denn das Gericht kann keine Beweiserhebungen im Ausland durchführen. Es liegt daher beim Kläger, den erforderlichen Sachverhalt vorzutragen. Dies gilt insbesondere für den nicht vorgelegten Mietvertrag der Tochter und den monatlichen Ausgaben der Tochter z. B. für ihre Verpflegung.

45

2. Auch aus § 64 Abs. 2 Satz 4 EStG ergibt sich kein Anspruch des Klägers. Sollte er auch für die Beigeladene einen Kindergeldantrag gestellt haben, wäre diesbezüglich noch nicht das erforderliche Vorverfahren durchgeführt worden.

46

3. Ein Anspruch des Klägers ergibt sich nicht aus § 74 EStG. Zwar hat die Zeugin einen etwaigen Anspruch auf Kindergeld an den Kläger abgetreten. Die Voraussetzungen für § 74 Abs. 1 EStG liegen jedoch nicht vor, da das Gericht davon ausgeht, dass beide Elternteile ihrer Unterhaltsverpflichtung entsprochen haben.

47

II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 und § 139 Abs. 4 FGO.

48

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gem. § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.

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Finanzgericht Hamburg Urteil, 04. Jan. 2018 - 6 K 36/17 zitiert 14 §§.

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(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werd

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(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat. (2) Die Revision ist nu

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(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an di

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 96


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; die §§ 158, 160, 162 der Abgabenordnung gelten sinngemäß. Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 90


(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Ger

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 139


(1) Kosten sind die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens. (2) Die Aufwendungen der Fin

Abgabenordnung - AO 1977 | § 90 Mitwirkungspflichten der Beteiligten


(1) Die Beteiligten sind zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet. Sie kommen der Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen un

Einkommensteuergesetz - EStG | § 63 Kinder


(1) 1Als Kinder werden berücksichtigt 1. Kinder im Sinne des § 32 Absatz 1,2. vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder seines Ehegatten,3. vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Enkel. 2§ 32 Absatz 3 bis 5 gilt entsprechend.

Einkommensteuergesetz - EStG | § 64 Zusammentreffen mehrerer Ansprüche


(1) Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. (2) 1Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. 2Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 6


(1) Der Senat kann den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn 1. die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und2. die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeu

Einkommensteuergesetz - EStG | § 74 Zahlung des Kindergeldes in Sonderfällen


(1) 1Das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Absatz 1 kann an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. 2Kindergeld kann an Kinder, die bei der Festsetzu

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Tenor Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 24. Januar 2013  11 K 3406/11 Kg,AO aufgehoben.

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Referenzen

(1) Der Senat kann den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn

1.
die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und
2.
die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat.

(2) Der Rechtsstreit darf dem Einzelrichter nicht übertragen werden, wenn bereits vor dem Senat mündlich verhandelt worden ist, es sei denn, dass inzwischen ein Vorbehalts-, Teil- oder Zwischenurteil ergangen ist.

(3) Der Einzelrichter kann nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsstreit auf den Senat zurückübertragen, wenn sich aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Eine erneute Übertragung auf den Einzelrichter ist ausgeschlossen.

(4) Beschlüsse nach den Absätzen 1 und 3 sind unanfechtbar. Auf eine unterlassene Übertragung kann die Revision nicht gestützt werden.

(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(1) Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt.

(2)1Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.2Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten.3Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so bestimmt das Familiengericht auf Antrag den Berechtigten.4Den Antrag kann stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Zahlung des Kindergeldes hat.5Lebt ein Kind im gemeinsamen Haushalt von Eltern und Großeltern, so wird das Kindergeld vorrangig einem Elternteil gezahlt; es wird an einen Großelternteil gezahlt, wenn der Elternteil gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich verzichtet hat.

(3)1Ist das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt.2Zahlen mehrere Berechtigte dem Kind Unterhaltsrenten, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind die höchste Unterhaltsrente zahlt.3Werden gleich hohe Unterhaltsrenten gezahlt oder zahlt keiner der Berechtigten dem Kind Unterhalt, so bestimmen die Berechtigten untereinander, wer das Kindergeld erhalten soll.4Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so gilt Absatz 2 Satz 3 und 4 entsprechend.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; die §§ 158, 160, 162 der Abgabenordnung gelten sinngemäß. Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 13. März 2013  15 K 4316/12 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

1

 Der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen mit dem im April 2000 geborenen gemeinsamen Sohn in Polen lebt, geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum (Januar 2011 bis Oktober 2012) zunächst Arbeitslosengeld. Von November 2011 bis zum 11. Januar 2012 sowie vom 1. bis zum 22. Februar 2012 war er in Deutschland nichtselbständig beschäftigt, danach bezog er Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch. Die frühere Ehefrau, die polnische Staatsangehörige ist, ging in Polen einer Erwerbstätigkeit nach. Sie hatte wegen der nach polnischem Recht bestehenden Einkommensgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen für den hier streitigen Zeitraum. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht hat sie nicht gestellt.

2

Im August 2012 beantragte der Kläger, der die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, Kindergeld für seinen Sohn. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 3. September 2012 ab, da die Kindsmutter vorrangig zum Bezug von Kindergeld nach deutschem Recht berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 18. Oktober 2012).

3

Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für den Sohn ab Januar 2011 zu gewähren. Es war der Ansicht, die Bestimmung des Kindergeldberechtigten richte sich nicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für die Jahre 2011 und 2012 geltenden Fassung (EStG), weil die Kindsmutter nicht die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 62 ff. EStG erfülle. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009) ergebe sich keine andere Beurteilung. Zwar sei aufgrund der darin enthaltenen Fiktion die Familie so zu behandeln, als habe sie ihren Wohnsitz in Deutschland. Damit könnten jedoch keine Rechte Dritter begründet werden, durch die Rechte des Klägers geschmälert oder ausgeschlossen würden. Die Vorschrift des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 solle nur den Rechtsverlust einer aus dem Ausland zugewanderten Person verhindern. Der Anspruch der im Inland lebenden Person könne dadurch jedoch nicht begrenzt oder ausgeschlossen werden.

4

Gegen die Entscheidung des FG wendet sich die Familienkasse mit ihrer Revision. Der Senat setzte mit Beschluss vom 8. Mai 2014 III R 17/13 (BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329) das Revisionsverfahren gemäß § 121 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vor:

5

1. Ist in einem Fall, in dem eine in einem Mitgliedstaat (Inland) lebende Person Anspruch auf Kindergeld für Kinder hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (Ausland) beim anderen, von ihm getrennt lebenden Ehegatten wohnen, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anzuwenden mit der Folge, dass die Fiktion, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten --insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt-- unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen, dazu führt, dass der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich dem im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebenden Elternteil zusteht, weil das nationale Recht des ersten Mitgliedstaats (Inland) vorsieht, dass bei mehreren Kindergeldberechtigten der Elternteil anspruchsberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat?

6

2. Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen sein sollte:
Ist bei dem unter 1. dargelegten Sachverhalt Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass dem in einem Mitgliedstaat (Inland) lebenden Elternteil der Anspruch auf Kindergeld nach inländischem Recht zusteht, weil der im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebende andere Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat?

3. ...

7

Der EuGH hat die Fragen mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) wie folgt beantwortet:

8

1. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

9

2. Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 ist dahin auszulegen, dass danach nicht verlangt wird, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.

10

Die Familienkasse ist der Ansicht, der EuGH habe ihre Rechtsauffassung bestätigt.

11

Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage zurückzuweisen.

12

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es sei vorzugswürdig, wenn nach wie vor der Kindsvater einen unmittelbaren Anspruch auf Kindergeld habe. Die Entscheidung des EuGH lasse letzte Klarheit vermissen. Er habe die Vorlagefragen nur i.S. eines "kann sein" beantwortet.

Entscheidungsgründe

II.

13

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, die Klage ist abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Polen lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.

14

1. Der Anspruch auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG setzt gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG u.a. voraus, dass der Berechtigte einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland hat. Kindergeldrechtlich zu berücksichtigen sind u.a. Kinder, die --wie der Sohn des Klägers-- einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG).

15

Im Streitfall sind die Anspruchsvoraussetzungen nach den nationalen Rechtsvorschriften in der Person des Klägers und nicht in der seiner geschiedenen Ehefrau erfüllt. Letztere lebt in Polen und hat in Deutschland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt.

16

2. Dennoch ist die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt. Denn nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Die Vorschrift ist anzuwenden, da gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter zusammen mit dem Sohn in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt.

17

a) Es handelt sich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt mit Unionsbezug, der zur Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) sowie der dazu ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 führt. Der Kläger fällt --wie auch aus dem EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501 hervorgeht-- als deutscher Staatsbürger gemäß Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in deren persönlichen Anwendungsbereich. Ebenso ist der sachliche Anwendungsbereich eröffnet; das Kindergeld ist eine Familienleistung i.S. von Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004. Auch ist Deutschland der für die Erbringung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und e der VO Nr. 883/2004).

18

b) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004, der bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden, ist --wie auch aus dem EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501 hervorgeht-- im Streitfall ungeachtet dessen anzuwenden, dass es bereits nach nationalem Recht nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem EU-Mitgliedstaat hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG). Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die Familienangehörigen i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Darunter sind neben den Eltern und dem Kind alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501).

19

c) Aufgrund der Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 lässt sich nach dem EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501 "nicht ausschließen", dass ein Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung von Familienleistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohnt, diejenige Person ist, die zum Bezug dieser Leistungen berechtigt ist. Dies ist der Fall, wenn --wie nach deutscher Rechtslage-- bei konkurrierenden Ansprüchen derjenige Elternteil vorrangig kindergeldberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

20

d) Aus dem EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501 ist auch zu ersehen, dass das Fehlen eines im EU-Ausland gestellten Antrags auf Familienleistungen nicht dazu führt, dass die Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 entfällt. Die Verpflichtung des zur Erbringung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009, den im Inland gestellten Antrag auf Kindergeld zu berücksichtigen, bedeutet nicht, dass bei fehlender Antragstellung im Ausland der Anspruch auf den Elternteil übergeht, der im Inland das Kindergeld beantragt hat.

21

3. Somit ist gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu fingieren, dass die geschiedene Ehefrau des Klägers zusammen mit dem gemeinsamen Kind in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt. Damit ist sie nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt, solange die Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach in der Person des Klägers erfüllt sind. Diesem steht der Anspruch auf Kindergeld im streitigen Zeitraum nicht zu.

22

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 24. Januar 2013  11 K 3406/11 Kg,AO aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater einer im August 2000 geborenen Tochter (T), die bei der vom Kläger geschiedenen Kindsmutter in Polen lebt.

2

Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und lebt mit seiner jetzigen Ehefrau und einem gemeinsamen Sohn in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland).

3

Hier ist er seit dem 1. Mai 2005 in unterschiedlicher Weise erwerbstätig, seit 1. Mai 2009 als selbständiger Gebäudereiniger. Der Kläger ist in Deutschland kranken- und unfallversichert. Zeitweise war er auch rentenversichert.

4

Mit Schreiben vom 5. September 2010 beantragte der Kläger Kindergeld für T. Mit Schreiben vom 12. Januar 2011 informierte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Kläger, dass die Kindsmutter ab Januar 2006 die anteilige Abzweigung des Kindergeldes für T an sich beantragt habe. In Polen bezog die Kindsmutter Familienleistungen für T in Höhe von monatlich 68 PLN.

5

Mit Bescheiden vom 7. Juni 2011 setzte die Familienkasse u.a. von Januar 2010 bis April 2010 Kindergeld in Höhe von 92 € pro Monat fest und hob die Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 mit der Begründung auf, die Kindsmutter in Polen sei wegen der Haushaltsaufnahme der T nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig berechtigt.

6

Den gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 25. August 2011 als unbegründet zurück.

7

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Teilkindergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis August 2011. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung des Teilkindergelds für den Zeitraum Mai 2010 bis August 2011.

8

Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 EStG ergebende Verletzung materiellen Rechts.

9

Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

11

Mit Beschluss vom 20. Januar 2015 hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 zum Ruhen gebracht. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

12

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

13

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 EStG.

14

Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dass T ihren Wohnsitz in Polen hat, ist unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

15

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- zu unterstellen ist, dass sie mit T in Deutschland wohnt.

16

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nureinem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1).

17

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

18

3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

19

a) Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

20

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).

21

4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

22

a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.

23

b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im Streitfall wegen des vom FG festgestellten Anspruchs der Kindsmutter in Polen zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 32 f., 35 ff.). Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 einschlägig, eröffnete dieser ebenfalls die Anwendbarkeit des Art. 60 der VO Nr. 987/2009.

24

c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38). Daher wird hiervon nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch der andere Elternteil erfasst, wobei unerheblich ist, ob die Elternteile miteinander verheiratet oder --wie im Streitfall-- voneinander geschieden sind.

25

Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.

26

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

27

a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.

28

b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG war der Kläger aber von der Kindsmutter geschieden und lebte mit seiner neuen Ehefrau und dem aus dieser Beziehung hervorgegangenen Kind in einem eigenen Haushalt. Folglich kann auch über Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kein gemeinsamer inländischer Haushalt des Klägers und der Kindsmutter fingiert werden. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger, eine Haushaltsaufnahme der T vorliegt.

29

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.

30

Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr (hier ggf. die Kindsmutter, sofern nicht bereits ein in Polen gestellter Antrag zu berücksichtigen wäre), berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen einer fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen.

31

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 20. April 2012  7 K 59/12 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater seines im Oktober 2010 geborenen Sohnes D. Der Kläger wohnt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und ist hier selbständig tätig sowie sozialversichert.

2

D lebte bei der Kindsmutter in Polen, mit welcher der Kläger nicht verheiratet war. Nach einer Mitteilung der polnischen Behörden war die Kindsmutter in Polen nichtselbständig beschäftigt und erhielt dort mangels Antragstellung keine polnischen Familienleistungen. Aus dem vom Kläger für D im Januar 2011 gestellten Kindergeldantrag, auf welchen das Finanzgericht (FG) in seinem Urteil Bezug genommen hat, geht hervor, dass der Kläger deutscher Staatsangehöriger ist und dass er drei weitere volljährige Kinder mit einer anderen Frau hat. Im Zeitpunkt der Antragstellung war der Kläger mit dieser Frau verheiratet und wohnte mit ihr unter einer gemeinsamen Anschrift.

3

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den im Januar 2011 gestellten Antrag des Klägers, Kindergeld für D ab Oktober 2010 festzusetzen, mit Bescheid vom 26. Januar 2011 ab. In diesem Antrag erklärte sich die Kindsmutter damit einverstanden, das Kindergeld dem Kläger zu zahlen. Der Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2011). Die Familienkasse lehnte einen Kindergeldanspruch des Klägers ab, weil die in Polen lebende Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig anspruchsberechtigt sei.

4

Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für D ab Oktober 2010 festzusetzen. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der nach den §§ 62 ff. EStG bestehende Kindergeldanspruch des Klägers sei --entgegen der Auffassung der Familienkasse-- nicht nach § 64 Abs. 2 EStG durch einen vorrangigen Anspruch der Kindsmutter verdrängt worden. Es spreche zwar viel dafür, dass D ausschließlich dem Haushalt der Kindsmutter in Polen zuzurechnen sei. Dies stehe aber der Anspruchsberechtigung des Klägers nicht entgegen, weil die Kindsmutter keine Berechtigte i.S. des § 62 EStG sei.

5

Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 64 EStG.

6

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 26. November 2014 hat der Senat das Verfahren zum Ruhen gebracht, bis der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 entschieden hat. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Familienkasse … ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Bundesagentur für Arbeit - Familienkasse … eingetreten (vgl. Senatsurteil vom 8. Mai 2014 III R 21/12, BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, Rz 11).

III.

10

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der in Polen lebenden Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG für D ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

11

1. Der Kläger erfüllt im Streitzeitraum (Oktober 2010 bis Dezember 2011, dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung; vgl. hierzu Senatsurteil vom 25. September 2014 III R 36/12, BFHE 247, 488, BStBl II 2015, 286, Rz 16) die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 EStG).

12

Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) liegen --was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG vor. Dass D seinen Wohnsitz (offensichtlich) in Polen hat, ist für die Kindergeldberechtigung unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

13

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter mit D in Deutschland wohnt.

14

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nureinem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

15

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

16

Das FG ist (offensichtlich) davon ausgegangen, dass der nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erforderliche Inlandswohnsitz der Kindsmutter nicht vorliegt. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit D in Deutschland wohnt; demnach wird ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

17

3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist eröffnet und Deutschland der zuständige Mitgliedstaat.

18

a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

19

b) Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall sind dies aufgrund der vom Kläger in Deutschland ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit die deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).

20

4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

21

a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als fielen alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats und wohnten dort. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.

22

b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) unerheblich ist, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) hat (vgl. EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.). Ebenso kommt es für die Anwendung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 nicht darauf an, ob eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Sollte es hieran --wie vom FG mangels Gewährung polnischer Familienleistungen für D angenommen-- fehlen, griffe Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ein (vgl. EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.).

23

c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (vgl. EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG beide Elternteile erfasst, damit auch die in Polen wohnende Kindsmutter. Ob die Elternteile miteinander verheiratet sind, ist für die Kindergeldberechtigung ohne Bedeutung.

24

Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach nationalem Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.

25

5. Die Kindsmutter erfüllt auch die übrigen erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen.

26

a) Anhaltspunkte dafür, dass sie eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt. Schließlich hat sie D nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG in ihren Haushalt in Polen aufgenommen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

27

b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass in Polen ein gemeinsamer Haushalt des Klägers mit der Kindsmutter und D existiert haben könnte.

28

aa) Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Dabei bewirkt die nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorzunehmende Fiktion, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen Mitgliedstaat der EU (hier Polen) gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

29

bb) Im Streitfall war zwar die Kindsmutter mit einer Zahlung des Kindergeldes an den Kläger einverstanden. Es existierte aber in Polen kein gemeinsamer Haushalt des Klägers mit der Kindsmutter und D.

30

Das Vorliegen eines gemeinsamen Haushalts i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG setzt voraus, dass zwischen den Beteiligten eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht. Hierfür ist erforderlich, dass die Beteiligten gemeinsam zum Unterhalt der Familie beitragen und der bestehende Haushalt beiden zuzurechnen ist (vgl. Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 64 Rz C 19; Blümich/Selder, § 64 EStG Rz 26). Danach wird man regelmäßig ein örtlich gebundenes Zusammenleben mit gemeinsamer Versorgung fordern müssen (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 64 EStG Rz 10). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist Tatfrage und vom FG als Tatsacheninstanz anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.

31

Der Kläger hat zwar vor dem FG vorgetragen, dass er für D Kindesunterhalt gezahlt und bei berufsbedingten Aufenthalten (gemeint sind wohl solche in Polen), ebenso in seiner Freizeit ausgiebigen Kontakt und Umgang mit seinem Kind gehabt habe. Der Senat ist jedoch aufgrund dieses pauschalen Vorbringens nicht gehalten, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass im Streitzeitraum zwischen dem Kläger, der Kindsmutter und D eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft in Polen bestanden haben könnte. So fehlt jeglicher subtantiierter Vortrag zur Form und Höhe des Kindesunterhalts sowie zur Häufigkeit, Dauer und den Zwecken der Zusammentreffen.

32

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.

33

Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste daher nicht wegen der fehlenden Antragstellung der Kindsmutter dem Kläger zuerkannt werden (vgl. EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen.

34

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Tenor

Auf die Revision der Familienkasse wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 23. August 2013  4 K 854/13 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum März 2012 bis März 2013.

2

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater der vier Kinder A (geb. Juni 1996), S (geb. März 1999), D (geb. August 2002) und F (geb. Dezember 2003). Er ist seit dem 1. März 2010 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) nichtselbständig tätig. D und F leben seit 2004 bei ihrer Mutter in Spanien, die dort erwerbstätig ist. A und S leben beim Kläger.

3

Mit Bescheid vom 18. Februar 2013 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers, ihm Kindergeld für D und F zu gewähren, ab März 2012 mit der Begründung ab, dass die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für die Streitjahre geltenden Fassung wegen der Haushaltsaufnahme von D und F den vorrangigen Kindergeldanspruch habe. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 11. März 2013).

4

Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Differenzkindergeld für den Zeitraum ab März 2012 in Höhe von 165,75 € für D und in Höhe von 190,75 € für F. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage in vollem Umfang statt.

5

Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 EStG ergebende Verletzung materiellen Rechts.

6

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

8

Mit Beschluss vom 27. Oktober 2014 hat der Bundesfinanzhof das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 ausgesetzt. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

9

II. Dem Antrag des Klägers, das Verfahren bis zu einer weiteren Klärung der Rechtslage ruhen zu lassen, war nicht zu entsprechen, da die Familienkasse hierzu nicht das nach § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung erforderliche Einverständnis erklärt hat.

III.

10

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Der Kindsmutter steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).

11

1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 EStG.

12

Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist, dass D und F ihren Wohnsitz in Spanien haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

13

2. Allerdings ist die Kindsmutter --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn sie hat D und F in ihren Haushalt aufgenommen und gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- ist zu unterstellen, dass sie mit D und F in Deutschland wohnt.

14

a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

15

b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).

16

3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.

17

a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

18

b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine nichtselbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).

19

4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

20

a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.

21

b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedsaat der Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im Streitfall wegen eines Familienleistungsanspruchs der Kindsmutter in Spanien zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 32 f., 35 ff.). Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 einschlägig, eröffnete dieser ebenfalls die Anwendbarkeit des Art. 60 der VO Nr. 987/2009.

22

c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch Elternteile erfasst, die nicht miteinander verheiratet sind.

23

Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.

24

5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

25

a) Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, hat das FG nicht festgestellt.

26

b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt des Klägers und der Kindsmutter voraus. Nach den Feststellungen des FG unterhielten der Kläger und die Kindsmutter jedoch keinen gemeinsamen Haushalt. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger eine Haushaltsaufnahme des D und des F vorliegt.

27

6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.

28

Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr (hier: ggf. die Kindsmutter, sofern nicht bereits ein in Spanien gestellter Antrag zu berücksichtigen wäre), berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen einer fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen.

29

7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.

(1)1Als Kinder werden berücksichtigt

1.
Kinder im Sinne des § 32 Absatz 1,
2.
vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder seines Ehegatten,
3.
vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Enkel.
2§ 32 Absatz 3 bis 5 gilt entsprechend.3Voraussetzung für die Berücksichtigung ist die Identifizierung des Kindes durch die an dieses Kind vergebene Identifikationsnummer (§ 139b der Abgabenordnung).4Ist das Kind nicht nach einem Steuergesetz steuerpflichtig (§ 139a Absatz 2 der Abgabenordnung), ist es in anderer geeigneter Weise zu identifizieren.5Die nachträgliche Identifizierung oder nachträgliche Vergabe der Identifikationsnummer wirkt auf Monate zurück, in denen die Voraussetzungen der Sätze 1 bis 4 vorliegen.6Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, haben, werden nicht berücksichtigt, es sei denn, sie leben im Haushalt eines Berechtigten im Sinne des § 62 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 Buchstabe a.7Kinder im Sinne von § 2 Absatz 4 Satz 2 des Bundeskindergeldgesetzes werden nicht berücksichtigt.

(2) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zu bestimmen, dass einem Berechtigten, der im Inland erwerbstätig ist oder sonst seine hauptsächlichen Einkünfte erzielt, für seine in Absatz 1 Satz 3 erster Halbsatz bezeichneten Kinder Kindergeld ganz oder teilweise zu leisten ist, soweit dies mit Rücksicht auf die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für Kinder in deren Wohnsitzstaat und auf die dort gewährten dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen geboten ist.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 31. August 2016  5 K 1807/15 (Kg) aufgehoben.

Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige und Mutter der im Februar 2010 geborenen Tochter N. Die Klägerin wohnte zunächst mit dem Kindsvater --ihrem damaligen Ehemann-- in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und bezog hier ab Februar 2010 Kindergeld für N. Nach der Trennung der Eheleute im Juli 2011 kehrte die Klägerin nach Polen zurück; dort wohnt und lebt sie seitdem zusammen mit N.

2

Mit Bescheiden vom 16. August 2011 und 13. September 2011 hob die Familienkasse C die Kindergeldfestsetzung für N ab August 2011 auf. Im August 2011 beantragte die Klägerin im eigenen Namen deutsches Kindergeld für N bei der Familienkasse N. Der Kindsvater wirkte in dem Verfahren auf Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld trotz Aufforderung der Familienkasse N nicht mit.

3

Mit Bescheid vom 31. Juli 2015 --gerichtet an die Klägerin-- lehnte die Familienkasse X den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für N ab. Den dagegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit Einspruchsentscheidung vom 30. November 2015 als unbegründet zurück, da in der Person des Kindsvaters die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht erfüllt und nicht nachgewiesen seien.

4

Die hiergegen gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 31. August 2016  5 K 1807/15 (Kg) als unbegründet ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Klägerin erfülle wegen ihres Wohnsitzes in Polen nicht die Voraussetzungen i.S. des § 62 EStG. Auch mit europarechtlichen Vorschriften lasse sich kein Anspruch der Klägerin auf deutsches Kindergeld begründen. Ein Wohnsitz der Klägerin in Deutschland werde nicht gemäß Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)-- i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung --VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)-- fingiert, da die Fiktion nur für den Anspruch des Kindsvaters in seiner Person gelte.

5

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts sowie Verfahrensfehler.

6

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sächsischen FG vom 31. August 2016  5 K 1807/15 (Kg) und die Einspruchsentscheidung der Familienkasse vom 30. November 2015 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, der Klägerin als Anspruchsberechtigten für deren Tochter N Kindergeld für den Zeitraum August 2011 bis November 2015 in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
hilfsweise, die Sache zur neuen Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsmittels an das Sächsische FG zurückzuverweisen.

7

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

8

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Auffassung des FG, eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung der Klägerin komme mangels tatsächlichen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland nicht in Betracht, verletzt Bundesrecht. Die Sache ist jedoch nicht spruchreif. Auf der Grundlage der vom FG festgestellten Tatsachen kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob ein Inlandswohnsitz der Klägerin fingiert wird und auch die übrigen Voraussetzungen für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung der Klägerin vorliegen. Die erforderlichen Feststellungen wird das FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.

9

1. Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

10

2. Im Streitfall könnte sich eine vorrangige Anspruchsberechtigung der Klägerin aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG ergeben. Zwar liegt der nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erforderliche Inlandswohnsitz der Klägerin --nach den für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO)-- tatsächlich nicht vor, da die Klägerin mit N in Polen lebt. Ein Inlandswohnsitz der Klägerin könnte aber nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu fingieren sein. Zu Unrecht geht das FG insoweit davon aus, die Fiktion eines inländischen Wohnsitzes des im EU-Ausland lebenden Elternteils i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gelte nur für den Anspruch des im Inland lebenden Elternteils in seiner Person.

11

a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten (vgl. z.B. Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18, m.w.N.; vom 10. März 2016 III R 8/13, BFH/NV 2016, 1164, Rz 22; III R 25/12, BFH/NV 2016, 1161, Rz 21, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 20).

12

b) Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Rz 41) ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.

13

c) Die Fiktionswirkung kommt somit nicht ausschließlich in Bezug auf den im Inland lebenden Elternteil zum Tragen, sondern gilt vielmehr grundsätzlich für sämtliche "beteiligte Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.

14

Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben. Daher wird hiervon nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auch der andere Elternteil erfasst, wobei unerheblich ist, ob die Elternteile miteinander verheiratet oder --wie im Streitfall-- voneinander geschieden sind (vgl. z.B. Senatsurteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 24; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 23, und in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 22, jeweils m.w.N.).

15

d) Der Senat hält die Auslegung des für die Entscheidung im Streitfall einschlägigen Unionsrechts angesichts der bereits vorliegenden EuGH-Rechtsprechung insoweit für eindeutig. Einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedarf es daher nicht.

16

3. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat auf Folgendes hin:

17

a) Ausgangspunkt für die Prüfung der Anspruchsberechtigung der Klägerin ist die Frage, ob der Kindsvater im Streitzeitraum die nationalen Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 i.V.m. § 63 EStG erfüllte (vgl. z.B. Senatsurteil in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 21). Unerheblich ist hierbei, dass N ihren Wohnsitz in Polen hatte (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Sollten sich die Anspruchsvoraussetzungen nach den nationalen Rechtsvorschriften in der Person des Kindsvaters nicht feststellen lassen, ginge der fehlende Nachweis nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten der Klägerin. Denn die Feststellungslast für anspruchsbegründende Tatsachen in Kindergeldsachen liegt stets beim Kindergeldberechtigten (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 19. Dezember 2008 III B 163/07, BFH/NV 2009, 578, unter II.1., m.w.N.).

18

b) Sollte der Kindsvater nach nationalem Recht kindergeldberechtigt sein, ist weiter zu prüfen, ob in Bezug auf seine Person der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und Deutschland danach für die Gewährung von Kindergeld der zuständige Mitgliedstaat ist. Ist dies der Fall, wird gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Klägerin fingiert. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf seine Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18 ff., m.w.N.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 21 ff.; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 20 ff., und in BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 19 ff.

19

c) Soweit die Klägerin Kindergeld in gesetzlicher Höhe begehrt, wird das FG zudem ggf. weitere Feststellungen zu einem möglicherweise konkurrierenden Familienleistungsanspruch der Klägerin in Polen zu treffen haben.

20

d) Die Klägerin dürfte --neben dem Wohnsitzerfordernis-- die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllen.

21

aa) Aufgrund der polnischen Staatsangehörigkeit der Klägerin dürfte davon auszugehen sein, dass diese eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist und daher nicht vom Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 EStG erfasst wird. Zu den Voraussetzungen des Begriffs des Freizügigkeitsberechtigten verweist der Senat insoweit auf seine Urteile vom 4. August 2016 III R 10/13 (BFHE 255, 46, BStBl II 2017, 126, Rz 23, m.w.N.) und vom 15. März 2017 III R 32/15 (BFHE 258, 16, Rz 11 ff.).

22

bb) Ein vorrangiger Anspruch des Kindsvaters ergäbe sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt zwischen der Klägerin und dem Kindsvater voraus. Nach den Feststellungen des FG trennten sich die Klägerin und der Kindsvater jedoch im Juli 2011; seitdem lebt die Klägerin mit der minderjährigen N zusammen in Polen. Demnach wäre im Fall einer Wohnsitzfiktion der Anspruch der Klägerin nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht aber beim Kindsvater, eine Haushaltsaufnahme der N vorliegt.

23

cc) Die Klägerin hat auch im eigenem Namen einen Antrag auf Kindergeld für ihre minderjährige Tochter N in Deutschland gestellt.

24

e) Bei der Auslegung des Klagebegehrens wird das FG schließlich zu berücksichtigen haben, dass die Einspruchsentscheidung vom 30. November 2015 erst im Dezember 2015 bekanntgegeben worden sein dürfte. Der angegriffene Ablehnungsbescheid vom 31. Juli 2015 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung enthalten in diesem Fall eine das Kindergeld bis Dezember 2015 ablehnende Regelung (vgl. z.B. Senatsurteil vom 12. März 2015 III R 14/14, BFHE 249, 292, BStBl II 2015, 850, Rz 18, m.w.N.). Dies könnte unter Berücksichtigung der Interessenslage der Klägerin dafür sprechen, dass diese Kindergeld für den Zeitraum August 2011 bis Dezember 2015 begehrt.

25

4. Die Revision hat somit bereits mit der Sachrüge Erfolg, so dass es auf die erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr ankommt (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. Oktober 2011 X R 65/09, BFHE 235, 304, BStBl II 2012, 345, Rz 50, m.w.N.).

26

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

(1) Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt.

(2)1Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.2Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten.3Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so bestimmt das Familiengericht auf Antrag den Berechtigten.4Den Antrag kann stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Zahlung des Kindergeldes hat.5Lebt ein Kind im gemeinsamen Haushalt von Eltern und Großeltern, so wird das Kindergeld vorrangig einem Elternteil gezahlt; es wird an einen Großelternteil gezahlt, wenn der Elternteil gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich verzichtet hat.

(3)1Ist das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt.2Zahlen mehrere Berechtigte dem Kind Unterhaltsrenten, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind die höchste Unterhaltsrente zahlt.3Werden gleich hohe Unterhaltsrenten gezahlt oder zahlt keiner der Berechtigten dem Kind Unterhalt, so bestimmen die Berechtigten untereinander, wer das Kindergeld erhalten soll.4Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so gilt Absatz 2 Satz 3 und 4 entsprechend.

(1) Die Beteiligten sind zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet. Sie kommen der Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen und die ihnen bekannten Beweismittel angeben. Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.

(2) Ist ein Sachverhalt zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen, der sich auf Vorgänge außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes bezieht, so haben die Beteiligten diesen Sachverhalt aufzuklären und die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen. Sie haben dabei alle für sie bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Ein Beteiligter kann sich nicht darauf berufen, dass er Sachverhalte nicht aufklären oder Beweismittel nicht beschaffen kann, wenn er sich nach Lage des Falls bei der Gestaltung seiner Verhältnisse die Möglichkeit dazu hätte beschaffen oder einräumen lassen können.

(3) Ein Steuerpflichtiger hat über die Art und den Inhalt seiner Geschäftsbeziehungen im Sinne des § 1 Absatz 4 des Außensteuergesetzes Aufzeichnungen zu erstellen. Die Aufzeichnungspflicht umfasst neben der Darstellung der Geschäftsvorfälle (Sachverhaltsdokumentation) auch die wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen für eine den Fremdvergleichsgrundsatz beachtende Vereinbarung von Bedingungen, insbesondere Preisen (Verrechnungspreisen), sowie insbesondere Informationen zum Zeitpunkt der Verrechnungspreisbestimmung, zur verwendeten Verrechnungspreismethode und zu den verwendeten Fremdvergleichsdaten (Angemessenheitsdokumentation). Hat ein Steuerpflichtiger Aufzeichnungen im Sinne des Satzes 1 für ein Unternehmen zu erstellen, das Teil einer multinationalen Unternehmensgruppe ist, so gehört zu den Aufzeichnungen auch ein Überblick über die Art der weltweiten Geschäftstätigkeit der Unternehmensgruppe und über die von ihr angewandte Systematik der Verrechnungspreisbestimmung, es sei denn, der Umsatz des Unternehmens hat im vorangegangenen Wirtschaftsjahr weniger als 100 Millionen Euro betragen. Eine multinationale Unternehmensgruppe besteht aus mindestens zwei in verschiedenen Staaten ansässigen, im Sinne des § 1 Absatz 2 des Außensteuergesetzes einander nahestehenden Unternehmen oder aus mindestens einem Unternehmen mit mindestens einer Betriebsstätte in einem anderen Staat. Zu außergewöhnlichen Geschäftsvorfällen sind zeitnah Aufzeichnungen zu erstellen. Die Aufzeichnungen im Sinne dieses Absatzes sind auf Anforderung der Finanzbehörde zu ergänzen.

(4) Die Finanzbehörde kann jederzeit die Vorlage der Aufzeichnungen nach Absatz 3 verlangen; die Vorlage richtet sich nach § 97. Im Falle einer Außenprüfung sind die Aufzeichnungen ohne gesondertes Verlangen vorzulegen. Die Aufzeichnungen sind jeweils innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Anforderung oder nach Bekanntgabe der Prüfungsanordnung vorzulegen. In begründeten Einzelfällen kann die Vorlagefrist verlängert werden.

(5) Um eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, wird das Bundesministerium der Finanzen ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung Art, Inhalt und Umfang der nach den Absätzen 3 und 4 zu erstellenden Aufzeichnungen zu bestimmen.

(1) Für jedes Kind wird nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt.

(2)1Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.2Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen worden, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten.3Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so bestimmt das Familiengericht auf Antrag den Berechtigten.4Den Antrag kann stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Zahlung des Kindergeldes hat.5Lebt ein Kind im gemeinsamen Haushalt von Eltern und Großeltern, so wird das Kindergeld vorrangig einem Elternteil gezahlt; es wird an einen Großelternteil gezahlt, wenn der Elternteil gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich verzichtet hat.

(3)1Ist das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind eine Unterhaltsrente zahlt.2Zahlen mehrere Berechtigte dem Kind Unterhaltsrenten, so erhält das Kindergeld derjenige, der dem Kind die höchste Unterhaltsrente zahlt.3Werden gleich hohe Unterhaltsrenten gezahlt oder zahlt keiner der Berechtigten dem Kind Unterhalt, so bestimmen die Berechtigten untereinander, wer das Kindergeld erhalten soll.4Wird eine Bestimmung nicht getroffen, so gilt Absatz 2 Satz 3 und 4 entsprechend.

(1)1Das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Absatz 1 kann an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.2Kindergeld kann an Kinder, die bei der Festsetzung des Kindergeldes berücksichtigt werden, bis zur Höhe des Betrags, der sich bei entsprechender Anwendung des § 76 ergibt, ausgezahlt werden.3Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.4Die Auszahlung kann auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.

(2) Für Erstattungsansprüche der Träger von Sozialleistungen gegen die Familienkasse gelten die §§ 102 bis 109 und 111 bis 113 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch entsprechend.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.

(1) Kosten sind die Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten einschließlich der Kosten des Vorverfahrens.

(2) Die Aufwendungen der Finanzbehörden sind nicht zu erstatten.

(3) Gesetzlich vorgesehene Gebühren und Auslagen eines Bevollmächtigten oder Beistands, der nach den Vorschriften des Steuerberatungsgesetzes zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen befugt ist, sind stets erstattungsfähig. Aufwendungen für einen Bevollmächtigten oder Beistand, für den Gebühren und Auslagen gesetzlich nicht vorgesehen sind, können bis zur Höhe der gesetzlichen Gebühren und Auslagen der Rechtsanwälte erstattet werden. Soweit ein Vorverfahren geschwebt hat, sind die Gebühren und Auslagen erstattungsfähig, wenn das Gericht die Zuziehung eines Bevollmächtigten oder Beistands für das Vorverfahren für notwendig erklärt. Steht der Bevollmächtigte oder Beistand in einem Angestelltenverhältnis zu einem Beteiligten, so werden die durch seine Zuziehung entstandenen Gebühren nicht erstattet.

(4) Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nur erstattungsfähig, wenn das Gericht sie aus Billigkeit der unterliegenden Partei oder der Staatskasse auferlegt.

(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Der Bundesfinanzhof ist an die Zulassung gebunden.