Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. April 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt bei der Berechnung ihrer Altersrente die Anrechnung eines Zeitraums, in dem sie ein Pflegekind in sog Bereitschaftspflege betreute, als Kindererziehungszeit bzw Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung.

2

Die Klägerin nahm am 8.1.1998 das im November 1996 geborene Kind K im Rahmen einer Vollzeitpflege in ihre häusliche Gemeinschaft auf, und zwar zunächst in sog Bereitschaftspflege, ab dem 7.7.1998 fortlaufend bis heute als Pflegekind im Rahmen einer Hilfe zur Erziehung. Bis zum 6.7.1998 war K noch unter der Anschrift seiner leiblichen Mutter gemeldet und erst anschließend bei der Klägerin. Diese betreute in den Jahren 2000 bis 2010 im Auftrag des Jugendamts der Stadt K. zahlreiche weitere Kinder zeitweilig in Bereitschaftspflege.

3

Bei Antragstellung für ihre Altersrente machte die Klägerin Kindererziehungszeiten bzw Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung für ihre drei leiblichen Kinder sowie für K geltend. Der beklagte Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin ab 1.2.2011 Regelaltersrente mit einem monatlichen Zahlbetrag von 480,35 Euro (Bescheid vom 11.3.2011). In Anlage 10 des Rentenbescheids ist ausgeführt, dass Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten für K vorerst ab dem 1.8.1998 anerkannt würden. Im Hinblick darauf, dass bei dessen leiblicher Mutter solche Zeiten bis einschließlich Juli 1998 anerkannt worden seien, habe man den für diese zuständigen RV-Träger um Überprüfung und Korrektur gebeten; sobald das Ergebnis feststehe, werde die Entscheidung hinsichtlich des Zeitraums 8.1. bis 31.7.1998 unaufgefordert überprüft. Später teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass es bei der bisherigen Entscheidung verbleibe, weil für K bis zum 6.7.1998 lediglich Bereitschaftspflege bestanden habe (Schreiben vom 14.4.2011).

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In ihrem Widerspruch verwies die Klägerin darauf, dass die Berücksichtigung der Bereitschaftspflegeverhältnisse - nach ihren damaligen Angaben ca 50 Kinder über 15 Jahre hinweg - bei ihrer Rente existenziell für sie sei. Ohne diese Zeiten erreiche ihre Altersrente nicht einmal Grundsicherungsniveau, sodass sie schlechter dastehe als die Mütter, deren Kinder sie betreut habe. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück, weil Zeiten der Bereitschaftspflege nicht die Kriterien eines Pflegekindschaftsverhältnisses iS der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllten. Werde eine Bereitschaftspflege später in eine auf Dauer angelegte Vollzeitpflege erweitert, könnten bei den Pflegeeltern Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten erst ab dem Zeitpunkt der Änderung anerkannt werden (Widerspruchsbescheid vom 13.10.2011).

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Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des SG Karlsruhe vom 27.6.2012 bzw des LSG Baden-Württemberg vom 29.4.2014). Das LSG hat ausgeführt, eine Bereitschaftspflege nach § 33 SGB VIII begründe kein Pflegeverhältnis iS des § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I, weil es sich um eine von vornherein zeitlich begrenzte Unterbringungsform handele, die als Übergangslösung konzipiert sei, um die Zukunftsperspektiven des Kindes zu klären. Das Erziehungsverhältnis zu den leiblichen Eltern sei während einer Bereitschaftspflege noch nicht dauerhaft gelöst. Das gelte sowohl hinsichtlich K für die Zeit vor dem 1.8.1998 als auch für die anderen von der Klägerin in Bereitschaftspflege betreuten Kinder. Nicht zu beanstanden sei, dass die Beklagte hinsichtlich K nach Umwandlung der Bereitschaftspflege in eine Dauerpflege zum 7.7.1998 erst ab dem Folgemonat (August 1998) Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten zugunsten der Klägerin anerkannt habe. Es entspreche dem Willen des Gesetzgebers, für denselben Zeitraum der Erziehung solche Zeiten nur bei einem Elternteil zu berücksichtigen.

6

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 33 SGB VIII, § 56 Abs 2 Nr 2, Abs 3 Nr 3 SGB I und von Art 3 GG. Das LSG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass Bereitschaftspflege keine Vollzeitpflege iS des § 33 SGB VIII sei. Diese Vorschrift mache zwischen Bereitschaftspflege und länger andauernden Pflegeverhältnissen keinen Unterschied. Auch bei einer übergangsweisen Unterbringung im Rahmen einer Bereitschaftspflege ende faktisch das Erziehungsverhältnis zu den leiblichen Eltern, denn deren mangelnde Erziehungsfähigkeit sei gerade der Grund für diese Maßnahme. Die Begriffsbestimmung "Pflegeeltern" in § 56 Abs 3 Nr 3 SGB I differenziere ebenfalls nicht nach der Dauer der Aufnahme eines Pflegekindes. Soweit § 56 Abs 2 Nr 2 SGB I für Pflegekinder ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis verlange, seien der kindliche Zeitbegriff und die Perspektive des Kindes zugrunde zu legen. Zudem sei die Vorschrift dahingehend ergänzend auszulegen, dass Bereitschaftspflege insbesondere dann als Dauerpflege anzusehen sei, wenn sich an die Bereitschaftspflege eine längere Vollzeitpflege anschließe. Es sei auf die tatsächlich erbrachten Pflege- und Betreuungsleistungen abzustellen, wie sie sich in einer rückschauenden Betrachtung (ex post) darstellten. Eine Beurteilung ex ante sei von vielen unbekannten Faktoren abhängig und damit willkürlich. Im Lichte des Art 3 GG sei kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, die Bereitschaftspflege rentenrechtlich anders zu behandeln als eine sich anschließende Vollzeitpflege.

7

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin nach einem Hinweis des Senats ihre Revision auf die Berücksichtigung zusätzlicher Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten für K in den Monaten Januar bis Juli 1998 beschränkt. Die Beklagte hat diesen Anspruch für den Monat Juli 1998 anerkannt; dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen. Die Klägerin hat zudem mitgeteilt, dass die leibliche Mutter von K am 12.6.2016 verstorben sei.

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Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. April 2014 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Juni 2012 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 11. März 2011 in Gestalt des Schreibens vom 14. April 2011 und des Widerspruchsbescheids vom 13. Oktober 2011 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, höhere Regelaltersrente unter zusätzlicher Berücksichtigung des Zeitraums von Januar bis einschließlich Juni 1998 als Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten zu gewähren.

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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Klägerin bleibt, soweit nach dem angenommenen Teilanerkenntnis noch streitbefangen, in der Sache ohne Erfolg (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Das LSG hat zu Recht entschieden, dass der Zeitraum von Januar bis Juni 1998, in dem die Klägerin K im Rahmen einer sog Bereitschaftspflege erzogen hat, rentenrechtlich nicht zu ihren Gunsten als Kindererziehungszeit oder Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung anzuerkennen ist.

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1. Rechtsgrundlage des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs auf höhere Regelaltersrente (§ 235 SGB VI) unter Einbeziehung auch der Monate Januar bis Juni 1998 als Kindererziehungszeiten ist § 56 iVm § 56 Abs 1 S 1(insoweit in der Fassung von Art 1 Rentenreformgesetz 1992, BGBl I 1989, 2261, die bis zum 31.5.1999 galt ), § 55 Abs 1 S 2, § 64 Nr 1, § 66 Abs 1 Nr 1 und § 70 Abs 2 SGB VI. Danach sind bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente für jeden Kalendermonat an Kindererziehungszeiten iS des § 56 SGB VI, die bis zum 31.5.1999 zurückgelegt wurden und für die gemäß § 56 Abs 1 S 1 SGB VI aF aufgrund gesetzlicher Fiktion Beiträge als gezahlt gelten, 0,0833 Entgeltpunkte (EP) gutzuschreiben, im Fall des Zusammentreffens von Kindererziehungszeiten mit sonstigen Beitragszeiten jedoch maximal bis zum Erreichen des Höchstwerts an EP gemäß der Anl 2 b zum SGB VI. Auf diese Weise zusätzlich zu berücksichtigende EP führen je nach Zugangsfaktor der jeweiligen Rente zu entsprechend höheren persönlichen EP (§ 66 Abs 1 iVm § 77 SGB VI), die wiederum im Rahmen der Rentenformel als ein Faktor die Höhe des Monatsbetrags der Rente beeinflussen (§ 64 Nr 1 SGB VI). Die Einbeziehung der Monate Januar bis Juni 1998 in die Rentenberechnung als Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung (§ 57 SGB VI) kann hingegen nach Maßgabe der Regelung in § 70 Abs 3a SGB VI bzw ansonsten im Rahmen der Bestimmungen über die Gesamtleistungsbewertung(§ 71 Abs 3 S 1 Nr 1 iVm § 72 Abs 1 SGB VI) zu zusätzlichen EP führen.

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2. Die Klägerin erfüllte im Zeitraum vom 8.1.1998 bis zum 30.6.1998, in dem sie K im Rahmen einer sog Bereitschaftspflege erzog, nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Anrechnung dieser Zeit zu ihren Gunsten als Kindererziehungszeit (§ 56 SGB VI). Aus diesem Grund ist auch eine Anrechnung dieses Zeitraums als Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung ausgeschlossen, weil nach § 57 Abs 1 S 2 SGB VI eine Berücksichtigungszeit nur anzuerkennen ist, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen.

14

a) Kindererziehungszeiten iS der gesetzlichen Rentenversicherung sind gemäß § 56 Abs 1 S 1 SGB VI(Legaldefinition in der ab 1.6.1999 geltenden Fassung; inhaltsgleich aber auch schon § 56 Abs 1 S 1 SGB VI idF des RRG 1992) Zeiten der Erziehung eines Kindes in den ersten drei Lebensjahren. Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes und endet nach 36 Kalendermonaten (§ 56 Abs 5 S 1 SGB VI). Einzelne Kalendermonate der Kindererziehungszeit werden nach § 56 Abs 1 S 2 SGB VI bei demjenigen Elternteil angerechnet, dem (1) die Erziehungszeit zuzuordnen ist(nähere Regelungen hierzu in § 56 Abs 2 SGB VI), wenn (2) die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht (nähere Regelungen in § 56 Abs 3 SGB VI) und (3) der Elternteil nicht von einer Anrechnung ausgeschlossen ist (nähere Regelungen in § 56 Abs 4 SGB VI). Einer Klärung bedarf vorliegend nur noch, ob die Klägerin bereits in den Monaten Januar bis Juni 1998 als "Elternteil" von K angesehen werden kann, sodass ihr aufgrund der von ihr in diesen Monaten übernommenen Erziehung des Kindes auch diese Monate als Kindererziehungszeit zuzuordnen sind.

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b) Zur näheren Bestimmung, wer "Elternteil" iS dieser Bestimmung ist, verweist § 56 Abs 1 S 2 SGB VI auf die Regelungen in § 56 Abs 1 S 1 Nr 3, Abs 3 Nr 2 und 3 SGB I. Gemäß § 56 Abs 3 Nr 3 SGB I gelten als Eltern iS des § 56 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB I - mithin ebenfalls als Elternteil iS des § 56 Abs 1 S 2 SGB VI - auch Pflegeeltern, wobei diese definiert sind als "Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben". Pflegekinder sind wiederum beschrieben als "Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind" (§ 56 Abs 2 Nr 2 SGB I). Diese Verweisungskette mit ihren aufeinander bezogenen Legaldefinitionen bewirkt, dass nicht sämtliche Pflegeeltern im rein funktionalen Sinn des Wortes als Elternteile anzusehen sind, denen an sich Kindererziehungszeiten zugeordnet werden können. Begünstigt sind vielmehr nach der Entscheidung des Gesetzgebers ausdrücklich nur solche Pflegeeltern, die mit einem Pflegekind durch ein "auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis" mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind.

16

Ein Pflegekindschaftsverhältnis, das zur Anerkennung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung berechtigt, erfordert damit eine familienähnliche, ideelle Dauerbindung von einer solchen Intensität, wie sie zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern üblich ist (BSG Urteil vom 8.10.1992 - 13 RJ 47/91 - Juris RdNr 28 mwN). Es muss zudem auf längere Dauer angelegt sein. Hierfür ist nicht notwendig, dass es auf nicht absehbare Zeit oder jedenfalls bis zur Volljährigkeit des Kindes begründet wird (BSG Urteil vom 23.4.1992 - 5 RJ 70/90 - SozR 3-1200 § 56 Nr 5 S 20). Das Pflegekindschaftsverhältnis muss aber jedenfalls für einen Zeitraum begründet werden, der für die körperliche und geistige Entwicklung des Pflegekindes erheblich ist, in der Regel also für einen mehrjährigen Zeitraum. Ist hingegen von vornherein geplant, dass es nur einen kürzeren Zeitraum dauern oder jederzeit aufgrund neuer Umstände beendet werden soll, so fehlt es an der erforderlichen Dauerbindung (BSG Urteil vom 8.10.1992 - 13 RJ 47/91 - Juris RdNr 25; BSG Urteil vom 28.4.2004 - B 2 U 12/03 R - SozR 4-2700 § 70 Nr 1 RdNr 7).

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Das Erfordernis, dass das Pflegekindschaftsverhältnis auf längere Dauer "angelegt" sein muss, verdeutlicht zudem, dass es nicht ausreicht, wenn bei rückschauender Betrachtung (ex post) das Kind faktisch für eine längere Dauer durch Pflegeeltern erzogen wurde. Entscheidend ist vielmehr schon nach dem Wortlaut des Gesetzes, ob bei prognostisch vorausschauender Betrachtung (ex ante) zu einem bestimmten Zeitpunkt hinreichende Gründe für die Annahme bestehen, das Pflegeverhältnis werde über einen längeren Zeitraum bestehen (vgl BSG Urteil vom 23.4.1992 - 5 RJ 70/90 - SozR 3-1200 § 56 Nr 5 S 20; BSG Urteil vom 26.8.1994 - 13 RJ 41/93 - Juris RdNr 18).

18

Der Einwand der Klägerin, eine Betrachtung ex ante sei von vornherein ungeeignet, da sie von vielen unbekannten Faktoren abhänge und damit letztlich willkürlich sei, trifft nicht zu. Im Sozialrecht ist es vielfach erforderlich, zur Ermittlung des Vorliegens eines Tatbestandsmerkmals eine Prognose anzustellen (vgl zB BSG Urteil vom 5.8.2015 - B 4 AS 46/14 R - SozR 4-4200 § 16b Nr 1 RdNr 18 f; BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 3 KS 4/13 R - SozR 4-5425 § 3 Nr 3 RdNr 23 ff; BSG Urteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 28 ff ; BSG Urteil vom 17.10.2012 - B 6 KA 49/11 R - BSGE 112, 90 = SozR 4-2500 § 95 Nr 26, RdNr 58 ff). Dabei obliegt es der Verwaltung und nachfolgend den Gerichten, alle zum maßgeblichen Zeitpunkt der Prognosestellung für die Beurteilung der künftigen Entwicklung erkennbaren Umstände zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 2.4.2014 - B 3 KS 4/13 R - aaO RdNr 24; BSG Urteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - aaO RdNr 28 f). Das schließt eine willkürliche Handhabung aus. Die Einbeziehung unbekannter Faktoren in eine Prognose ist weder möglich noch vom Gesetz gefordert.

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c) Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das Berufungsgericht das Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses und damit die Voraussetzungen für eine Anerkennung von Kindererziehungszeiten bzw Berücksichtigungszeiten im hier noch streitbefangenen Zeitraum der Bereitschaftspflege von K durch die Klägerin (8.1. bis 30.6.1998) zutreffend verneint.

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aa) Eine gesetzliche Bestimmung des Inhalts sogenannter "Bereitschaftspflege" existiert derzeit nicht. Deshalb ist umstritten, ob Bereitschaftspflege auch als Vollzeitpflege (dh als Maßnahme der Hilfe zur Erziehung) iS von § 33 SGB VIII erbracht werden kann(bejahend: Bundesministerium der Finanzen, Rundschreiben vom 21.4.2011, BStBl I 2011, 487; Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V., Rechtsgutachten vom 11.11.2013, JAmt 2014, 29; Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand Dezember 2014, § 33 RdNr 19; Uhl in Krug/Riehle/Schellhorn, SGB VIII, Stand September 2014, § 33 RdNr 47; verneinend: Nellissen in juris-PK SGB VIII, 2014, § 33 RdNr 79; Salgo in Wabnitz/Fieseler/Schleicher, Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII, § 33 RdNr 40; Kunkel/Kepert in Kunkel, Lehr- und Praxiskommentar SGB VIII, 5. Aufl 2014, § 33 RdNr 7). Auf die zutreffende jugendhilferechtliche Einordnung der Bereitschaftspflege kommt es für die hier erforderliche Festlegung, ob die Klägerin mit der von ihr durchgeführten Bereitschaftspflege ein auf längere Dauer angelegtes Pflegekindschaftsverhältnis iS von § 56 Abs 3 Nr 3 iVm Abs 2 Nr 2 SGB I begründet hat, jedoch nicht an. Selbst wenn angenommen wird, dass Bereitschaftspflege nicht nur auf Grundlage einer vorübergehenden Inobhutnahme zum Schutz des Kindes (§ 42 SGB VIII), sondern auch als vorläufige Gewährung von Erziehungshilfe in Form von Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII)möglich ist, handelt es sich in beiden Varianten um eine von vornherein zeitlich begrenzte Maßnahme. Bereitschaftspflege kommt somit nur als "Interimslösung" bzw als Instrument der Krisenintervention zum Einsatz, welches auf die Zeit bis zur Entscheidung über die Reintegration des Kindes in die Herkunftsfamilie oder die Überleitung in eine geeignete Folgehilfe begrenzt ist (vgl Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bereitschaftspflege - Familiäre Bereitschaftsbetreuung, Schriftenreihe Bd 231, 2002, S 12, 59; Steege, FPR 2004, 462, 465).

21

bb) Dementsprechend wurde auch die von der Klägerin im Januar 1998 für K begonnene Bereitschaftspflege zunächst als zeitlich begrenzte Unterbringung des Kindes in einer besonders ausgewählten und geschulten Pflegefamilie begründet. Wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen im Urteil des LSG ergibt, war es Ziel dieser Bereitschaftspflege, die Übergangszeit zu nutzen, um die weiteren Zukunftsperspektiven für K zu klären. Die Beteiligten haben dies in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat übereinstimmend bekräftigt. Somit bestand bei vorausschauender Betrachtung im Januar 1998 noch kein bereits auf längere Dauer angelegtes Pflegekindschaftsverhältnis. Erst als sich nach Abschluss der angestrebten Klärung ergab, dass K nunmehr dauerhaft in der Familie der Klägerin verbleiben sollte, erfolgte zum 7.7.1998 eine Umwandlung der Bereitschaftspflege in eine auf Dauer angelegte Vollzeitpflege. Von diesem Zeitpunkt an war bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung von einem Pflegekindschaftsverhältnis iS von § 56 SGB I auszugehen und eine Kindererziehungs- bzw Berücksichtigungszeit zugunsten der Klägerin anzuerkennen.

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3. Die Nichtberücksichtigung von Zeiten der Bereitschaftspflege bei der Anrechnung von Kindererziehungs- bzw Berücksichtigungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung ist mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar.

23

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen ebenso wie für ungleiche Begünstigungen. Verboten ist deshalb auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird. Dabei verwehrt Art 3 Abs 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG Beschluss vom 24.3.2015 - 1 BvR 2880/11 - BVerfGE 139, 1 RdNr 38 mwN). Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG Beschluss vom 18.12.2012 - 1 BvL 8, 22/11 - BVerfGE 132, 372 RdNr 45 mwN).

24

Die Einbeziehung nur auf längere Dauer angelegter Pflegekindschaftsverhältnisse in die Gewährung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten und damit verbunden der Begünstigungsausschluss insbesondere von Pflegepersonen, die Bereitschaftspflege erbringen, ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten sind Elemente des Familienlastenausgleichs (BSG Urteil vom 12.12.2006 - B 13 RJ 22/05 R - SozR 4-2600 § 70 Nr 2 RdNr 38). Mit ihrer Zuerkennung soll die auch im Interesse der Allgemeinheit liegende Leistung der Erziehung von Kindern anerkannt und damit die Verpflichtung des Staates zur materiellen Unterstützung und Förderung von Familien mit Kindern konkretisiert werden (vgl Entwurf des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes vom 28.12.1984, BT-Drucks 10/2677 S 28). Sie sollen denjenigen zugutekommen, die typischerweise Gefahr laufen, wegen der Kindererziehung keine oder nur geringfügige Rentenanwartschaften zu erwerben (BSG Urteil vom 17.11.1992 - 4 RA 15/91 - BSGE 71, 227, 230 = SozR 3-2600 § 56 Nr 4 S 15). Dieses Risiko verwirklicht sich bei einer von vornherein als "Interimslösung" nur auf kurze Zeit angelegten Bereitschaftspflege nicht im gleichen Maße wie bei längerfristigen Pflegekindschaftsverhältnissen.

25

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass Personen, die Bereitschaftspflege erbringen, zur Sicherstellung ihrer Alterssicherung mittlerweile eigenständige Ansprüche gegen den Träger der Jugendhilfe geltend machen können. Gemäß § 39 Abs 4 S 2 SGB VIII(in der ab 16.12.2008 geltenden Fassung des Kinderförderungsgesetzes vom 10.12.2008, BGBl I 2403) umfassen die vom Jugendhilfeträger zu erbringenden laufenden Leistungen für eine Hilfe in Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII auch eine hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen zu einer angemessenen Alterssicherung der Pflegeperson. Entsprechendes gilt gemäß § 42 Abs 2 S 3 Halbs 2 SGB VIII(in der ab 1.1.2012 geltenden Fassung des Bundeskinderschutzgesetzes vom 22.12.2011, BGBl I 2975) auch für die im Rahmen einer Inobhutnahme geleistete Bereitschaftspflege.

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Nicht zuletzt sprechen auch Gründe der Verwaltungspraktikabilität dafür, nur die auf längere Dauer angelegten Pflegekindschaftsverhältnisse mit einer Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung zu begünstigen (mit der Folge, dass hierfür Pflichtbeiträge vom Bund gezahlt werden <§ 177 SGB VI> und eigene Aufwendungen der Pflegeperson für die Alterssicherung iS von § 39 Abs 4 S 2 SGB VIII in dieser Zeit nicht anfallen), für Pflegepersonen mit zeitlich begrenzten und oftmals wechselnden Bereitschaftspflegezeiten dagegen den Träger der Jugendhilfe zu verpflichten, sich finanziell an einer angemessenen - idR privaten - Alterssicherung der Pflegeperson zu beteiligen.

27

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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Referenzen - Gesetze

Bundessozialgericht Urteil, 16. Juni 2016 - B 13 R 15/14 R zitiert 23 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 193


(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 170


(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision eb

Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) - SGB 8 | § 42 Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen


(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhut

Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) - SGB 8 | § 39 Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen


(1) Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35a Absatz 2 Nummer 2 bis 4 gewährt, so ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Er umfasst die Kosten für den Sachaufwand sowie für di

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 77 Zugangsfaktor


(1) Der Zugangsfaktor richtet sich nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. (

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 56 Kindererziehungszeiten


(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn 1. die Erziehung

Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) - SGB 8 | § 33 Vollzeitpflege


Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kind

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 56 Sonderrechtsnachfolge


(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander 1. dem Ehegatten,1a. dem Lebenspartner,2. den Kindern,3. den Eltern,4. dem Haushaltsführerzu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in ein

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 235 Regelaltersrente


(1) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, haben Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie 1. die Regelaltersgrenze erreicht und2. die allgemeine Wartezeit erfüllthaben. Die Regelaltersgrenze wird frühestens mit Vollendung des 65. Lebens

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 64 Rentenformel für Monatsbetrag der Rente


Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn 1. die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte,2. der Rentenartfaktor und3. der aktuelle Rentenwertmit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 70 Entgeltpunkte für Beitragszeiten


(1) Für Beitragszeiten werden Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt (Anlage 1) für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Für das Kalenderjahr des Rentenbeginns und für das davor liegende Kalenderj

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 55 Beitragszeiten


(1) Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt g

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 66 Persönliche Entgeltpunkte


(1) Die persönlichen Entgeltpunkte für die Ermittlung des Monatsbetrags der Rente ergeben sich, indem die Summe aller Entgeltpunkte für1.Beitragszeiten,2.beitragsfreie Zeiten,3.Zuschläge für beitragsgeminderte Zeiten,4.Zuschläge oder Abschläge aus ei

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 71 Entgeltpunkte für beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten (Gesamtleistungsbewertung)


(1) Beitragsfreie Zeiten erhalten den Durchschnittswert an Entgeltpunkten, der sich aus der Gesamtleistung an Beiträgen im belegungsfähigen Zeitraum ergibt. Dabei erhalten sie den höheren Durchschnittswert aus der Grundbewertung aus allen Beiträgen o

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 57 Berücksichtigungszeiten


Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. Dies gilt fü

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 72 Grundbewertung


(1) Bei der Grundbewertung werden für jeden Kalendermonat Entgeltpunkte in der Höhe zugrunde gelegt, die sich ergibt, wenn die Summe der Entgeltpunkte für Beitragszeiten und Berücksichtigungszeiten durch die Anzahl der belegungsfähigen Monate geteilt

Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) - SGB 6 | § 177 Beitragszahlung für Kindererziehungszeiten


(1) Die Beiträge für Kindererziehungszeiten werden vom Bund gezahlt. (2) Der Bund zahlt zur pauschalen Abgeltung für die Beitragszahlung für Kindererziehungszeiten an die allgemeine Rentenversicherung für das Jahr 2000 einen Betrag in Höhe von 22

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Bundessozialgericht Urteil, 16. Juni 2016 - B 13 R 15/14 R zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

Bundessozialgericht Urteil, 16. Juni 2016 - B 13 R 15/14 R zitiert 5 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundessozialgericht Urteil, 05. Aug. 2015 - B 4 AS 46/14 R

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Tenor Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 17. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

Bundesverfassungsgericht Beschluss, 24. März 2015 - 1 BvR 2880/11

bei uns veröffentlicht am 24.03.2015

Gründe A. 1 Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mi

Bundessozialgericht Urteil, 02. Apr. 2014 - B 3 KS 4/13 R

bei uns veröffentlicht am 02.04.2014

Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Juni 2013 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 10. Dez. 2013 - B 13 R 9/13 R

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Tenor Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.

Bundessozialgericht Urteil, 17. Okt. 2012 - B 6 KA 49/11 R

bei uns veröffentlicht am 17.10.2012

Tenor Die Revision der Beigeladenen zu 1. gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Referenzen

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

(1) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1964 geboren sind, haben Anspruch auf Regelaltersrente, wenn sie

1.
die Regelaltersgrenze erreicht und
2.
die allgemeine Wartezeit erfüllt
haben. Die Regelaltersgrenze wird frühestens mit Vollendung des 65. Lebensjahres erreicht.

(2) Versicherte, die vor dem 1. Januar 1947 geboren sind, erreichen die Regelaltersgrenze mit Vollendung des 65. Lebensjahres. Für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1946 geboren sind, wird die Regelaltersgrenze wie folgt angehoben:

Versicherte
Geburtsjahr
Anhebung
um Monate
auf Alter
JahrMonat
19471651
19482652
19493653
19504654
19515655
19526656
19537657
19548658
19559659
1956106510
1957116511
195812660
195914662
196016664
196118666
196220668
1963226610.

Für Versicherte, die
1.
vor dem 1. Januar 1955 geboren sind und vor dem 1. Januar 2007 Altersteilzeitarbeit im Sinne der §§ 2 und 3 Abs. 1 Nr. 1 des Altersteilzeitgesetzes vereinbart haben oder
2.
Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen haben,
wird die Regelaltersgrenze nicht angehoben.

(1) Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Als Beitragszeiten gelten auch Zeiten, für die Entgeltpunkte gutgeschrieben worden sind, weil gleichzeitig Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder Zeiten der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes für mehrere Kinder vorliegen.

(2) Soweit ein Anspruch auf Rente eine bestimmte Anzahl an Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit voraussetzt, zählen hierzu auch

1.
freiwillige Beiträge, die als Pflichtbeiträge gelten, oder
2.
Pflichtbeiträge, für die aus den in § 3 oder § 4 genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten, oder
3.
Beiträge für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat.

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn

1.
die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte,
2.
der Rentenartfaktor und
3.
der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.

(1) Die persönlichen Entgeltpunkte für die Ermittlung des Monatsbetrags der Rente ergeben sich, indem die Summe aller Entgeltpunkte für

1.
Beitragszeiten,
2.
beitragsfreie Zeiten,
3.
Zuschläge für beitragsgeminderte Zeiten,
4.
Zuschläge oder Abschläge aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich oder Rentensplitting,
5.
Zuschläge aus Zahlung von Beiträgen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters oder bei Abfindungen von Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung oder von Anrechten bei der Versorgungsausgleichskasse,
6.
Zuschläge an Entgeltpunkten für Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung,
7.
Arbeitsentgelt aus nach § 23b Abs. 2 Satz 1 bis 4 des Vierten Buches aufgelösten Wertguthaben,
8.
Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters,
9.
Zuschläge an Entgeltpunkten für Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung,
10.
Zuschläge an Entgeltpunkten für nachversicherte Soldaten auf Zeit und
11.
Zuschläge an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung
mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt und bei Witwenrenten und Witwerrenten sowie bei Waisenrenten um einen Zuschlag erhöht wird. Persönliche Entgeltpunkte nach Satz 1 Nummer 11 sind für die Anwendung von § 97a von den übrigen persönlichen Entgeltpunkten getrennt zu ermitteln, indem der Zuschlag an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt wird.

(2) Grundlage für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte sind die Entgeltpunkte

1.
des Versicherten bei einer Rente wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei einer Erziehungsrente,
2.
des verstorbenen Versicherten bei einer Witwenrente, Witwerrente und Halbwaisenrente,
3.
der zwei verstorbenen Versicherten mit den höchsten Renten bei einer Vollwaisenrente.

(3) Bei einer Teilrente (§ 42 Absatz 1) ergeben sich die in Anspruch genommenen Entgeltpunkte aus der Summe aller Entgeltpunkte entsprechend dem Verhältnis der Teilrente zu der Vollrente.

(3a) Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters werden mit Ablauf des Kalendermonats des Erreichens der Regelaltersgrenze und anschließend jährlich zum 1. Juli berücksichtigt. Dabei sind für die jährliche Berücksichtigung zum 1. Juli die für das vergangene Kalenderjahr ermittelten Zuschläge maßgebend.

(4) Bei einer nur teilweise zu leistenden Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ergeben sich die jeweils in Anspruch genommenen Entgeltpunkte aus dem Monatsbetrag der Rente nach Anrechnung des Hinzuverdienstes im Wege einer Rückrechnung unter Berücksichtigung des maßgeblichen aktuellen Rentenwerts, des Rentenartfaktors und des jeweiligen Zugangsfaktors.

(1) Für Beitragszeiten werden Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt (Anlage 1) für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Für das Kalenderjahr des Rentenbeginns und für das davor liegende Kalenderjahr wird als Durchschnittsentgelt der Betrag zugrunde gelegt, der für diese Kalenderjahre vorläufig bestimmt ist.

(1a) Abweichend von Absatz 1 Satz 1 werden Entgeltpunkte für Beitragszeiten aus einer Beschäftigung im Übergangsbereich (§ 20 Absatz 2 des Vierten Buches) ab dem 1. Juli 2019 aus dem Arbeitsentgelt ermittelt.

(2) Kindererziehungszeiten erhalten für jeden Kalendermonat 0,0833 Entgeltpunkte (Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten). Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten sind auch Entgeltpunkte, die für Kindererziehungszeiten mit sonstigen Beitragszeiten ermittelt werden, indem die Entgeltpunkte für sonstige Beitragszeiten um 0,0833 erhöht werden, höchstens um die Entgeltpunkte bis zum Erreichen der jeweiligen Höchstwerte nach Anlage 2b.

(3) Aus der Zahlung von Beiträgen für Arbeitsentgelt aus nach § 23b Abs. 2 Satz 1 bis 4 des Vierten Buches aufgelösten Wertguthaben werden zusätzliche Entgeltpunkte ermittelt, indem dieses Arbeitsentgelt durch das vorläufige Durchschnittsentgelt (Anlage 1) für das Kalenderjahr geteilt wird, dem das Arbeitsentgelt zugeordnet ist. Die so ermittelten Entgeltpunkte gelten als Entgeltpunkte für Zeiten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen nach dem 31. Dezember 1991.

(3a) Sind mindestens 25 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden, werden für nach dem Jahr 1991 liegende Kalendermonate mit Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder mit Zeiten der nicht erwerbsmäßigen Pflege eines pflegebedürftigen Kindes bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Entgeltpunkte zusätzlich ermittelt oder gutgeschrieben. Diese betragen für jeden Kalendermonat

a)
mit Pflichtbeiträgen die Hälfte der hierfür ermittelten Entgeltpunkte, höchstens 0,0278 an zusätzlichen Entgeltpunkten,
b)
in dem für den Versicherten Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder Zeiten der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes für ein Kind mit entsprechenden Zeiten für ein anderes Kind zusammentreffen, 0,0278 an gutgeschriebenen Entgeltpunkten, abzüglich des Wertes der zusätzlichen Entgeltpunkte nach Buchstabe a.
Die Summe der zusätzlich ermittelten und gutgeschriebenen Entgeltpunkte ist zusammen mit den für Beitragszeiten und Kindererziehungszeiten ermittelten Entgeltpunkten auf einen Wert von höchstens 0,0833 Entgeltpunkte begrenzt.

(4) Ist für eine Rente wegen Alters die voraussichtliche beitragspflichtige Einnahme für den verbleibenden Zeitraum bis zum Beginn der Rente wegen Alters vom Rentenversicherungsträger errechnet worden (§ 194 Absatz 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 2), sind für diese Rente Entgeltpunkte daraus wie aus der Beitragsbemessungsgrundlage zu ermitteln. Weicht die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme von der durch den Rentenversicherungsträger errechneten voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme ab, bleibt sie für diese Rente außer Betracht. Bei einer Beschäftigung im Übergangsbereich (§ 20 Absatz 2 des Vierten Buches) ab dem 1. Juli 2019 treten an die Stelle der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme nach Satz 1 das voraussichtliche Arbeitsentgelt und an die Stelle der tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Einnahme nach Satz 2 das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt.

(5) Für Zeiten, für die Beiträge aufgrund der Vorschriften des Vierten Kapitels über die Nachzahlung gezahlt worden sind, werden Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt des Jahres geteilt wird, in dem die Beiträge gezahlt worden sind.

(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.
die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
2.
die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und
3.
der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(2) Eine Erziehungszeit ist dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind erzogen hat. Haben mehrere Elternteile das Kind gemeinsam erzogen, wird die Erziehungszeit einem Elternteil zugeordnet. Haben die Eltern ihr Kind gemeinsam erzogen, können sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist. Die Zuordnung kann auf einen Teil der Erziehungszeit beschränkt werden. Die übereinstimmende Erklärung der Eltern ist mit Wirkung für künftige Kalendermonate abzugeben. Die Zuordnung kann rückwirkend für bis zu zwei Kalendermonate vor Abgabe der Erklärung erfolgen, es sei denn, für einen Elternteil ist unter Berücksichtigung dieser Zeiten eine Leistung bindend festgestellt, ein Versorgungsausgleich oder ein Rentensplitting durchgeführt. Für die Abgabe der Erklärung gilt § 16 des Ersten Buches über die Antragstellung entsprechend. Haben die Eltern eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben, wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der das Kind überwiegend erzogen hat. Liegt eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolgt die Zuordnung zur Mutter, bei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zum Elternteil nach den §§ 1591 oder 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, oder wenn es einen solchen nicht gibt, zu demjenigen Elternteil, der seine Elternstellung zuerst erlangt hat. Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist.

(3) Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.

(4) Elternteile sind von der Anrechnung ausgeschlossen, wenn sie

1.
während der Erziehungszeit oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt haben, die aufgrund
a)
einer zeitlich begrenzten Entsendung in dieses Gebiet (§ 5 Viertes Buch) oder
b)
einer Regelung des zwischen- oder überstaatlichen Rechts oder einer für Bedienstete internationaler Organisationen getroffenen Regelung (§ 6 Viertes Buch)
den Vorschriften über die Versicherungspflicht nicht unterliegt,
2.
während der Erziehungszeit zu den in § 5 Absatz 4 genannten Personen gehören oder
3.
während der Erziehungszeit Anwartschaften auf Versorgung im Alter aufgrund der Erziehung erworben haben, wenn diese nach den für sie geltenden besonderen Versorgungsregelungen systembezogen annähernd gleichwertig berücksichtigt wird wie die Kindererziehung nach diesem Buch; als in diesem Sinne systembezogen annähernd gleichwertig gilt eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen.

(5) Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten. Wird während dieses Zeitraums vom erziehenden Elternteil ein weiteres Kind erzogen, für das ihm eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, wird die Kindererziehungszeit für dieses und jedes weitere Kind um die Anzahl an Kalendermonaten der gleichzeitigen Erziehung verlängert.

(1) Die persönlichen Entgeltpunkte für die Ermittlung des Monatsbetrags der Rente ergeben sich, indem die Summe aller Entgeltpunkte für

1.
Beitragszeiten,
2.
beitragsfreie Zeiten,
3.
Zuschläge für beitragsgeminderte Zeiten,
4.
Zuschläge oder Abschläge aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich oder Rentensplitting,
5.
Zuschläge aus Zahlung von Beiträgen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters oder bei Abfindungen von Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung oder von Anrechten bei der Versorgungsausgleichskasse,
6.
Zuschläge an Entgeltpunkten für Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung,
7.
Arbeitsentgelt aus nach § 23b Abs. 2 Satz 1 bis 4 des Vierten Buches aufgelösten Wertguthaben,
8.
Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters,
9.
Zuschläge an Entgeltpunkten für Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung,
10.
Zuschläge an Entgeltpunkten für nachversicherte Soldaten auf Zeit und
11.
Zuschläge an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung
mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt und bei Witwenrenten und Witwerrenten sowie bei Waisenrenten um einen Zuschlag erhöht wird. Persönliche Entgeltpunkte nach Satz 1 Nummer 11 sind für die Anwendung von § 97a von den übrigen persönlichen Entgeltpunkten getrennt zu ermitteln, indem der Zuschlag an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt wird.

(2) Grundlage für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte sind die Entgeltpunkte

1.
des Versicherten bei einer Rente wegen Alters, wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei einer Erziehungsrente,
2.
des verstorbenen Versicherten bei einer Witwenrente, Witwerrente und Halbwaisenrente,
3.
der zwei verstorbenen Versicherten mit den höchsten Renten bei einer Vollwaisenrente.

(3) Bei einer Teilrente (§ 42 Absatz 1) ergeben sich die in Anspruch genommenen Entgeltpunkte aus der Summe aller Entgeltpunkte entsprechend dem Verhältnis der Teilrente zu der Vollrente.

(3a) Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters werden mit Ablauf des Kalendermonats des Erreichens der Regelaltersgrenze und anschließend jährlich zum 1. Juli berücksichtigt. Dabei sind für die jährliche Berücksichtigung zum 1. Juli die für das vergangene Kalenderjahr ermittelten Zuschläge maßgebend.

(4) Bei einer nur teilweise zu leistenden Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ergeben sich die jeweils in Anspruch genommenen Entgeltpunkte aus dem Monatsbetrag der Rente nach Anrechnung des Hinzuverdienstes im Wege einer Rückrechnung unter Berücksichtigung des maßgeblichen aktuellen Rentenwerts, des Rentenartfaktors und des jeweiligen Zugangsfaktors.

(1) Der Zugangsfaktor richtet sich nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind.

(2) Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren,

1.
bei Renten wegen Alters, die mit Ablauf des Kalendermonats des Erreichens der Regelaltersgrenze oder eines für den Versicherten maßgebenden niedrigeren Rentenalters beginnen, 1,0,
2.
bei Renten wegen Alters, die
a)
vorzeitig in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat um 0,003 niedriger als 1,0 und
b)
nach Erreichen der Regelaltersgrenze trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat um 0,005 höher als 1,0,
3.
bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0,
4.
bei Hinterbliebenenrenten für jeden Kalendermonat,
a)
der sich vom Ablauf des Monats, in dem der Versicherte verstorben ist, bis zum Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres des Versicherten ergibt, um 0,003 niedriger als 1,0 und
b)
für den Versicherte trotz erfüllter Wartezeit eine Rente wegen Alters nach Erreichen der Regelaltersgrenze nicht in Anspruch genommen haben, um 0,005 höher als 1,0.
Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente vor Vollendung des 62. Lebensjahres oder ist bei Hinterbliebenenrenten der Versicherte vor Vollendung des 62. Lebensjahres verstorben, ist die Vollendung des 62. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 62. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme. Dem Beginn und der vorzeitigen oder späteren Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters stehen für die Ermittlung des Zugangsfaktors für Zuschläge an Entgeltpunkten aus Beiträgen nach Beginn einer Rente wegen Alters die Zeitpunkte nach § 66 Absatz 3a Satz 1 gleich, zu denen die Zuschläge berücksichtigt werden.

(3) Für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, bleibt der frühere Zugangsfaktor maßgebend. Dies gilt nicht für die Hälfte der Entgeltpunkte, die Grundlage einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung waren. Der Zugangsfaktor wird für Entgeltpunkte, die Versicherte bei

1.
einer Rente wegen Alters nicht mehr vorzeitig in Anspruch genommen haben, um 0,003 oder
2.
einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder einer Erziehungsrente mit einem Zugangsfaktor kleiner als 1,0 nach Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 62. Lebensjahres bis zum Ende des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres nicht in Anspruch genommen haben, um 0,003,
3.
einer Rente nach Erreichen der Regelaltersgrenze nicht in Anspruch genommen haben, um 0,005
je Kalendermonat erhöht.

(4) Bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Hinterbliebenenrenten, deren Berechnung 40 Jahre mit den in § 51 Abs. 3a und 4 und mit den in § 52 Abs. 2 genannten Zeiten zugrunde liegen, sind die Absätze 2 und 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle der Vollendung des 65. Lebensjahres die Vollendung des 63. Lebensjahres und an die Stelle der Vollendung des 62. Lebensjahres die Vollendung des 60. Lebensjahres tritt.

(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten entsprechend für die Ermittlung des Zugangsfaktors für die nach § 66 Absatz 1 Satz 2 gesondert zu bestimmenden persönlichen Entgeltpunkte aus dem Zuschlag an Entgeltpunkten für langjährige Versicherung.

Der Monatsbetrag der Rente ergibt sich, wenn

1.
die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte,
2.
der Rentenartfaktor und
3.
der aktuelle Rentenwert
mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.

Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. Dies gilt für Zeiten einer mehr als geringfügig ausgeübten selbständigen Tätigkeit nur, soweit diese Zeiten auch Pflichtbeitragszeiten sind.

(1) Für Beitragszeiten werden Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt (Anlage 1) für dasselbe Kalenderjahr geteilt wird. Für das Kalenderjahr des Rentenbeginns und für das davor liegende Kalenderjahr wird als Durchschnittsentgelt der Betrag zugrunde gelegt, der für diese Kalenderjahre vorläufig bestimmt ist.

(1a) Abweichend von Absatz 1 Satz 1 werden Entgeltpunkte für Beitragszeiten aus einer Beschäftigung im Übergangsbereich (§ 20 Absatz 2 des Vierten Buches) ab dem 1. Juli 2019 aus dem Arbeitsentgelt ermittelt.

(2) Kindererziehungszeiten erhalten für jeden Kalendermonat 0,0833 Entgeltpunkte (Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten). Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten sind auch Entgeltpunkte, die für Kindererziehungszeiten mit sonstigen Beitragszeiten ermittelt werden, indem die Entgeltpunkte für sonstige Beitragszeiten um 0,0833 erhöht werden, höchstens um die Entgeltpunkte bis zum Erreichen der jeweiligen Höchstwerte nach Anlage 2b.

(3) Aus der Zahlung von Beiträgen für Arbeitsentgelt aus nach § 23b Abs. 2 Satz 1 bis 4 des Vierten Buches aufgelösten Wertguthaben werden zusätzliche Entgeltpunkte ermittelt, indem dieses Arbeitsentgelt durch das vorläufige Durchschnittsentgelt (Anlage 1) für das Kalenderjahr geteilt wird, dem das Arbeitsentgelt zugeordnet ist. Die so ermittelten Entgeltpunkte gelten als Entgeltpunkte für Zeiten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen nach dem 31. Dezember 1991.

(3a) Sind mindestens 25 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden, werden für nach dem Jahr 1991 liegende Kalendermonate mit Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder mit Zeiten der nicht erwerbsmäßigen Pflege eines pflegebedürftigen Kindes bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Entgeltpunkte zusätzlich ermittelt oder gutgeschrieben. Diese betragen für jeden Kalendermonat

a)
mit Pflichtbeiträgen die Hälfte der hierfür ermittelten Entgeltpunkte, höchstens 0,0278 an zusätzlichen Entgeltpunkten,
b)
in dem für den Versicherten Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder Zeiten der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes für ein Kind mit entsprechenden Zeiten für ein anderes Kind zusammentreffen, 0,0278 an gutgeschriebenen Entgeltpunkten, abzüglich des Wertes der zusätzlichen Entgeltpunkte nach Buchstabe a.
Die Summe der zusätzlich ermittelten und gutgeschriebenen Entgeltpunkte ist zusammen mit den für Beitragszeiten und Kindererziehungszeiten ermittelten Entgeltpunkten auf einen Wert von höchstens 0,0833 Entgeltpunkte begrenzt.

(4) Ist für eine Rente wegen Alters die voraussichtliche beitragspflichtige Einnahme für den verbleibenden Zeitraum bis zum Beginn der Rente wegen Alters vom Rentenversicherungsträger errechnet worden (§ 194 Absatz 1 Satz 6, Abs. 2 Satz 2), sind für diese Rente Entgeltpunkte daraus wie aus der Beitragsbemessungsgrundlage zu ermitteln. Weicht die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme von der durch den Rentenversicherungsträger errechneten voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme ab, bleibt sie für diese Rente außer Betracht. Bei einer Beschäftigung im Übergangsbereich (§ 20 Absatz 2 des Vierten Buches) ab dem 1. Juli 2019 treten an die Stelle der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme nach Satz 1 das voraussichtliche Arbeitsentgelt und an die Stelle der tatsächlich erzielten beitragspflichtigen Einnahme nach Satz 2 das tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt.

(5) Für Zeiten, für die Beiträge aufgrund der Vorschriften des Vierten Kapitels über die Nachzahlung gezahlt worden sind, werden Entgeltpunkte ermittelt, indem die Beitragsbemessungsgrundlage durch das Durchschnittsentgelt des Jahres geteilt wird, in dem die Beiträge gezahlt worden sind.

(1) Beitragsfreie Zeiten erhalten den Durchschnittswert an Entgeltpunkten, der sich aus der Gesamtleistung an Beiträgen im belegungsfähigen Zeitraum ergibt. Dabei erhalten sie den höheren Durchschnittswert aus der Grundbewertung aus allen Beiträgen oder der Vergleichsbewertung aus ausschließlich vollwertigen Beiträgen.

(2) Für beitragsgeminderte Zeiten ist die Summe der Entgeltpunkte um einen Zuschlag so zu erhöhen, dass mindestens der Wert erreicht wird, den diese Zeiten jeweils als beitragsfreie Anrechnungszeiten wegen Krankheit und Arbeitslosigkeit, wegen einer schulischen Ausbildung und als Zeiten wegen einer beruflichen Ausbildung oder als sonstige beitragsfreie Zeiten hätten. Diese zusätzlichen Entgeltpunkte werden den jeweiligen Kalendermonaten mit beitragsgeminderten Zeiten zu gleichen Teilen zugeordnet.

(3) Für die Gesamtleistungsbewertung werden jedem Kalendermonat

1.
an Berücksichtigungszeit die Entgeltpunkte zugeordnet, die sich ergeben würden, wenn diese Kalendermonate Kindererziehungszeiten wären,
2.
mit Zeiten einer beruflichen Ausbildung mindestens 0,0833 Entgeltpunkte zugrunde gelegt und diese Kalendermonate insoweit nicht als beitragsgeminderte Zeiten berücksichtigt.
Bei der Anwendung von Satz 1 Nr. 2 gelten die ersten 36 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen für Zeiten einer versicherten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres stets als Zeiten einer beruflichen Ausbildung. Eine Zuordnung an Entgeltpunkten für Kalendermonate mit Berücksichtigungszeiten unterbleibt in dem Umfang, in dem bereits nach § 70 Abs. 3a Entgeltpunkte zusätzlich ermittelt oder gutgeschrieben worden sind. Satz 1 Nr. 2 gilt nicht für Kalendermonate mit Zeiten der beruflichen Ausbildung, für die bereits Entgeltpunkte nach Satz 1 Nr. 1 zugeordnet werden.

(4) Soweit beitragsfreie Zeiten mit Zeiten zusammentreffen, die bei einer Versorgung aus einem

1.
öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis oder
2.
Arbeitsverhältnis mit Anspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen
ruhegehaltfähig sind oder bei Eintritt des Versorgungsfalls als ruhegehaltfähig anerkannt werden, bleiben sie bei der Gesamtleistungsbewertung unberücksichtigt.

(1) Bei der Grundbewertung werden für jeden Kalendermonat Entgeltpunkte in der Höhe zugrunde gelegt, die sich ergibt, wenn die Summe der Entgeltpunkte für Beitragszeiten und Berücksichtigungszeiten durch die Anzahl der belegungsfähigen Monate geteilt wird.

(2) Der belegungsfähige Gesamtzeitraum umfasst die Zeit vom vollendeten 17. Lebensjahr bis zum

1.
Kalendermonat vor Beginn der zu berechnenden Rente bei einer Rente wegen Alters, bei einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, auf die erst nach Erfüllung einer Wartezeit von 20 Jahren ein Anspruch besteht, oder bei einer Erziehungsrente,
2.
Eintritt der maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
3.
Tod des Versicherten bei einer Hinterbliebenenrente.
Der belegungsfähige Gesamtzeitraum verlängert sich um Kalendermonate mit rentenrechtlichen Zeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres.

(3) Nicht belegungsfähig sind Kalendermonate mit

1.
beitragsfreien Zeiten, die nicht auch Berücksichtigungszeiten sind, und
2.
Zeiten, in denen eine Rente aus eigener Versicherung bezogen worden ist, die nicht auch Beitragszeiten oder Berücksichtigungszeiten sind.

(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.
die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
2.
die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und
3.
der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(2) Eine Erziehungszeit ist dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind erzogen hat. Haben mehrere Elternteile das Kind gemeinsam erzogen, wird die Erziehungszeit einem Elternteil zugeordnet. Haben die Eltern ihr Kind gemeinsam erzogen, können sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist. Die Zuordnung kann auf einen Teil der Erziehungszeit beschränkt werden. Die übereinstimmende Erklärung der Eltern ist mit Wirkung für künftige Kalendermonate abzugeben. Die Zuordnung kann rückwirkend für bis zu zwei Kalendermonate vor Abgabe der Erklärung erfolgen, es sei denn, für einen Elternteil ist unter Berücksichtigung dieser Zeiten eine Leistung bindend festgestellt, ein Versorgungsausgleich oder ein Rentensplitting durchgeführt. Für die Abgabe der Erklärung gilt § 16 des Ersten Buches über die Antragstellung entsprechend. Haben die Eltern eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben, wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der das Kind überwiegend erzogen hat. Liegt eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolgt die Zuordnung zur Mutter, bei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zum Elternteil nach den §§ 1591 oder 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, oder wenn es einen solchen nicht gibt, zu demjenigen Elternteil, der seine Elternstellung zuerst erlangt hat. Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist.

(3) Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.

(4) Elternteile sind von der Anrechnung ausgeschlossen, wenn sie

1.
während der Erziehungszeit oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt haben, die aufgrund
a)
einer zeitlich begrenzten Entsendung in dieses Gebiet (§ 5 Viertes Buch) oder
b)
einer Regelung des zwischen- oder überstaatlichen Rechts oder einer für Bedienstete internationaler Organisationen getroffenen Regelung (§ 6 Viertes Buch)
den Vorschriften über die Versicherungspflicht nicht unterliegt,
2.
während der Erziehungszeit zu den in § 5 Absatz 4 genannten Personen gehören oder
3.
während der Erziehungszeit Anwartschaften auf Versorgung im Alter aufgrund der Erziehung erworben haben, wenn diese nach den für sie geltenden besonderen Versorgungsregelungen systembezogen annähernd gleichwertig berücksichtigt wird wie die Kindererziehung nach diesem Buch; als in diesem Sinne systembezogen annähernd gleichwertig gilt eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen.

(5) Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten. Wird während dieses Zeitraums vom erziehenden Elternteil ein weiteres Kind erzogen, für das ihm eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, wird die Kindererziehungszeit für dieses und jedes weitere Kind um die Anzahl an Kalendermonaten der gleichzeitigen Erziehung verlängert.

Die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendetem zehnten Lebensjahr ist bei einem Elternteil eine Berücksichtigungszeit, soweit die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Kindererziehungszeit auch in dieser Zeit vorliegen. Dies gilt für Zeiten einer mehr als geringfügig ausgeübten selbständigen Tätigkeit nur, soweit diese Zeiten auch Pflichtbeitragszeiten sind.

(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.
die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
2.
die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und
3.
der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(2) Eine Erziehungszeit ist dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind erzogen hat. Haben mehrere Elternteile das Kind gemeinsam erzogen, wird die Erziehungszeit einem Elternteil zugeordnet. Haben die Eltern ihr Kind gemeinsam erzogen, können sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist. Die Zuordnung kann auf einen Teil der Erziehungszeit beschränkt werden. Die übereinstimmende Erklärung der Eltern ist mit Wirkung für künftige Kalendermonate abzugeben. Die Zuordnung kann rückwirkend für bis zu zwei Kalendermonate vor Abgabe der Erklärung erfolgen, es sei denn, für einen Elternteil ist unter Berücksichtigung dieser Zeiten eine Leistung bindend festgestellt, ein Versorgungsausgleich oder ein Rentensplitting durchgeführt. Für die Abgabe der Erklärung gilt § 16 des Ersten Buches über die Antragstellung entsprechend. Haben die Eltern eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben, wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der das Kind überwiegend erzogen hat. Liegt eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolgt die Zuordnung zur Mutter, bei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zum Elternteil nach den §§ 1591 oder 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, oder wenn es einen solchen nicht gibt, zu demjenigen Elternteil, der seine Elternstellung zuerst erlangt hat. Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist.

(3) Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.

(4) Elternteile sind von der Anrechnung ausgeschlossen, wenn sie

1.
während der Erziehungszeit oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt haben, die aufgrund
a)
einer zeitlich begrenzten Entsendung in dieses Gebiet (§ 5 Viertes Buch) oder
b)
einer Regelung des zwischen- oder überstaatlichen Rechts oder einer für Bedienstete internationaler Organisationen getroffenen Regelung (§ 6 Viertes Buch)
den Vorschriften über die Versicherungspflicht nicht unterliegt,
2.
während der Erziehungszeit zu den in § 5 Absatz 4 genannten Personen gehören oder
3.
während der Erziehungszeit Anwartschaften auf Versorgung im Alter aufgrund der Erziehung erworben haben, wenn diese nach den für sie geltenden besonderen Versorgungsregelungen systembezogen annähernd gleichwertig berücksichtigt wird wie die Kindererziehung nach diesem Buch; als in diesem Sinne systembezogen annähernd gleichwertig gilt eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen.

(5) Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten. Wird während dieses Zeitraums vom erziehenden Elternteil ein weiteres Kind erzogen, für das ihm eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, wird die Kindererziehungszeit für dieses und jedes weitere Kind um die Anzahl an Kalendermonaten der gleichzeitigen Erziehung verlängert.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

(1) Kindererziehungszeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Für einen Elternteil (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 2 und 3 Erstes Buch) wird eine Kindererziehungszeit angerechnet, wenn

1.
die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist,
2.
die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und
3.
der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist.

(2) Eine Erziehungszeit ist dem Elternteil zuzuordnen, der sein Kind erzogen hat. Haben mehrere Elternteile das Kind gemeinsam erzogen, wird die Erziehungszeit einem Elternteil zugeordnet. Haben die Eltern ihr Kind gemeinsam erzogen, können sie durch eine übereinstimmende Erklärung bestimmen, welchem Elternteil sie zuzuordnen ist. Die Zuordnung kann auf einen Teil der Erziehungszeit beschränkt werden. Die übereinstimmende Erklärung der Eltern ist mit Wirkung für künftige Kalendermonate abzugeben. Die Zuordnung kann rückwirkend für bis zu zwei Kalendermonate vor Abgabe der Erklärung erfolgen, es sei denn, für einen Elternteil ist unter Berücksichtigung dieser Zeiten eine Leistung bindend festgestellt, ein Versorgungsausgleich oder ein Rentensplitting durchgeführt. Für die Abgabe der Erklärung gilt § 16 des Ersten Buches über die Antragstellung entsprechend. Haben die Eltern eine übereinstimmende Erklärung nicht abgegeben, wird die Erziehungszeit dem Elternteil zugeordnet, der das Kind überwiegend erzogen hat. Liegt eine überwiegende Erziehung durch einen Elternteil nicht vor, erfolgt die Zuordnung zur Mutter, bei gleichgeschlechtlichen Elternteilen zum Elternteil nach den §§ 1591 oder 1592 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, oder wenn es einen solchen nicht gibt, zu demjenigen Elternteil, der seine Elternstellung zuerst erlangt hat. Ist eine Zuordnung nach den Sätzen 8 und 9 nicht möglich, werden die Erziehungszeiten zu gleichen Teilen im kalendermonatlichen Wechsel zwischen den Elternteilen aufgeteilt, wobei der erste Kalendermonat dem älteren Elternteil zuzuordnen ist.

(3) Eine Erziehung ist im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland steht gleich, wenn der erziehende Elternteil sich mit seinem Kind im Ausland gewöhnlich aufgehalten hat und während der Erziehung oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes wegen einer dort ausgeübten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten hat. Dies gilt bei einem gemeinsamen Aufenthalt von Ehegatten oder Lebenspartnern im Ausland auch, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner des erziehenden Elternteils solche Pflichtbeitragszeiten hat oder nur deshalb nicht hat, weil er zu den in § 5 Abs. 1 und 4 genannten Personen gehörte oder von der Versicherungspflicht befreit war.

(4) Elternteile sind von der Anrechnung ausgeschlossen, wenn sie

1.
während der Erziehungszeit oder unmittelbar vor der Geburt des Kindes eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeübt haben, die aufgrund
a)
einer zeitlich begrenzten Entsendung in dieses Gebiet (§ 5 Viertes Buch) oder
b)
einer Regelung des zwischen- oder überstaatlichen Rechts oder einer für Bedienstete internationaler Organisationen getroffenen Regelung (§ 6 Viertes Buch)
den Vorschriften über die Versicherungspflicht nicht unterliegt,
2.
während der Erziehungszeit zu den in § 5 Absatz 4 genannten Personen gehören oder
3.
während der Erziehungszeit Anwartschaften auf Versorgung im Alter aufgrund der Erziehung erworben haben, wenn diese nach den für sie geltenden besonderen Versorgungsregelungen systembezogen annähernd gleichwertig berücksichtigt wird wie die Kindererziehung nach diesem Buch; als in diesem Sinne systembezogen annähernd gleichwertig gilt eine Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder entsprechenden kirchenrechtlichen Regelungen.

(5) Die Kindererziehungszeit beginnt nach Ablauf des Monats der Geburt und endet nach 36 Kalendermonaten. Wird während dieses Zeitraums vom erziehenden Elternteil ein weiteres Kind erzogen, für das ihm eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, wird die Kindererziehungszeit für dieses und jedes weitere Kind um die Anzahl an Kalendermonaten der gleichzeitigen Erziehung verlängert.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 17. Juli 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Im Streit steht die Erbringung von Einstiegsgeld bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für den Zeitraum vom 16.10.2009 bis 24.2.2010.

2

Der Kläger und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebende Familie bezogen laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Am 16.10.2009 beantragte er die Bewilligung von Einstiegsgeld nach § 16b SGB II. Am selben Tag nahm er eine Erwerbstätigkeit bei der Firma "Regionaler Versandservice - der Eilbote" auf, für die ein Grundgehalt von 405 Euro auf Basis einer Arbeitszeit von 60 Stunden im Monat vereinbart war. Durch Bescheid vom 9.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.2.2010 lehnte der Beklagte die Erbringung der beantragten Eingliederungsleistung ab. Er führte zur Begründung aus, dass der vom Kläger erzielte Stundenlohn mit 6,75 Euro ortsüblich sei. Die Gewährung von Einstiegsgeld an den Kläger hätte damit zur Folge, dass das Lohnabstandsgebot nicht gewahrt bleibe. Die Erbringung der Leistung würde zu einer Besserstellung des Klägers gegenüber nicht geförderten Arbeitnehmern führen.

3

Das SG hat die Klage hiergegen durch Urteil vom 15.3.2011 mit der Begründung abgewiesen, dass die vom Kläger verrichtete Tätigkeit keinerlei berechtigte Chance zur Überwindung seiner Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II biete. Es sei nicht erkennbar, dass dem Kläger perspektivisch in Aussicht gestellt worden sei, die wöchentliche Arbeitszeit von 15 Stunden aufstocken zu können. Mit dem erzielten Bruttolohn könne er die Hilfebedürftigkeit jedoch nicht überwinden. Dies gelte umso mehr, als hiervon die Kosten für den Einsatz seines privaten Pkw in Abzug zu bringen seien. Ebenso wenig gebe es Anhaltspunkte dafür, dass der Bruttolohn in absehbarer Zeit habe erhöht werden sollen. Im Berufungsverfahren ist der Kläger ebenfalls erfolglos geblieben. Das LSG hat die Bewilligung von Einstiegsgeld nicht als erforderlich angesehen. Vor dem Hintergrund der programmatischen Kernaussagen des Grundsicherungsrechts in den §§ 1, 3 SGB II sei Erforderlichkeit nur dann gegeben, wenn die Eingliederungsleistung der Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit diene. Dazu müsse der Eingliederungserfolg mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden können. Dies sei vorliegend nicht der Fall (Urteil vom 17.7.2014).

4

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der vom BSG zugelassenen Revision. Nach seiner Auffassung ist das Einstiegsgeld zu gewähren, wenn es die Aufnahme oder Fortführung einer Beschäftigung unterstütze. Insoweit komme es nicht auf das Lohnabstandsgebot an. Auch sei nicht entscheidend, ob die Überwindung von Hilfebedürftigkeit im Sinne des Ausscheidens aus dem Leistungsbezug durch die Erwerbstätigkeit erreicht werde. Es genüge eine Verringerung dieser.

5

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Thüringer Landessozialgerichts vom 17. Juli 2014 und des Sozialgerichts Meiningen vom 15. März 2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. November 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm einen neuen Bescheid über die Erbringung von Einstiegsgeld für den Zeitraum vom 16. Oktober 2009 bis 24. Februar 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.

6

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Er hält die Ausführungen im Urteil des LSG für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist unbegründet.

9

Der Beklagte hat die Erbringung von Einstiegsgeld iS des § 16b Abs 1 S 1 SGB II(idF des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008, BGBl I 2917 mWv 1.1.2009) an den Kläger zu Recht abgelehnt. Dahinstehen kann dabei, ob der Kläger rechtzeitig einen Antrag auf diese Eingliederungsleistung gestellt hat und leistungsberechtigt im Sinne der Vorschrift war. Denn die von ihm aufgenommene sozialversicherungspflichtige Beschäftigung diente prognostisch nicht zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit. Es kam daher entgegen der Auffassung des LSG auch nicht mehr darauf an, ob die Erbringung des Einstiegsgeldes prognostisch zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich war.

10

1. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung zulässig; der Beschwerdewert von 750 Euro (§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG)war auch unter Berücksichtigung des nur vier Monate bestehenden Beschäftigungsverhältnisses - wie das LSG zutreffend ausgeführt hat - überschritten.

11

Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die Bewilligung von Einstiegsgeld nur noch für die Zeitdauer, in der das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Firma "Regionaler Versandservice - der Eilbote" bestand (16.10.2009 bis 24.2.2010), die der Beklagte bereits vor deren Beendigung dem Grunde nach durch Bescheid vom 9.11.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.2.2010 abgelehnt hatte. Der Kläger macht sein Begehren hier zutreffend mit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage iS des § 54 Abs 1 S 1 Alt 1 iVm Abs 2 S 2 SGG geltend. Sie ist auf die Aufhebung der ablehnenden Bescheide des Beklagten und die Neubescheidung im Sinne der Erbringung von Einstiegsgeld - unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts - in einer von dem Beklagten noch zu bemessenden Höhe gerichtet.

12

2. Für eine derartige Neubescheidungsverpflichtung des Beklagten mangelt es hier jedoch bereits an einem Anspruch des Klägers auf die Erbringung des Einstiegsgeldes dem Grunde nach. Nach § 16b Abs 1 S 1 SGB II kann erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die arbeitslos sind, zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit, bei Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit ein Einstiegsgeld erbracht werden, wenn dies zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist. Die von dem Kläger aufgenommene Erwerbstätigkeit bei der Firma "Regionaler Versandservice - der Eilbote" diente bereits nicht der Überwindung seiner Hilfebedürftigkeit.

13

a) Angesichts dessen kann es hier dahinstehen, ob der Kläger rechtzeitig einen Antrag auf Einstiegsgeld gestellt hat und er leistungsberechtigt iS des § 16b Abs 1 S 1 SGB II, also erwerbsfähig, hilfebedürftig und arbeitslos war bzw die Feststellungen des LSG zur Beurteilung dessen durch den erkennenden Senat hinreichend sind. Der Senat brauchte daher weder zu entscheiden, ob abgesehen von dem unzweifelhaften Erfordernis eines eigenständigen Antrags auf Einstiegsgeld (allgemein zur selbstständigen Beantragung von Eingliederungsleistungen BSG vom 2.4.2014 - B 4 AS 29/13 R - BSGE 115, 225 = SozR 4-4200 § 37 Nr 6, RdNr 27; siehe auch Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 37 RdNr 35; zum Einstiegsgeld vgl Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 133, Stand November 2014; aA Leopold in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 104), dieser Antrag auch noch einer zeitlichen Befristung unterliegt, entsprechend derjenigen wie sie von der Rechtsprechung zu den Eingliederungszuschüssen nach dem SGB III entwickelt worden ist (siehe zur Rechtsprechung des BSG zu den Eingliederungszuschüssen nach §§ 217 ff SGB III idF des AFRG vom 24.3.1997, BGBl I 594: BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 20/05 R - SozR 4-4300 § 324 Nr 2 RdNr 13; BSG vom 6.5.2008 - B 7/7a AL 16/07 R - SozR 4-4300 § 217 Nr 2 RdNr 12; vgl für das Einstiegsgeld Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 133, Stand November 2014), also ob er bis zur Aufnahme der Erwerbstätigkeit gestellt worden sein muss.

14

Noch bedarf es tragender Ausführungen dazu, ob das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit aufgrund der Beachtung der Regelung des § 44a Abs 1 S 3 SGB II idF des Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze vom 2.12.2006 (BGBl I 2742 mWv 1.8.2006 - heute § 44a Abs 1 S 7 SGB II)auch im Falle der Beantragung von Eingliederungsleistungen - soweit kein Feststellungsverfahren eingeleitet worden ist - bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen ist (vgl für den Fall der Beantragung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 19; siehe auch BSG vom 2.4.2014 - B 4 AS 26/13 R - BSGE 115, 210 = SozR 4-4200 § 15 Nr 3, RdNr 49). Der Wortlaut der Regelung sieht keine Beschränkung auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vor, sondern bezieht sich allgemein auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl hierzu Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 44a RdNr 70; Knapp in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl 2015, § 44a RdNr 76).

15

Ferner kann unbeantwortet bleiben, wie der Begriff der Arbeitslosigkeit iS des § 16b Abs 1 S 1 SGB II zu verstehen ist. Er wird in § 16b SGB II nicht näher umschrieben und aus der Begründung zum Gesetzentwurf der Vorgängerregelung des § 29 SGB II(gültig bis zum 31.12.2008) lassen sich keine Hinweise dazu entnehmen, was hierunter im Rahmen des § 16b Abs 1 S 1 SGB II zu verstehen sein soll(vgl BT-Drucks 15/1516 S 59). Teilweise wird in der Literatur insoweit zwar darauf hingewiesen, dass § 53a Abs 1 SGB II(hier idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des SGB III und anderer Gesetze vom 8.4.2008, BGBl I 681) eine Legaldefinition dieses Begriffs enthalte (so wohl Breitkreuz in Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl 2011, § 16b RdNr 3; Thie in Münder, LPK-SGB II, 5. Aufl 2013, § 16b RdNr 8). Eine Übertragung derer auf die Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals in § 16b Abs 1 S 1 SGB II wird jedoch weitgehend abgelehnt(zur Bedeutung insoweit vgl Harich in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 53a RdNr 2). Auch bestehen Zweifel an der Übertragbarkeit des Begriffsverständnisses von "Arbeitslosigkeit" aus dem Regelungsbereich des SGB III. Die diesen Zentralbegriff im Arbeitsförderungsrecht nach § 119 SGB III(in der hier noch anzuwendenden Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003, BGBl I 2848) bzw heute § 138 SGB III prägenden Merkmale der Beschäftigungslosigkeit, Verfügbarkeit und Erreichbarkeit sowie der Eigenbemühungen fügen sich nur schwer in das System des SGB II ein. Allenfalls könnten sie unter Berücksichtigung der Unterschiede zum SGB II mit Modifizierungen zur Auslegung herangezogen werden (so letztlich auch Breitkreuz in Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl 2011, § 16b RdNr 3; Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 43, Stand April 2014; Leopold in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 43; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 54, Stand November 2014; siehe auch B. Schmidt in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 4, der § 53a SGB II sinngemäß anwendet; vgl auch BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 7/13 R - SozR 4-4200 § 16 Nr 14 RdNr 14). Allerdings waren nach Auffassung des Senats Modifizierungen in einem Umfang erforderlich, die die Konturen des arbeitsförderungsrechtlichen Begriffs weitestgehend verwischen würden.

16

Die Sozialversicherungspflichtigkeit der vom Kläger aufgenommenen Erwerbstätigkeit hat das LSG für den Senat bindend festgestellt (§ 163 SGG).

17

b) Soweit das LSG unter Bezugnahme auf die erstinstanzliche Entscheidung des SG die berechtigte Chance und Hoffnung verneint hat, der Kläger werde die Hilfebedürftigkeit mit der aufgenommenen Tätigkeit auf Dauer überwinden, bleibt zwar offen, welchen Maßstab es dieser Beurteilung zugrunde gelegt hat. Im Ergebnis ist es allerdings nicht zu beanstanden, die Verpflichtung des Beklagten zur Erbringung von Einstiegsgeld aus diesem Grund zu verneinen.

18

Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der "Überwindung der Hilfebedürftigkeit" und der "Erforderlichkeit des Einstiegsgeldes zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt" nach dem Aufbau der Vorschrift des § 16b SGB II nicht erst im Rahmen des Entschließungsermessens vom Beklagten zu berücksichtigen sind. Raum für eine Ermessensentscheidung ist erst auf der Rechtsfolgeseite, wenn die zuvor benannten Voraussetzungen bejaht worden sind (Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 53, Stand April 2014; Leopold in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl, 2015, § 16b RdNr 55; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 73, Stand November 2014; aA B. Schmidt in Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 8; Thie in Münder LPK-SGB II, 5. Aufl 2013, § 16b RdNr 11). Es handelt sich insoweit um unbestimmte Rechtsbegriffe (siehe die Rechtsprechung des BSG zu § 217 SGB III aF: BSG vom 3.4.2008 - B 11b AS 15/07 B - juris RdNr 3), bei deren Ausfüllung nicht nur die in der Person des Leistungsberechtigten liegenden Umstände zu berücksichtigen sind, sondern auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Sie unterliegen jedoch der vollen gerichtlichen Kontrolle (vgl Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 53, Stand April 2014; Leopold in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 55; aA Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 73, Stand November 2014). Der Beklagte hat die Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die Aufnahme der sozialversicherungspflichtigen oder tragfähigen selbstständigen Erwerbstätigkeit und deren Förderung durch das Einstiegsgeld unter Berücksichtigung der Erforderlichkeit zur Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt prognostisch zu beurteilen (vgl auch Stölting in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 16b RdNr 20). Ein Beurteilungsspielraum, der von den Gerichten nur darauf überprüft werden kann, ob der Verwaltungsentscheidung ein zutreffend und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, die durch Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs abstrakt ermittelten Grenzen eingehalten und beachtet worden sind sowie die Verwaltung ihre Subsumtionsgedanken in einer Art und Weise zum Ausdruck gebracht und begründet hat, dass die Berücksichtigung der Beurteilungsmaßstäbe ersichtlich und nachvollziehbar ist (vgl nur BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 20/05 R - SozR 4-4300 § 324 Nr 2 RdNr 22 zu Eingliederungszuschüssen nach §§ 217 ff SGB III und mwN), ist dem Beklagten gleichwohl nicht eingeräumt (aA Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 53, Stand November 2014). Die Prognose umfasst zwar auch die Lage des regionalen Arbeitsmarktes zum Zeitpunkt der Entscheidung. Sie wird auf diese Weise durch die gegenwärtige und zukünftige Arbeitsmarktsituation mitbestimmt. Ebenso wie bei den Eingliederungszuschüssen der §§ 217 ff SGB III aF ist die Förderung durch das Einstiegsgeld jedoch nicht von einer arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit abhängig, sondern lediglich von arbeitsmarkt- und berufskundlichen Kenntnissen(so Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 73, Stand November 2014). Die darauf aufbauende prognostische Einzelbeurteilung der tatsächlichen Feststellungen ist im gerichtlichen Verfahren jedoch mit gleicher Sicherheit einer Überprüfung zugänglich wie im Verwaltungsverfahren. Weder rechtliche noch faktische Anhaltspunkte, die eine Ausnahme von der nach Art 19 Abs 4 GG prinzipiell gewährleisteten vollständigen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen rechtfertigen, sind hier gegeben (vgl BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 20/05 R - SozR 4-4300 § 324 Nr 2 RdNr 22).

19

Bezugspunkt für die Prognose ist die letzte Verwaltungsentscheidung - hier der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 8.2.2010. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob, wie vorliegend, der Erfolg bereits deswegen nicht eintreten konnte, weil die Erwerbstätigkeit später wieder beendet wurde. Maßgeblich ist vielmehr nach einer ex-ante-Betrachtung, ob der Erfolg im Sinne der Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die sozialversicherungspflichtige oder selbstständige Erwerbstätigkeit wahrscheinlich eintreten wird und das Einstiegsgeld für eine Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt prognostisch wahrscheinlich erforderlich ist (vgl Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 54 f, Stand April 2014; Stölting in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 16b RdNr 20; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 73, Stand November 2014). Die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen knüpft dabei an zwei unterschiedliche Ausgangspunkte an; zum einen an die aufgenommene Erwerbstätigkeit und deren Dienlichkeit zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit. Zum zweiten ist Ansatzpunkt der Hilfebedürftige selbst, wenn es zu beurteilen gilt, ob die Gewährung von Einstiegsgeld für seine Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist.

20

Offen bleibt nach den Ausführungen des LSG zwar, wie es den Begriff der Überwindung der Hilfebedürftigkeit auslegt. Es hat lediglich befunden, dass die aufgenommene sozialversicherungspflichtige Tätigkeit keine berechtigte Chance und Hoffnung begründe, die Hilfebedürftigkeit auf Dauer zu beenden. In der Literatur wird insoweit zu einem großen Teil das prognostische Ausscheiden aus dem Leistungsbezug für erforderlich gehalten (Breitkreuz in Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl 2011, § 16b RdNr 5; Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 54, Stand April 2014; Leopold in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB II, 4. Aufl 2015, § 16b RdNr 55; Stölting in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 16b RdNr 20). Soweit der Leistungsberechtigte jedoch in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, würde die Forderung nach der Eignung der Erwerbstätigkeit zum Ausscheiden aus dem Leistungsbezug dazu führen, dass durch das prognostisch erzielbare Einkommen der Bedarf der gesamten Bedarfsgemeinschaft gedeckt sein müsste. Denn nach § 9 Abs 2 S 3 SGB II gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig, wenn in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt ist. Dies bedeutet, dass sich der Hilfebedarf im SGB II grundsätzlich nach dem Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft bestimmt. Dies führte jedoch im Rahmen des § 16b Abs 1 S 1 SGB II zu einer Benachteiligung der Leistungsberechtigten, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Denn bei ihnen wäre eine günstige Prognose iS des § 16b Abs 1 S 1 SGB II davon abhängig, dass es ihnen gelingen müsste, ein höheres Einkommen zu erzielen als ein alleinstehender Hilfebedürftiger, der voraussichtlich durch die Erwerbstätigkeit "nur" in die Lage versetzt werden müsste, seinen Regelbedarf und die Unterkunftsaufwendungen zu decken. Für Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft würden Erwerbstätigkeiten im Niedriglohnbereich damit selten förderungsfähig sein, es sei denn, es wäre prognostizierbar, dass sich hieraus eine Erwerbstätigkeit mit einer Entlohnung entwickeln könnte, die diesen Bereich deutlich verlässt. Zwar spricht diese Ausgangslage dafür, das Merkmal der Überwindung der Hilfebedürftigkeit im Rahmen des § 16b Abs 1 S 1 SGB II darauf zu reduzieren, dass nur der Hilfebedarf des Leistungsberechtigten selbst prognostisch gedeckt werden können muss(so auch Harich in BeckOK SGB II, § 16b RdNr 10, Stand Juni 2015). Andererseits würde dies eine Abweichung vom systematischen Verständnis der Hilfebedürftigkeit iS des § 9 SGB II nach sich ziehen. Ob im Rahmen des § 16b Abs 1 S 1 SGB II nun auf die prognostische Überwindung des Hilfebedarfs desjenigen abzustellen sein soll, der das Einstiegsgeld begehrt oder den Hilfebedarf der gesamten Bedarfsgemeinschaft, erschließt sich auch nicht aus der Begründung zum Gesetzentwurf. Es finden sich weder zu der Vorgängervorschrift des § 29 SGB II(BT-Drucks 15/1516 S 59), noch zu § 16b SGB II(BT-Drucks 16/10810 S 47) Hinweise dazu, von welchem Verständnis des Begriffs der Überwindung der Hilfebedürftigkeit im Gesetzgebungsprozess ausgegangen worden ist. Die systematische Gesamtbetrachtung des § 16b SGB II zeigt, dass der Gesetzgeber zumindest bei der Bemessung der Leistung die Situation der Bedarfsgemeinschaft einbeziehen wollte. Auch geht die Funktion des Einstiegsgeldes - anders als der Kläger vorbringt - deutlich über die der bloßen Verringerung des Hilfebedarfs iS von § 2 Abs 1 S 1 SGB II durch die Erzielung von Erwerbseinkommen hinaus. Das Einstiegsgeld soll vielmehr für den Hilfebedürftigen mit der Aufnahme der Erwerbstätigkeit eine spürbare Verbesserung seiner finanziellen Situation herbeiführen, um damit zu bewirken, dass er die aufgenommene Erwerbstätigkeit ausbaut (siehe Hannes in Gagel, SGB II/SGB III, § 16b RdNr 10, Stand April 2014; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 33, Stand November 2014). Eine abschließende Bewertung kann hier jedoch dahinstehen, denn der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG durch die aufgenommene sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit bereits seinen eigenen Hilfebedarf prognostisch nicht überwinden.

21

Zutreffend ist das LSG insoweit - unter Bezugnahme auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe - davon ausgegangen, zwischen der Aufnahme der Erwerbstätigkeit und der Überwindung der Hilfebedürftigkeit nach § 16b Abs 1 S 1 SGB II müsse ein Kausalzusammenhang bestehen. Dabei muss im Prognosezeitpunkt durch die aufgenommene Tätigkeit die Hilfebedürftigkeit nicht bereits überwunden sein. Dies folgt bereits aus S 2 des § 16b Abs 1 SGB II. Danach kann das Einstiegsgeld auch erbracht werden, wenn die Hilfebedürftigkeit durch oder nach Aufnahme der Erwerbstätigkeit entfällt. Soll das Einstiegsgeld insbesondere einen Anreiz zur Aufrechterhaltung und dem Ausbau der sozialversicherungspflichtigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit bei deren Aufnahme setzen, kann das Einstiegsgeld weder in dem einen noch in dem anderen Fall unter Hinweis darauf, dass die Hilfebedürftigkeit aktuell überwunden oder nicht überwunden werde, versagt werden. Auch besagen weder die Höhe des vereinbarten Entgelts noch ggf eine Befristung für sich alleine, dass durch die Tätigkeit Hilfebedürftigkeit nicht prognostisch überwunden werden kann. Abzustellen ist vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglichen und tatsächlichen Ausgestaltung der aufgenommenen Erwerbstätigkeit und wollte man auf den Hilfebedarf der gesamten Bedarfsgemeinschaft abstellen, wohl auch deren Situation. Es ist zu bewerten, ob es eine Grundlage dafür gibt, dass sich aus dieser noch nicht oder bereits bedarfsdeckenden Tätigkeit eine solche entwickeln kann, die geeignet ist, den Hilfebedarf längerfristig zu überwinden. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann es auch erforderlich sein zu prüfen, ob die Tätigkeit abstrakt von ihrer Art her geeignet sein kann, den Hilfebedarf zu decken. Die Arbeitsagentur oder die Optionskommune haben dann vor dem Hintergrund ihrer arbeitsmarkt- und berufskundlichen Kenntnisse insoweit die Verhältnisse auf dem regionalen Arbeitsmarkt in den Blick zu nehmen und ggf festzustellen, ob die ausgeübte Tätigkeit außerhalb der Förderung durch Eingliederungsleistungen von Arbeitnehmern in einem nennenswerten Umfang als bedarfsdeckende Haupteinnahmequelle dient.

22

Im vorliegenden Fall war bereits aufgrund der konkreten Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses zu erkennen, dass es nicht geeignet war und perspektivisch nicht werden würde, die Hilfebedürftigkeit des Klägers zu überwinden. Wie das SG - dessen Begründung sich das LSG zu eigen macht - zutreffend ausgeführt hat, waren insoweit die Arbeitszeit, die Höhe des Entgelts und die Umstände der Ausübung der Tätigkeit in Betracht zu ziehen. Das vom Kläger erzielte Entgelt von 405 Euro monatlich war nicht bedarfsdeckend. Das LSG hat für den Senat bindend festgestellt (§ 163 SGG), dass auch keine Anzeichen für eine perspektivische Aufstockung des Entgelts oder der geringen Arbeitszeit von 60 Stunden monatlich vorhanden waren. Ebenso war keine Änderung der Bedingung, dass das eigene Kfz für das Austragen der Pakete und Briefe vom Kläger einzusetzen war, in Aussicht gestellt. Da er nicht einmal die Aufwendungen hierfür erstattet bekommen hat, ist die Schlussfolgerung des LSG nicht zu beanstanden, dass mit dem damit noch niedrigeren Entgelt, also unter Abzug der Kosten durch den Einsatz des eigenen Kfz, keine reelle Entlohnung übrig geblieben sei. Aus diesen Feststellungen kann zwanglos auf das Fehlen des Kausalzusammenhangs zwischen der Aufnahme der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit und der "Überwindung der Hilfebedürftigkeit" geschlossen werden. Die aufgenommene Erwerbstätigkeit war prognostisch schon nicht geeignet, den Hilfebedarf des Klägers zu überwinden.

23

Damit bedarf es der Prüfung, ob die Erbringung von Einstiegsgeld zur Eingliederung des Klägers in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich war, im konkreten Fall nicht mehr. Die Überwindung der Hilfebedürftigkeit und die Erforderlichkeit des Einstiegsgeldes für die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt sind zwei getrennt voneinander zu prüfende Tatbestandsvoraussetzungen, die aufeinander aufbauen. Sie sind nicht zu einem Merkmal zusammenzuziehen und müssen beide erfüllt sein. Bei Letzterem geht es, wenn die prognostische Eignung der aufgenommenen Erwerbstätigkeit zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit festgestellt worden ist, darum, ob die Eingliederung des Hilfsbedürftigen in den allgemeinen Arbeitsmarkt nur durch die Erbringung des Einstiegsgeldes - als ultima ratio - bei der Aufnahme der sozialversicherungspflichtigen oder selbstständigen Erwerbstätigkeit erforderlich ist (vgl Stölting in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 16b RdNr 22; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16b RdNr 80, Stand November 2014). Es ist mithin danach zu fragen, ob beim Hilfebedürftigen Eingliederungshemmnisse gegeben sind, die eine Förderung durch das Einstiegsgeld erforderlich machen, um ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt prognostisch auf Dauer eingliedern zu können. Prüfungsgegenstand ist mithin - anders als das LSG ausgeführt hat - nicht, ob der Eingliederungserfolg - im Sinne der Überwindung der Hilfebedürftigkeit - mit hinreichender Sicherheit vorausgesagt werden könne.

24

Soweit der Beklagte darauf verweist, dass der Kläger eine ortsübliche Entlohnung für die aufgenommene Erwerbstätigkeit erhalten habe, kann hiermit allein keine Versagung des Einstiegsgeldes begründet werden. Die ortsübliche Entlohnung besagt weder etwas über die Perspektive der Überwindung der Hilfebedürftigkeit, noch die Erforderlichkeit der Erbringung von Einstiegsgeld für die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Insofern mag zwar die ortsübliche Entlohnung Indiz dafür sein, dass eine Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt auch ohne die Erbringung des Einstiegsgeldes oder sonstiger Eingliederungsleistungen gelingt oder bereits keine Eingliederungshemmnisse vorliegen, die mit dem Einstiegsgeld überwunden werden müssten. Dass dies auch im Einzelfall anzunehmen ist, bedarf dann jedoch einer näheren Begründung.

25

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Juni 2013 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte die Versicherungsfreiheit der Klägerin nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ab 1.4.2007 festgestellt hat.

2

Die 1959 geborene Klägerin ist seit 1986 als Malerin, Zeichnerin und Graphikerin selbstständig tätig und nach dem KSVG versichert. Aus ihren Einkommensteuerbescheiden ergaben sich für das Jahr 2002 Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit in Höhe von 1713 Euro und für die Jahre 2003 bis 2005 lediglich negative Einkünfte (für 2003 -5485 Euro, für 2004 -6464 Euro und für 2005 -3635 Euro). Im Dezember 2006 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie beabsichtige, den Bescheid vom 23.5.1986 über die Versicherungspflicht bzw Zuschussberechtigung nach dem KSVG aufzuheben und Versicherungsfreiheit nach § 3 KSVG festzustellen, da Tatsachen, die eine Steigerung des Einkommens bis über die sozialversicherungsrechtliche Geringfügigkeitsgrenze erwarten lassen könnten, nach den Werten der Vorjahre nicht ersichtlich seien.

3

Darauf teilte die Klägerin mit Schreiben vom 24.12.2006 mit, die geringen Einnahmen in den Jahren 2004/2005 seien durch die mit einem Atelierumzug verbundenen Kosten und die Neupositionierung in anderem Umfeld verursacht. 2006 habe sich ihre Einkommenslage verbessert. Sie sei als qualifizierte und professionelle Künstlerin bekannt und habe 2005 mit erheblichem Aufwand eine Produzentengalerie aufgebaut, die ihr gleichzeitig als Schauraum diene. Mit Schreiben vom 30.1.2007 gab die Beklagte der Klägerin Gelegenheit, ihre aktuelle Einkommenssituation durch die Vorlage aller Einnahmebelege (Rechnungen und Kontoauszüge) aus dem Jahr 2006 darzustellen. Nachdem keine weiteren Unterlagen eingegangen waren, stellte die Beklagte Versicherungsfreiheit nach dem KSVG ab 1.4.2007 fest (Bescheid vom 20.3.2007). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos, nachdem sie ua eine ebenfalls mit negativen Einkünften (-2498,74 Euro) abschließende Gewinnermittlung für das Jahr 2006 vorgelegt hatte (Widerspruchsbescheid vom 18.7.2007).

4

In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat die Klägerin Rechnungen aus dem ersten Halbjahr 2007 über insgesamt 3600 Euro sowie das Unternehmenskonzept einer Diplombetriebswirtin vorgelegt, wonach die Einnahmen im ersten Halbjahr 2007 bei 5100 Euro liegen sollten und für das zweite Halbjahr Einnahmen in Höhe 6000 Euro prognostiziert wurden. Abzüglich der zu erwartenden Ausgaben über 6600 Euro ergebe sich für 2007 ein Betriebsergebnis in Höhe von 4500 Euro - mit steigender Tendenz für die Jahre 2008 und 2009. Die späteren Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2007 und 2008 bestätigten jeweils Einkommen oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze (5074 und 8429 Euro). Für das Jahr 2009 weist der Einkommensteuerbescheid allerdings wieder einen Verlust (-5565 Euro) aus.

5

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des SG vom 22.9.2010 und des LSG vom 19.6.2013): Es sei nicht zu beanstanden, dass die Beklagte als Grundlage ihrer Einkommensprognose für die Zeit ab 1.4.2007 ausschließlich die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2002 bis 2005 herangezogen habe, da die Klägerin die Gelegenheit zur Vorlage weiterer Einkommensbelege aus dem Jahr 2006 nicht wahrgenommen habe. Die im Juli 2007 vorgelegten Rechnungsbelege für das erste Halbjahr 2007 führten - bezogen auf das gesamte Jahr 2007 - lediglich zu einem geschätzten Gewinn von 3000 Euro und könnten zudem frühestens ab 1.8.2007 berücksichtigt werden. Die erst im Klageverfahren vorgelegten weiteren Unterlagen ließen ebenfalls keine positive Prognose zu und könnten zudem nicht Grundlage einer Einkommensschätzung für das Kalenderjahr 2007 sein. Die Gründe für den Einkommensrückgang seien nach dem Gesetz unbeachtlich. Die Versicherungsfreiheit bestehe bis heute fort.

6

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine fehlerhafte Anwendung der verfahrensrechtlichen Grundsätze, die bei einer Schätzung des voraussichtlichen Arbeitseinkommens aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit zu berücksichtigen seien (§§ 3, 8, 12, 13 KSVG). Insbesondere habe das LSG bei der Überprüfung der Prognoseentscheidung die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und unberücksichtigt gelassen, dass alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides bekannten und ermittelbaren Umstände der Schätzung zugrunde zu legen seien. Die Einkommensprognose sei in vollem Umfang in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen. Schließlich habe das Berufungsgericht der Feststellung der Versicherungsfreiheit rechtsfehlerhaft eine Dauerwirkung zugemessen.

7

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.6.2013 und des SG Berlin vom 22.9.2010 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 20.3.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2007 aufzuheben.

8

Die Beklagte hält die Urteile für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision ist unbegründet.

10

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) zulässig. Die Beklagte hat mit der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach dem KSVG ab 1.4.2007 (Bescheid vom 20.3.2007, Widerspruchsbescheid vom 18.7.2007) ihren Bescheid vom 23.5.1986 aufgehoben, mit dem sie die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG in der Renten- und Krankenversicherung festgestellt hatte. Die Klägerin kann daher ihr Anliegen der Sicherung einer ununterbrochenen Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung (KSV) durch eine schlichte Aufhebung des angefochtenen Bescheides erreichen. Einer zusätzlichen Feststellung der Versicherungspflicht über den 31.3.2007 hinaus bedarf es dafür nicht.

11

2. Der Gegenstand der Anfechtungsklage ist auf die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung der Versicherungsfreiheit ab 1.4.2007 sowie die darin gleichzeitig liegende Aufhebung des Verwaltungsaktes über die Feststellung der Versicherungspflicht (Bescheid vom 23.5.1986) beschränkt. Entscheidend dafür ist grundsätzlich nur die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes zum Zeitpunkt seines Erlasses (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 54 RdNr 33 mwN). Denn ein Verwaltungsakt, der Versicherungsfreiheit feststellt, hat keine Dauerwirkung. Anders als bei der Feststellung der Versicherungspflicht nach §§ 1 und 8 KSVG wird bei der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach § 3 KSVG gerade kein fortdauerndes Rechtsverhältnis mit Leistungs- und Beitragspflichten festgestellt. Vergleichbar einer ablehnenden Entscheidung über einen Leistungsantrag entfaltet eine negative Feststellung über ein Versicherungsverhältnis über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus grundsätzlich keine rechtliche Wirkung (vgl hierzu Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 45 RdNr 63 ff mwN). Daher ist die Frage, wie lange eine rechtmäßig festgestellte Versicherungsfreiheit fortbesteht, entgegen der Auffassung des LSG, nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Klägerin kann jederzeit einen neuen Antrag auf Feststellung der Versicherungspflicht stellen, über den zunächst durch Verwaltungsakt und möglicherweise anschließendem Widerspruchs- und Klageverfahren als eigenständiger Streitgegenstand zu entscheiden ist. Ein solcher Antrag kann unter Umständen auch konkludent, zB durch die Vorlage neuer Einkommensbelege gestellt werden. Die Prüfung, ob die Klägerin zwischenzeitlich einen neuen Antrag auf Pflichtmitgliedschaft in der KSV gestellt hat, gehört daher nicht zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, sondern ist Aufgabe der Beklagten. Sollte dies der Fall und der Antrag auch begründet sein, hätte die Beklagte zugleich zu prüfen, ob die Versicherungspflicht nach dem KSVG mit dem Umzug der Klägerin ins Ausland wieder entfallen sein könnte. Gegebenenfalls wäre der Bescheid über die erneute Feststellung der Versicherungspflicht entsprechend zu befristen.

12

3. Die Klage musste auf der Grundlage der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG (§ 163 SGG) erfolglos bleiben, weil die Beklagte ihre im Jahre 1986 getroffene Feststellung der Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG in der Renten- und Krankenversicherung nach § 8 Abs 2 S 2 KSVG(idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze <2. KSVG-ÄndG> vom 13.6.2001, BGBl I 1027) iVm § 48 Abs 1 S 1 SGB X(idF der Bekanntmachung der Neufassung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.1.2001, BGBl I 130) wegen Änderung der Verhältnisse rechtmäßig aufgehoben hat.

13

Nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Infolge der Eigenart der künstlerischen und publizistischen Tätigkeit findet § 48 SGB X nach § 8 Abs 2 KSVG nur eine modifizierte Anwendung, denn nur in den in § 8 Abs 2 S 1 KSVG aufgeführten Fällen lässt sich genau feststellen, wann eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. In den übrigen Fällen (§ 8 Abs 2 S 2 KSVG) ist daher der Bescheid über die Versicherungspflicht bei Änderung der Verhältnisse nur mit Wirkung vom Ersten des Monats an aufzuheben, der auf den Monat folgt, in dem die Künstlersozialkasse (KSK) von der Änderung Kenntnis erhält, es sei denn, der Versicherte hat vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht (vgl dazu Finke/Brachmann/Nordhausen, KSVG, 4. Aufl 2009, § 8 RdNr 8). Soweit mit der Aufhebung in Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird, ist diesem nach § 24 Abs 1 SGB X Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

14

a) Der angefochtene Verwaltungsakt ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die Klägerin mit Schreiben vom 12.12.2006 zu der beabsichtigten Aufhebung des Bescheides über die Versicherungspflicht bzw Zuschussberechtigung nach dem KSVG und der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach § 24 Abs 1 SGB X ordnungsgemäß angehört.

15

b) Der Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG festgestellt hatte(im Bescheid vom 23.5.1986), entfaltet eine Dauerwirkung, da er ein zeitlich nicht befristetes Rechtsverhältnis mit Leistungs- und Beitragspflichten begründet, das sich nicht in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft (vgl dazu Schütze, aaO, § 45 RdNr 63 ff).

16

c) In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses feststellenden Verwaltungsaktes vorgelegen haben, ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich die für den Erlass des Verwaltungsaktes entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände so erheblich verändert haben, dass sie rechtlich anders zu bewerten sind und daher der Verwaltungsakt unter Zugrundelegung des geänderten Sachverhalts so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (vgl zB BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 74, 131 = SozR 3-5870 § 2 Nr 25; BSGE 80, 215 = SozR 3-2940 § 7 Nr 4; BSGE 81, 134 = SozR 3-4100 § 142 Nr 2; BSG SozR 1300 § 48 Nr 22, 44).

17

Bei Erlass des Verwaltungsaktes zur Feststellung der Versicherungspflicht im Mai 1986 galt die Klägerin zunächst noch als Berufsanfängerin, für die nach § 3 Abs 2 KSVG(in der bis zum 31.12.1988 gültigen Fassung durch Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung - Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz - AFKG - vom 22.12.1981, BGBl I 1497) Versicherungspflicht bis zum Ablauf von fünf Jahren nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit unabhängig vom Erreichen eines Mindesteinkommens bestand.

18

Entscheidungserheblich sind nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X nur die bei Erlass des Ausgangsbescheides vorliegenden Umstände. Lediglich diese bilden die Vergleichsgrundlage für den Eintritt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die zum Erlass des Aufhebungsbescheides geführt hat (vgl Waschull in: Diering/Timme/Waschull, SGB X, Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl 2011, § 48 RdNr 27 ff, mwN). Deshalb kommt es nicht darauf an, dass der Fünf-Jahres-Zeitraum bereits seit langer Zeit abgelaufen war und die Beklagte möglicherweise schon viel früher einen Aufhebungsbescheid mit der Feststellung der Versicherungsfreiheit hätte erlassen können.

19

Der Ausgangsbescheid mit der Feststellung der Versicherungspflicht war nach § 39 Abs 2 SGB X bis zum 31.3.2007 wirksam, da er bis dahin nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich aber die entscheidungserheblichen Umstände wesentlich geändert; denn ein die Versicherungspflicht feststellender Verwaltungsakt hätte jedenfalls ab 1.4.2007 nicht mehr erlassen werden dürfen, weil die Klägerin zu dieser Zeit nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG(idF 2. KSVG-ÄndG vom 13.6.2001, BGBl I 1027) versicherungsfrei war.

20

aa) Gemäß § 3 Abs 1 S 1 KSVG ist nach diesem Gesetz versicherungsfrei, wer in dem Kalenderjahr aus selbstständiger künstlerischer und publizistischer Tätigkeit voraussichtlich ein Arbeitseinkommen erzielt, das 3900 Euro nicht übersteigt. Abweichend davon bleibt nach § 3 Abs 3 KSVG(idF des 2. KSVG-ÄndG) die Versicherungspflicht bestehen, solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die dort genannte Grenze nicht übersteigt.

21

Arbeitseinkommen ist nach der Legaldefinition in § 15 Abs 1 SGB IV(in der insoweit bis heute unveränderten Neufassung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch durch Bekanntmachung vom 23.1.2006, BGBl I 86) der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbstständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist. Aufgrund der Anknüpfung des maßgeblichen Arbeitseinkommens an das Einkommensteuerrecht könnte es für den Künstler überlegenswert sein, gegenüber dem Finanzamt in Wahrnehmung seiner steuerrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten Werbungskosten nur in begrenztem Umfang geltend zu machen, wenn dadurch ein Arbeitseinkommen oberhalb der Mindestarbeitseinkommensgrenze des § 3 Abs 1 S 1 KSVG verbleibt. Die Abwägung, aus diesem Grund einen steuerrechtlichen Nachteil in Kauf nehmen zu wollen, ist Sache des Künstlers. Insoweit obliegen weder der Beklagten noch den Sozialgerichten Hinweis- oder Beratungspflichten; denn es handelt sich um eine ausschließlich steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeit. Weitergehende sozialversicherungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen nicht; die anzustellende Prognose hat sich ausschließlich an den objektiven Gegebenheiten zu orientieren.

22

Versicherte und Zuschussberechtigte haben nach § 12 Abs 1 S 1 KSVG(idF durch Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 9.12.2004, BGBl I 3242) der KSK bis zum 1. Dezember eines Jahres das voraussichtliche Arbeitseinkommen, das sie aus der Tätigkeit als selbstständige Künstler und Publizisten erzielen, bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung für das folgende Kalenderjahr zu melden. Nach Satz 2 dieser Vorschrift schätzt die KSK die Höhe des Arbeitseinkommens, wenn der Versicherte trotz Aufforderung die Meldung nach Satz 1 nicht erstattet oder die Meldung mit den Verhältnissen unvereinbar ist, die dem Versicherten als Grundlage für seine Meldung bekannt waren.

23

Ausgangspunkt der nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG anzustellenden Prognose für das voraussichtlich zu erzielende Arbeitseinkommen sind danach zunächst die Angaben des Versicherten nach § 12 Abs 1 S 1 KSVG. Erst wenn seine Meldung mit den ihr zugrundeliegenden Verhältnissen unvereinbar ist, nimmt die KSK selbst die für die weiteren Entscheidungen maßgebliche Einschätzung des voraussichtlichen Arbeitseinkommens vor.

24

bb) Sachgerechte Prognosen beruhen in der Regel auf erhobenen Daten und Fakten und damit auf Erkenntnissen der Vergangenheit, auf deren Basis unter Berücksichtigung zu erwartender Veränderungen eine Vorausschau für die Zukunft getroffen wird. Daher wird nach der Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG SozR 4-2600 § 5 Nr 6 mwN) in anderen Zusammenhängen, in denen prognostische Beurteilungen über Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen anzustellen sind, auf die Verhältnisse in der Vergangenheit Bezug genommen. Insbesondere bei schwankendem Arbeitsentgelt sei der zu erwartende Verdienst unter Heranziehung der in den Vorjahren erzielten Einkünfte zu schätzen (BSG SozR Nr 6 zu § 168 RVO; BSGE 23, 129 = SozR Nr 49 zu § 165 RVO). Entsprechendes gilt bei selbstständig Tätigen, deren Arbeitseinkommen fast immer schwankt (BSGE 23, 129 = SozR Nr 49 zu § 165 RVO; BSG SozR 2200 § 205 Nr 41). Dabei wird nach ständiger Rechtsprechung zur Beurteilung des regelmäßigen monatlichen Gesamteinkommens iS des § 205 Abs 1 S 1 Halbs 1 RVO sowie iS des § 10 Abs 1 S 1 Nr 5 SGB V für die auf das Jahr bezogene Prognose von dem bekannten letzten Jahreseinkommen ausgegangen(vgl BSG SozR 2200 § 205 Nr 41; SozR 3-2500 § 10 Nr 19; SozR 4-2600 § 5 Nr 6; für Einkünfte aus Kapitalvermögen: BSG SozR 2200 § 205 Nr 52).

25

Der Gesetzgeber ist auch in Bezug auf die Einkommensprognose nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG davon ausgegangen, dass Rückschlüsse für das voraussichtliche Einkommen insbesondere aus dem in der Vergangenheit erzielten Einkommen zu ziehen sind. Dies ergibt sich aus verschiedenen Bestimmungen des Gesetzes: Nach der Regelung des § 3 Abs 3 KSVG bleibt die Versicherungspflicht bestehen, solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die Mindestarbeitseinkommensgrenze nach § 3 Abs 1 KSVG nicht übersteigt. Die Regelung soll einen allzu häufigen und kurzzeitigen Wechsel zwischen Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit vermeiden. Sie bietet aber zugleich Anhaltspunkte dafür, dass das in der Vergangenheit erzielte Einkommen für die Einkommensprognose nicht unberücksichtigt bleiben kann. Insbesondere wenn sich das Arbeitseinkommen aus der selbstständigen künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit in den letzten Jahren dicht an der Mindestgrenze des § 3 Abs 1 KSVG bewegte, kann es für eine sachgerechte Prognose erforderlich sein, das Einkommen der letzten sechs Kalenderjahre zu ermitteln und bei der Prognose zu berücksichtigen. Durch die recht langen Zeiträume wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Künstler möglicherweise längere Zeiträume für die Fertigstellung und/oder den Verkauf eines Werkes benötigen, dann aber unter Umständen höhere Gewinne erzielen können. Für den Nachweis der Angaben zur Höhe des Arbeitseinkommens kann die KSK die Vorlage der erforderlichen Unterlagen, insbesondere von Einkommensteuerbescheiden oder Gewinn- und Verlustrechnungen, verlangen (§ 13 S 3 KSVG). Diese Unterlagen beziehen sich regelmäßig auf bereits vergangene Zeiträume. Es macht aber nur dann einen Sinn, der KSK das Recht zur Anforderung von Unterlagen aus der Vergangenheit einzuräumen, wenn sie diese für die Einkommensprognose benötigt, die auch zur Ermittlung der Beitragshöhe erforderlich ist. Schließlich zeigt auch die Regelung des § 12 Abs 1 S 3 KSVG, dass sich die Einkommensprognose insbesondere am Einkommen der letzten Jahre orientiert. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte, deren voraussichtliches Arbeitseinkommen in dem in § 3 Abs 2 KSVG genannten Zeitraum (regelmäßig drei Jahre nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit, verlängert um Zeiten nach Satz 2) mindestens einmal die in § 3 Abs 1 KSVG genannte Grenze nicht überschritten hat, der ersten Meldung nach Ablauf dieses Zeitraums vorhandene Unterlagen über ihr voraussichtliches Arbeitseinkommen beizufügen.

26

Insgesamt haben für eine vorausschauende Betrachtung regelmäßig die unmittelbar zurückliegenden Jahre eine größere Bedeutung als die weiter zurückliegende Vergangenheit, und Einkommensentwicklungen ist angemessen Rechnung zu tragen.

27

cc) Eine von den Verhältnissen der Vergangenheit abweichende Einschätzung ist aber geboten, wenn Verhältnisse dargelegt werden, die das Erzielen hiervon abweichender Einkünfte nahelegen. Dabei sind grundsätzlich alle Verhältnisse heranzuziehen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und die Einfluss auf das voraussichtliche Arbeitseinkommen haben. Hierbei wird von der Rechtsprechung in anderen Zusammenhängen keine alle Eventualitäten berücksichtigende genaue Vorhersage gefordert, sondern lediglich eine ungefähre Einschätzung, welches Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen nach der bisherigen Übung mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist (vgl BSG SozR 4-2600 § 5 Nr 6 mwN). Lediglich vage Verdienstaussichten ohne jegliche Verbindlichkeit können - wenn sich in den vergangenen Jahren keine gewinnbringenden Verdienste realisieren ließen - nur dann bei einer Prognose positiv berücksichtigt werden, wenn objektive Umstände solche Verdienstaussichten hinreichend wahrscheinlich machen. Dabei ist zu berücksichtigen, wie häufig und mit welcher Differenz die Mindestgrenze in den letzten Jahren verfehlt wurde und welche Veränderungen der Verhältnisse bessere Verdienstaussichten nahelegen. Denn erforderlich ist, dass die Möglichkeit von Verdiensten oberhalb der Mindestgrenze näher liegt als ein Einkommen unterhalb dieser Grenze.

28

dd) Maßgebend sind die Verhältnisse zur Zeit der Prognoseentscheidung. Nach § 12 Abs 3 S 1 KSVG sind Änderungen in den Verhältnissen, die für die Ermittlung des voraussichtlichen Jahreseinkommens maßgebend waren, auf Antrag mit Wirkung vom Ersten des Monats an zu berücksichtigen, der auf den Monat folgt, in dem der Antrag bei der KSK eingeht. Dies gilt entsprechend, wenn das Jahresarbeitseinkommen geschätzt worden ist (§ 12 Abs 3 S 2 KSVG). Neue Unterlagen, die eine treffsicherere Prognose erlauben oder zeigen, dass das prognostizierte Einkommen tatsächlich nicht erzielt wurde, können daher nur zukunftsbezogen berücksichtigt werden.

29

Für - richtige - Prognosen gilt ohnehin grundsätzlich, dass sie für die Vergangenheit auch dann maßgebend bleiben, wenn sie sich im Nachhinein infolge nicht vorhersehbarer Umstände als unzutreffend erweisen. Solche Umstände können die versicherungsrechtliche Stellung dann nicht in die Vergangenheit hinein verändern. Stimmt die - richtige - Prognose mit dem späteren Verlauf nicht überein, so kann das jedoch Anlass für eine neue Prüfung und - wiederum vorausschauende - Betrachtung sein (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 168 RVO; SozR 2200 § 1228 Nr 1; SozR 3-2500 § 10 Nr 19; SozR 4-2600 § 5 Nr 6).

30

Grundlage der Prognose können daher nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erkennbare Umstände sein. Maßgebend ist der aufgrund der Angaben des Antragstellers bzw Versicherten verfahrensfehlerfrei ermittelte Kenntnisstand der Verwaltung (vgl BSG SozR 4-7833 § 6 Nr 4 RdNr 16).

31

Allerdings ist die Prognoseentscheidung der Sozialverwaltung bezüglich des voraussichtlichen Arbeitseinkommens gerichtlich voll überprüfbar. Der Sozialverwaltung steht dabei kein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zu (vgl hierzu zB Wagner in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2011, § 39 RdNr 34). Die Gerichte haben insbesondere zu prüfen, ob die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt und alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend und sachgerecht gewürdigt sind (vgl BSGE 112, 90 = SozR 4-2500 § 95 Nr 26; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 162 RdNr 3a).

32

ee) Nach diesen Grundsätzen war die Einschätzung der Klägerin, sie werde im Jahre 2007 ein Arbeitseinkommen von mehr als 3900 Euro erzielen, mit den Verhältnissen unvereinbar, die ihr als Grundlage für ihre Meldung bekannt waren, und die Beklagte durfte deshalb das voraussichtliche Arbeitseinkommen unterhalb des Mindesteinkommens von 3900 Euro einschätzen.

33

(1) Die Versicherungspflicht konnte nicht nach § 3 Abs 3 KSVG bestehen bleiben, weil das Arbeitseinkommen der Klägerin schon in den letzten fünf Kalenderjahren (2002 bis 2006) die Mindesteinkommensgrenze nicht mehr erreicht hatte.

34

(2) Das Arbeitseinkommen der Klägerin aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit verfehlte in den letzten fünf Jahren vor Feststellung der Versicherungsfreiheit die Mindesteinkommensgrenze des § 3 Abs 1 KSVG deutlich, ohne dass eine positive Einkommensentwicklung erkennbar gewesen wäre. Die Klägerin konnte lediglich im Jahr 2002 positive Einkünfte in Höhe von 1713 Euro erzielen; für die Jahre 2003 bis 2005 weisen die Einkommensteuerbescheide durchgängig negatives Arbeitseinkommen aus, und auch aus der Gewinnermittlung für 2006 ergab sich ein negatives Einkommen. Vor diesem Hintergrund waren Ermittlungen für weiter zurückliegende Zeiträume nicht mehr erforderlich. Wegen der deutlichen Verfehlung der Mindestgrenze konnten weiter zurückliegende Zeiträume für die Prognose außer Betracht bleiben, da den unmittelbar zurückliegenden fünf Jahren für die vorausschauende Betrachtung eine größere Bedeutung zukommen als der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Umstände, nach denen bei dieser Sachlage Einkommensmöglichkeiten ab 1.4.2007 oberhalb der Mindestgrenze näher lagen als ein Einkommen unterhalb dieser Grenze, waren zur Zeit der Verwaltungsentscheidung nicht ersichtlich.

35

(3) Bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens hat die Klägerin von (nur) einem Atelierumzug 2004/2005 berichtet und auf die damit verbundenen Kosten sowie die Neupositionierung auf dem Markt hingewiesen. Besondere Kosten in den Jahren 2004/2005, bei deren Wegfall das Erreichen oder Überschreiten der Mindesteinkommensgrenze nahe läge, lassen sich den Einkommensteuerbescheiden nicht entnehmen, denn die Klägerin hat in den Jahren 2003 und 2006 Verluste in ähnlicher Höhe erzielt wie 2004/2005.

36

(4) Die Klägerin hat auch nicht nachvollziehbar dargelegt, aus welchen Gründen die mit dem Atelierumzug verbundene Neupositionierung ab 1.4.2007 ein Arbeitseinkommen oberhalb der Mindestgrenze nahe legen könnte. Es kann offenbleiben, ob das im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vorgelegte Unternehmenskonzept einer Diplombetriebswirtin der Beklagten noch vor Erlass des Widerspruchsbescheides zugegangen ist, da selbst unter dessen Berücksichtigung eine Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze nicht gerechtfertigt war. Das Unternehmenskonzept trägt eine solche Prognose nicht, da die dort zugrunde gelegten Einnahmen für das erste Halbjahr 2007 in Höhe von 5100 Euro im Widerspruch zu den für diesen Zeitraum zeitgleich vorgelegten Rechnungen über lediglich 3600 Euro stehen. Denn es ist nicht ersichtlich, worauf - neben Einnahmen aus Verkäufen - eine Einkommenserwartung noch basieren könnte. Werden der Prognose für das erste Halbjahr 2007 lediglich Einnahmen in Höhe der vorgelegten Rechnungen zugrunde gelegt, wird die Mindesteinkommensgrenze im Jahr 2007 nicht erreicht, auch wenn für das zweite Halbjahr die von der Diplombetriebswirtin prognostizierten Zahlen übernommen werden. Denn unter Berücksichtigung der prognostizierten Ausgaben in Höhe von 6600 Euro war im Zeitpunkt der Vorlage der Unterlagen für 2007 lediglich ein Einkommen von etwa 3000 Euro zu erwarten (Einnahmen 1. Halbjahr: 3600 Euro plus Einnahmen 2. Halbjahr: 6000 Euro minus Ausgaben: 6600 Euro). Insoweit sind die Feststellungen des LSG im Revisionsverfahren unangegriffen geblieben und daher bindend. Eine Änderung der Vermarktungs- und Verkaufsstrategie durch einen Atelierumzug und ein neues Vermarktungskonzept führen nicht zu einer Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze, wenn unter Berücksichtigung des dazu erstellten Unternehmenskonzeptes und der nach der Umstellung tatsächlich erzielten Einnahmen Verdienste oberhalb der Mindestgrenze nicht zu erwarten sind.

37

(5) Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KS 2/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen), dass eine Einkommensprognose über der Geringfügigkeitsgrenze nicht allein auf den Bekanntheitsgrad eines Künstlers oder die Anerkennung seiner Werke in Fachkreisen gestützt werden kann, wenn in den letzten Jahren trotz des Bekanntheitsgrades und der fachlichen Anerkennung lediglich Verluste erzielt wurden und eine positive Einkommensentwicklung nicht erkennbar ist. Denn Bekanntheit und Anerkennung durch Andere stellen regelmäßig keine plötzlichen Ereignisse dar, sondern gehen regelmäßig mit einer entsprechenden Entwicklung einher. Das Einkommen der Klägerin aus den letzten Jahren lässt aber keine Entwicklung in der Weise erkennen, dass bei weiterem stetigem Verlauf voraussichtlich ein Einkommen oberhalb der Mindestgrenze zu erwarten wäre.

38

(6) Dass sich die Prognose nicht verwirklicht hat, weil im später erstellten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 tatsächlich Einkünfte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze ausgewiesen sind, ändert am Ergebnis nichts, denn die - richtige - Prognose bleibt für die Vergangenheit maßgebend. Die versicherungsrechtliche Stellung wird dadurch nicht in die Vergangenheit hinein verändert. Die Beklagte wird jedoch - wie bereits ausgeführt - zu prüfen haben, ob und ggf ab wann aufgrund des Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2007 Anlass für eine neue Prüfung und - wiederum vorausschauende - Betrachtung für eine erneute Feststellung der Versicherungspflicht in der KSV bestand.

39

d) Die Aufhebung des Verwaltungsaktes zur Feststellung der Versicherungspflicht mit Wirkung ab 1.4.2007 war rechtmäßig. Der Bescheid vom 23.5.1986 war nach § 48 SGB X iVm § 8 Abs 2 KSVG mit Wirkung vom Ersten des Monats an aufzuheben, der auf den Monat folgt, in dem die KSK von der Änderung Kenntnis erhält; denn ein Fall des § 8 Abs 2 S 1 KSVG liegt nicht vor. Nach der Anhörung der Klägerin musste die Beklagte, als ihre weitere Nachfrage vom 30.1.2007 nach Belegen zur aktuellen Einkommenssituation bis zum Erlass des Aufhebungsbescheides am 20.3.2007 unbeantwortet blieb, davon ausgehen, dass Belege, die eine Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze für das Kalenderjahr 2007 rechtfertigen könnten, nicht beigebracht werden, und hatte damit seit diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Änderung der Verhältnisse.

40

4. Diese Auslegung der §§ 3, 8 und 12 KSVG verletzt die Klägerin nicht in ihren Grundrechten. Von Verfassungs wegen ist insbesondere eine andere Auslegung der Vorschriften über die Versicherungsfreiheit bei mehrfacher Unterschreitung der Geringfügigkeitsgrenze von 3900 Euro nicht geboten. Wie alle Grundrechte begründet auch die nach Art 5 Abs 3 GG geschützte Kunstfreiheit zunächst und vor allem ein Abwehrrecht gegen hoheitliche Eingriffe in den jeweiligen Schutzbereich. Konkrete Pflichten des Staates, Kunst oder Künstler zu fördern, ergeben sich daraus nicht. Zwar enthält das Grundrecht auch eine wertentscheidende Grundsatznorm, weil sich aus ihm die Staatszielbestimmung eines Kulturstaates ergibt, mit der Aufgabe, ein freiheitliches Kunst- und Wissenschaftsleben zu erhalten und zu fördern. Dabei verbleibt dem Gesetzgeber aber insbesondere im Hinblick auf Förderpflichten bzw sozialversicherungsrechtliche Schutzpflichten ein weiter Gestaltungsspielraum. Soweit der Gesetzgeber eine Förderung vornimmt, steht das Verfahren und die Gleichbehandlung der Betroffenen nach Art 3 Abs 1 GG im Vordergrund (vgl hierzu zB BVerfGE 36, 321, 331 ff; Wittreck in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl 2013, Art 5 III (Kunst) RdNr 4, 33, 69 ff mwN; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art 5 RdNr 105 ff, 110a f mwN). Gleiches gilt für die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Künstler. Die Versicherungsfreiheit der Klägerin ist nicht an den Kunstbegriff oder eine bestimmte Form der Kunst geknüpft. § 3 Abs 1 S 1 KSVG bindet die Sozialversicherung nach dem KSVG vielmehr an ein mit der selbstständigen künstlerischen Tätigkeit zu erzielendes Mindesteinkommen. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 9/26, S 18, betreffend das KSVG in der ursprünglichen Fassung vom 27.7.1981, BGBl I 705) ist die Versicherungsfreiheit nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG an die allgemeinen Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts angelehnt, nach denen geringfügige Beschäftigung prinzipiell versicherungsfrei ist, und trägt der Besonderheit Rechnung, dass Einkommen aus selbstständiger künstlerischer oder publizistischer Tätigkeit außerordentlichen Schwankungen unterliegen können. Die Geringfügigkeitsgrenze wird deshalb nicht - wie sonst üblich - auf einen Monat, sondern auf ein Jahr bezogen. Zudem gelten Ausnahmen für Berufsanfänger (§ 3 Abs 2 KSVG) und solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die Mindestarbeitseinkommensgrenze nicht übersteigt (§ 3 Abs 3 KSVG). Eine darüber hinausgehende sozialversicherungsrechtliche Absicherung geringfügiger Beschäftigung oder Tätigkeit im künstlerischen/publizistischen Bereich ist verfassungsrechtlich gerade im Hinblick auf eine Gleichbehandlung mit anderen geringfügig Tätigen nicht geboten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass insbesondere der volle Versicherungsschutz in der Kranken- und Pflegeversicherung bei einem nach geringfügigem Einkommen bemessenen Beitrag eine erhebliche Anforderung an die Solidargemeinschaft darstellt.

41

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Vormerkung in Polen zurückgelegter Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung.

2

Die 1955 in Polen geborene Klägerin reiste am 7.6.1990 mit ihrem 1979 geborenen Sohn - wie bereits ein halbes Jahr zuvor ihr Ehemann - in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie bewohnte fortan eine gemeinsame Wohnung in D./Nordrhein-Westfalen. Die Klägerin ist weder als Spätaussiedlerin noch als Vertriebene anerkannt.

3

Eine nach dem erfolglosen Vertriebenenverfahren von der Ausländerbehörde erlassene Ordnungsverfügung vom 28.7.1995 mit einer an die Klägerin gerichteten Aufforderung zur Ausreise wurde vom Verwaltungsgericht A. mit Beschluss vom 6.10.1995 (8 L 1241/95) bestätigt. Die hiergegen beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erhobene Beschwerde nahm die Klägerin wegen der ihr im April 1997 als "Härtefallentscheidung" nach dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 erteilten Aufenthaltsbefugnis zurück.

4

Zuvor hatte die Ausländerbehörde der Klägerin für den Zeitraum ab 12.6.1990 jeweils befristete Duldungen ausgestellt. Vom 4.4.1997 bis 15.4.2005 war sie im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Ab 4.4.2005 erhielt sie nach dem Beitritt Polens zur EU eine (unbefristete) Freizügigkeitsbescheinigung. Seit 30.4.2009 ist die Klägerin deutsche Staatsangehörige.

5

Auf ihren Antrag auf Klärung des Versicherungskontos vom 22.3.2010 stellte die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten, die länger als sechs Jahre zurücklagen (Zeiten bis 31.12.2004) verbindlich fest, ohne (ua) die in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 als Beitrags- oder Beschäftigungszeit in der deutschen Rentenversicherung vorzumerken (Bescheid vom 28.3.2011, Widerspruchsbescheid vom 16.6.2011). Die Klägerin erfülle die persönlichen Voraussetzungen des § 1 Buchst a FRG (Anerkennung als Vertriebene oder Spätaussiedlerin) nicht. Nichts anderes ergebe sich aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abk Polen RV/UV) vom 9.10.1975. Denn die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nicht vor dem 31.12.1990 begründet. Ihre in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten würden nach den Regelungen der EGV 883/2004 und EGV 987/2009 berücksichtigt.

6

Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG mit Urteil vom 7.3.2012 abgewiesen, die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 22.3.2013). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Vormerkung der in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV iVm Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 bestehe nur dann, wenn die Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) vorlägen. Nach Art 27 Abs 3 S 1 Abk Polen SozSich müsse die Klägerin hierfür ua spätestens vom 30.6.1991 an in Deutschland wohnen. Wohnort sei der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 30 Abs 3 S 2 SGB I), wobei es sich um einen unbefristeten rechtmäßigen Aufenthalt handeln müsse (Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich). Jemand habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Bei Ausländern müsse dazu die Aufenthaltsposition so offen sein, dass sie wie bei einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermögliche, statt auf Beendigung des Aufenthalts im Inland angelegt zu sein. Dabei komme es auf den Inhalt der von der Ausländerbehörde ausgestellten Bescheinigungen an, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstelle (Hinweis auf BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22). Bei der Klägerin sei der gewöhnliche Aufenthalt erst seit 4.4.1997 mit der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gegeben. Zum 30.6.1991 habe sie sich erst ca ein Jahr in Deutschland aufgehalten. Eine verfestigte Rechtsposition bzw "Kettenduldungen" von mehreren Jahren hätten noch nicht vorgelegen. Eine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen, Aufenthalte für Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten auf unbestimmte Zeit zuzulassen, habe es nicht gegeben. Vielmehr sei die sogenannte "Ostblockregelung" bereits aufgehoben gewesen.

7

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe § 149 Abs 5 und §§ 54, 55 SGB VI iVm Art 2 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 in der Fassung des Gesetzes zu dem Abk Polen SozSich vom 18.6.1991 sowie Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewandt. Sie habe seit ihrer Einreise gemeinsam mit ihrem Ehemann und Kind eine Wohnung unter Umständen innegehabt, die darauf schließen ließen, dass sie die Wohnung beibehalten werde. Damit erfülle sie die Voraussetzungen des Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich. Auf einen bestimmten ausländerrechtlichen Titel komme es allein nicht an, sondern auch auf die sonstigen Umstände und die materielle Rechtslage. Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts stünden grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu erwarten seien. Zudem sei sie der Auffassung gewesen, die deutsche Volkszugehörigkeit werde ihren Aufenthalt auf Dauer sichern. Die unter Art 6 Abs 1 GG stehende Familienzusammenführung habe ihren aufenthaltsrechtlichen Status am Stichtag 30.6.1991 bereits so verfestigt, dass es der sogenannten "Ostblockregelung" nicht mehr bedurft habe, um ihren rechtlich erlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu begründen. Dies folge auch aus der ihr 1997 aufgrund der sogenannten "Härtefallregelung" erteilten Aufenthaltsbefugnis.

8

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 und des Sozialgerichts Aachen vom 7. März 2012 aufzuheben und die Beklage unter Änderung des Bescheids vom 28. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Juni 2011 zu verurteilen, die von ihr in Polen zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 vorzumerken.

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Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor, ausländerrechtliche Duldungen beseitigten weder die Ausreisepflicht noch deren Vollziehbarkeit, weshalb ein rechtmäßiger Aufenthalt nicht erreicht werde. Wegen des nur vorübergehenden Stopps der Abschiebung und der zeitlichen Beschränkung bei vorübergehenden Abschiebungshindernissen lasse sich die Prognose eines Daueraufenthalts in Deutschland nicht treffen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

12

Zu Recht haben die Vorinstanzen die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, § 56 SGG) abgewiesen und entschieden, dass die Beklagte die von der Klägerin erstrebten rechtlichen Feststellungen nicht treffen muss. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung (§ 149 Abs 5 S 1 SGB VI) der von ihr Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 in der deutschen Rentenversicherung nach Maßgabe des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 (BGBl II 1976, 396).

13

1. Das noch vom Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip (vgl hierzu BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 18; BSG vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14) getragene Abk Polen RV/UV ist durch (Zustimmungs-)Gesetz vom 12.3.1976 (BGBl II 393) in das innerstaatliche Recht transformiert und am 1.5.1976 in Kraft getreten (BGBl II 463).

14

Nach Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV sind Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes "wohnt". Gemäß § 15 Abs 1 S 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich(vgl § 55 Abs 1 S 2 SGB VI).

15

a) Das Abk Polen RV/UV wurde durch das spätere Abk Polen SozSich vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743), das durch das (Zustimmungs-)Gesetz vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in innerstaatliches Recht transformiert worden und am 1.10.1991 in Kraft getreten ist (BGBl II 1072), nicht ausnahmslos verdrängt bzw ersetzt. Denn nach den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Abk Polen SozSich ist das Abk Polen RV/UV unter den Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich weiterhin anwendbar.

16

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der mit Wirkung vom 1.5.2010 in Kraft getretenen EGV 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl Nr L 166 vom 30.4.2004, zuletzt geändert durch EUV 517/2013 vom 13.5.2013, ABl Nr L 158 vom 10.6.2013).

17

Nach Art 8 Abs 1 S 1 EGV 883/2004 ist diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs zwar an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über die soziale Sicherheit getreten. Dies betrifft auch die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen SozSich und das Abk Polen RV/UV. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die wie das Abk Polen RV/UV von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung der EGV 883/2004 geschlossen wurden, gelten nach Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen ferner in Anhang II aufgeführt sein (Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004).

18

Die formelle Voraussetzung der Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind erfüllt. In Anhang II der EGV 883/2004 ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf die Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)" aufgeführt.

19

Auch die materiellen Voraussetzungen für die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind gegeben. Es sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit" betroffen, auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 34).

20

Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen RV nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004, hat das LSG zwar nicht festgestellt. Dies dürfte aber bei nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall sein. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative des Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen vor dem 1.1.1991 Eingereisten, die (spätestens) bis zum 30.6.1991 ihren "Wohnort" in Deutschland oder Polen hatten und auch weiterhin dort ansässig sind, beruht auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des Zweiten Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 35).

21

Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist schließlich "zeitlich begrenzt", da dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnort in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnort in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 36; Schuler, Anm zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 , ZESAR 2009, 40, 44).

22

Die im Sekundärrecht (Art 8 Abs 1 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV), insbesondere der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ), vereinbar (hierzu ausführlich Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 37 ff; zu diesem Prüfungsschritt im Allgemeinen EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - - SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; EuGH vom 16.5.2013 - C 589/10 - - ZESAR 2013, 456, 460 zu Art 45 AEUV).

23

2. Nach Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich werden die vor dem 1.1.1990 aufgrund des Abk Polen RV/UV von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche durch das Abk Polen SozSich nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten. Gemäß Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich erwerben Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV auch Personen, die vor dem 1.1.1991 in den anderen Vertragsstaat eingereist sind, bis zu diesem Zeitpunkt die Verlegung des Wohnortes in den anderen Vertragsstaat beantragt haben und sich dort seitdem ununterbrochen aufhalten (in diesem Sinne ist auch der Klammerzusatz "Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind" im Anhang II der EGV 883/2004, Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a zu verstehen). Weitere Voraussetzung ist jedoch, dass sie im Zeitpunkt des Versicherungsfalls, spätestens vom 30.6.1991 an, in diesem Vertragsstaat auch "wohnen" (zur Abgrenzung von Abs 2 und Abs 3 des Art 27 Abk Polen SozSich s Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 31).

24

Damit kommt es für die weitere Anwendbarkeit des Abk Polen RV/UV entscheidend darauf an, ob die Klägerin spätestens seit 30.6.1991 ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland "wohnt". Dies ist nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) nicht der Fall.

25

a) Für die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" in Art 27 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich ist die Definition des Abk Polen RV/UV maßgeblich (BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 13; Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 f und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 32 f; stRspr). Nach Art 1 Nr 2 Spiegelstrich 1 Abk Polen RV/UV versteht man hierunter - für die Bundesrepublik Deutschland - "den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts oder sich gewöhnlich aufhalten". Art 1a des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976, der durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18.12.1989 (BGBl I 2261) zum 1.7.1990 eingefügt worden ist (Art 20 Nr 1, 85 Abs 6 RRG 1992), konkretisiert dies mit der Bestimmung, dass einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne nur hat, wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich).

26

Da das Abk Polen RV/UV selbst die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" - über die soeben beschriebenen allgemeinen Definitionen hinaus - nicht näher bestimmt, ist wegen des ausdrücklichen Bezugs auf die Bundesrepublik Deutschland davon auszugehen, dass auf den betreffenden innerstaatlichen (deutschen) Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthalts verwiesen werden sollte, wie er für die gesetzliche Rentenversicherung als Teil des SGB in § 30 Abs 3 S 2 SGB I bestimmt ist(Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 26 und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 35; stRspr). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

27

Die Frage des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs 3 S 2 SGB I ist anhand einer dreistufigen Prüfung zu klären. Ausgangspunkt ist ein "Aufenthalt"; es sind dann die mit dem Aufenthalt verbundenen "Umstände" festzustellen; sie sind schließlich daraufhin zu würdigen, ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende am Aufenthaltsort oder im Aufenthaltsgebiet "nicht nur vorübergehend verweilt" (vgl BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 68 f = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 24).

28

Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält oder nur vorübergehend dort verweilt, lässt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) entscheiden (BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 25). Dabei sind alle bei Prognosestellung für die Beurteilung der künftigen Entwicklung erkennbaren Umstände zu berücksichtigen. Ist nach der Prognose davon auszugehen, dass die betreffende Person zukunftsoffen "bis auf weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird, so hat sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt, wobei kein dauerhafter (unbegrenzter) Aufenthalt erforderlich ist (vgl BVerwG vom 18.3.1999 - FEVS 49, 434, 436; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30). Dem vorübergehenden Aufenthalt wohnt dagegen als zeitliches Element eine Beendigung von vornherein inne (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 32; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30).

29

Die zu treffende Prognose bleibt auch dann maßgebend, wenn der "gewöhnliche Aufenthalt" rückblickend (zB - wie hier - zu einem bestimmten Stichtag) zu ermitteln ist. Spätere Entwicklungen, die bis zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar waren, zu dem die Frage des Aufenthalts vorausschauend beurteilt werden musste, können eine Prognose weder bestimmen noch widerlegen. Denn es gehört zum Wesen der Prognose, dass aufgrund feststehender Tatsachen Schlussfolgerungen für eine künftige, ungewisse Entwicklung gezogen werden. Dem würde es widersprechen, wollte man bei der späteren Überprüfung der Prognoseentscheidung auch zwischenzeitlich bekannt gewordene Fakten zugrunde legen (BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 20; BSG vom 11.5.2000 - SozR 3-4100 § 36 Nr 5 S 14). Es ist daher nicht rechtserheblich, dass bei späterer rückschauender Betrachtung eine andere prognostische Beurteilung gerechtfertigt sein könnte. Wenn Änderungen eintreten, kann der gewöhnliche Aufenthalt an dem Ort oder in dem Gebiet nur vom Zeitpunkt der Änderung an begründet werden oder entfallen (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 33; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 f = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183 f; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17, 20; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 26).

30

Die Prognose hat alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen (BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 32); dies können subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein. Es kann demnach nicht allein auf den Willen des Betroffenen ankommen, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (sog Domizilwille; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17); dies gilt insbesondere dann, wenn er nicht mit den tatsächlichen objektiven Umständen übereinstimmt (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183).

31

Bei Ausländern ist im Rahmen der Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen (exemplarisch Senatsurteil vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 30; stRspr), ohne dass diese aber allein Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts sein kann (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Zu den Tatsachen, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs 3 S 2 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören auch Rechtshindernisse, die einer Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen(vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 87 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18).

32

Dabei wird die Aufenthaltsposition wesentlich durch den Inhalt der von der Ausländerbehörde erteilten Bescheinigungen bestimmt, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstellt (BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39). Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers stehen grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen oder zu erwarten sind. Davon ist ua auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund besonderer ausländer- bzw aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen oder behördlicher Praxis auch bei endgültiger Ablehnung eines Antrags auf ein dauerhaftes Bleiberecht (zB Asyl) nicht mit einer Abschiebung zu rechnen braucht (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34; Senatsurteil vom 4.11.1998 aaO). Hierbei kann auch die familiäre Situation, etwa der Aufenthaltsstatus eines Ehegatten, eine Rolle spielen (vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 88 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 19).

33

Das Stellen einer Prognose ist die Feststellung einer hypothetischen Tatsache (BSG vom 7.4.1987 - SozR 4100 § 44 Nr 47 S 115; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 9f). Es ist allein Aufgabe der Tatsachengerichte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und daraus die Prognose abzuleiten. Wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung entscheidet das Gericht bei einer Prognose nach freier Überzeugung.

34

Die Prognose und die für ihre Feststellung notwendigen Tatsachen gehören nicht zur Rechtsanwendung; deshalb können sie vor dem Revisionsgericht nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; BSG vom 27.7.2011 - SozR 4-2600 § 5 Nr 6 RdNr 23; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27). Verfahrensrügen, die die Feststellung der für die vorausschauende Betrachtung - nach damaligem Erkenntnisstand bis zu dem hier maßgeblichen Stichtag - erforderlichen Tatsachen, insbesondere der die Prognosegrundlage bildenden Tatsachen, betreffen, hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht erhoben, sodass die Feststellungen des LSG insoweit für den Senat bindend sind (§ 163 SGG).

35

Das Revisionsgericht hat jedoch auch ohne Verfahrensrüge zu prüfen, ob das LSG für seine Prognose sachgerechte Kriterien gewählt hat oder ob die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (in diesem Sinne Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 28 mwN).

36

b) Nach diesen Maßstäben ist die Sachentscheidung des LSG, dass die Klägerin bis zum hier maßgeblichen Stichtag 30.6.1991 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hatte, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG hat aus den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen rechtsfehlerfrei gefolgert, dass die Klägerin sich am 30.6.1991 noch nicht bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibens im Bundesgebiet aufgehalten hat. Unerheblich ist, dass das Berufungsgericht seine Erwägungen nicht ausdrücklich als Prognose bezeichnet, solange es - wie hier - in der Sache eine solche ohne Rechtsfehler trifft.

37

Nach den Feststellungen des LSG verfügte die Klägerin bis zum 30.6.1991 über keine Aufenthaltsgenehmigung - welcher Art auch immer - (vgl § 5 Ausländergesetz in der hier maßgeblichen Fassung des AuslG vom 9.7.1990, BGBl I 1354 ), sondern lediglich über eine befristete Duldung.

38

Die Duldung ist eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers (§ 55 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG). Sie beseitigt weder die Ausreisepflicht (§ 56 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 3 AufenthG) noch deren Vollziehbarkeit. Der Aufenthalt eines Ausländers wird mit der Duldung zwar nicht rechtmäßig, jedoch entfällt mit ihr eine Strafbarkeit wegen illegalen Aufenthalts (vgl § 92 Abs 1 Nr 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 vgl § 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG). Mithin erschöpft sich die Duldung in dem zeitlich befristeten Verzicht der Behörde auf die an sich gebotene Durchsetzung der Ausreisepflicht mittels Abschiebung. Nach Ablauf der Duldung ist die unverzügliche Abschiebung daher zwingend vorgeschrieben (vgl § 56 Abs 6 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 5 AufenthG). Im Hinblick auf den Zweck der Duldung, einen nur vorübergehenden Abschiebungsstopp zu regeln, ist die Geltungsdauer der Duldung zeitlich zu beschränken (vgl § 56 Abs 2 AuslG 1990; vgl seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 AufenthG). Der Sache nach kommt eine Duldung grundsätzlich nur als Reaktion auf das Auftreten vorübergehender (tatsächlicher oder rechtlicher) Abschiebungshindernisse in Betracht (vgl § 55 Abs 2 bis 4 AuslG; seit 1.1.2005 vgl § 60a Abs 1 und 2 AufenthG); sie wird gewährt, solange die Abschiebung unmöglich ist (vgl zum Ganzen: BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 256 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 4 zur Duldung nach § 55 AuslG 1990; BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 46 bis 48; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 39 zur Duldung nach § 60a AufenthG, jeweils mwN).

39

Ausgehend von dieser gesetzlichen Ausgestaltung der Duldung lässt sich für einen in Deutschland lediglich geduldeten Ausländer eine Prognose jedenfalls dahingehend, dass er sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, nicht treffen. Der geduldete Ausländer befindet sich vielmehr in einer Situation, in welcher er nach Ablauf der Duldung jederzeit mit einer Abschiebung rechnen muss (BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 49).

40

Die formale Art des Aufenthaltstitels allein reicht jedoch nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland aus (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Dies hat das LSG auch nicht verkannt. Es hat dementsprechend in seine Entscheidungsfindung auch - für die Klägerin jedoch ohne Vorteil - die bis zum hier relevanten Stichtag bestehende tatsächliche Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen mit einbezogen (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39).

41

Das Berufungsgericht hat berücksichtigt, dass die sogenannte "Ostblockregelung" im hier maßgeblichen Zeitraum bereits aufgehoben war. Mit der "Ostblockregelung" hatte die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (Innenministerkonferenz) mit Beschluss vom 26.8.1966 idF des Beschlusses vom 26.4.1985 (veröffentlicht ua im Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1985, 773 f) angeordnet, dass Staatsangehörige der Ostblockstaaten grundsätzlich nicht wegen illegaler Einreise, illegalen Aufenthalts oder Bezugs von Sozialhilfe auszuweisen und ggf abzuschieben waren. Diese Regelung hatten sie aber durch Beschluss vom 2./3.4.1987, bekanntgegeben (ua) durch Erlass des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 (Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1987, 1536 ff), aufgehoben. Danach galt die "Ostblockregelung" für polnische und ungarische Staatsangehörige nur noch bei einem Zuzug vor dem 1.5.1987 (vgl Vorbemerkung zu Abschnitt I und Abschnitt III Abs 2 und 6 des Erlasses des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 aaO). Hieraus hat das LSG geschlossen, dass jedenfalls zum 30.6.1991 keine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen für (geduldete) Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten mehr bestand, Aufenthalte auf unbestimmte Zeit zuzulassen.

42

Die aus diesen Gesamtumständen gezogene Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass die Aufenthaltsposition der Klägerin in Deutschland jedenfalls bis zum 30.6.1991 noch nicht so offen war, dass diese ihr wie einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermöglichte (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 25 f = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22), sondern vielmehr weiterhin auf Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet angelegt war und sie damit noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 S 2 SGB I in D. begründet hatte, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG konnte mit Blick auf die befristete Duldung und die von ihm festgestellte ausländerbehördliche Praxis davon ausgehen, dass die Klägerin noch keine "verfestigte" Rechtsposition dahingehend innehatte, dass sie auf unbestimmte Zeit und nicht nur vorübergehend im Bundesgebiet bleiben würde.

43

Ob sich an dieser Beurteilung etwas ändern könnte, wenn über mehrere Jahre hinweg die Duldung immer wieder verlängert worden ist, sich der Ausländer also faktisch seit Jahren in Deutschland aufgehalten hat und zum Stichtag eine positive Bleibeprognose dergestalt gestellt werden kann, dass der Ausländer zukunftsoffen "bis aus weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34 zu § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG; BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 254 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 2 zu § 1 SchwbG; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 36 ff zu § 2 Abs 2 SGB IX), kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Daher kann der Senat auch offenlassen, ob einer solchen Beurteilung der Begriffe "Wohnort" bzw "gewöhnlicher Aufenthalt" iS des Abk Polen RV/UV bzw Abk Polen SozSich bezogen auf einen lediglich "geduldeten" (sich aber dennoch rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltenden) Ausländer die Bestimmung in Art 1a des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich) entgegenstehen könnte, wonach einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Abk Polen RV/UV nur hat, "wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält" (s hierzu im Einzelnen Senatsbeschluss vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 ff). Denn sogenannte "Kettenduldungen" über einen Zeitraum von mehreren Jahren lagen jedenfalls bis zum 30.6.1991 bei der Klägerin nicht vor. Vielmehr hielt sich die am 7.6.1990 eingereiste Klägerin zum Stichtag "geduldet" erst ca ein Jahr in Deutschland auf. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG 1990 hat nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht bestanden.

44

Weitere wesentliche Umstände, die das Berufungsgericht bei seiner Prognose, ob sich die Klägerin bereits gewöhnlich oder nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhielt, nicht beachtet hat, die aber bezogen auf den Stichtag zu berücksichtigen wären, sind nicht ersichtlich.

45

Dies gilt zunächst für den Hinweis der Klägerin auf eine Aufenthaltsbewilligung nach § 29 Abs 1 AuslG 1990. Danach kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltsbewilligung besitzt, zum Zwecke des nach Art 6 GG gebotenen Schutzes von Ehe und Familie eine Aufenthaltsbewilligung für die Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Ausländer im Bundesgebiet erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers und des Ehegatten ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe gesichert ist und ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht. Ähnliche Vorschriften galten für die Aufenthaltserlaubnis (§ 17, § 18, § 23 AuslG 1990), die Aufenthaltsberechtigung (§ 27 Abs 4 AuslG 1990) und die Aufenthaltsbefugnis (§ 31 AuslG 1990). Hier übersieht die Klägerin jedoch bereits, dass ihr Ehemann, der ca sechs Monate vor ihr von Polen nach Deutschland eingereist war, zum hier maßgeblichen Zeitpunkt 30.6.1991 über keinen derartigen Aufenthaltstitel verfügte. Denn aus dem vom LSG ausdrücklich in Bezug genommenen Beschluss des Verwaltungsgerichts A. (8 L 1241/95) vom 6.10.1995 ergibt sich, dass weder sie noch ihr Ehemann im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung (gleich welcher Art, vgl § 5 AuslG 1990)waren (aaO, S 3).

46

Nicht anderes folgt schließlich aus der der Klägerin im April 1997 als "Härtefall" erteilten Aufenthaltsbefugnis. Diese hatte ihre Grundlage in dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 "Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen nach den §§ 30 und 31 Abs. 1 AuslG - Anordnung nach § 32 AuslG - Härtefallentscheidungen (Altfälle)"(Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1996, 1411 f), der wiederum auf einen Beschluss der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 (veröffentlicht ua aaO, 1412 f) zurückgeht. Diese bundeseinheitliche Regelung stellte auf einen langjährigen Aufenthalt ab; im Beschlussjahr 1996 erfasste sie ua nur solche Familien von abgelehnten Vertriebenenbewerbern, die bereits vor dem 1.7.1990 eingereist waren (vgl III 1 des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 aaO, 1412). Für die rechtliche Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin bis zum 30.6.1991 ist sie von vornherein unergiebig. Denn jedenfalls bis zu diesem, hier allein maßgeblichen Zeitpunkt lag bei ihr gerade noch kein "Altfall" im Sinne eines mehrjährigen Verweilens im Bundesgebiet vor. Nachträgliche Entwicklungen können eine zu einem bestimmten Stichtag getroffene Prognose, ob der Aufenthalt nur vorübergehend oder bereits gewöhnlich ist, nicht widerlegen.

47

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Beigeladenen zu 1. gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladenen zu 1. bis 3. und 5. und der Beklagte tragen die Kosten des Revisionsverfahrens - mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 4. und 6. - zu gleichen Teilen.

Tatbestand

1

Im Streit steht die Rechtmäßigkeit einer Zulassungsentziehung.

2

Der Kläger erhielt 1993 eine Sonderzulassung als (Beleg-)Arzt für radiologische Diagnostik. Nach einer Anzeige des Inhalts, dass der Kläger lediglich zeitweise in der Praxis tätig sei und in der übrigen Zeit ein ohne Genehmigung beschäftigter Arzt die Untersuchungen durchführe, hob die zu 1. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) mit Bescheid vom 15.3.1999 die Honorarbescheide für die Quartale I/1994 bis III/1998 auf und forderte 4 722 010,62 DM zurück. In einer im Jahr 2002 mit der Beigeladenen zu 1. geschlossenen "Plausibilitätsvereinbarung" verpflichtete sich der Kläger, Honorar in Höhe von 3 400 000 DM zurückzuzahlen. Mit Urteil des Landgerichts Regensburg vom 14.10.2003 wurde der Kläger wegen Betrugs zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt, weil er regelmäßig Untersuchungen ohne Genehmigung angestellten Ärzten, teilweise sogar dem nichtärztlichen Praxispersonal, überlassen habe. Durch Disziplinarbescheid der Beigeladenen zu 1. vom 15./17.1.2003 wurde dem Kläger wegen der Beschäftigung von drei Vertretern ohne Genehmigung im Quartal II/2002 eine Geldbuße in Höhe von 8000 Euro auferlegt; die hiergegen erhobene Klage nahm der Kläger im Termin vor dem LSG (L 12 KA 447/04) am 28.3.2007 zurück. Das LSG hatte ihn darauf hingewiesen, mit der Rücknahme könne er seine Chancen auf Erfolg im Verfahren gegen die Entziehung der Zulassung verbessern.

3

Bereits mit Bescheid vom 26.5./15.6.1999 hatte der Zulassungsausschuss auf Antrag der Beigeladenen zu 1. dem Kläger die Zulassung als Vertragsarzt wegen wiederholt unkorrekter Abrechnungen entzogen. Dessen Widerspruch wies der beklagte Berufungsausschuss mit Widerspruchsbescheid vom 21./28.10.2003 zurück und ordnete die sofortige Vollziehung an. Der Kläger habe zum einen Leistungen abgerechnet, die von genehmigten Weiterbildungsassistenten in seiner Abwesenheit erbracht worden seien; er sei damit seiner Verpflichtung, die Weiterbildung persönlich zu leiten, nicht nachgekommen. Zum anderen habe er von April 1997 bis Dezember 1998 Leistungen abgerechnet, die von einem nicht genehmigten Assistenten erbracht worden seien; er habe darüber hinaus die Praxis über erhebliche Zeiträume allein geführt. Da weder eine Assistentengenehmigung noch eine Genehmigung zur Beschäftigung eines angestellten Arztes erteilt worden sei, sei eine Abrechnung nicht zulässig gewesen. Darüber hinaus habe der Kläger nicht delegationsfähige Leistungen abgerechnet, die während seiner Abwesenheit durch nichtärztliches Personal erbracht worden seien. Das nichtärztliche Personal habe Patienten aufgeklärt, kernspintomographische Untersuchungen durchgeführt und intravenöse Injektionen vorgenommen. Dieses Abrechnungsverhalten stelle eine gröbliche Pflichtverletzung dar und begründe die Ungeeignetheit zur weiteren Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung.

4

Das vom Kläger angerufene SG hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bis zur Hauptsacheentscheidung erster Instanz wiederhergestellt (Beschluss vom 11.12.2003), die Klage jedoch - nach zwischenzeitlicher Aussetzung des Verfahrens von Oktober 2004 bis Februar 2007 - abgewiesen (Urteil vom 24.8.2007). Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG sowie den Bescheid des Beklagten vom 28.10.2003 aufgehoben und diesen verpflichtet, über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Zulassungsausschusses vom 26.5.1999 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 26.1.2011). Zuvor hatte es dessen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs stattgegeben (Beschluss vom 6.9.2007 - L 12 KA 495/07 ER -). In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hat die Beigeladene zu 2. Prüfanträge bezüglich der Quartale I/2008 und I bis IV/2009 vorgelegt, welche unzulässige Verordnungen von Sprechstundenbedarf (SSB) in Höhe von 82,50 Euro bis 129,99 Euro betreffen.

5

Das LSG hat ausgeführt, zwar sei die Zulassungsentziehung zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten rechtmäßig gewesen, da der Kläger seine vertragsärztlichen Pflichten grob verletzt habe; sie sei jedoch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats unter dem Gesichtspunkt des Wohlverhaltens unverhältnismäßig und verstoße gegen Art 12 Abs 1 GG. Bei noch nicht vollzogenen Zulassungsentziehungen sei zugunsten des Vertragsarztes ein sogenanntes Wohlverhalten nach Ergehen der Entscheidung des Berufungsausschusses zu berücksichtigen. Die aufgrund gröblicher Pflichtverletzungen in der Vergangenheit indizierte Ungeeignetheit könne infolge veränderter Umstände während des sozialgerichtlichen Verfahrens relativiert werden, wenn zur Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei ein künftig ordnungsgemäßes Verhalten des betreffenden Arztes prognostiziert werden könne. Die Ermittlungen bezüglich des über siebenjährigen Zeitraums vom 28.10.2003 bis zum 26.1.2011 hätten keine Tatsachen ergeben, die ernstliche Zweifel an einer nachhaltigen Verhaltensänderung des Klägers rechtfertigen könnten. Weder der Beklagte noch die Beigeladene zu 1. noch die zu 2. bis 6. beigeladenen Krankenkassen(-Verbände) hätten dazu etwas vortragen können. Die Prüfanträge bezüglich der Quartale I/2008 und I/2009 bis IV/2009 könnten in Anbetracht des relativ langen Zeitraums von Oktober 2003 bis Januar 2011 bei einer Gesamtwürdigung keine ernstlichen Zweifel an einer nachhaltigen Verhaltensänderung belegen. Da hiervon abgesehen keine Tatsachen hätten ermittelt werden können, die Zweifel an einer Verhaltensänderung des Klägers begründen könnten, gehe der Senat von einer positiven Prognose aus, dass sich der Kläger künftig ordnungsgemäß verhalten werde.

6

Mit ihrer Revision rügt die zu 1. beigeladene KÄV die Verletzung von Bundesrecht. Das LSG habe seiner Entscheidung eine unzutreffende Auslegung des § 95 Abs 6 SGB V zugrundegelegt, die nicht mit der Rechtsprechung des BSG zur Berücksichtigung von "Wohlverhalten" zu vereinbaren sei. Das LSG sei zu Unrecht von einem "Wohlverhalten" des Klägers ausgegangen, denn es habe dafür dessen bloße Unauffälligkeit im laufenden Zulassungsentziehungsverfahren genügen lassen und keine - über die bloße Unauffälligkeit hinausgehenden - positiv festzustellenden Umstände verlangt, die eine Entkräftung der von der Pflichtverletzung ausgehenden Indizwirkung zur Folge hätten. Dies sei schon deshalb nötig, um das geringere Gewicht des unauffälligen Verhaltens im Vergleich zur Pflichtverletzung, die zur Zulassungsentziehung geführt hat, aufzuwiegen.

7

Die erklärte Rücknahme seiner Klage gegen den Disziplinarbescheid lasse keine zuverlässigen Schlüsse auf eine wiedererlangte Eignung zu, da dies erst auf einen Hinweis des Gerichts - und damit nicht aus autonomen, sondern aus heteronomen Gründen - erfolgt sei. Auch habe der Kläger im laufenden Zulassungsentziehungsverfahren die Annahme, er könnte wieder geeignet sein, selbst widerlegt, indem er keinerlei Einsicht in sein Fehlverhalten gezeigt habe. Dies zeige die von ihm noch im Berufungsverfahren verwendete Formulierung "Selbst wenn man die Vorwürfe … als zutreffend unterstellt, …"

8

Die Beigeladene zu 1., der Beklagte und die Beigeladenen zu 2., 3. und 5. beantragen,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 26.1.2011 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG München vom 24.8.2007 zurückzuweisen.

9

Der Beklagte schließt sich den Ausführungen der Beigeladenen zu 1. an. Nach der Rechtsprechung des BSG bedürfe es einer durch Unrechtseinsicht belegten Verhaltensänderung, die feststellbar wäre und überdies konkret festgestellt worden sei. Davon könne jedoch vorliegend keine Rede sein. Es sei vielmehr konkret zu Lasten des Klägers feststellbar gewesen, dass dieser sich früher entstandene Entziehungsgründe weiterhin vorhalten lassen müsse; das sei aber vom LSG trotz gegebener und dem Berufungsgericht bekannt gewordener Tatsachenlage nicht festgestellt worden.

10

Die Beigeladene zu 2. schließt sich ebenfalls den Ausführungen der Beigeladenen zu 1. an. Der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG erkennen lassen, dass er die SSB-Vereinbarung und deren Inhalt nicht kenne, und deutlich gemacht, dass er Verantwortung noch immer an sein Personal abgebe.

11

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

12

Gemessen an den vom BSG aufgestellten Maßstäben lägen die Voraussetzungen für eine Zulassungsentziehung nicht vor. Bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten sei die Erschütterung des Vertrauens nicht so groß gewesen, dass die Voraussetzungen für eine weitere Zusammenarbeit völlig zerstört gewesen seien, denn die Beigeladene zu 1. habe mit ihm - dem Kläger - im Jahre 2002 eine in die Zukunft zielende (Plausibilitäts-)Vereinbarung getroffen; auch sei von keinem der Beigeladenen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Zulassungsentziehung beantragt worden. Nach den Feststellungen des LSG sei die Wiederholung von Pflichtverletzungen mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Sein - des Klägers - ernster Wille, die die Pflichtverletzungen ermöglichenden Missstände zu beheben, folge schon aus der im Jahre 2002 geschlossenen Vereinbarung. Zudem habe er vor der Entscheidung des Beklagten - über die Rücknahme der gegen den Disziplinarbescheid erhobenen Klage hinaus - auch sämtliche Widersprüche gegen die eine Vertreterbestellung versagenden Bescheide zurückgenommen.

13

Das Berufungsgericht habe Umstände der Entkräftung des Eignungsmangels nicht bloß vermutet, sondern sie im Rahmen des Verfahrens durch umfangreiche Sachverhaltsaufklärung ermittelt und sodann positiv festgestellt. Es gereiche ihm - dem Kläger - in Anbetracht der Ausführungen des SG München zum Fairnessverstoß der dort beklagten KÄV nicht zum Nachteil, dass er Klage gegen den Disziplinarbescheid erhoben habe. Fehl gehe auch der Vortrag zum vermeintlichen Fehlen der Unrechtseinsicht. Da das Verfahren seit nunmehr 13 Jahren anhängig sei, komme eine Verletzung seines - des Klägers - Grundrechts auf effektiven Rechtsschutzes in Betracht.

14

Die Beigeladenen zu 4. und 6. haben weder Anträge gestellt noch sich geäußert.

Entscheidungsgründe

15

Die Revision der Beigeladenen zu 1. ist im Ergebnis nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, dass die Entscheidung des Beklagten, dem Kläger die Zulassung zu entziehen, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG zum sogenannten "Wohlverhalten" zum Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht mehr rechtmäßig war.

16

1. Allerdings geht die vom Berufungsgericht ausgesprochene Verpflichtung des Beklagten, über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Zulassungsausschusses unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, ins Leere. Es gibt keine Entscheidung mehr, die der Beklagte zu treffen hätte.

17

Zum einen ist kein Entscheidungsspielraum für den Beklagten verblieben. Abgesehen davon, dass es sich bei der Entscheidung über die Entziehung der Zulassung um eine gebundene Entscheidung handelt (vgl BSG Beschluss vom 27.6.2001 - B 6 KA 5/01 B - Juris RdNr 7), liegt es ausschließlich in der Kompetenz der Gerichte, über das Vorliegen von "Wohlverhalten" zu entscheiden (vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 24; BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 18-19). Da das Berufungsgericht dieses in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise bejaht hat und somit nach der (bisherigen) Rechtsprechung des Senats ein Aufrechterhalten der Zulassungsentziehungsentscheidung unverhältnismäßig wäre, scheidet jede andere Entscheidung als die, dass die Zulassung des Klägers fortbesteht, somit aus.

18

Zum anderen gibt es keinen Widerspruch mehr, über den der Berufungsausschuss zu entscheiden hätte. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist allein der Bescheid des Berufungsausschusses Streitgegenstand (vgl BSG SozR 3-2500 § 96 Nr 1 S 6; BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 6 S 39; vgl schon BSG SozR 1500 § 96 Nr 32 S 42). Da der Berufungsausschuss nicht über einen Widerspruch entscheidet, sondern eine eigenständige Sachentscheidung trifft (so auch Schallen, Zulassungsverordnung, 8. Aufl 2012, § 44 Ärzte-ZV RdNr 6), bedarf es nach einer gerichtlichen Aufhebung des Bescheides des Berufungsausschusses keiner erneuten Entscheidung unter dem Gesichtspunkt, dass andernfalls der Bescheid des Zulassungsausschusses "in der Luft hinge". Die Aufhebung des Bescheides des Berufungsausschusses führt nicht zu einer Wiederherstellung des Ausgangsbescheides; vielmehr ist die Entscheidung des Zulassungsausschusses in der Entscheidung des Berufungsausschusses aufgegangen (so ausdrücklich LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 2.2.2006 - L 5 KA 37/05 - NZS 2006, 609, 610; Schallen, aaO, § 44 Ärzte-ZV RdNr 8 sowie Bäune in Bäune/Meschke/Rothfuß, Zulassungsverordnung für Vertragsärzte und Vertragszahnärzte, § 45 Ärzte-ZV RdNr 5, jeweils unter Hinweis auf BSG SozR 1500 § 96 Nr 32; vgl auch BSG SozR 3-2500 § 96 Nr 1 S 6), ist also rechtlich nicht mehr existent.

19

2. Die Voraussetzungen für eine Entziehung der Zulassung lagen zum Zeitpunkt der - den alleinigen Streitgegenstand des Verfahrens bildenden (vgl BSG SozR 3-2500 § 96 Nr 1) - Entscheidung des Beklagten vor.

20

a) Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung des Beklagten ist § 95 Abs 6 Satz 1 SGB V. Danach ist einem Vertragsarzt die Zulassung unter anderem dann zu entziehen, wenn er seine vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt. Eine Pflichtverletzung ist gröblich, wenn sie so schwer wiegt, dass ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung notwendig ist (stRspr des BSG, vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10 mwN; BSGE 103, 243 = SozR 4-2500 § 95b Nr 2, RdNr 37; zuletzt BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 13). Davon ist nach der Rechtsprechung des BVerfG wie auch des BSG auszugehen, wenn die gesetzliche Ordnung der vertragsärztlichen Versorgung durch das Verhalten des Arztes in erheblichem Maße verletzt wird und das Vertrauensverhältnis zu den vertragsärztlichen Institutionen tiefgreifend und nachhaltig gestört ist, sodass ihnen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vertrags(zahn)arzt nicht mehr zugemutet werden kann (stRspr des BSG, vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10 mwN; BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 13; BSGE 103, 243 = SozR 4-2500 § 95b Nr 2, RdNr 37; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 13; zuletzt BSG Urteil vom 21.3.2012 - B 6 KA 22/11 R - SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 23, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; vgl auch BVerfGE 69, 233, 244 = SozR 2200 § 368a Nr 12 S 30).

21

Wiederholt unkorrekte Abrechnungen können die Zulassungsentziehung rechtfertigen (vgl BSGE 73, 234, 242 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4 S 18; BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10), insbesondere deswegen, weil das Abrechnungs- und Honorierungssystem der vertragsärztlichen Versorgung auf Vertrauen aufbaut und das Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben des Leistungserbringers ein Fundament des Systems der vertragsärztlichen Versorgung darstellt (BSG Urteil vom 21.3.2012 - B 6 KA 22/11 R - SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 35 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Für den Tatbestand einer gröblichen Pflichtverletzung iS von § 95 Abs 6 SGB V ist nicht erforderlich, dass den Vertragsarzt ein Verschulden trifft; auch unverschuldete Pflichtverletzungen können zur Zulassungsentziehung führen (BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 10 mwN; zuletzt BSG Urteil vom 21.3.2012 - B 6 KA 22/11 R - SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 23, 50 ff, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

22

b) Das LSG hat zutreffend dargelegt, dass der Kläger seine vertragsärztlichen Pflichten durch die - auch strafgerichtlich - festgestellten Abrechnungsverstöße in diesem Sinne gröblich verletzt hat. Die Pflichtverletzungen als solche - den Einsatz von Ärzten und Hilfspersonal in der Praxis in eindeutigem Widerspruch zu den für die vertragsärztliche Versorgung geltenden Vorschriften - hat der Kläger nicht in Abrede gestellt. Sie sind gravierend und tragen die Entziehung der Zulassung (vgl zur Gröblichkeit BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 32 ff, 39 ff, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

23

Zu Recht hat das LSG angenommen, dass die beigeladene KÄV durch die mit dem Kläger geschlossene Vereinbarung vom 17.6.2002 über die Rückzahlung der für die fehlerhaft abgerechneten Leistungen erzielten Honorare nicht zum Ausdruck gebracht hat, dass sie keine endgültige Störung des Vertrauensverhältnisses zum Kläger sieht. Die Vereinbarung ist von dem Bestreben der beigeladenen KÄV geprägt, zu Gunsten der bayerischen Vertragsärzte möglichst schnell möglichst viel von den zu Unrecht gezahlten Honoraren zurückzuerhalten. Trotz einiger vielleicht missverständlicher Formulierungen in der Vereinbarung konnte der Kläger daraus nicht schließen, die KÄV betrachte die Angelegenheit schon vor Abschluss des Strafverfahrens mit dem vollen Schadensausgleich als erledigt, zumal die KÄV selbst die Zulassungsentziehung beantragt hatte.

24

3. Im Einklang mit der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Senats (siehe hierzu a) hat es das LSG nicht bei der Feststellung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung belassen, sondern geprüft, ob der Kläger im Laufe des - der Entscheidung des Berufungsausschusses nachfolgenden - gerichtlichen Verfahrens seine Eignung für die vertragsärztliche Tätigkeit durch sogenanntes "Wohlverhalten" zurückgewonnen hat. Diese Rechtsprechung, der die anderen Bundesgerichte nicht gefolgt sind (siehe b), gibt der Senat ausdrücklich auf (siehe c), wendet sie jedoch aus Vertrauensschutzgründen auf das zur Entscheidung anstehende Verfahren weiterhin an (siehe d).

25

a) Nach bisheriger Rechtsprechung des Senats ist - jedenfalls bei einer noch nicht vollzogenen Zulassungsentziehung - zu prüfen, ob sich die Sachlage während des Prozesses durch ein Wohlverhalten des Arztes in einer Weise zu seinen Gunsten geändert hat, dass eine Grundlage für eine erneute Vertrauensbasis zwischen dem Betroffenen und den vertragsarztrechtlichen Institutionen wieder aufgebaut worden ist und damit eine Entziehung nicht mehr als angemessen erscheint (vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 16 ff; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 19; zuletzt BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 54, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

26

In seiner älteren Rechtsprechung hatte der Senat bei der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt im Rahmen von Zulassungsentziehungsverfahren der Sachverhalt von den Tatsacheninstanzen aufzuklären ist, zwischen vollzogenen und nicht vollzogenen Entziehungsentscheidungen differenziert und angenommen, bei den Letzteren sei im Rahmen der reinen Anfechtungsklage für die Beurteilung des Klagebegehrens - über den ansonsten maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung hinausgehend - die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht und die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung in der Revisionsinstanz maßgebend (vgl zB BSGE 73, 234, 236 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4 S 11 f, mwN). Diese Rechtsprechung hat der Senat mit Urteil vom 20.10.2004 (BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9)dahingehend vereinheitlicht, dass für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zulassungsentziehung sowohl bei vollzogenen als auch bei nicht vollzogenen Entziehungsentscheidungen grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich ist. Bei nicht vollzogenen Zulassungsentziehungen im Vertragsarztrecht seien die genannten Grundsätze jedoch im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art 12 Abs 1 GG dahingehend zu modifizieren, dass zu Gunsten des betroffenen Vertragsarztes Änderungen des Sachverhalts bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht zu beachten sind (BSG aaO RdNr 15 mwN; vgl zusammenfassend BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 54, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).

27

Zur Begründung hat der Senat (BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 15)darauf hingewiesen, dass ein Vertragsarzt, dem die Zulassung entzogen worden sei, in der Regel seine Praxis verliere und vielfach keine Chance habe, eine solche neu aufzubauen, oft auch dann nicht, wenn nach einer Zeit der Bewährung die erneute Zulassung für den bisherigen Ort der Niederlassung erfolge. Der erneuten Zulassung am bisherigen Ort der Praxis stünden zudem oftmals rechtliche Hindernisse wie die Sperrung des Planungsbereichs wegen Überversorgung und/oder die Überschreitung der Altersgrenze des § 25 Satz 1 Zulassungsverordnung für Kassenärzte (Ärzte-ZV) entgegen.

28

b) Die Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes - mit Ausnahme des BFH (vgl BFHE 178, 504 = NJW 1996, 2598; BFH Beschluss vom 24.1.2006 - VII B 141/05 - Juris RdNr 10 = BFH/NV 2006, 983) - hält demgegenüber auch in vergleichbaren Konstellationen ausnahmslos an dem Grundsatz fest, dass allein der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich ist.

29

So geht das BVerwG auch bei Maßnahmen, die - wie insbesondere der Widerruf einer ärztlichen Approbation wegen Berufsunwürdigkeit - in ihren Auswirkungen der Zulassungsentziehung vergleichbar sind, in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es für die Beurteilung der Widerrufsvoraussetzungen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens ankommt (BVerwG Buchholz 418.00 Ärzte Nr 100 = NJW 1999, 3425; BVerwGE 105, 214, 220 mwN; BVerwG Beschluss vom 25.2.2008 - 3 B 85/07 - Juris RdNr 16; zuletzt BVerwG Beschluss vom 18.8.2011 - 3 B 6/11 - Juris RdNr 9 = Buchholz 418.00 Ärzte Nr 111; vgl auch BVerwGE 137, 1 RdNr 11 = Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr 10 - Widerruf der Berufserlaubnis von Logopäden). Der für die Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt sei durch das materielle Recht vorgegeben (BVerwGE 137, 1 RdNr 11 = Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr 10). Der Widerruf der Approbation (bzw der Berufserlaubnis) sei ein auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens bezogener rechtsgestaltender Verwaltungsakt; vor allem aber sehe das materielle Recht die Möglichkeit der Wiedererteilung der Approbation vor, sodass der Widerruf deshalb eine Zäsur bilde, durch die eine Berücksichtigung nachträglicher Umstände dem Wiedererteilungsverfahren zugewiesen werde (BVerwGE 137, 1 RdNr 11 = Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr 10; BVerwG Beschluss vom 27.10.2010 - 3 B 61/10 - Juris RdNr 8). Darauf, ob das materielle Recht ausdrücklich ein eigenständiges Wiedererteilungsverfahren vorsehe, komme es nicht an; es genüge der Umstand, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch auf erneute Zuerkennung der Erlaubnis oÄ bestehe (BVerwGE 137, 1 RdNr 11 = Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr 10). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebiete es daher nicht, auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht abzustellen; die Lebensführung und berufliche Entwicklung des Betroffenen nach Abschluss des behördlichen Widerrufsverfahrens seien in einem Verfahren auf Wiedererteilung der Approbation zu berücksichtigen (BVerwGE 137, 1 RdNr 11 = Buchholz 418.1 Heilhilfsberufe Nr 10; BVerwG Beschluss vom 18.8.2011 - 3 B 6/11 - Juris RdNr 9 = Buchholz 418.00 Ärzte Nr 111). Hieran hat das BVerwG in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Senats (BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9)ausdrücklich festgehalten und darauf verwiesen, dass es die Hindernisse, die einer Wiederzulassung als Kassenarzt entgegenstehen mögen, bei der Approbation als solcher nicht gebe (BVerwG Beschluss vom 25.2.2008 - 3 B 85/07 - Juris RdNr 16 f).

30

Auch der BGH hat sich für den Widerruf der Zulassung zur Anwaltschaft in Ergebnis und Begründung der Rechtsprechung des BVerwG angeschlossen, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Zulassungswiderrufs allein auf den Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Widerrufsverfahrens abzustellen und die Beurteilung danach eingetretener Entwicklungen einem Wiederzulassungsverfahren vorbehalten ist (grundlegend BGHZ 190, 187 RdNr 9 ff = NJW 2011, 3234 ff). Das anwaltliche Berufsrecht sehe in materieller Hinsicht keine Besonderheiten vor, die eine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerwG gebieten würden. Seine frühere Rechtsprechung, die zwar grundsätzlich der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung folgte, aus prozessökonomischen Gründen jedoch eine Berücksichtigung nachträglich eingetretener Umstände zuließ, hat der BGH unter Hinweis auf die zum 1.9.2009 erfolgte Änderung des Verfahrensrechts (Wechsel vom Recht der freien Gerichtsbarkeit zur Verwaltungsgerichtsordnung) ausdrücklich aufgegeben (BGHZ 190, 187 RdNr 12 ff = NJW 2011, 3234 ff).

31

Schließlich geht auch die - ungeachtet der Unterschiede zwischen freiberuflicher Tätigkeit und abhängigen Beschäftigungsverhältnissen beachtliche - Rechtsprechung des BAG zu personenbedingten Kündigungen (vgl BAGE 91, 271, 277, 278 ff = NZA 1999, 978; BAGE 101, 39, 46 = NZA 2002, 1081; BAGE 123, 234, 239 = NZA 2008, 173), des BVerwG zur Versetzung von Beamten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit (BVerwGE 105, 267, 269 f = DVBl 1998, 201, 202) sowie des BGH (Dienstgericht des Bundes) zur Entlassung von Richtern auf Probe (vgl BGH Urteil vom 10.7.1996 - RiZ (R) 3/95 - DRiZ 1996, 454) davon aus, dass nach der Kündigung bzw Entlassung liegende Veränderungen der Sachlage unbeachtlich sind.

32

c) An der dargestellten Modifizierung des Grundsatzes der Maßgeblichkeit der Sachlage bei Erlass der Entscheidung des Berufungsausschusses in Fällen nicht vollzogener Zulassungsentziehungen, die auch im Schrifttum auf Kritik gestoßen ist (Hess in Kasseler Komm, § 95 SGB V RdNr 104, Stand August 2012; vgl auch Wenner, Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, 2008, § 31 RdNr 16),hält der Senat nach erneuter Prüfung nicht mehr fest. Hierfür sind folgende Gründe maßgeblich:

33

aa) Besonderes Gewicht hat in diesem Zusammenhang, dass das BVerwG bei der Kontrolle von Entscheidungen über den Widerruf der ärztlichen Approbation ausnahmslos an dem Grundsatz festhält und keine der bisherigen Rechtsprechung des Senats entsprechenden Ausnahmen für den Fall der Wiedergewinnung der Berufswürdigkeit zulässt. Bei dem Widerruf der ärztlichen Approbation wegen Berufsunwürdigkeit handelt es sich um die weitergehende Rechtsfolge, die (auch) eine Zulassungsentziehung nach sich zieht. Zum einen geht der Approbationswiderruf in seiner Wirkung über die Entziehung der Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung noch hinaus, weil in seiner Folge dem Arzt nicht allein vertragsärztliche Behandlungen verschlossen sind, sondern ihm jegliche - auch privatärztliche - ärztliche Tätigkeiten verwehrt sind. Zum anderen ist in den Blick zu nehmen, dass mit dem Widerruf der Approbation zwangsläufig auch die vertragsärztliche Zulassung zu entziehen ist, weil dann den Zulassungsvoraussetzungen - konkret der Eintragung in das Arztregister (vgl § 95 Abs 2 Satz 1 SGB V), die wiederum die Approbation voraussetzt (vgl § 95a Abs 1 Nr 1 SGB V) - der Boden entzogen ist. Es ist in der Konsequenz kaum nachvollziehbar, dass bei dem letztlich schwerwiegenderen Eingriff des Approbationswiderrufs der Umstand keine Rolle spielt, dass der betroffene Arzt nach wiedererlangter Approbation wegen der Zulassungsbeschränkungen ggf nicht mehr an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen kann, dies jedoch bei einer (nicht vollzogenen) Zulassungsentziehung Berücksichtigung zu finden hat. Eine Ungleichhandlung von Approbationswiderruf und Zulassungsentziehung wäre nur gerechtfertigt, wenn sich dafür zwingende Gründe anführen ließen; solche sieht der Senat nicht mehr.

34

bb) Für die Berücksichtigung nachträglichen Wohlverhaltens bei der Zulassungsentziehung hat der Senat bislang angeführt, dass ein Vertragsarzt, dem die Zulassung entzogen worden sei, in der Regel seine Praxis verliere, und die Chancen von Ärzten, nach Ablauf einer mindestens fünfjährigen Bewährungsfrist nach Ausscheiden aus der vertragsärztlichen Versorgung am bisherigen Praxisstandort neu zugelassen zu werden, gering sein können. Der erneuten Zulassung am bisherigen Ort der Praxis stünden oftmals rechtliche Hindernisse wie die Sperrung des Planungsbereichs wegen Überversorgung und/oder die Überschreitung der Altersgrenze des § 25 Satz 1 Ärzte-ZV entgegen(BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 15). Eine lediglich theoretische Chance zur Wiederaufnahme einer ärztlichen Tätigkeit nach Entziehung der Zulassung könnte mit dem Grundrecht aus Art 12 Abs 1 GG kollidieren.

35

Im vertragszahnärztlichen Bereich sind die für die Wohlverhaltens-Rechtsprechung angeführten Gesichtspunkte jedoch schon seit längerer Zeit ohne Bedeutung, weil der Gesetzgeber dort mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung auf eine Steuerung durch zwingende Zulassungsbeschränkungen verzichtet hat (vgl hierzu Flint in Hauck/Noftz, SGB V, Stand September 2012, § 103 RdNr 107 f, § 100 RdNr 50 ff, § 101 RdNr 99 f), sodass ein Zahnarzt nach Wiedergewinnung seiner Eignung im Anschluss an eine Zulassungsentziehung sogar im bisherigen Planungsbereich neu zugelassen werden kann. Hier ist somit eine Rechtfertigung für die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung entfallen.

36

Aber auch im vertragsärztlichen Bereich haben sich in den letzten Jahren die beruflichen Chancen von Ärzten innerhalb und außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung so deutlich verbessert, dass die Erwägung, eine Zulassungsentziehung stehe zumindest faktisch einer Beendigung der ärztlichen Tätigkeit im Sinne einer wirtschaftlich tragfähigen beruflichen Betätigung gleich, nicht mehr gerechtfertigt ist. Zu nennen ist zum einen der Wegfall aller - einer (Wieder-)Zulassung ggf entgegenstehenden - Altersgrenzen für die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung. Die Altersgrenze nach § 25 Satz 1 Ärzte-ZV aF - danach war eine (Erst- und Wieder-)Zulassung ausgeschlossen, wenn ein Arzt das 55. Lebensjahr vollendet hatte - ist durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22.12.2006 (BGBl I 3439) mit Wirkung zum 1.1.2007 aufgehoben worden; § 95 Abs 7 Satz 3 SGB V aF, der die Beendigung der Zulassung eines Vertragsarztes mit Vollendung des 68. Lebensjahres vorgab, ist durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung ( GKV-OrgWG vom 15.12.2008, BGBl I 2426 ) zum 1.10.2008 aufgehoben worden.

37

Zum anderen haben sich die Neu- oder Wiederzulassungsmöglichkeiten in Deutschland erheblich gebessert. Für Hausärzte bestehen zahlreiche Zulassungsmöglichkeiten und auch fachärztliche Zulassungsbereiche außerhalb der Ballungsräume und besonders attraktiver Landkreise stehen offen. Der Gesetzgeber hat durch die Möglichkeit von Arztanstellungen in Praxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) und die Möglichkeit der Übernahme hälftiger Versorgungsaufträge die Aussichten von Ärzten, auch in fortgeschrittenem Lebensalter (neu oder wieder) vertragsärztlich tätig zu werden, auch ohne eine eigene Praxis eröffnen zu müssen, deutlich erweitert.

38

Das ändert zwar nichts daran, dass eine (vollzogene) Zulassungsentziehung weiterhin im Regelfall zu einem Verlust der bisherigen Praxis führt. Jedoch stellt der Gesichtspunkt des Praxisverlusts und der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Praxis keine Besonderheit des Vertragsarztrechts dar, sondern gilt gleichermaßen für alle freien Berufe, deren Tätigkeit von einer Approbation, Zulassung oder einer anderen Form der Genehmigung abhängig ist. Auch rein privatärztlich tätige Ärzte und in anderen Gesundheitsberufen Tätige (etwa Apotheker, Logopäden), aber auch Rechtsanwälte und Notare müssen sich nach einem Verlust der bisherigen Praxis unter mehr oder weniger großem finanziellen Aufwand und unter Schaffung eines neuen Kundenstamms eine neue Praxis aufbauen.

39

Entsprechendes gilt auch für den Gesichtspunkt, dass eine erneute vertragsärztliche Tätigkeit nicht am Ort der bisherigen Tätigkeit, sondern ggf nur an einem anderen Ort möglich ist. Denn es ist dem betroffenen Arzt auch unter Berücksichtigung des Art 12 Abs 1 GG zuzumuten, ein Wiederzulassungsverfahren an einem anderen Ort zu betreiben. Er hat keinen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch darauf, am bisherigen Ort der Tätigkeit wieder zugelassen zu werden (in diesem Sinne zB BVerwG Beschluss vom 25.2.2008 - 3 B 85/07 -, Juris RdNr 17). Durch Art 12 Abs 1 GG ist nicht die Tätigkeit als Vertragsarzt an einem bestimmten Ort geschützt, sondern allein die vertragsärztliche Tätigkeit als solche. Im Übrigen müssen sich auch Ärzte - anderen Staatsbürgern vergleichbar, die infolge einer rechtskräftigen Verurteilung ihren Arbeitsplatz verlieren - nach Wiedererteilung der Approbation bzw Wiedererlangung der Zulassung neu in ihrem Beruf einrichten, und zwar unter den dann herrschenden Bedingungen (BVerwG aaO).

40

cc) Der bisherigen Rechtsprechung lag - zumindest in ihren Anfängen - unausgesprochen die Erwägung zugrunde, dass der Arzt von vornherein nur in Ausnahmefällen die Chance erhalte, trotz Entziehung der Zulassung weiter vertragsärztlich tätig zu sein und die Voraussetzung für "Wohlverhalten" zu schaffen. Im Regelfall - insbesondere bei Falschabrechnungen und anderen Betrugshandlungen - wurde in der Vergangenheit ohne Beanstandung durch die Rechtsprechung die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet, sodass für Wohlverhalten von vornherein kein Raum war. Für diese Differenzierung ist im Hinblick auf die aktuelle Rechtsprechung des BVerfG zur Vollziehung von Zulassungsentziehungen kein Raum mehr. Das BVerfG geht unter Hinweis auf Art 19 Abs 4 GG davon aus, dass die Vollziehung regelmäßig nur in Betracht kommt, wenn die Weiterführung der Praxis während des gerichtlichen Verfahrens das Wohl der Patienten gefährdet (vgl BVerfG Beschluss vom 8.11.2010 - 1 BvR 722/10 - NZS 2011, 619 f; vgl auch BVerfG Beschluss vom 18.4.2012 - 1 BvR 791/12 - Juris RdNr 8 = NZS 2012, 700 = GesR 2012, 486). Das ist eine seltene Ausnahme, weil in solchen Fällen regelmäßig schon die Approbation widerrufen wird, sodass ein gesondertes Zulassungsentziehungsverfahren obsolet ist. Deshalb ist rein tatsächlich die nicht vollzogene Entziehung auch in gravierenden Fällen von Abrechnungsbetrug die Regel und nicht mehr - wie ursprünglich vom Senat angenommen - die Ausnahme (s hierzu Pawlita in jurisPK-SGB V, 2. Aufl 2012, § 95 RdNr 641 und § 97 RdNr 84). Infolgedessen und in Verbindung mit einer häufig langen Dauer der gerichtlichen Verfahren wird das "Wohlverhalten", das nach der Rechtsprechung ganz seltenen, besonders gelagerten Fällen vorbehalten bleiben sollte, faktisch zum regelmäßigen Prüfungsgesichtspunkt bei Zulassungsentziehungen. Das widerspricht der in § 95 Abs 6 SGB V zum Ausdruck kommenden Vorstellung des Gesetzgebers und macht das gerichtliche Verfahren über eine Entziehung rein tatsächlich in einer Vielzahl von Fällen zu einem Verfahren, in denen es nur um das "Wohlverhalten" geht. Das ist eine Fehlentwicklung, die der Senat nicht beabsichtigt hat und nunmehr korrigiert.

41

dd) Unausgesprochen ist die bisherige Rechtsprechung auch von der Erwägung geprägt, die für den betroffenen Arzt oft schwer zumutbaren Folgen einer unangemessen langen Dauer des gerichtlichen Verfahrens in gewissem Umfang zu kompensieren. Das wird schon an der Verzahnung über die Frist von fünf Jahren deutlich, die Voraussetzung für "Wohlverhalten" und zugleich - auf zwei Instanzen bezogen - Indikator für eine Verletzung des Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention ist. Je länger wegen der vom Arzt (mutmaßlich) nicht zu beeinflussenden Verfahrensdauer die Ungewissheit über die berufliche Zukunft des Arztes dauerte, desto eher lag es nahe, den Arzt im Verfahren so zu behandeln, als hätte er sich zwischenzeitlich "bewährt", und deshalb im System zu belassen. Ein Ausgleich für die Folgen unangemessen langer gerichtlicher Verfahren im Verfahren selbst ist jedoch spätestens nach Inkrafttreten des "Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren" vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat klargestellt, dass den berechtigten Belangen der Beteiligten über eine Entschädigung in Geld Rechnung zu tragen ist. Kompensationen mit Auswirkungen auf das Ergebnis der Entscheidung in der Sache sind deshalb - abgesehen vom Strafverfahren - ausgeschlossen (in diesem Sinne schon BSG Beschluss vom 15.8.2012 - B 6 KA 15/12 B - RdNr 18).

42

ee. Es ist - auch dem Senat - in den letzten drei Jahrzehnten nicht gelungen, handhabbare Kriterien für die richtige Anwendung des Gedankens des "Wohlverhaltens" zu entwickeln. Betroffen davon sind Fälle wie der hier zu beurteilende, in denen feststeht, dass der Arzt das Verhalten, das zur Entziehung der Zulassung geführt hat, nicht fortsetzt und den Schaden ausgeglichen hat. Der Senat hat zwar einerseits - zumindest in einigen Entscheidungen (vgl BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 20 unter Hinweis auf BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 22 sowie BSG Beschluss vom 28.4.1999 - B 6 KA 69/98 B - Juris RdNr 5) - betont, dass es für "Wohlverhalten" nicht ausreicht, wenn sich der Arzt in der "Bewährungszeit" rein passiv verhalte. Andererseits hat er aber keine von der Praxis der Gerichte umsetzbaren Maßstäbe dafür entwickeln können, was für Umstände gegeben sein müssen, die insoweit ausreichen. Klar ist immer nur, was - abgesehen von Abrechnungsverstößen - der Annahme eines "Wohlverhaltens" entgegensteht: dies sind etwa berechtigte Beschwerden von Versicherten über Weigerung von Hausbesuchen, schleppende oder verzögerte Beantwortung von Anfragen der Kostenträger, unzureichende Erfüllung der Fortbildungsverpflichtungen oder Verweigerung der Kooperation bei Maßnahmen der Qualitätssicherung (vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 17). Entsprechendes gilt, wenn einem Arzt erkennbar die Einsicht in den Unrechtsgehalt seines zur Zulassungsentziehung führenden Verhaltens fehlt und er weiterhin in Abrede stellt, sich fehlerhaft verhalten zu haben (vgl BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 15; BVerfG SozR 4-2500 § 95 Nr 18 RdNr 4). Was aber gilt, wenn der Arzt insoweit tut, wozu er verpflichtet ist, und dazu auch nicht ständig gemahnt werden muss, ist offengeblieben.

43

Keine klaren Vorgaben hat die Rechtsprechung auch zur Ausfüllung des Grundsatzes machen können, dass dem "Wohlverhalten" eines Arztes während des Streits über die Zulassungsentziehung grundsätzlich geringeres Gewicht zukommt als schwerwiegenden Pflichtverletzungen in der Vergangenheit, die zur Zulassungsentziehung geführt haben (vgl BSGE 73, 234, 243 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4 S 19; BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 24). Wenn das immer gelten würde, ginge die Prüfung von "Wohlverhalten" von vornherein ins Leere; wann die Ausnahme erfüllt ist, lässt sich nicht bestimmen. Klare Grenzziehungen etwa hinsichtlich der Schadenssumme - wie etwa im Steuerstrafrecht im Hinblick auf die hinterzogene Summe - lassen sich nicht treffen.

44

Soweit der Senat überhaupt Kriterien für ein "Wohlverhalten" benannt hat, haben auch diese die Rechtsanwendung nicht verlässlich steuern können. So geht der Gesichtspunkt einer Mitwirkung des Arztes an der Aufklärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe (vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 22; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 20) dann (weitgehend) ins Leere, wenn es seines Zutuns überhaupt nicht mehr bedarf, sondern er mit einem bereits vollständig aufgeklärten Sachverhalt konfrontiert wird. Hinzu kommt, dass eine etwaige Mitwirkung an der Aufklärung in aller Regel - ja geradezu zwingend - vor einer Entscheidung des Beklagten liegen wird und daher im Rahmen einer Prüfung nachträglichen Wohlverhaltens nicht berücksichtigt werden könnte (zum Beginn der Wohlverhaltensfrist vgl BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 15 am Ende; BSG Beschluss vom 15.8.2012 - B 6 KA 3/12 B - Juris RdNr 15).

45

Gegen eine Berücksichtigung des Umstandes, dass der betroffene Arzt den von ihm verursachten Schaden ausgeglichen hat, ließe sich schon einwenden, dass dies eine Selbstverständlichkeit darstellt. Abgesehen davon ist eine Berücksichtigung dieses Aspektes deswegen heikel, weil hiervon gerade die besonders einsichtigen Ärzte nicht profitieren würden. Da nur "nachträgliche" - also nach der Entscheidung des Berufungsausschusses eingetretene - Umstände Berücksichtigung finden können, wirkt sich dies zu Lasten des Arztes aus, der den Schaden möglichst schnell reguliert, dies also alsbald nach Bekanntwerden der Vorwürfe oder jedenfalls kurz nach der Entscheidung des Zulassungsausschusses tut.

46

Das Kriterium der Einsicht des Betroffenen in den Unrechtsgehalt seines Verhaltens (BVerfG Nichtannahmebeschluss vom 22.12.2008 - 1 BvR 3457/08 - SozR 4-2500 § 95 Nr 18 RdNr 4; BSG Beschluss vom 5.11.2008 - B 6 KA 59/08 B - Juris RdNr 11; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 15; vgl auch BSGE 93, 269 = SozR 4-2500 § 95 Nr 9, RdNr 24 sowie BSG Beschluss vom 27.6.2001 - B 6 KA 7/01 B - Juris RdNr 11) führt ebenfalls zu zweifelhaften Ergebnissen. Zwar kann von einem Arzt, dem jegliche Unrechtseinsicht fehlt, in der Regel nicht sicher angenommen werden, dass er in Zukunft die Regeln einhalten wird. Es gibt jedoch umgekehrt keine "harten" Tatsachen, die eine Unrechtseinsicht belegen können. So wäre etwa bei einem Schreiben des betroffenen Arztes, in dem er sein Bedauern ausdrückt, regelmäßig zu hinterfragen, ob dieses Schreiben nicht auf nur taktischen Erwägungen beruht.

47

Der Umstand, dass die Berücksichtigung von "Wohlverhalten" nur in der Zeit zwischen der Entscheidung des Berufungsausschusses und derjenigen des LSG in Betracht kommt, führt zudem zu nicht gerechtfertigten Zufallsresultaten. Je länger der Berufungsausschuss mit seiner Entscheidung gewartet hat oder hat warten müssen, desto eher fallen wichtige Entscheidungen des betroffenen Arztes in die Zeit vor der Beschlussfassung im Berufungsausschuss. Insbesondere gilt dies für ein Zugestehen der Vorwürfe und eine Schadenswiedergutmachung, aber auch für Maßnahmen wie eine Neuorganisation der Praxis. Das muss dann zwar der Berufungsausschuss berücksichtigen, kann aber bei der Prüfung nachträglichen "Wohlverhaltens" keine Rolle spielen. Daher hat ein Arzt, der zunächst nicht kooperiert und erst nach der Entscheidung des Berufungsausschusses einlenkt, mehr Chancen, sein neu gewonnenes "Wohlverhalten" zu belegen.

48

Auch die umgekehrte Situation lässt Wertungsprobleme erkennen, wie der vorliegende Fall zeigt: die Beigeladene zu 1. hat dem Kläger im Januar 2003 im Disziplinarverfahren eine Geldbuße in Höhe von 8000 Euro wegen der Beschäftigung von drei Vertretern im Quartal II/2002 ohne Genehmigung der KÄV auferlegt. Hätte der Kläger diesen weiteren Pflichtenverstoß im Anschluss an die Entscheidung des Berufungsausschusses im Laufe des gerichtlichen Verfahrens begangen, wäre jede Berufung auf "Wohlverhalten" illusorisch gewesen, selbst wenn nach der neuen Tat noch einmal fünf Jahre vor der Erledigung des Verfahrens vergangen wären. Denn jede Pflichtverletzung ähnlicher Ausrichtung wie diejenigen, die Gegenstand der Zulassungsentziehung sind, schließt - jedenfalls grundsätzlich - ein "Wohlverhalten" auf Dauer aus.

49

ff) Schließlich können von einer in ihrer Anwendung durch die Instanzgerichte kaum vorhersehbaren Rechtsprechung Anreize ausgehen, allein im Hinblick auf die Chance, in den Genuss der "Wohlverhaltensrechtsprechung" zu gelangen, Zulassungsentziehungen auch dann anzugreifen, wenn sie zum Zeitpunkt ihres Ergehens ersichtlich gerechtfertigt sind. Auch das belegt der hier zu beurteilende Fall. Dass bei Pflichtverletzungen der vom Kläger begangenen Art und Dauer - bei einem Schaden von knapp 2 Mio Euro und einer strafgerichtlichen Verurteilung wegen Betruges - die Zulassung zu entziehen ist, kann nicht zweifelhaft sein und war es in der gerichtlichen Praxis auch zu keinem Zeitpunkt. Die Aufgabe der Rechtsprechung zum "Wohlverhalten" rückt die Dinge wieder zurecht: der Arzt, der meint, ihm sei die Zulassung zu Unrecht entzogen, kann und muss diese - aber auch nur diese - Frage gerichtlich klären lassen. Will er zeigen, dass er sich neu bewähren kann, nimmt er die Entziehung hin und beantragt nach zumindest fünfjähriger Wartezeit eine neue Zulassung.

50

gg) Damit wird nicht verkannt, dass eine Zulassungsentziehung die Berufsfreiheit in einem Maße einschränkt, das in seiner Wirkung der Beschränkung der Berufswahl iS des Art 12 Abs 1 GG nahe kommt (vgl zB BSGE 103, 243 = SozR 4-2500 § 95b Nr 2, RdNr 70 mwN). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es Art 12 Abs 1 GG überhaupt gebietet, dass ein Vertragsarzt nach einer gröblichen, eine Zulassungsentziehung auf Dauer rechtfertigenden Pflichtverletzung in jedem Fall die Möglichkeit haben muss, eine Zulassung als freiberuflich tätiger Arzt wiederzuerlangen, oder ob es ausreicht, dass er die Möglichkeit hat, in anderer Form (etwa als angestellter Arzt in einem MVZ) an der vertragsärztlichen Versorgung teilzunehmen.

51

Denn abgesehen davon, dass bereits das Gesetz - gerade im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - sehr hohe Anforderungen an eine Entziehung der Zulassung stellt (vgl BVerwG Buchholz 418.00 Ärzte Nr 100 = NJW 1999, 3425 zur Feststellung der Berufsunwürdigkeit), macht diese jedenfalls einen Wiedereinstieg nach Absolvieren einer Bewährungszeit nicht (mehr) faktisch unmöglich, sodass die Privilegierung durch die "Wohlverhaltensrechtsprechung" nicht mehr durch Art 12 Abs 1 GG geboten ist. Den schwerwiegenden Folgen einer Zulassungsentziehung ist bereits bei der Entscheidung darüber Rechnung zu tragen, ob die Pflichtverletzungen eine Zulassungsentziehung unabdingbar erforderlich machen.

52

Auch der Umstand, dass das BVerfG es in einer - die Amtsenthebung eines Notars betreffenden - Kammerentscheidung als problematisch erachtet hat, die gerichtliche Entscheidung allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Amtsenthebungsverfahren zu stützen und nachträgliche Veränderungen unberücksichtigt zu lassen (BVerfG Beschluss vom 31.8.2005 - 1 BvR 912/04 - BVerfGK 6, 156, 161 = NJW 2005, 3057, 3058; s hierzu auch BGHZ 190, 187 RdNr 18 = NJW 2011, 3234 ff), erfordert kein Festhalten an der bisherigen Rechtsprechung. Soweit das BVerfG dort die Auffassung vertreten hat, die Nichtberücksichtigung nachträglicher Veränderungen könne im Hinblick auf die Berufswahlfreiheit des Notars, der nach dem Verlust seines Amtes nur die Möglichkeit habe, bei Vorliegen eines Bedürfnisses, nach Ausschreibung der Notarstelle und bei Bestehen der Konkurrenz mit anderen Bewerbern erneut bestellt zu werden, verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen (BVerfG, aaO = Juris RdNr 18), kommt diesen - ursprünglich auch vom Senat geteilten - Bedenken aus den dargestellten Gründen jedenfalls im Bereich des Vertragsarztrechts keine derart gravierende Bedeutung mehr zu, dass sie ein Abweichen vom Grundsatz erforderten. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass das BVerfG derartige Bedenken in Bezug auf den Widerruf der Approbation bislang nicht gesehen hat (vgl zB BVerfGK 12, 72 ff - zur Versagung der Wiedererteilung einer Apotheker-Approbation).

53

hh) Einer Aufgabe der "Wohlverhaltens"-Rechtsprechung stehen auch keine Umsetzungsprobleme entgegen. Die Rechtsprechungsänderung bewirkt lediglich, dass die Prüfung, ob das Vertrauensverhältnis wiederhergestellt ist, nun nicht mehr im Verfahren über die Zulassungsentziehung, sondern im Verfahren über die Wiederzulassung des Arztes zu erfolgen hat. Die Rechtsprechung des Senats zu den an eine Wiederzulassung zu stellenden Anforderungen bleibt von der Aufgabe der "Wohlverhaltens"-Rechtsprechung unberührt. Einem Antrag auf Wiederzulassung (wie auch einer diesbezüglichen Entscheidung) steht nicht entgegen, dass die Entziehung der bisherigen Zulassung noch nicht bestandskräftig geworden ist, da ein Anspruch auf eine bestandssichere Zulassung besteht.

54

Die Notwendigkeit, nunmehr ein Verfahren auf Wiederzulassung zu betreiben, hat allerdings auch zur Konsequenz, dass bei besonders langer Dauer des gerichtlichen Verfahrens über die Rechtmäßigkeit einer Zulassungsentziehung die übliche "Bewährungszeit" abgelaufen sein kann, bevor die Zulassungsentziehung bestandskräftig ist. Allein der Umstand, dass noch ein gerichtliches Verfahren über die Zulassungsentziehung anhängig ist, hindert den betroffenen Arzt nicht, sich um eine erneute Zulassung zu bewerben. Kann er die zuständigen Zulassungsgremien - etwa in einem anderen KÄV-Bezirk - davon überzeugen, dass er ungeachtet des noch nicht abgeschlossenen gerichtlichen Verfahrens jedenfalls wieder für die Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit geeignet ist, kann er grundsätzlich erneut zugelassen werden.

55

Von der neuen ärztlichen Zulassung darf der Vertragsarzt aber erst Gebrauch machen, wenn und soweit er zumindest auf die Rechte aus der entzogenen Zulassung verzichtet oder der Rechtsstreit über die Entziehung erledigt wird. Kein Arzt kann über zwei Zulassungen mit vollem Versorgungsauftrag verfügen. Ausgehend von diesem Grundsatz und unter Ausnutzung des Instruments der Bedingung als Nebenbestimmung im Sinne des § 32 Abs 2 Nr 2 SGB X müssen die Verwerfungen gelöst werden, die sich zumindest theoretisch aus dem Nebeneinander von gerichtlichem Verfahren über eine Zulassungsentziehung und Neuzulassungsverfahren ergeben können. Dazu dürfte es aber nur in den seltenen Fällen kommen, in denen auch nach Inkrafttreten des "Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren" vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) ein die Rechtmäßigkeit einer Zulassungsentziehung betreffendes gerichtliches Verfahren nicht abgeschlossen ist, bevor ein betroffener Arzt Chancen auf eine Wiederzulassung hat, und zugleich auf die neue Zulassung wieder verzichten will, wenn der Entziehungsbescheid rechtskräftig aufgehoben wird. Wie diese mutmaßlich sehr seltenen Konstellationen zu lösen sind, dürfte sich einer generellen Festlegung entziehen. Der Regelung des § 12 Kündigungsschutzgesetz, die dem Arbeitnehmer, der vor rechtskräftigem Abschluss des Kündigungsschutzprozesses ein neues Arbeitsverhältnis eingegangen ist, ein befristetes Wahlrecht einräumt, bei welchem Arbeitgeber er nach rechtskräftigem Obsiegen im Kündigungsschutzprozess weiter arbeiten will, können zumindest wichtige Wertungsgesichtspunkte für die Lösung entnommen werden.

56

d) Der Senat wendet die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Wohlverhalten deshalb auf Entscheidungen der Berufungsausschüsse, die nach Veröffentlichung dieses Urteils ergehen, nicht mehr an. Aus Gründen prozessualen Vertrauensschutzes muss es in den anderen Fällen bei der bisherigen Rechtsprechung verbleiben, soweit Ärzte bei lange laufenden Gerichtsverfahren davon abgesehen haben, sich nach (mutmaßlich) eingetretener Bewährung um eine neue Zulassung zu bewerben. Dies kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn - wie dem hier zu beurteilenden Verfahren - die vom Senat für ein "Wohlverhalten" vorausgesetzte "Bewährungszeit" von fünf Jahren (vgl BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 55 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; zuletzt BSG Beschluss vom 15.8.2012 - B 6 KA 3/12 B - Juris RdNr 15) seit der Entscheidung des Berufungsausschusses bereits verstrichen ist.

57

4. Auf der Basis der bisherigen und hier noch fortgeführten Rechtsprechung hält sich die Entscheidung des LSG, dem Kläger "Wohlverhalten" zuzubilligen, in dem Rahmen, der der tatrichterlichen Würdigung des LSG vorbehalten ist. Der Senat vermag zwar nicht zu erkennen, weshalb in einem Verfahren, in dem schon das Verfahren in erster Instanz mehrere Jahre gedauert und das LSG erst nach Jahren über eine Beschwerde gegen die Aussetzung des Verfahrens entschieden hat, das LSG ohne jede erkennbaren tatsächlichen Ermittlungen für die Entscheidung drei Jahre benötigt und dem Kläger damit die Tür zur Berücksichtigung von Wohlverhalten trotz erheblicher Pflichtverletzungen geöffnet hat; das ist aber nicht rückwirkend zu korrigieren.

58

a) Nach der Rechtsprechung des Senats zum sog "Wohlverhalten" ist zu prüfen, ob sich die Sachlage während des Prozesses durch ein Wohlverhalten des Leistungserbringers in einer Weise zu seinen Gunsten geändert hat, dass eine Grundlage für eine erneute Vertrauensbasis zwischen dem Betroffenen und den vertragsarztrechtlichen Institutionen wieder aufgebaut worden ist und damit eine Entziehung nicht mehr als angemessen erscheint (stRspr des BSG, vgl SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 16 f; zuletzt BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 54, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Wohlverhalten setzt eine zweifelsfreie nachhaltige Verhaltensänderung während eines Zeitraums von mehreren Jahren sowie eine zweifelsfreie Prognose künftig rechtmäßigen Verhaltens voraus (in diesem Sinne zusammenfassend BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 24 RdNr 55 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; vgl auch BSG Beschluss vom 27.6.2007 - B 6 KA 20/07 B - Juris RdNr 13; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 19; zuletzt BSG Beschluss vom 15.8.2012 - B 6 KA 3/12 B - Juris RdNr 16).

59

"Wohlverhalten" erfordert somit (retrospektiv) eine Verhaltensänderung und (prospektiv) eine "positive" Prognose. Das LSG hat alle Umstände des Einzelfalls aufzuklären, die dafür und dagegen angeführt werden können, dass der Arzt sich künftig - anders als in der Vergangenheit - korrekt verhalten wird, und diese umfassend zu würdigen (vgl BSG SozR 4-2500 § 95 Nr 12 RdNr 17 f; BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 14).

60

Nach § 163 SGG ist das BSG an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind. Bei Prognoseentscheidungen sind tatsächliche Feststellungen bezogen auf hypothetische Tatsachen zu treffen; zur Rechtsanwendung gehört jedoch die Prüfung, ob die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt bzw ob alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt sind (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 162 SGG RdNr 3a).

61

b) Der vom LSG vertretenen Auffassung, dass es für die Annahme von "Wohlverhalten" ausreicht, wenn keine ernstlichen Zweifel an einer stattgehabten Verhaltensänderung sowie an einem zukünftig pflichtgemäßen Verhalten bestehen, stehen jedenfalls keine zwingenden Rechtssätze des erkennenden Senats entgegen. Dieser hat sich nicht in dem Sinne festgelegt, dass die Feststellung "positiver" Umstände für die Annahme eines "Wohlverhaltens" unabdingbar ist.

62

Zwar hat der Senat wiederholt darauf hingewiesen, dass ein "Wohlverhalten" - anders als etwa bei strafprozessualen Bewährungsfristen - nicht an einen bloßen Zeitablauf geknüpft ist (vgl BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 10; zuletzt BSG Beschluss vom 15.8.2012 - B 6 KA 3/12 B - Juris RdNr 16). Damit soll jedoch allein verdeutlicht werden, dass ein Verstreichen der Wohlverhaltensfrist nicht genügt, sondern es darüber hinaus - wie vorstehend dargelegt - einer Würdigung des bisherigen und einer prognostischen Wertung des zukünftigen Verhaltens bedarf: eine an sich indizierte Ungeeignetheit kann nur dann durch eine bloße lange Zeitdauer relativiert werden, wenn ein künftiges rechtmäßiges Verhalten prognostiziert werden kann (BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 19 unter Bezugnahme auf BSG Beschluss vom 27.6.2007 - B 6 KA 20/07 B - Juris RdNr 13).

63

Wie die Tatsachengerichte diese Würdigung vornehmen und welche Umstände sie dieser zugrundelegen, ist grundsätzlich von ihnen zu beurteilen und entzieht sich - aus rechtlichen wie auch tatsächlichen Gründen - einer abschließenden revisionsgerichtlichen Festlegung. Der Senat hat wiederholt dargelegt, dass es je nach der Art der dem Vertrags(zahn)arzt vorgeworfenen Pflichtverletzung unterschiedlich sein kann, welche Gesichtspunkte bei der Prüfung des sog Wohlverhaltens von Bedeutung sind, und dies generalisierender Prüfung nicht zugänglich ist (BSG Beschluss vom 27.6.2007 - B 6 KA 20/07 B - Juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 28.4.1999 - B 6 KA 69/98 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 19.6.1996 - 6 BKa 25/95 - MedR 1997, 86, 87; zuletzt BSG SozR 4-5520 § 21 Nr 1 RdNr 19).

64

Bei der Festlegung der an ein "Wohlverhalten" zu stellenden Anforderungen ist auch in den Blick zu nehmen, welche dies überhaupt sein könnten und ob sie bei realistischer Betrachtung erfüllt werden können. Dass es dabei nicht darum gehen kann, dass sich der betroffene Arzt als besonders "guter" Mensch geriert, sondern allein um solche Maßnahmen bzw Handlungen, die Bezug zu den von ihm begangenen Pflichtverletzungen haben, steht außer Frage. Derartige Umstände, wie eine Mitwirkung an der Aufklärung und eine Wiedergutmachung des Schadens, liegen aber - wie bereits (unter 3.c. ee.) dargelegt - regelmäßig vor einer Entscheidung des Berufungsausschusses und können daher bei der Prüfung eines während des nachfolgenden Gerichtsverfahrens gezeigten "Wohlverhaltens" keine Berücksichtigung finden.

65

Wenn es die Gerichte für die ihnen obliegenden Feststellungen und Prognosen als ausreichend erachten, dass der betroffene Arzt sich in der Folgezeit korrekt verhalten hat (zur Wertung des "Wohlverhaltens" als bloßes korrektes "Normalverhalten" vgl schon Siewert, BKK 1974, 131 ff), ist dies revisionsgerichtlich hinzunehmen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie vorliegend - der Arzt auch die aus seinem Verhalten in der Vergangenheit entstandenen Folgen bereinigt, insbesondere einen entstandenen Schaden ausgeglichen hat. Ob ein beanstandungsfreies Verhalten auch im Rahmen eines auf eine Wiederzulassung gerichteten Verfahrens für die Beurteilung ausreicht, dass das Vertrauen wiederhergestellt ist, lässt der Senat ausdrücklich offen. Bedenken könnten sich insoweit ergeben, weil bei der Prüfung der Wiederzulassung - anders als beim "Wohlverhalten" im Falle einer nicht vollzogenen Zulassungsentziehung - mangels Ausübung einer vertragsärztlichen Tätigkeit die Annahme eines "korrekten" Verhaltens nicht ohne Weiteres auf entsprechende Feststellungen der KÄV bzw der Krankenkassen gestützt werden kann.

66

c) Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des LSG nicht zu beanstanden. Tatsächliche Umstände, die zumindest Hinweise in Richtung auf Zweifel an der künftigen Beachtung der vertragsärztlichen Pflichten liefern könnten, hat das LSG nicht festgestellt. Unabhängig davon, ob der Senat an diese "Nichtfeststellung" iS des § 163 SGG gebunden wäre, weil keine Verfahrensrügen erhoben worden sind, zeigen weder die beigeladene KÄV noch die Verbände der Krankenkassen entsprechende Gesichtspunkte auf oder geben auch nur Hinweise, durch welche Form der weiteren Sachaufklärung sich entsprechende Anhaltspunkte ergeben könnten. Deshalb muss als tatrichterliche Würdigung hingenommen werden, dass keine greifbaren Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger sich in Zukunft - nicht anders als seit Oktober 2003 - vertragsärztlich korrekt verhalten wird.

67

Im Hinblick auf diese dem Tatrichter vorbehaltene und hier nicht evident unvertretbare Würdigung könnte der Aspekt des "Wohlverhaltens" nur dann außer Betracht bleiben, wenn die Pflichtverletzungen von solchem Ausmaß waren, dass sie durch keinerlei Wohlverhalten "kompensiert" werden können. Auch das ist in erster Linie Sache der tatrichterlichen Würdigung. Selbst wenn insbesondere im Hinblick auf die Schadenshöhe und die Vielzahl und Vielgestaltigkeit des unerlaubten Einsatzes von Personal in der Praxis des Klägers manches dafür sprechen mag, anders als das LSG zu werten, ist die Grenze für einen Eingriff des Revisionsgerichts in die tatrichterliche Bewertung nicht erreicht.

68

Der Kläger hat die "Bewährungszeit" im Verlaufe der 7 ¼ Jahre des gerichtlichen Verfahrens in den Instanzen beanstandungsfrei hinter sich gebracht. Er ist seiner vertragsärztlichen Tätigkeit nachgegangen, ohne dass seitens der KÄV oder den Krankenkassen Verstöße gegen die vertragsärztlichen Pflichten festzustellen waren. Eine Ausnahme bilden lediglich die - vom LSG zu Recht als marginal beurteilten - unzulässigen SSB-Verordnungen in den Quartalen I/2008 und I bis IV/2009, wobei dies relativ wenige Verordnungen mit einer Rückforderungssumme von insgesamt 508,62 Euro betrifft.

69

Der (ansonsten) beanstandungsfreien Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit kommt umso mehr Bedeutung zu, als die genannten Institutionen angesichts des noch laufenden Entziehungsverfahrens Gelegenheit und Veranlassung zur sorgfältigen Beobachtung der vertragsärztlichen Tätigkeit des Klägers gehabt haben. Dem steht auch nicht entgegen, dass das vertragsärztliche Abrechnungs- und Honorierungssystem grundsätzlich auf Vertrauen aufbaut, weil es der KÄV (bzw den Krankenkassen) ausnahmsweise durchaus zumutbar ist, die Abrechnungen und das sonstige Verhalten eines Vertragsarztes genauer zu beobachten bzw zu hinterfragen.

70

Etwaige Zweifel - insbesondere an einer Unrechtseinsicht des Klägers - ergeben sich auch nicht aus dessen Reaktion auf einen Artikel im "S. Tageblatt" vom 2003, in dem über seine Verurteilung berichtet wurde. Abgesehen davon, dass sich der Kläger seinerzeit in einer hoch emotionalen Situation befunden haben dürfte, liegen diese Umstände noch vor der Entscheidung des Beklagten und haben somit bei der Prüfung eines nachfolgenden Wohlverhaltens außer Betracht zu bleiben. Daher kann ihm die (frühere) Rechtsprechung des Senats zum Wohlverhalten zugutekommen.

71

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff VwGO. Danach haben die Beigeladenen zu 1., 2., 3. und 5. sowie der Beklagte die Kosten zu gleichen Teilen zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist bzw weil sie unterlegen sind (§ 154 Abs 1 und 3 bzw § 154 Abs 2 und 3, jeweils iVm § 159 Satz 1 VwGO). Eine Erstattung der Kosten der Beigeladenen zu 4. und 6. ist nicht veranlasst, da diese keinen Antrag gestellt haben (§ 162 Abs 3 VwGO, vgl BSGE 96, 257 = SozR 4-1300 § 63 Nr 3, RdNr 16).

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Juni 2013 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte die Versicherungsfreiheit der Klägerin nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz (KSVG) ab 1.4.2007 festgestellt hat.

2

Die 1959 geborene Klägerin ist seit 1986 als Malerin, Zeichnerin und Graphikerin selbstständig tätig und nach dem KSVG versichert. Aus ihren Einkommensteuerbescheiden ergaben sich für das Jahr 2002 Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit in Höhe von 1713 Euro und für die Jahre 2003 bis 2005 lediglich negative Einkünfte (für 2003 -5485 Euro, für 2004 -6464 Euro und für 2005 -3635 Euro). Im Dezember 2006 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie beabsichtige, den Bescheid vom 23.5.1986 über die Versicherungspflicht bzw Zuschussberechtigung nach dem KSVG aufzuheben und Versicherungsfreiheit nach § 3 KSVG festzustellen, da Tatsachen, die eine Steigerung des Einkommens bis über die sozialversicherungsrechtliche Geringfügigkeitsgrenze erwarten lassen könnten, nach den Werten der Vorjahre nicht ersichtlich seien.

3

Darauf teilte die Klägerin mit Schreiben vom 24.12.2006 mit, die geringen Einnahmen in den Jahren 2004/2005 seien durch die mit einem Atelierumzug verbundenen Kosten und die Neupositionierung in anderem Umfeld verursacht. 2006 habe sich ihre Einkommenslage verbessert. Sie sei als qualifizierte und professionelle Künstlerin bekannt und habe 2005 mit erheblichem Aufwand eine Produzentengalerie aufgebaut, die ihr gleichzeitig als Schauraum diene. Mit Schreiben vom 30.1.2007 gab die Beklagte der Klägerin Gelegenheit, ihre aktuelle Einkommenssituation durch die Vorlage aller Einnahmebelege (Rechnungen und Kontoauszüge) aus dem Jahr 2006 darzustellen. Nachdem keine weiteren Unterlagen eingegangen waren, stellte die Beklagte Versicherungsfreiheit nach dem KSVG ab 1.4.2007 fest (Bescheid vom 20.3.2007). Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos, nachdem sie ua eine ebenfalls mit negativen Einkünften (-2498,74 Euro) abschließende Gewinnermittlung für das Jahr 2006 vorgelegt hatte (Widerspruchsbescheid vom 18.7.2007).

4

In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat die Klägerin Rechnungen aus dem ersten Halbjahr 2007 über insgesamt 3600 Euro sowie das Unternehmenskonzept einer Diplombetriebswirtin vorgelegt, wonach die Einnahmen im ersten Halbjahr 2007 bei 5100 Euro liegen sollten und für das zweite Halbjahr Einnahmen in Höhe 6000 Euro prognostiziert wurden. Abzüglich der zu erwartenden Ausgaben über 6600 Euro ergebe sich für 2007 ein Betriebsergebnis in Höhe von 4500 Euro - mit steigender Tendenz für die Jahre 2008 und 2009. Die späteren Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2007 und 2008 bestätigten jeweils Einkommen oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze (5074 und 8429 Euro). Für das Jahr 2009 weist der Einkommensteuerbescheid allerdings wieder einen Verlust (-5565 Euro) aus.

5

Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des SG vom 22.9.2010 und des LSG vom 19.6.2013): Es sei nicht zu beanstanden, dass die Beklagte als Grundlage ihrer Einkommensprognose für die Zeit ab 1.4.2007 ausschließlich die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2002 bis 2005 herangezogen habe, da die Klägerin die Gelegenheit zur Vorlage weiterer Einkommensbelege aus dem Jahr 2006 nicht wahrgenommen habe. Die im Juli 2007 vorgelegten Rechnungsbelege für das erste Halbjahr 2007 führten - bezogen auf das gesamte Jahr 2007 - lediglich zu einem geschätzten Gewinn von 3000 Euro und könnten zudem frühestens ab 1.8.2007 berücksichtigt werden. Die erst im Klageverfahren vorgelegten weiteren Unterlagen ließen ebenfalls keine positive Prognose zu und könnten zudem nicht Grundlage einer Einkommensschätzung für das Kalenderjahr 2007 sein. Die Gründe für den Einkommensrückgang seien nach dem Gesetz unbeachtlich. Die Versicherungsfreiheit bestehe bis heute fort.

6

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine fehlerhafte Anwendung der verfahrensrechtlichen Grundsätze, die bei einer Schätzung des voraussichtlichen Arbeitseinkommens aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit zu berücksichtigen seien (§§ 3, 8, 12, 13 KSVG). Insbesondere habe das LSG bei der Überprüfung der Prognoseentscheidung die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und unberücksichtigt gelassen, dass alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides bekannten und ermittelbaren Umstände der Schätzung zugrunde zu legen seien. Die Einkommensprognose sei in vollem Umfang in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen. Schließlich habe das Berufungsgericht der Feststellung der Versicherungsfreiheit rechtsfehlerhaft eine Dauerwirkung zugemessen.

7

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG Berlin-Brandenburg vom 19.6.2013 und des SG Berlin vom 22.9.2010 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 20.3.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.7.2007 aufzuheben.

8

Die Beklagte hält die Urteile für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision ist unbegründet.

10

1. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) zulässig. Die Beklagte hat mit der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach dem KSVG ab 1.4.2007 (Bescheid vom 20.3.2007, Widerspruchsbescheid vom 18.7.2007) ihren Bescheid vom 23.5.1986 aufgehoben, mit dem sie die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG in der Renten- und Krankenversicherung festgestellt hatte. Die Klägerin kann daher ihr Anliegen der Sicherung einer ununterbrochenen Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung (KSV) durch eine schlichte Aufhebung des angefochtenen Bescheides erreichen. Einer zusätzlichen Feststellung der Versicherungspflicht über den 31.3.2007 hinaus bedarf es dafür nicht.

11

2. Der Gegenstand der Anfechtungsklage ist auf die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung der Versicherungsfreiheit ab 1.4.2007 sowie die darin gleichzeitig liegende Aufhebung des Verwaltungsaktes über die Feststellung der Versicherungspflicht (Bescheid vom 23.5.1986) beschränkt. Entscheidend dafür ist grundsätzlich nur die Frage der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes zum Zeitpunkt seines Erlasses (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 54 RdNr 33 mwN). Denn ein Verwaltungsakt, der Versicherungsfreiheit feststellt, hat keine Dauerwirkung. Anders als bei der Feststellung der Versicherungspflicht nach §§ 1 und 8 KSVG wird bei der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach § 3 KSVG gerade kein fortdauerndes Rechtsverhältnis mit Leistungs- und Beitragspflichten festgestellt. Vergleichbar einer ablehnenden Entscheidung über einen Leistungsantrag entfaltet eine negative Feststellung über ein Versicherungsverhältnis über den Zeitpunkt seiner Bekanntgabe hinaus grundsätzlich keine rechtliche Wirkung (vgl hierzu Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 45 RdNr 63 ff mwN). Daher ist die Frage, wie lange eine rechtmäßig festgestellte Versicherungsfreiheit fortbesteht, entgegen der Auffassung des LSG, nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Klägerin kann jederzeit einen neuen Antrag auf Feststellung der Versicherungspflicht stellen, über den zunächst durch Verwaltungsakt und möglicherweise anschließendem Widerspruchs- und Klageverfahren als eigenständiger Streitgegenstand zu entscheiden ist. Ein solcher Antrag kann unter Umständen auch konkludent, zB durch die Vorlage neuer Einkommensbelege gestellt werden. Die Prüfung, ob die Klägerin zwischenzeitlich einen neuen Antrag auf Pflichtmitgliedschaft in der KSV gestellt hat, gehört daher nicht zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, sondern ist Aufgabe der Beklagten. Sollte dies der Fall und der Antrag auch begründet sein, hätte die Beklagte zugleich zu prüfen, ob die Versicherungspflicht nach dem KSVG mit dem Umzug der Klägerin ins Ausland wieder entfallen sein könnte. Gegebenenfalls wäre der Bescheid über die erneute Feststellung der Versicherungspflicht entsprechend zu befristen.

12

3. Die Klage musste auf der Grundlage der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG (§ 163 SGG) erfolglos bleiben, weil die Beklagte ihre im Jahre 1986 getroffene Feststellung der Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG in der Renten- und Krankenversicherung nach § 8 Abs 2 S 2 KSVG(idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze <2. KSVG-ÄndG> vom 13.6.2001, BGBl I 1027) iVm § 48 Abs 1 S 1 SGB X(idF der Bekanntmachung der Neufassung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.1.2001, BGBl I 130) wegen Änderung der Verhältnisse rechtmäßig aufgehoben hat.

13

Nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Infolge der Eigenart der künstlerischen und publizistischen Tätigkeit findet § 48 SGB X nach § 8 Abs 2 KSVG nur eine modifizierte Anwendung, denn nur in den in § 8 Abs 2 S 1 KSVG aufgeführten Fällen lässt sich genau feststellen, wann eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. In den übrigen Fällen (§ 8 Abs 2 S 2 KSVG) ist daher der Bescheid über die Versicherungspflicht bei Änderung der Verhältnisse nur mit Wirkung vom Ersten des Monats an aufzuheben, der auf den Monat folgt, in dem die Künstlersozialkasse (KSK) von der Änderung Kenntnis erhält, es sei denn, der Versicherte hat vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht (vgl dazu Finke/Brachmann/Nordhausen, KSVG, 4. Aufl 2009, § 8 RdNr 8). Soweit mit der Aufhebung in Rechte eines Beteiligten eingegriffen wird, ist diesem nach § 24 Abs 1 SGB X Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

14

a) Der angefochtene Verwaltungsakt ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die Klägerin mit Schreiben vom 12.12.2006 zu der beabsichtigten Aufhebung des Bescheides über die Versicherungspflicht bzw Zuschussberechtigung nach dem KSVG und der Feststellung der Versicherungsfreiheit nach § 24 Abs 1 SGB X ordnungsgemäß angehört.

15

b) Der Verwaltungsakt, mit dem die Beklagte die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 1 KSVG festgestellt hatte(im Bescheid vom 23.5.1986), entfaltet eine Dauerwirkung, da er ein zeitlich nicht befristetes Rechtsverhältnis mit Leistungs- und Beitragspflichten begründet, das sich nicht in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft (vgl dazu Schütze, aaO, § 45 RdNr 63 ff).

16

c) In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses feststellenden Verwaltungsaktes vorgelegen haben, ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt vor, wenn sich die für den Erlass des Verwaltungsaktes entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände so erheblich verändert haben, dass sie rechtlich anders zu bewerten sind und daher der Verwaltungsakt unter Zugrundelegung des geänderten Sachverhalts so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte (vgl zB BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 74, 131 = SozR 3-5870 § 2 Nr 25; BSGE 80, 215 = SozR 3-2940 § 7 Nr 4; BSGE 81, 134 = SozR 3-4100 § 142 Nr 2; BSG SozR 1300 § 48 Nr 22, 44).

17

Bei Erlass des Verwaltungsaktes zur Feststellung der Versicherungspflicht im Mai 1986 galt die Klägerin zunächst noch als Berufsanfängerin, für die nach § 3 Abs 2 KSVG(in der bis zum 31.12.1988 gültigen Fassung durch Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung - Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz - AFKG - vom 22.12.1981, BGBl I 1497) Versicherungspflicht bis zum Ablauf von fünf Jahren nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit unabhängig vom Erreichen eines Mindesteinkommens bestand.

18

Entscheidungserheblich sind nach § 48 Abs 1 S 1 SGB X nur die bei Erlass des Ausgangsbescheides vorliegenden Umstände. Lediglich diese bilden die Vergleichsgrundlage für den Eintritt einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die zum Erlass des Aufhebungsbescheides geführt hat (vgl Waschull in: Diering/Timme/Waschull, SGB X, Lehr- und Praxiskommentar, 3. Aufl 2011, § 48 RdNr 27 ff, mwN). Deshalb kommt es nicht darauf an, dass der Fünf-Jahres-Zeitraum bereits seit langer Zeit abgelaufen war und die Beklagte möglicherweise schon viel früher einen Aufhebungsbescheid mit der Feststellung der Versicherungsfreiheit hätte erlassen können.

19

Der Ausgangsbescheid mit der Feststellung der Versicherungspflicht war nach § 39 Abs 2 SGB X bis zum 31.3.2007 wirksam, da er bis dahin nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich aber die entscheidungserheblichen Umstände wesentlich geändert; denn ein die Versicherungspflicht feststellender Verwaltungsakt hätte jedenfalls ab 1.4.2007 nicht mehr erlassen werden dürfen, weil die Klägerin zu dieser Zeit nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG(idF 2. KSVG-ÄndG vom 13.6.2001, BGBl I 1027) versicherungsfrei war.

20

aa) Gemäß § 3 Abs 1 S 1 KSVG ist nach diesem Gesetz versicherungsfrei, wer in dem Kalenderjahr aus selbstständiger künstlerischer und publizistischer Tätigkeit voraussichtlich ein Arbeitseinkommen erzielt, das 3900 Euro nicht übersteigt. Abweichend davon bleibt nach § 3 Abs 3 KSVG(idF des 2. KSVG-ÄndG) die Versicherungspflicht bestehen, solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die dort genannte Grenze nicht übersteigt.

21

Arbeitseinkommen ist nach der Legaldefinition in § 15 Abs 1 SGB IV(in der insoweit bis heute unveränderten Neufassung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch durch Bekanntmachung vom 23.1.2006, BGBl I 86) der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbstständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist. Aufgrund der Anknüpfung des maßgeblichen Arbeitseinkommens an das Einkommensteuerrecht könnte es für den Künstler überlegenswert sein, gegenüber dem Finanzamt in Wahrnehmung seiner steuerrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten Werbungskosten nur in begrenztem Umfang geltend zu machen, wenn dadurch ein Arbeitseinkommen oberhalb der Mindestarbeitseinkommensgrenze des § 3 Abs 1 S 1 KSVG verbleibt. Die Abwägung, aus diesem Grund einen steuerrechtlichen Nachteil in Kauf nehmen zu wollen, ist Sache des Künstlers. Insoweit obliegen weder der Beklagten noch den Sozialgerichten Hinweis- oder Beratungspflichten; denn es handelt sich um eine ausschließlich steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeit. Weitergehende sozialversicherungsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen nicht; die anzustellende Prognose hat sich ausschließlich an den objektiven Gegebenheiten zu orientieren.

22

Versicherte und Zuschussberechtigte haben nach § 12 Abs 1 S 1 KSVG(idF durch Gesetz zur Organisationsreform in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 9.12.2004, BGBl I 3242) der KSK bis zum 1. Dezember eines Jahres das voraussichtliche Arbeitseinkommen, das sie aus der Tätigkeit als selbstständige Künstler und Publizisten erzielen, bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung für das folgende Kalenderjahr zu melden. Nach Satz 2 dieser Vorschrift schätzt die KSK die Höhe des Arbeitseinkommens, wenn der Versicherte trotz Aufforderung die Meldung nach Satz 1 nicht erstattet oder die Meldung mit den Verhältnissen unvereinbar ist, die dem Versicherten als Grundlage für seine Meldung bekannt waren.

23

Ausgangspunkt der nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG anzustellenden Prognose für das voraussichtlich zu erzielende Arbeitseinkommen sind danach zunächst die Angaben des Versicherten nach § 12 Abs 1 S 1 KSVG. Erst wenn seine Meldung mit den ihr zugrundeliegenden Verhältnissen unvereinbar ist, nimmt die KSK selbst die für die weiteren Entscheidungen maßgebliche Einschätzung des voraussichtlichen Arbeitseinkommens vor.

24

bb) Sachgerechte Prognosen beruhen in der Regel auf erhobenen Daten und Fakten und damit auf Erkenntnissen der Vergangenheit, auf deren Basis unter Berücksichtigung zu erwartender Veränderungen eine Vorausschau für die Zukunft getroffen wird. Daher wird nach der Rechtsprechung des BSG (vgl nur BSG SozR 4-2600 § 5 Nr 6 mwN) in anderen Zusammenhängen, in denen prognostische Beurteilungen über Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen anzustellen sind, auf die Verhältnisse in der Vergangenheit Bezug genommen. Insbesondere bei schwankendem Arbeitsentgelt sei der zu erwartende Verdienst unter Heranziehung der in den Vorjahren erzielten Einkünfte zu schätzen (BSG SozR Nr 6 zu § 168 RVO; BSGE 23, 129 = SozR Nr 49 zu § 165 RVO). Entsprechendes gilt bei selbstständig Tätigen, deren Arbeitseinkommen fast immer schwankt (BSGE 23, 129 = SozR Nr 49 zu § 165 RVO; BSG SozR 2200 § 205 Nr 41). Dabei wird nach ständiger Rechtsprechung zur Beurteilung des regelmäßigen monatlichen Gesamteinkommens iS des § 205 Abs 1 S 1 Halbs 1 RVO sowie iS des § 10 Abs 1 S 1 Nr 5 SGB V für die auf das Jahr bezogene Prognose von dem bekannten letzten Jahreseinkommen ausgegangen(vgl BSG SozR 2200 § 205 Nr 41; SozR 3-2500 § 10 Nr 19; SozR 4-2600 § 5 Nr 6; für Einkünfte aus Kapitalvermögen: BSG SozR 2200 § 205 Nr 52).

25

Der Gesetzgeber ist auch in Bezug auf die Einkommensprognose nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG davon ausgegangen, dass Rückschlüsse für das voraussichtliche Einkommen insbesondere aus dem in der Vergangenheit erzielten Einkommen zu ziehen sind. Dies ergibt sich aus verschiedenen Bestimmungen des Gesetzes: Nach der Regelung des § 3 Abs 3 KSVG bleibt die Versicherungspflicht bestehen, solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die Mindestarbeitseinkommensgrenze nach § 3 Abs 1 KSVG nicht übersteigt. Die Regelung soll einen allzu häufigen und kurzzeitigen Wechsel zwischen Versicherungspflicht und Versicherungsfreiheit vermeiden. Sie bietet aber zugleich Anhaltspunkte dafür, dass das in der Vergangenheit erzielte Einkommen für die Einkommensprognose nicht unberücksichtigt bleiben kann. Insbesondere wenn sich das Arbeitseinkommen aus der selbstständigen künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit in den letzten Jahren dicht an der Mindestgrenze des § 3 Abs 1 KSVG bewegte, kann es für eine sachgerechte Prognose erforderlich sein, das Einkommen der letzten sechs Kalenderjahre zu ermitteln und bei der Prognose zu berücksichtigen. Durch die recht langen Zeiträume wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Künstler möglicherweise längere Zeiträume für die Fertigstellung und/oder den Verkauf eines Werkes benötigen, dann aber unter Umständen höhere Gewinne erzielen können. Für den Nachweis der Angaben zur Höhe des Arbeitseinkommens kann die KSK die Vorlage der erforderlichen Unterlagen, insbesondere von Einkommensteuerbescheiden oder Gewinn- und Verlustrechnungen, verlangen (§ 13 S 3 KSVG). Diese Unterlagen beziehen sich regelmäßig auf bereits vergangene Zeiträume. Es macht aber nur dann einen Sinn, der KSK das Recht zur Anforderung von Unterlagen aus der Vergangenheit einzuräumen, wenn sie diese für die Einkommensprognose benötigt, die auch zur Ermittlung der Beitragshöhe erforderlich ist. Schließlich zeigt auch die Regelung des § 12 Abs 1 S 3 KSVG, dass sich die Einkommensprognose insbesondere am Einkommen der letzten Jahre orientiert. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte, deren voraussichtliches Arbeitseinkommen in dem in § 3 Abs 2 KSVG genannten Zeitraum (regelmäßig drei Jahre nach erstmaliger Aufnahme der Tätigkeit, verlängert um Zeiten nach Satz 2) mindestens einmal die in § 3 Abs 1 KSVG genannte Grenze nicht überschritten hat, der ersten Meldung nach Ablauf dieses Zeitraums vorhandene Unterlagen über ihr voraussichtliches Arbeitseinkommen beizufügen.

26

Insgesamt haben für eine vorausschauende Betrachtung regelmäßig die unmittelbar zurückliegenden Jahre eine größere Bedeutung als die weiter zurückliegende Vergangenheit, und Einkommensentwicklungen ist angemessen Rechnung zu tragen.

27

cc) Eine von den Verhältnissen der Vergangenheit abweichende Einschätzung ist aber geboten, wenn Verhältnisse dargelegt werden, die das Erzielen hiervon abweichender Einkünfte nahelegen. Dabei sind grundsätzlich alle Verhältnisse heranzuziehen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und die Einfluss auf das voraussichtliche Arbeitseinkommen haben. Hierbei wird von der Rechtsprechung in anderen Zusammenhängen keine alle Eventualitäten berücksichtigende genaue Vorhersage gefordert, sondern lediglich eine ungefähre Einschätzung, welches Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen nach der bisherigen Übung mit hinreichender Sicherheit zu erwarten ist (vgl BSG SozR 4-2600 § 5 Nr 6 mwN). Lediglich vage Verdienstaussichten ohne jegliche Verbindlichkeit können - wenn sich in den vergangenen Jahren keine gewinnbringenden Verdienste realisieren ließen - nur dann bei einer Prognose positiv berücksichtigt werden, wenn objektive Umstände solche Verdienstaussichten hinreichend wahrscheinlich machen. Dabei ist zu berücksichtigen, wie häufig und mit welcher Differenz die Mindestgrenze in den letzten Jahren verfehlt wurde und welche Veränderungen der Verhältnisse bessere Verdienstaussichten nahelegen. Denn erforderlich ist, dass die Möglichkeit von Verdiensten oberhalb der Mindestgrenze näher liegt als ein Einkommen unterhalb dieser Grenze.

28

dd) Maßgebend sind die Verhältnisse zur Zeit der Prognoseentscheidung. Nach § 12 Abs 3 S 1 KSVG sind Änderungen in den Verhältnissen, die für die Ermittlung des voraussichtlichen Jahreseinkommens maßgebend waren, auf Antrag mit Wirkung vom Ersten des Monats an zu berücksichtigen, der auf den Monat folgt, in dem der Antrag bei der KSK eingeht. Dies gilt entsprechend, wenn das Jahresarbeitseinkommen geschätzt worden ist (§ 12 Abs 3 S 2 KSVG). Neue Unterlagen, die eine treffsicherere Prognose erlauben oder zeigen, dass das prognostizierte Einkommen tatsächlich nicht erzielt wurde, können daher nur zukunftsbezogen berücksichtigt werden.

29

Für - richtige - Prognosen gilt ohnehin grundsätzlich, dass sie für die Vergangenheit auch dann maßgebend bleiben, wenn sie sich im Nachhinein infolge nicht vorhersehbarer Umstände als unzutreffend erweisen. Solche Umstände können die versicherungsrechtliche Stellung dann nicht in die Vergangenheit hinein verändern. Stimmt die - richtige - Prognose mit dem späteren Verlauf nicht überein, so kann das jedoch Anlass für eine neue Prüfung und - wiederum vorausschauende - Betrachtung sein (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 168 RVO; SozR 2200 § 1228 Nr 1; SozR 3-2500 § 10 Nr 19; SozR 4-2600 § 5 Nr 6).

30

Grundlage der Prognose können daher nur bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides erkennbare Umstände sein. Maßgebend ist der aufgrund der Angaben des Antragstellers bzw Versicherten verfahrensfehlerfrei ermittelte Kenntnisstand der Verwaltung (vgl BSG SozR 4-7833 § 6 Nr 4 RdNr 16).

31

Allerdings ist die Prognoseentscheidung der Sozialverwaltung bezüglich des voraussichtlichen Arbeitseinkommens gerichtlich voll überprüfbar. Der Sozialverwaltung steht dabei kein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zu (vgl hierzu zB Wagner in: jurisPK-SGB I, 2. Aufl 2011, § 39 RdNr 34). Die Gerichte haben insbesondere zu prüfen, ob die Grundlagen für die Prognose richtig festgestellt und alle in Betracht kommenden Umstände hinreichend und sachgerecht gewürdigt sind (vgl BSGE 112, 90 = SozR 4-2500 § 95 Nr 26; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 162 RdNr 3a).

32

ee) Nach diesen Grundsätzen war die Einschätzung der Klägerin, sie werde im Jahre 2007 ein Arbeitseinkommen von mehr als 3900 Euro erzielen, mit den Verhältnissen unvereinbar, die ihr als Grundlage für ihre Meldung bekannt waren, und die Beklagte durfte deshalb das voraussichtliche Arbeitseinkommen unterhalb des Mindesteinkommens von 3900 Euro einschätzen.

33

(1) Die Versicherungspflicht konnte nicht nach § 3 Abs 3 KSVG bestehen bleiben, weil das Arbeitseinkommen der Klägerin schon in den letzten fünf Kalenderjahren (2002 bis 2006) die Mindesteinkommensgrenze nicht mehr erreicht hatte.

34

(2) Das Arbeitseinkommen der Klägerin aus selbstständiger künstlerischer Tätigkeit verfehlte in den letzten fünf Jahren vor Feststellung der Versicherungsfreiheit die Mindesteinkommensgrenze des § 3 Abs 1 KSVG deutlich, ohne dass eine positive Einkommensentwicklung erkennbar gewesen wäre. Die Klägerin konnte lediglich im Jahr 2002 positive Einkünfte in Höhe von 1713 Euro erzielen; für die Jahre 2003 bis 2005 weisen die Einkommensteuerbescheide durchgängig negatives Arbeitseinkommen aus, und auch aus der Gewinnermittlung für 2006 ergab sich ein negatives Einkommen. Vor diesem Hintergrund waren Ermittlungen für weiter zurückliegende Zeiträume nicht mehr erforderlich. Wegen der deutlichen Verfehlung der Mindestgrenze konnten weiter zurückliegende Zeiträume für die Prognose außer Betracht bleiben, da den unmittelbar zurückliegenden fünf Jahren für die vorausschauende Betrachtung eine größere Bedeutung zukommen als der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Umstände, nach denen bei dieser Sachlage Einkommensmöglichkeiten ab 1.4.2007 oberhalb der Mindestgrenze näher lagen als ein Einkommen unterhalb dieser Grenze, waren zur Zeit der Verwaltungsentscheidung nicht ersichtlich.

35

(3) Bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens hat die Klägerin von (nur) einem Atelierumzug 2004/2005 berichtet und auf die damit verbundenen Kosten sowie die Neupositionierung auf dem Markt hingewiesen. Besondere Kosten in den Jahren 2004/2005, bei deren Wegfall das Erreichen oder Überschreiten der Mindesteinkommensgrenze nahe läge, lassen sich den Einkommensteuerbescheiden nicht entnehmen, denn die Klägerin hat in den Jahren 2003 und 2006 Verluste in ähnlicher Höhe erzielt wie 2004/2005.

36

(4) Die Klägerin hat auch nicht nachvollziehbar dargelegt, aus welchen Gründen die mit dem Atelierumzug verbundene Neupositionierung ab 1.4.2007 ein Arbeitseinkommen oberhalb der Mindestgrenze nahe legen könnte. Es kann offenbleiben, ob das im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vorgelegte Unternehmenskonzept einer Diplombetriebswirtin der Beklagten noch vor Erlass des Widerspruchsbescheides zugegangen ist, da selbst unter dessen Berücksichtigung eine Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze nicht gerechtfertigt war. Das Unternehmenskonzept trägt eine solche Prognose nicht, da die dort zugrunde gelegten Einnahmen für das erste Halbjahr 2007 in Höhe von 5100 Euro im Widerspruch zu den für diesen Zeitraum zeitgleich vorgelegten Rechnungen über lediglich 3600 Euro stehen. Denn es ist nicht ersichtlich, worauf - neben Einnahmen aus Verkäufen - eine Einkommenserwartung noch basieren könnte. Werden der Prognose für das erste Halbjahr 2007 lediglich Einnahmen in Höhe der vorgelegten Rechnungen zugrunde gelegt, wird die Mindesteinkommensgrenze im Jahr 2007 nicht erreicht, auch wenn für das zweite Halbjahr die von der Diplombetriebswirtin prognostizierten Zahlen übernommen werden. Denn unter Berücksichtigung der prognostizierten Ausgaben in Höhe von 6600 Euro war im Zeitpunkt der Vorlage der Unterlagen für 2007 lediglich ein Einkommen von etwa 3000 Euro zu erwarten (Einnahmen 1. Halbjahr: 3600 Euro plus Einnahmen 2. Halbjahr: 6000 Euro minus Ausgaben: 6600 Euro). Insoweit sind die Feststellungen des LSG im Revisionsverfahren unangegriffen geblieben und daher bindend. Eine Änderung der Vermarktungs- und Verkaufsstrategie durch einen Atelierumzug und ein neues Vermarktungskonzept führen nicht zu einer Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze, wenn unter Berücksichtigung des dazu erstellten Unternehmenskonzeptes und der nach der Umstellung tatsächlich erzielten Einnahmen Verdienste oberhalb der Mindestgrenze nicht zu erwarten sind.

37

(5) Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 28.11.2013 - B 3 KS 2/12 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen), dass eine Einkommensprognose über der Geringfügigkeitsgrenze nicht allein auf den Bekanntheitsgrad eines Künstlers oder die Anerkennung seiner Werke in Fachkreisen gestützt werden kann, wenn in den letzten Jahren trotz des Bekanntheitsgrades und der fachlichen Anerkennung lediglich Verluste erzielt wurden und eine positive Einkommensentwicklung nicht erkennbar ist. Denn Bekanntheit und Anerkennung durch Andere stellen regelmäßig keine plötzlichen Ereignisse dar, sondern gehen regelmäßig mit einer entsprechenden Entwicklung einher. Das Einkommen der Klägerin aus den letzten Jahren lässt aber keine Entwicklung in der Weise erkennen, dass bei weiterem stetigem Verlauf voraussichtlich ein Einkommen oberhalb der Mindestgrenze zu erwarten wäre.

38

(6) Dass sich die Prognose nicht verwirklicht hat, weil im später erstellten Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 tatsächlich Einkünfte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze ausgewiesen sind, ändert am Ergebnis nichts, denn die - richtige - Prognose bleibt für die Vergangenheit maßgebend. Die versicherungsrechtliche Stellung wird dadurch nicht in die Vergangenheit hinein verändert. Die Beklagte wird jedoch - wie bereits ausgeführt - zu prüfen haben, ob und ggf ab wann aufgrund des Einkommensteuerbescheides für das Jahr 2007 Anlass für eine neue Prüfung und - wiederum vorausschauende - Betrachtung für eine erneute Feststellung der Versicherungspflicht in der KSV bestand.

39

d) Die Aufhebung des Verwaltungsaktes zur Feststellung der Versicherungspflicht mit Wirkung ab 1.4.2007 war rechtmäßig. Der Bescheid vom 23.5.1986 war nach § 48 SGB X iVm § 8 Abs 2 KSVG mit Wirkung vom Ersten des Monats an aufzuheben, der auf den Monat folgt, in dem die KSK von der Änderung Kenntnis erhält; denn ein Fall des § 8 Abs 2 S 1 KSVG liegt nicht vor. Nach der Anhörung der Klägerin musste die Beklagte, als ihre weitere Nachfrage vom 30.1.2007 nach Belegen zur aktuellen Einkommenssituation bis zum Erlass des Aufhebungsbescheides am 20.3.2007 unbeantwortet blieb, davon ausgehen, dass Belege, die eine Einkommensprognose oberhalb der Mindestgrenze für das Kalenderjahr 2007 rechtfertigen könnten, nicht beigebracht werden, und hatte damit seit diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Änderung der Verhältnisse.

40

4. Diese Auslegung der §§ 3, 8 und 12 KSVG verletzt die Klägerin nicht in ihren Grundrechten. Von Verfassungs wegen ist insbesondere eine andere Auslegung der Vorschriften über die Versicherungsfreiheit bei mehrfacher Unterschreitung der Geringfügigkeitsgrenze von 3900 Euro nicht geboten. Wie alle Grundrechte begründet auch die nach Art 5 Abs 3 GG geschützte Kunstfreiheit zunächst und vor allem ein Abwehrrecht gegen hoheitliche Eingriffe in den jeweiligen Schutzbereich. Konkrete Pflichten des Staates, Kunst oder Künstler zu fördern, ergeben sich daraus nicht. Zwar enthält das Grundrecht auch eine wertentscheidende Grundsatznorm, weil sich aus ihm die Staatszielbestimmung eines Kulturstaates ergibt, mit der Aufgabe, ein freiheitliches Kunst- und Wissenschaftsleben zu erhalten und zu fördern. Dabei verbleibt dem Gesetzgeber aber insbesondere im Hinblick auf Förderpflichten bzw sozialversicherungsrechtliche Schutzpflichten ein weiter Gestaltungsspielraum. Soweit der Gesetzgeber eine Förderung vornimmt, steht das Verfahren und die Gleichbehandlung der Betroffenen nach Art 3 Abs 1 GG im Vordergrund (vgl hierzu zB BVerfGE 36, 321, 331 ff; Wittreck in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl 2013, Art 5 III (Kunst) RdNr 4, 33, 69 ff mwN; Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art 5 RdNr 105 ff, 110a f mwN). Gleiches gilt für die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Künstler. Die Versicherungsfreiheit der Klägerin ist nicht an den Kunstbegriff oder eine bestimmte Form der Kunst geknüpft. § 3 Abs 1 S 1 KSVG bindet die Sozialversicherung nach dem KSVG vielmehr an ein mit der selbstständigen künstlerischen Tätigkeit zu erzielendes Mindesteinkommen. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 9/26, S 18, betreffend das KSVG in der ursprünglichen Fassung vom 27.7.1981, BGBl I 705) ist die Versicherungsfreiheit nach § 3 Abs 1 S 1 KSVG an die allgemeinen Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts angelehnt, nach denen geringfügige Beschäftigung prinzipiell versicherungsfrei ist, und trägt der Besonderheit Rechnung, dass Einkommen aus selbstständiger künstlerischer oder publizistischer Tätigkeit außerordentlichen Schwankungen unterliegen können. Die Geringfügigkeitsgrenze wird deshalb nicht - wie sonst üblich - auf einen Monat, sondern auf ein Jahr bezogen. Zudem gelten Ausnahmen für Berufsanfänger (§ 3 Abs 2 KSVG) und solange das Arbeitseinkommen nicht mehr als zweimal innerhalb von sechs Kalenderjahren die Mindestarbeitseinkommensgrenze nicht übersteigt (§ 3 Abs 3 KSVG). Eine darüber hinausgehende sozialversicherungsrechtliche Absicherung geringfügiger Beschäftigung oder Tätigkeit im künstlerischen/publizistischen Bereich ist verfassungsrechtlich gerade im Hinblick auf eine Gleichbehandlung mit anderen geringfügig Tätigen nicht geboten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass insbesondere der volle Versicherungsschutz in der Kranken- und Pflegeversicherung bei einem nach geringfügigem Einkommen bemessenen Beitrag eine erhebliche Anforderung an die Solidargemeinschaft darstellt.

41

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Vormerkung in Polen zurückgelegter Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung.

2

Die 1955 in Polen geborene Klägerin reiste am 7.6.1990 mit ihrem 1979 geborenen Sohn - wie bereits ein halbes Jahr zuvor ihr Ehemann - in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie bewohnte fortan eine gemeinsame Wohnung in D./Nordrhein-Westfalen. Die Klägerin ist weder als Spätaussiedlerin noch als Vertriebene anerkannt.

3

Eine nach dem erfolglosen Vertriebenenverfahren von der Ausländerbehörde erlassene Ordnungsverfügung vom 28.7.1995 mit einer an die Klägerin gerichteten Aufforderung zur Ausreise wurde vom Verwaltungsgericht A. mit Beschluss vom 6.10.1995 (8 L 1241/95) bestätigt. Die hiergegen beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erhobene Beschwerde nahm die Klägerin wegen der ihr im April 1997 als "Härtefallentscheidung" nach dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 erteilten Aufenthaltsbefugnis zurück.

4

Zuvor hatte die Ausländerbehörde der Klägerin für den Zeitraum ab 12.6.1990 jeweils befristete Duldungen ausgestellt. Vom 4.4.1997 bis 15.4.2005 war sie im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Ab 4.4.2005 erhielt sie nach dem Beitritt Polens zur EU eine (unbefristete) Freizügigkeitsbescheinigung. Seit 30.4.2009 ist die Klägerin deutsche Staatsangehörige.

5

Auf ihren Antrag auf Klärung des Versicherungskontos vom 22.3.2010 stellte die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten, die länger als sechs Jahre zurücklagen (Zeiten bis 31.12.2004) verbindlich fest, ohne (ua) die in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 als Beitrags- oder Beschäftigungszeit in der deutschen Rentenversicherung vorzumerken (Bescheid vom 28.3.2011, Widerspruchsbescheid vom 16.6.2011). Die Klägerin erfülle die persönlichen Voraussetzungen des § 1 Buchst a FRG (Anerkennung als Vertriebene oder Spätaussiedlerin) nicht. Nichts anderes ergebe sich aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abk Polen RV/UV) vom 9.10.1975. Denn die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nicht vor dem 31.12.1990 begründet. Ihre in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten würden nach den Regelungen der EGV 883/2004 und EGV 987/2009 berücksichtigt.

6

Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG mit Urteil vom 7.3.2012 abgewiesen, die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 22.3.2013). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Vormerkung der in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV iVm Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 bestehe nur dann, wenn die Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) vorlägen. Nach Art 27 Abs 3 S 1 Abk Polen SozSich müsse die Klägerin hierfür ua spätestens vom 30.6.1991 an in Deutschland wohnen. Wohnort sei der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 30 Abs 3 S 2 SGB I), wobei es sich um einen unbefristeten rechtmäßigen Aufenthalt handeln müsse (Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich). Jemand habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Bei Ausländern müsse dazu die Aufenthaltsposition so offen sein, dass sie wie bei einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermögliche, statt auf Beendigung des Aufenthalts im Inland angelegt zu sein. Dabei komme es auf den Inhalt der von der Ausländerbehörde ausgestellten Bescheinigungen an, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstelle (Hinweis auf BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22). Bei der Klägerin sei der gewöhnliche Aufenthalt erst seit 4.4.1997 mit der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gegeben. Zum 30.6.1991 habe sie sich erst ca ein Jahr in Deutschland aufgehalten. Eine verfestigte Rechtsposition bzw "Kettenduldungen" von mehreren Jahren hätten noch nicht vorgelegen. Eine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen, Aufenthalte für Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten auf unbestimmte Zeit zuzulassen, habe es nicht gegeben. Vielmehr sei die sogenannte "Ostblockregelung" bereits aufgehoben gewesen.

7

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe § 149 Abs 5 und §§ 54, 55 SGB VI iVm Art 2 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 in der Fassung des Gesetzes zu dem Abk Polen SozSich vom 18.6.1991 sowie Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewandt. Sie habe seit ihrer Einreise gemeinsam mit ihrem Ehemann und Kind eine Wohnung unter Umständen innegehabt, die darauf schließen ließen, dass sie die Wohnung beibehalten werde. Damit erfülle sie die Voraussetzungen des Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich. Auf einen bestimmten ausländerrechtlichen Titel komme es allein nicht an, sondern auch auf die sonstigen Umstände und die materielle Rechtslage. Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts stünden grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu erwarten seien. Zudem sei sie der Auffassung gewesen, die deutsche Volkszugehörigkeit werde ihren Aufenthalt auf Dauer sichern. Die unter Art 6 Abs 1 GG stehende Familienzusammenführung habe ihren aufenthaltsrechtlichen Status am Stichtag 30.6.1991 bereits so verfestigt, dass es der sogenannten "Ostblockregelung" nicht mehr bedurft habe, um ihren rechtlich erlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu begründen. Dies folge auch aus der ihr 1997 aufgrund der sogenannten "Härtefallregelung" erteilten Aufenthaltsbefugnis.

8

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 und des Sozialgerichts Aachen vom 7. März 2012 aufzuheben und die Beklage unter Änderung des Bescheids vom 28. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Juni 2011 zu verurteilen, die von ihr in Polen zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 vorzumerken.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor, ausländerrechtliche Duldungen beseitigten weder die Ausreisepflicht noch deren Vollziehbarkeit, weshalb ein rechtmäßiger Aufenthalt nicht erreicht werde. Wegen des nur vorübergehenden Stopps der Abschiebung und der zeitlichen Beschränkung bei vorübergehenden Abschiebungshindernissen lasse sich die Prognose eines Daueraufenthalts in Deutschland nicht treffen.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

12

Zu Recht haben die Vorinstanzen die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, § 56 SGG) abgewiesen und entschieden, dass die Beklagte die von der Klägerin erstrebten rechtlichen Feststellungen nicht treffen muss. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung (§ 149 Abs 5 S 1 SGB VI) der von ihr Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 in der deutschen Rentenversicherung nach Maßgabe des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 (BGBl II 1976, 396).

13

1. Das noch vom Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip (vgl hierzu BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 18; BSG vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14) getragene Abk Polen RV/UV ist durch (Zustimmungs-)Gesetz vom 12.3.1976 (BGBl II 393) in das innerstaatliche Recht transformiert und am 1.5.1976 in Kraft getreten (BGBl II 463).

14

Nach Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV sind Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes "wohnt". Gemäß § 15 Abs 1 S 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich(vgl § 55 Abs 1 S 2 SGB VI).

15

a) Das Abk Polen RV/UV wurde durch das spätere Abk Polen SozSich vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743), das durch das (Zustimmungs-)Gesetz vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in innerstaatliches Recht transformiert worden und am 1.10.1991 in Kraft getreten ist (BGBl II 1072), nicht ausnahmslos verdrängt bzw ersetzt. Denn nach den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Abk Polen SozSich ist das Abk Polen RV/UV unter den Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich weiterhin anwendbar.

16

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der mit Wirkung vom 1.5.2010 in Kraft getretenen EGV 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl Nr L 166 vom 30.4.2004, zuletzt geändert durch EUV 517/2013 vom 13.5.2013, ABl Nr L 158 vom 10.6.2013).

17

Nach Art 8 Abs 1 S 1 EGV 883/2004 ist diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs zwar an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über die soziale Sicherheit getreten. Dies betrifft auch die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen SozSich und das Abk Polen RV/UV. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die wie das Abk Polen RV/UV von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung der EGV 883/2004 geschlossen wurden, gelten nach Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen ferner in Anhang II aufgeführt sein (Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004).

18

Die formelle Voraussetzung der Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind erfüllt. In Anhang II der EGV 883/2004 ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf die Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)" aufgeführt.

19

Auch die materiellen Voraussetzungen für die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind gegeben. Es sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit" betroffen, auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 34).

20

Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen RV nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004, hat das LSG zwar nicht festgestellt. Dies dürfte aber bei nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall sein. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative des Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen vor dem 1.1.1991 Eingereisten, die (spätestens) bis zum 30.6.1991 ihren "Wohnort" in Deutschland oder Polen hatten und auch weiterhin dort ansässig sind, beruht auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des Zweiten Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 35).

21

Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist schließlich "zeitlich begrenzt", da dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnort in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnort in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 36; Schuler, Anm zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 , ZESAR 2009, 40, 44).

22

Die im Sekundärrecht (Art 8 Abs 1 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV), insbesondere der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ), vereinbar (hierzu ausführlich Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 37 ff; zu diesem Prüfungsschritt im Allgemeinen EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - - SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; EuGH vom 16.5.2013 - C 589/10 - - ZESAR 2013, 456, 460 zu Art 45 AEUV).

23

2. Nach Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich werden die vor dem 1.1.1990 aufgrund des Abk Polen RV/UV von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche durch das Abk Polen SozSich nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten. Gemäß Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich erwerben Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV auch Personen, die vor dem 1.1.1991 in den anderen Vertragsstaat eingereist sind, bis zu diesem Zeitpunkt die Verlegung des Wohnortes in den anderen Vertragsstaat beantragt haben und sich dort seitdem ununterbrochen aufhalten (in diesem Sinne ist auch der Klammerzusatz "Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind" im Anhang II der EGV 883/2004, Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a zu verstehen). Weitere Voraussetzung ist jedoch, dass sie im Zeitpunkt des Versicherungsfalls, spätestens vom 30.6.1991 an, in diesem Vertragsstaat auch "wohnen" (zur Abgrenzung von Abs 2 und Abs 3 des Art 27 Abk Polen SozSich s Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 31).

24

Damit kommt es für die weitere Anwendbarkeit des Abk Polen RV/UV entscheidend darauf an, ob die Klägerin spätestens seit 30.6.1991 ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland "wohnt". Dies ist nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) nicht der Fall.

25

a) Für die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" in Art 27 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich ist die Definition des Abk Polen RV/UV maßgeblich (BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 13; Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 f und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 32 f; stRspr). Nach Art 1 Nr 2 Spiegelstrich 1 Abk Polen RV/UV versteht man hierunter - für die Bundesrepublik Deutschland - "den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts oder sich gewöhnlich aufhalten". Art 1a des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976, der durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18.12.1989 (BGBl I 2261) zum 1.7.1990 eingefügt worden ist (Art 20 Nr 1, 85 Abs 6 RRG 1992), konkretisiert dies mit der Bestimmung, dass einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne nur hat, wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich).

26

Da das Abk Polen RV/UV selbst die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" - über die soeben beschriebenen allgemeinen Definitionen hinaus - nicht näher bestimmt, ist wegen des ausdrücklichen Bezugs auf die Bundesrepublik Deutschland davon auszugehen, dass auf den betreffenden innerstaatlichen (deutschen) Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthalts verwiesen werden sollte, wie er für die gesetzliche Rentenversicherung als Teil des SGB in § 30 Abs 3 S 2 SGB I bestimmt ist(Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 26 und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 35; stRspr). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

27

Die Frage des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs 3 S 2 SGB I ist anhand einer dreistufigen Prüfung zu klären. Ausgangspunkt ist ein "Aufenthalt"; es sind dann die mit dem Aufenthalt verbundenen "Umstände" festzustellen; sie sind schließlich daraufhin zu würdigen, ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende am Aufenthaltsort oder im Aufenthaltsgebiet "nicht nur vorübergehend verweilt" (vgl BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 68 f = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 24).

28

Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält oder nur vorübergehend dort verweilt, lässt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) entscheiden (BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 25). Dabei sind alle bei Prognosestellung für die Beurteilung der künftigen Entwicklung erkennbaren Umstände zu berücksichtigen. Ist nach der Prognose davon auszugehen, dass die betreffende Person zukunftsoffen "bis auf weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird, so hat sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt, wobei kein dauerhafter (unbegrenzter) Aufenthalt erforderlich ist (vgl BVerwG vom 18.3.1999 - FEVS 49, 434, 436; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30). Dem vorübergehenden Aufenthalt wohnt dagegen als zeitliches Element eine Beendigung von vornherein inne (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 32; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30).

29

Die zu treffende Prognose bleibt auch dann maßgebend, wenn der "gewöhnliche Aufenthalt" rückblickend (zB - wie hier - zu einem bestimmten Stichtag) zu ermitteln ist. Spätere Entwicklungen, die bis zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar waren, zu dem die Frage des Aufenthalts vorausschauend beurteilt werden musste, können eine Prognose weder bestimmen noch widerlegen. Denn es gehört zum Wesen der Prognose, dass aufgrund feststehender Tatsachen Schlussfolgerungen für eine künftige, ungewisse Entwicklung gezogen werden. Dem würde es widersprechen, wollte man bei der späteren Überprüfung der Prognoseentscheidung auch zwischenzeitlich bekannt gewordene Fakten zugrunde legen (BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 20; BSG vom 11.5.2000 - SozR 3-4100 § 36 Nr 5 S 14). Es ist daher nicht rechtserheblich, dass bei späterer rückschauender Betrachtung eine andere prognostische Beurteilung gerechtfertigt sein könnte. Wenn Änderungen eintreten, kann der gewöhnliche Aufenthalt an dem Ort oder in dem Gebiet nur vom Zeitpunkt der Änderung an begründet werden oder entfallen (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 33; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 f = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183 f; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17, 20; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 26).

30

Die Prognose hat alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen (BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 32); dies können subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein. Es kann demnach nicht allein auf den Willen des Betroffenen ankommen, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (sog Domizilwille; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17); dies gilt insbesondere dann, wenn er nicht mit den tatsächlichen objektiven Umständen übereinstimmt (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183).

31

Bei Ausländern ist im Rahmen der Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen (exemplarisch Senatsurteil vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 30; stRspr), ohne dass diese aber allein Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts sein kann (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Zu den Tatsachen, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs 3 S 2 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören auch Rechtshindernisse, die einer Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen(vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 87 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18).

32

Dabei wird die Aufenthaltsposition wesentlich durch den Inhalt der von der Ausländerbehörde erteilten Bescheinigungen bestimmt, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstellt (BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39). Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers stehen grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen oder zu erwarten sind. Davon ist ua auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund besonderer ausländer- bzw aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen oder behördlicher Praxis auch bei endgültiger Ablehnung eines Antrags auf ein dauerhaftes Bleiberecht (zB Asyl) nicht mit einer Abschiebung zu rechnen braucht (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34; Senatsurteil vom 4.11.1998 aaO). Hierbei kann auch die familiäre Situation, etwa der Aufenthaltsstatus eines Ehegatten, eine Rolle spielen (vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 88 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 19).

33

Das Stellen einer Prognose ist die Feststellung einer hypothetischen Tatsache (BSG vom 7.4.1987 - SozR 4100 § 44 Nr 47 S 115; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 9f). Es ist allein Aufgabe der Tatsachengerichte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und daraus die Prognose abzuleiten. Wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung entscheidet das Gericht bei einer Prognose nach freier Überzeugung.

34

Die Prognose und die für ihre Feststellung notwendigen Tatsachen gehören nicht zur Rechtsanwendung; deshalb können sie vor dem Revisionsgericht nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; BSG vom 27.7.2011 - SozR 4-2600 § 5 Nr 6 RdNr 23; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27). Verfahrensrügen, die die Feststellung der für die vorausschauende Betrachtung - nach damaligem Erkenntnisstand bis zu dem hier maßgeblichen Stichtag - erforderlichen Tatsachen, insbesondere der die Prognosegrundlage bildenden Tatsachen, betreffen, hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht erhoben, sodass die Feststellungen des LSG insoweit für den Senat bindend sind (§ 163 SGG).

35

Das Revisionsgericht hat jedoch auch ohne Verfahrensrüge zu prüfen, ob das LSG für seine Prognose sachgerechte Kriterien gewählt hat oder ob die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (in diesem Sinne Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 28 mwN).

36

b) Nach diesen Maßstäben ist die Sachentscheidung des LSG, dass die Klägerin bis zum hier maßgeblichen Stichtag 30.6.1991 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hatte, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG hat aus den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen rechtsfehlerfrei gefolgert, dass die Klägerin sich am 30.6.1991 noch nicht bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibens im Bundesgebiet aufgehalten hat. Unerheblich ist, dass das Berufungsgericht seine Erwägungen nicht ausdrücklich als Prognose bezeichnet, solange es - wie hier - in der Sache eine solche ohne Rechtsfehler trifft.

37

Nach den Feststellungen des LSG verfügte die Klägerin bis zum 30.6.1991 über keine Aufenthaltsgenehmigung - welcher Art auch immer - (vgl § 5 Ausländergesetz in der hier maßgeblichen Fassung des AuslG vom 9.7.1990, BGBl I 1354 ), sondern lediglich über eine befristete Duldung.

38

Die Duldung ist eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers (§ 55 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG). Sie beseitigt weder die Ausreisepflicht (§ 56 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 3 AufenthG) noch deren Vollziehbarkeit. Der Aufenthalt eines Ausländers wird mit der Duldung zwar nicht rechtmäßig, jedoch entfällt mit ihr eine Strafbarkeit wegen illegalen Aufenthalts (vgl § 92 Abs 1 Nr 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 vgl § 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG). Mithin erschöpft sich die Duldung in dem zeitlich befristeten Verzicht der Behörde auf die an sich gebotene Durchsetzung der Ausreisepflicht mittels Abschiebung. Nach Ablauf der Duldung ist die unverzügliche Abschiebung daher zwingend vorgeschrieben (vgl § 56 Abs 6 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 5 AufenthG). Im Hinblick auf den Zweck der Duldung, einen nur vorübergehenden Abschiebungsstopp zu regeln, ist die Geltungsdauer der Duldung zeitlich zu beschränken (vgl § 56 Abs 2 AuslG 1990; vgl seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 AufenthG). Der Sache nach kommt eine Duldung grundsätzlich nur als Reaktion auf das Auftreten vorübergehender (tatsächlicher oder rechtlicher) Abschiebungshindernisse in Betracht (vgl § 55 Abs 2 bis 4 AuslG; seit 1.1.2005 vgl § 60a Abs 1 und 2 AufenthG); sie wird gewährt, solange die Abschiebung unmöglich ist (vgl zum Ganzen: BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 256 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 4 zur Duldung nach § 55 AuslG 1990; BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 46 bis 48; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 39 zur Duldung nach § 60a AufenthG, jeweils mwN).

39

Ausgehend von dieser gesetzlichen Ausgestaltung der Duldung lässt sich für einen in Deutschland lediglich geduldeten Ausländer eine Prognose jedenfalls dahingehend, dass er sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, nicht treffen. Der geduldete Ausländer befindet sich vielmehr in einer Situation, in welcher er nach Ablauf der Duldung jederzeit mit einer Abschiebung rechnen muss (BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 49).

40

Die formale Art des Aufenthaltstitels allein reicht jedoch nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland aus (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Dies hat das LSG auch nicht verkannt. Es hat dementsprechend in seine Entscheidungsfindung auch - für die Klägerin jedoch ohne Vorteil - die bis zum hier relevanten Stichtag bestehende tatsächliche Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen mit einbezogen (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39).

41

Das Berufungsgericht hat berücksichtigt, dass die sogenannte "Ostblockregelung" im hier maßgeblichen Zeitraum bereits aufgehoben war. Mit der "Ostblockregelung" hatte die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (Innenministerkonferenz) mit Beschluss vom 26.8.1966 idF des Beschlusses vom 26.4.1985 (veröffentlicht ua im Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1985, 773 f) angeordnet, dass Staatsangehörige der Ostblockstaaten grundsätzlich nicht wegen illegaler Einreise, illegalen Aufenthalts oder Bezugs von Sozialhilfe auszuweisen und ggf abzuschieben waren. Diese Regelung hatten sie aber durch Beschluss vom 2./3.4.1987, bekanntgegeben (ua) durch Erlass des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 (Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1987, 1536 ff), aufgehoben. Danach galt die "Ostblockregelung" für polnische und ungarische Staatsangehörige nur noch bei einem Zuzug vor dem 1.5.1987 (vgl Vorbemerkung zu Abschnitt I und Abschnitt III Abs 2 und 6 des Erlasses des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 aaO). Hieraus hat das LSG geschlossen, dass jedenfalls zum 30.6.1991 keine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen für (geduldete) Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten mehr bestand, Aufenthalte auf unbestimmte Zeit zuzulassen.

42

Die aus diesen Gesamtumständen gezogene Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass die Aufenthaltsposition der Klägerin in Deutschland jedenfalls bis zum 30.6.1991 noch nicht so offen war, dass diese ihr wie einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermöglichte (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 25 f = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22), sondern vielmehr weiterhin auf Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet angelegt war und sie damit noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 S 2 SGB I in D. begründet hatte, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG konnte mit Blick auf die befristete Duldung und die von ihm festgestellte ausländerbehördliche Praxis davon ausgehen, dass die Klägerin noch keine "verfestigte" Rechtsposition dahingehend innehatte, dass sie auf unbestimmte Zeit und nicht nur vorübergehend im Bundesgebiet bleiben würde.

43

Ob sich an dieser Beurteilung etwas ändern könnte, wenn über mehrere Jahre hinweg die Duldung immer wieder verlängert worden ist, sich der Ausländer also faktisch seit Jahren in Deutschland aufgehalten hat und zum Stichtag eine positive Bleibeprognose dergestalt gestellt werden kann, dass der Ausländer zukunftsoffen "bis aus weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34 zu § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG; BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 254 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 2 zu § 1 SchwbG; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 36 ff zu § 2 Abs 2 SGB IX), kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Daher kann der Senat auch offenlassen, ob einer solchen Beurteilung der Begriffe "Wohnort" bzw "gewöhnlicher Aufenthalt" iS des Abk Polen RV/UV bzw Abk Polen SozSich bezogen auf einen lediglich "geduldeten" (sich aber dennoch rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltenden) Ausländer die Bestimmung in Art 1a des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich) entgegenstehen könnte, wonach einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Abk Polen RV/UV nur hat, "wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält" (s hierzu im Einzelnen Senatsbeschluss vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 ff). Denn sogenannte "Kettenduldungen" über einen Zeitraum von mehreren Jahren lagen jedenfalls bis zum 30.6.1991 bei der Klägerin nicht vor. Vielmehr hielt sich die am 7.6.1990 eingereiste Klägerin zum Stichtag "geduldet" erst ca ein Jahr in Deutschland auf. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG 1990 hat nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht bestanden.

44

Weitere wesentliche Umstände, die das Berufungsgericht bei seiner Prognose, ob sich die Klägerin bereits gewöhnlich oder nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhielt, nicht beachtet hat, die aber bezogen auf den Stichtag zu berücksichtigen wären, sind nicht ersichtlich.

45

Dies gilt zunächst für den Hinweis der Klägerin auf eine Aufenthaltsbewilligung nach § 29 Abs 1 AuslG 1990. Danach kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltsbewilligung besitzt, zum Zwecke des nach Art 6 GG gebotenen Schutzes von Ehe und Familie eine Aufenthaltsbewilligung für die Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Ausländer im Bundesgebiet erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers und des Ehegatten ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe gesichert ist und ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht. Ähnliche Vorschriften galten für die Aufenthaltserlaubnis (§ 17, § 18, § 23 AuslG 1990), die Aufenthaltsberechtigung (§ 27 Abs 4 AuslG 1990) und die Aufenthaltsbefugnis (§ 31 AuslG 1990). Hier übersieht die Klägerin jedoch bereits, dass ihr Ehemann, der ca sechs Monate vor ihr von Polen nach Deutschland eingereist war, zum hier maßgeblichen Zeitpunkt 30.6.1991 über keinen derartigen Aufenthaltstitel verfügte. Denn aus dem vom LSG ausdrücklich in Bezug genommenen Beschluss des Verwaltungsgerichts A. (8 L 1241/95) vom 6.10.1995 ergibt sich, dass weder sie noch ihr Ehemann im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung (gleich welcher Art, vgl § 5 AuslG 1990)waren (aaO, S 3).

46

Nicht anderes folgt schließlich aus der der Klägerin im April 1997 als "Härtefall" erteilten Aufenthaltsbefugnis. Diese hatte ihre Grundlage in dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 "Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen nach den §§ 30 und 31 Abs. 1 AuslG - Anordnung nach § 32 AuslG - Härtefallentscheidungen (Altfälle)"(Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1996, 1411 f), der wiederum auf einen Beschluss der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 (veröffentlicht ua aaO, 1412 f) zurückgeht. Diese bundeseinheitliche Regelung stellte auf einen langjährigen Aufenthalt ab; im Beschlussjahr 1996 erfasste sie ua nur solche Familien von abgelehnten Vertriebenenbewerbern, die bereits vor dem 1.7.1990 eingereist waren (vgl III 1 des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 aaO, 1412). Für die rechtliche Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin bis zum 30.6.1991 ist sie von vornherein unergiebig. Denn jedenfalls bis zu diesem, hier allein maßgeblichen Zeitpunkt lag bei ihr gerade noch kein "Altfall" im Sinne eines mehrjährigen Verweilens im Bundesgebiet vor. Nachträgliche Entwicklungen können eine zu einem bestimmten Stichtag getroffene Prognose, ob der Aufenthalt nur vorübergehend oder bereits gewöhnlich ist, nicht widerlegen.

47

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

1.
das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2.
eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a)
die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
b)
eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3.
ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen.

(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären, die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Dem Kind oder dem Jugendlichen ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen; § 39 Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend. Das Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind; der mutmaßliche Wille der Personensorge- oder der Erziehungsberechtigten ist dabei angemessen zu berücksichtigen. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 gehört zu den Rechtshandlungen nach Satz 4, zu denen das Jugendamt verpflichtet ist, insbesondere die unverzügliche Stellung eines Asylantrags für das Kind oder den Jugendlichen in Fällen, in denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes benötigt; dabei ist das Kind oder der Jugendliche zu beteiligen.

(3) Das Jugendamt hat im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1 und 2 die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten, sie in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form umfassend über diese Maßnahme aufzuklären und mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich

1.
das Kind oder den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach der Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden oder
2.
eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen.
Sind die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nicht erreichbar, so gilt Satz 2 Nummer 2 entsprechend. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen. Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten.

(4) Die Inobhutnahme endet mit

1.
der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten,
2.
der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch.

(5) Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.

(6) Ist bei der Inobhutnahme die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich, so sind die dazu befugten Stellen hinzuzuziehen.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tod des Berechtigten nacheinander

1.
dem Ehegatten,
1a.
dem Lebenspartner,
2.
den Kindern,
3.
den Eltern,
4.
dem Haushaltsführer
zu, wenn diese mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben oder von ihm wesentlich unterhalten worden sind. Mehreren Personen einer Gruppe stehen die Ansprüche zu gleichen Teilen zu.

(2) Als Kinder im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 gelten auch

1.
Stiefkinder und Enkel, die in den Haushalt des Berechtigten aufgenommen sind,
2.
Pflegekinder (Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind),
3.
Geschwister des Berechtigten, die in seinen Haushalt aufgenommen worden sind.

(3) Als Eltern im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 gelten auch

1.
sonstige Verwandte der geraden aufsteigenden Linie,
2.
Stiefeltern,
3.
Pflegeeltern (Personen, die den Berechtigten als Pflegekind aufgenommen haben).

(4) Haushaltsführer im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 4 ist derjenige Verwandte oder Verschwägerte, der an Stelle des verstorbenen oder geschiedenen oder an der Führung des Haushalts aus gesundheitlichen Gründen dauernd gehinderten Ehegatten oder Lebenspartners den Haushalt des Berechtigten mindestens ein Jahr lang vor dessen Tod geführt hat und von diesem überwiegend unterhalten worden ist.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist, dass der Übergang von Eigentum im Rahmen freiwilliger Baulandumlegungen grunderwerbsteuerpflichtig ist, während Eigentumserwerbe anlässlich einer amtlichen Umlegung nach den §§ 45 ff. Baugesetzbuch (BauGB) von der Besteuerung ausgenommen sind.

I.

2

1. Ziel der Baulandumlegung ist es, den Zuschnitt von Grundstücken neu zu ordnen, um eine plangerechte und zweckmäßige bauliche Nutzung zu ermöglichen (zum Hintergrund BVerfGE 104, 1 f.).

3

a) Das Baugesetzbuch sieht in den §§ 45 ff. mit der Umlegung ein hoheitliches Verfahren zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse an Grundstücken vor. Eine amtliche Umlegung muss von der Gemeinde in eigener Verantwortung angeordnet und durchgeführt werden (§ 46 Abs. 1 BauGB). Sie wird nach Anhörung der Eigentümer durch einen Beschluss eingeleitet, in dem das Umlegungsgebiet zu bezeichnen ist und die darin gelegenen Grundstücke einzeln aufzuführen sind (§ 47 Abs. 1 BauGB). Mit der Bekanntmachung des Umlegungsbeschlusses wird die Verfügbarkeit über die betroffenen Grundstücke eingeschränkt (vgl. § 51 BauGB) und die Eigenschaft der Grundstückseigentümer als Beteiligte am Umlegungsverfahren begründet (vgl. § 48 Abs. 1 BauGB). Nach welchen Maßstäben bei einer amtlichen Baulandumlegung die Grundstücke aufzuteilen und wie Ansprüche der Eigentümer auszugleichen oder abzufinden sind, wird im Einzelnen in den §§ 55 ff. BauGB vorgegeben (vgl. dazu BVerfGE 104, 1 <2 f.>). Das Umlegungsverfahren endet mit dem durch Beschluss aufzustellenden Umlegungsplan (§ 66 Abs. 1 BauGB). Mit der Bekanntmachung der Unanfechtbarkeit des Umlegungsplans wird der bisherige Rechtszustand durch den im Umlegungsplan vorgesehenen neuen Rechtszustand ersetzt (§ 72 Abs. 1 BauGB).

4

b) Eine freiwillige Neuordnung der Grundstücksverhältnisse (freiwillige Baulandumlegung), insbesondere im Rahmen eines städtebaulichen Vertrags mit der Gemeinde nach § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB, kommt in Betracht, wenn die Grundstückseigentümer bereit und in der Lage sind, durch vertragliche Lösungen eine plangerechte Grundstücksneuordnung herbeizuführen. Regelmäßig ist es eine Frage der örtlich eingeführten Praxis, ob und wie eine solche freiwillige Umlegung durchgeführt wird; maßgebliche Faktoren sind dabei die Mitwirkungsbereitschaft der Beteiligten, finanzielle Interessen und die Verfahrensdauer (vgl. Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 12. Aufl. 2014, § 46 Rn. 5). Die Gemeinden können sich durch städtebauliche Verträge im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB an einer freiwilligen Umlegung beteiligen, indem sie sich mit den Grundstückseigentümern über eine dem Bebauungsplan entsprechende Neuordnung der im Plangebiet gelegenen Grundstücke vertraglich einigen (vgl. Krautzberger, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand August 2013, § 11 Rn. 51).

5

c) Amtliche und freiwillige Umlegungen werden im Baugesetzbuch hinsichtlich der Befreiung von nichtsteuerlichen Abgaben und Auslagen gleich behandelt. § 79 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz BauGB sieht vor, dass Geschäfte und Verhandlungen, die der Durchführung oder Vermeidung der Umlegung dienen, einschließlich der Berichtigung der öffentlichen Bücher, frei von Gebühren und ähnlichen nichtsteuerlichen Abgaben sowie von Auslagen sind.

6

2. Änderungen der Eigentumszuordnung bei inländischen Grundstücken, wie sie durch Grundstücksneuordnungen im Wege einer amtlichen oder freiwilligen Umlegung bewirkt werden können, unterliegen grundsätzlich der Grunderwerbsteuer. In § 1 Abs. 1 bis Abs. 3a des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) sind die Rechtsvorgänge zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur aufgeführt, die Gegenstand der Grunderwerbsteuer sind. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 1 GrEStG gehört zu den besteuerbaren Rechtsvorgängen der Übergang des Eigentums zwar auch dann, wenn kein den Anspruch auf Übereignung begründendes Rechtsgeschäft vorausgegangen ist und es auch keiner Auflassung bedarf. Allerdings sieht § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG für Eigentumsübergänge aufgrund von Baulandumlegungen im Regelfall eine Steuerbefreiung vor.

7

§ 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG lautet auszugsweise wie folgt:

§ 1 Erwerbsvorgänge

(1) Der Grunderwerbsteuer unterliegen die folgenden Rechtsvorgänge, soweit sie sich auf inländische Grundstücke beziehen:

1. (…)

2. (…)

3. der Übergang des Eigentums, wenn kein den Anspruch auf Übereignung begründendes Rechtsgeschäft vorausgegangen ist und es auch keiner Auflassung bedarf. Ausgenommen sind

a) (…)

b) der Übergang des Eigentums im Umlegungsverfahren nach dem Bundesbaugesetz in seiner jeweils geltenden Fassung, wenn der neue Eigentümer in diesem Verfahren als Eigentümer eines im Umlegungsgebiet gelegenen Grundstücks Beteiligter ist,

II.

8

1. Die Beschwerdeführer erwarben im Zuge einer freiwilligen Baulandumlegung jeweils als Miteigentümer Grundstücke von einer Gemeinde und übertrugen im Gegenzug Teilflächen ihnen gehörender Grundstücke auf die Gemeinde. Das zuständige Finanzamt behandelte diese Erwerbsvorgänge als grunderwerbsteuerpflichtig und setzte gegen die Beschwerdeführer Grunderwerbsteuer fest. Die hiergegen erhobenen Einsprüche blieben erfolglos.

9

2. Das Finanzgericht wies die Klage der Beschwerdeführer ab. Die Steuerbefreiung nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG beschränke sich nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift auf das hoheitliche Umlegungsverfahren nach dem Baugesetzbuch und könne nicht auf die freiwillige Umlegung erstreckt werden. Dies führe nicht zu einem Gleichheitsverstoß. Es handele sich nämlich um strukturell unterschiedliche Neuordnungsverfahren, die nicht von Verfassungs wegen steuerlich gleich behandelt werden müssten.

10

3. Mit ihrer Revision rügten die Beschwerdeführer die Grunderwerbsteuerpflicht freiwilliger Umlegungen als gleichheitswidrig und beantragten die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht.

11

Der Bundesfinanzhof wies die Revision zurück. Der Grundstückserwerb aufgrund freiwilliger Baulandumlegung sei nicht nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG von der Grunderwerbsteuer ausgenommen. Der eindeutige und keiner erweiternden Auslegung zugängliche Wortlaut der Norm umfasse lediglich Grundstückserwerbe im amtlichen Umlegungsverfahren im Sinne der §§ 45 ff. BauGB. Auch die Entstehungsgeschichte und der Gesetzeszweck sprächen für dieses Auslegungsergebnis.

12

Die Beschränkung der Grunderwerbsteuerfreistellung auf die amtliche Umlegung verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die amtliche Umlegung nach §§ 45 ff. BauGB und die auf Grundlage des § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB vorgenommene freiwillige Umlegung unterschieden sich sowohl in rechtlicher als auch wirtschaftlicher Weise. Das amtliche Umlegungsverfahren sei das wichtigste öffentlich-rechtliche Instrument der im Baugesetzbuch geregelten Bodenordnung. Es erfasse die Fälle, in denen die planende Gemeinde die Grundstücks- und Eigentumsverhältnisse notfalls durch hoheitlichen Zwang umgestalten müsse, um erforderliche städtebauliche Neu- und Umstrukturierungen durchsetzen zu können. Diesem Zweck diene das amtliche Umlegungsverfahren nach §§ 45 ff. BauGB, das seinem Wesen nach ein förmliches und zwangsweises Grundstückstauschverfahren darstelle, bei welchem dem Surrogationsprinzip und dem Prinzip des gruppeninternen Lastenausgleichs durch die wertgleiche Landabfindung Rechnung getragen werde.

13

Der wesentliche Unterschied zur freiwilligen Umlegung sei, dass diese auf dem einvernehmlichen Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages beruhe, der regelmäßig vor der Erstellung eines Bebauungsplans abgeschlossen werde. Der Umstand, dass beide Umlegungsverfahren gelegentlich ineinander übergingen oder die freiwillige Umlegung die amtliche Umlegung faktisch verdränge, führe nicht dazu, dass beide Umlegungsverfahren als wesentlich gleich zu behandeln seien. Vielmehr unterschieden sie sich maßgeblich dadurch, dass beim Umlegungsverfahren nach §§ 45 ff. BauGB die Umlegung gegebenenfalls auch zwangsweise durchgesetzt werden könne, während dies bei der freiwilligen Umlegung gerade nicht der Fall sei.

14

Die Merkmale "hoheitlicher Zwang" einerseits und "Freiwilligkeit" andererseits seien geeignete Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des Steuergegenstandes; denn sie bezeichneten mit Blick auf die angesprochenen Umlegungsverfahren Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die unterschiedliche Belastung rechtfertigten. Der Gesetzgeber habe sich in § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG entschieden, nur solche Umlegungsverfahren von der Grunderwerbsteuer auszunehmen, die außerhalb des normalen Marktgeschehens stünden. Auf freiwilliger Basis geschlossene Grundstückstauschverträge bewegten sich dagegen gerade innerhalb des normalen Marktgeschehens, weil kein Vertragspartner zu einem solchen Vertragsschluss gezwungen werden könne. Es möge zwar sein, dass die an einem entsprechenden Tauschvertrag beteiligte Gemeinde den Vertrag lediglich nutze, um ein aufwendiges Verfahren zu vermeiden. Dennoch stehe bei einvernehmlichen Verträgen die Freiwilligkeit des Vertragsschlusses im Vordergrund.

III.

15

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

16

1. Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, da das Grunderwerbsteuergesetz die freiwillige Umlegung - anders als die amtliche Umlegung - mit Grunderwerbsteuer belaste, obwohl kein grunderwerbsteuerlich relevanter Unterschied zwischen den beiden Umlegungsformen bestehe.

17

Beide Formen der Umlegung seien bereits insofern gleich, als sie die Neuordnung der Grundstücksverhältnisse bezweckten. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bestünden keine steuerlich relevanten Unterschiede; weder die Einleitung noch der Abschluss des Verfahrens seien taugliche Differenzierungsmerkmale. Zudem seien die Merkmale "Freiwilligkeit" und "hoheitlicher Zwang" keine geeigneten Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des Steuergegenstands. Dem Merkmal der "Freiwilligkeit" sei nur eine begrenzte Bedeutung beizumessen: Freiwillige Umlegungsvereinbarungen unterschieden sich nämlich von sonstigen auf freiwilliger Basis abgeschlossenen Grundstückstauschverträgen dadurch, dass sie in aller Regel im Zusammenwirken mit der planenden Gemeinde und zumeist vor Rechtsverbindlichkeit des Bebauungsplans, der das Recht zur Bebauung erst begründe, beurkundet würden. Weiterhin bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Falle der Einigkeit aller übrigen Grundstückseigentümer über die Umlegung eine Pflicht der Gemeinde zur Beteiligung an der privaten Neuordnung der Grundstücke. Mithin könnten freiwillige Baulandumlegungen auch nicht dem normalen Marktgeschehen zugeordnet werden.

18

Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 2001 (BVerfGE 104, 1) ergebe sich als Ausfluss des Art. 14 Abs. 1 GG ein Vorrang der freiwilligen gegenüber der hoheitlichen Umlegung. Aus der Subsidiarität des amtlichen Umlegungsverfahrens erwachse die Verpflichtung der Gemeinde, sich an der freiwilligen Umlegung zu beteiligen. Diese verfassungsrechtlich gebotene Mitwirkungspflicht der Kommune dürfe steuerrechtlich nicht benachteiligt werden. Im Übrigen bestehe auch im Hinblick auf eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kein relevanter Unterschied zwischen beiden Umlegungsformen.

19

Verwaltungsvereinfachungs- oder Lenkungsziele könnten die grunderwerbsteuerliche Ungleichbehandlung von freiwilliger und amtlicher Umlegung nicht rechtfertigen. Zum einen erfordere die Feststellung, ob ein Grundstückstauschvertrag die Merkmale des § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB erfülle oder lediglich ein sonstiger Grundstückstauschvertrag sei, keinen erheblichen Verwaltungsaufwand. Zum anderen würden Lenkungsziele mit der Steuerfreistellung der Erwerbsvorgänge im Rahmen der amtlichen Umlegung ersichtlich nicht verfolgt.

20

Schließlich habe der Gesetzgeber mit der Kodifizierung des städtebaulichen Vertrags in § 11 BauGB das Ziel verfolgt, kooperatives Verwaltungshandeln zu erleichtern. Dem widerspreche es jedoch, wenn sich aus dem Abschluss von Verträgen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB steuerliche Nachteile ergäben und die Beteiligten damit letztlich gezwungen seien, trotz erzielter Einigung das verwaltungsaufwendige und zeitintensive Verfahren der amtlichen Umlegung durchzuführen.

21

2. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei verletzt, weil der Bundesfinanzhof seiner Pflicht aus Art. 100 Abs. 1 GG zur Aussetzung des Verfahrens und Einholung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung nicht nachgekommen sei.

IV.

22

Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Finanzen namens der Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung, der Vizepräsident des Bundesverwaltungsgerichts, der Deutsche Städtetag zusammen mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Notarverein, die Bundesnotarkammer, die Bundessteuerberaterkammer, der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. und der Zentralverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V. Haus & Grund Deutschland Stellung genommen.

23

Die Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung, der Deutsche Notarverein, die Bundessteuerberaterkammer und der Deutsche Anwaltverein halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet; hingegen sehen der Verband Haus & Grund Deutschland und die Bundesrechtsanwaltskammer in der beanstandeten Vorschrift einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz.

24

Der Deutsche Städtetag zusammen mit dem Deutschen Städte- und Gemeindebund, der Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. und die Bundesnotarkammer haben sich weitgehend auf die Beantwortung der vom Bundesverfassungsgericht an sie zur Rechtspraxis bei Baulandumlegungen gerichteten Fragen beschränkt.

25

1. Nach Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen bestehen zwischen der freiwilligen Umlegung durch einen städtebaulichen oder rein privatrechtlichen Vertrag und der amtlichen Umlegung nach den §§ 45 ff. BauGB so weitgehende strukturelle Unterschiede, dass eine gesetzliche Differenzierung bezüglich der Grunderwerbsbesteuerung auf jeden Fall gerechtfertigt sei. Die amtliche Umlegung trage dem Umstand Rechnung, dass eine Gemeinde die städtebauliche Grundstücksneuordnung nicht in jedem Fall einvernehmlich mit den Eigentümern regeln könne und erfülle damit auch die Funktion, einen entgegenstehenden Willen von Eigentümern bei der Baulandumlegung rechtlich zu überwinden. Demgegenüber liege der freiwilligen Umlegung ein konsensualer Vertrag zugrunde, der gerade die willentliche Mitwirkung aller Eigentümer erfordere.

26

Der rechtliche Unterschied zwischen den beiden Umlegungsarten spiegle sich auch darin wider, dass § 59 BauGB der Umverteilung bei der amtlichen Baulandumlegung einen festen und objektiven Maßstab vorgebe, mit dem Ziel, dass kein Eigentümer einen wirtschaftlichen Gewinn oder Verlust mache; marktähnliche Kauf- oder Tauschelemente sollten hiernach gerade nicht Bestandteil der Baulandumlegung sein. Der städtebauliche Vertrag als rechtsgeschäftliche Grundlage der freiwilligen Umlegung kenne demgegenüber keine dem § 59 BauGB vergleichbare enge Festlegung der Äquivalenz der wechselseitigen Grundstückszuteilungen. Das Gebot der Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung in § 11 Abs. 2 Satz 1 BauGB verlange anders als § 59 BauGB keine strenge Wertgleichheit der Leistungen.

27

Auch unter dem Gesichtspunkt der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit begegne die steuerliche Differenzierung zwischen freiwilliger und amtlicher Umlegung keinen Bedenken. Zwar bringe der Grundstückseigentümer, der sich an einer amtlichen Baulandumlegung beteilige, durch sein Grundeigentum ebenfalls wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zum Ausdruck; er wende sich dabei aber - anders als bei der freiwilligen Umlegung - nicht an den Markt.

28

Gegen die Annahme faktischen Zwangs zur Mitwirkung an einer freiwilligen Umlegung spreche schon, dass aus der Praxis nicht bekannt sei, dass die freiwillige Umlegung dort weit häufiger vorkomme als die amtliche und das Scheitern einer freiwilligen Umlegung zwangsläufig die Durchführung des amtlichen Verfahrens zur Folge habe.

29

2. Der Deutsche Notarverein sieht in der unterschiedlichen Struktur der beiden Umlegungsarten einen sachlichen Differenzierungsgrund, der ihre ungleiche Behandlung bei der Grunderwerbsteuer rechtfertige. Ohne diese Differenzierung würde die Gestaltungspraxis versuchen, privatrechtliche Tauschverträge als freiwillige Umlegungen zu qualifizieren, um in den Genuss der Grunderwerbsteuerbefreiung zu gelangen.

30

3. Die Bundessteuerberaterkammer geht zwar davon aus, dass in der Praxis sowohl bei der amtlichen als auch bei der freiwilligen Umlegung ein Zusammenwirken von Eigentümern und Gemeinde üblich sei; dennoch handele es sich nach der bestehenden Rechtslage um strukturell unterschiedliche Neuordnungsverfahren, die grunderwerbsteuerlich nicht gleich behandelt werden müssten.

31

4. Der Deutsche Anwaltverein ist ebenfalls der Auffassung, dass die intensive Beteiligung der Grundstückseigentümer am amtlichen Umlegungsverfahren nichts daran ändere, dass bei der amtlichen anders als bei der freiwilligen Umlegung eine Bodenneuordnung auch ohne Einverständnis und gegen den Willen der Beteiligten durchgeführt werden könne. Obgleich die vertragliche Umlegung ihren Ausgangspunkt in der beabsichtigten Neuordnung der Grundstücksverhältnisse habe, beruhe sie doch auf Freiwilligkeit und Einvernehmen und sei damit durchaus mit einem sonstigen grunderwerbsteuerpflichtigen Grundstückstauschvertrag vergleichbar. Überdies sei die Mitwirkung an einer freiwilligen Umlegung trotz der sich daraus ergebenden steuerlichen Folgen nicht nur nachteilig, da hierbei die Grundstückseigentümer auf den vertraglichen Inhalt viel intensiver Einfluss nehmen könnten als auf den Inhalt des Umlegungsplans.

32

5. Demgegenüber geht der Verband Haus & Grund Deutschland von der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde aus, weil beide Umlegungsarten die gleichen bauordnungsrechtlichen Ziele verfolgten und sich aus § 79 BauGB ergebe, dass der Gesetzgeber jedenfalls hinsichtlich der Kosten eine Gleichbehandlung wolle. Aus der Verwobenheit der beiden Umlegungsarten folge, dass auch eine freiwillige Umlegung nicht allein auf privatautonomen Entscheidungen eines Grundstückseigentümers beruhen könne. Von einer Bodenneuordnung betroffene Grundstückseigentümer seien häufig geneigt, einer freiwilligen Umlegung zuzustimmen, um langwierige Abstimmungsprozesse oder Baubeschränkungen zu verhindern. Insoweit sei eine freiwillige Umlegung dem normalen Marktgeschehen entzogen.

33

6. Nach Auffassung der Bundesrechtsanwaltskammer rechtfertigt allein die Option, die amtliche Umlegung einseitig-hoheitlich durchsetzen zu können, nicht den steuerlichen Nachteil bei einer freiwilligen Umlegung, da sie in Ansehung des Art. 14 Abs. 1 GG die vorrangige Form der Bodenordnung sei und dem gleichen Zweck diene wie die amtliche Umlegung. Aus Typisierungs- und Vereinfachungserfordernissen sei nicht entscheidend, ob Grundstücke hoheitlich oder freiwillig umgelegt worden seien, sondern dass überhaupt eine Umlegung stattgefunden habe, die dem Leitbild der §§ 45 ff. BauGB entspreche. Dass ein Umlegungsplan gegebenenfalls einseitig-hoheitlich von der Gemeinde vollzogen werden könne, während ein Umlegungsvertrag unter Umständen gerichtlich durchgesetzt werden müsse, betreffe die nachrangige Frage der Vollziehung und habe mit den Gründen der Steuerbefreiung nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG nichts zu tun. Nach dem Wortlaut der Befreiungsvorschrift sei es spätestens nach der Aufnahme der freiwilligen Umlegung in den Katalog zulässiger städtebaulicher Verträge (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB) bei verfassungskonformer Interpretation naheliegend, die Steuerbefreiung auch auf die freiwillige Umlegung zu erstrecken.

34

7. Der 4. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts bezeichnet die amtliche Umlegung als ein förmliches und zwangsweise durchsetzbares gesetzliches Tauschverfahren, bei dem die in den §§ 45 ff. BauGB enthaltenen Vorgaben strikt einzuhalten seien. Demgegenüber beließen einvernehmliche Umlegungsregelungen den Beteiligten einen deutlich größeren Gestaltungsraum, als er ihnen nach den bindenden Regelungen der §§ 45 ff. BauGB zustehe.

35

8. Den meisten Stellungnahmen zufolge, die auf entsprechende Fragen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtspraxis bei Baulandumlegungen eingehen, wird die amtliche Umlegung jedenfalls dann als eindeutig vorzugswürdig gegenüber der freiwilligen angesehen, wenn aufgrund einer großen Anzahl betroffener Grundstückseigentümer einvernehmliche Regelungen mit allen Beteiligten nur schwer oder überhaupt nicht zu erzielen seien. Dies sei häufig der Fall. Eine nicht nur wegen ihrer Grunderwerbsteuerbefreiung zunehmend häufiger praktizierte Form der Baulandumlegung sei die vereinbarte amtliche Umlegung, bei der sich die Grundstückseigentümer zunächst untereinander und mit der Gemeinde darauf verständigten, mittels eines städtebaulichen Vertrags die gewollten Ergebnisse des Bodenordnungsverfahrens festzulegen, und bei der sie vereinbarten, den Vollzug der Neuordnung der Grundstücksverhältnisse danach im hoheitlichen Verfahren durchzuführen. Eine Reihe von Stellungnahmen weist schließlich darauf hin, dass das Scheitern der Verhandlungen über eine freiwillige Umlegung nicht automatisch die Einleitung eines hoheitlichen Umlegungsverfahrens zur Folge habe; es komme vielmehr auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles an, die dazu führen könnten, dass die Gemeinde ganz auf die Bodenneuordnung verzichte.

B.

36

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet.

I.

37

Es verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, dass § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG lediglich Grundstückserwerbe im amtlichen Umlegungsverfahren nach den §§ 45 ff. BauGB von der Grunderwerbsteuer ausnimmt, aber Erwerbsvorgänge anlässlich einer freiwilligen Umlegung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG der Grunderwerbsteuer unterwirft.

38

1. a) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Das hieraus folgende Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln, gilt für ungleiche Belastungen und ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 121, 108 <119>; 121, 317 <370>; 126, 400 <416>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 121>). Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird (vgl. BVerfGE 116, 164 <180>; 121, 108 <119>; 121, 317 <370>; 126, 400 <416>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 121>). Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (vgl. BVerfGE 75, 108 <157>; 93, 319 <348 f.>; 107, 27 <46>; 126, 400 <416>; 129, 49 <69>; 132, 179 <188 Rn. 30>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 121>).

39

Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können (vgl. BVerfGE 117, 1 <30>; 122, 1 <23>; 126, 400 <416>; 129, 49 <68>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 122>). Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; 111, 176 <184>; 129, 49 <69>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 122>). Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; 129, 49 <69>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 122>) oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern (vgl. BVerfGE 88, 87 <96>; 124, 199 <220>; 129, 49 <69>; 130, 240 <254>; 132, 179 <188 f. Rn. 31>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 122>).

40

Gleichheitsrechtlicher Ausgangspunkt im Steuerrecht ist der Grundsatz der Lastengleichheit. Die Steuerpflichtigen müssen dem Grundsatz nach durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet werden (vgl. BVerfGE 117, 1 <30>; 121, 108 <120>; 126, 400 <417>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2014 - 1 BvF 3/11 -, juris, Rn. 41; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 123>). Der Gleichheitssatz belässt dem Gesetzgeber einen weit reichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes (vgl. BVerfGE 123, 1 <19>; stRspr). Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands, vgl. BVerfGE 117, 1 <30 f.>; 120, 1 <29>; 121, 108 <120>; 126, 400 <417>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2014 - 1 BvF 3/11 -, juris, Rn. 41; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 123>). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes (vgl. BVerfGE 117, 1 <31>; 120, 1 <29>; 126, 400 <417>; 132, 179 <189 Rn. 32>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2014 - 1 BvF 3/11 -, juris, Rn. 41), der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit Umfang und Ausmaß der Abweichung (vgl. dazu BVerfGE 117, 1 <32>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2014 - 1 BvL 21/12 -, NJW 2015, S. 303 <306 Rn. 123>).

41

b) Ausgehend hiervon ist die grunderwerbsteuerliche Ungleichbehandlung von freiwilliger und amtlicher Umlegung innerhalb der Gleichheitsprüfung nicht an einem strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab zu messen. Die zur Grunderwerbsteuerpflicht führende Teilnahme an einer nach § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB als städtebaulicher Vertrag oder in sonstiger Weise vertraglich geregelten Umlegung erfolgt grundsätzlich freiwillig und ist damit für den Steuerschuldner verfügbar. Die Besteuerung von Grundstücksübertragungsvorgängen im Sinne des § 1 GrEStG entfaltet im Vergleich zu der hier in Rede stehenden Grunderwerbsteuerbefreiung nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG auch weder freiheitseinschränkende Wirkung noch weist sie eine Nähe zu den Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG auf. Diese Befreiung erreicht schließlich auch kein solches Ausmaß, dass die Differenzierung einen strengeren Prüfungsmaßstab erforderte. Der Gesetzgeber verfügt bei der Ausgestaltung der Befreiungstatbestände von der Grunderwerbsteuer somit über einen beträchtlichen Spielraum.

42

2. Gemessen an diesem großzügigen Prüfungsmaßstab bestehen zwischen dem Erwerb eines Grundstücks im amtlichen Umlegungsverfahren nach den §§ 45 ff. BauGB und dem Grundstückserwerb im Wege der freiwilligen Baulandumlegung Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie eine unterschiedliche Behandlung bei der Grunderwerbsteuer rechtfertigen können (a). Dies gilt auch dann, wenn der Belastungsgrund der Grunderwerbsteuer in der Abschöpfung einer bestimmten, sich in der Vermögensverwendung äußernden Leistungsfähigkeit liegen sollte (b).

43

a) Die Grunderwerbsteuer ist eine Rechtsverkehrsteuer (vgl. BFH, Beschluss vom 26. Januar 2000 - II B 108/98 -, BFH/NV 2000, S. 1136 <1137>; BFHE 206, 374 <378>; BFH, Urteil vom 9. April 2008 - II R 32/06 -, DStRE 2008, S. 1152 <1153>; Fischer, in: Boruttau, Grunderwerbsteuergesetz, 17. Aufl. 2011, Vorbemerkungen Rn. 131 und 135 f.; Desens, in: Festschrift für Paul Kirchhof zum 70. Geburtstag, Bd. 2, 2013, S. 2069 <2073 f.>). Durch die Besteuerung von Verkehrsvorgängen wird die private Vermögensverwendung belastet (vgl. BVerfGE 93, 121 <134>).

44

Anders als bei der amtlichen Umlegung ist die Teilnahme an vertraglichen Umlegungen grundsätzlich freiwillig. Dies rechtfertigt es, im Rahmen des dem Gesetzgeber zustehenden Spielraums die hierauf beruhenden Grundstückserwerbsvorgänge als Teilnahme am Rechtsverkehr und damit grunderwerbsteuerpflichtig zu bewerten, die Veränderungen in der Grundstückszuordnung als Folge einer amtlichen Umlegung hingegen nicht.

45

aa) Die amtliche Umlegung nach den §§ 45 ff. BauGB schränkt die verfassungsrechtlich gewährleistete Verfügungsfreiheit des Eigentümers ein. Die mit einem teilweisen oder gänzlichen Verlust des bisherigen konkreten Grundstücks und der Neuzuteilung verbundene Änderung der Eigentumsverhältnisse kann notfalls auch gegen den Willen einzelner Eigentümer erfolgen (vgl. BVerfGE 104, 1 <9>).

46

Die Inhaber von Rechten an den betroffenen Grundstücken sind hier nicht gleiche Partner eines Vertrags, sondern Beteiligte eines Verwaltungsverfahrens (vgl. § 48 Abs. 1 BauGB). Unbeschadet einzelner auf ein kooperatives Mitwirken der Beteiligten angelegter Regelungen (vgl. § 56 Abs. 2, § 59 Abs. 4 Nr. 1, 2 und 3, § 62 Abs. 1, § 73 Nr. 3, § 76 BauGB) stellt die amtliche Umlegung nach ihrer gesetzlichen Konzeption ein förmliches und zwangsweises Grundstückstauschverfahren dar (vgl. Breuer, in: Schrödter, Baugesetzbuch, 7. Aufl. 2006, § 45 Rn. 6; Grziwotz, in: Spannowsky/Uechtritz, Beck'scher Online-Kommentar Öffentliches Baurecht, Stand September 2014, § 72 Rn. 6; Otte, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand September 2011, § 45 Rn. 3; Dirnberger, in: Jäde/Dirnberger/Weiß, Baugesetzbuch, 7. Aufl. 2013, § 11 Rn. 22 f.). Die Gemeinde ordnet die Umlegung an, die dann nach Anhörung der Eigentümer durch einen Beschluss der Umlegungsstelle eingeleitet wird (§ 46 Abs. 1, § 47 Abs. 1 BauGB). Der Umlegungsbeschluss ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung gegenüber allen Beteiligten. Mit seiner Bekanntmachung unterliegen die Grundstücke des Umlegungsgebiets der Verfügungs- und Veränderungssperre nach § 51 BauGB sowie dem Vorkaufsrecht nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB (vgl. Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 12. Aufl. 2014, § 47 Rn. 3; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiß, Baugesetzbuch, 7. Aufl. 2013, § 47 Rn. 7). Die Änderung der Eigentumszuordnung vollzieht sich bei der amtlichen Umlegung ebenfalls nach öffentlich-rechtlichen Grundsätzen, indem mit der Bekanntmachung des Zeitpunkts der Unanfechtbarkeit des Umlegungsplans (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 BauGB) der bisherige Rechtszustand durch den in dem Umlegungsplan vorgesehenen neuen Rechtszustand ersetzt wird (vgl. § 72 Abs. 1 Satz 1 BauGB), ohne dass es dazu einer Eintragung ins Grundbuch bedarf (vgl. Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 12. Aufl. 2014, § 72 Rn. 2; Otte, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand Dezember 2007, § 72 Rn. 4). Die nachfolgende Eintragung des Eigentumsübergangs im Grundbuch dient nur noch dessen Berichtigung (vgl. § 74 BauGB).

47

bb) Die freiwillige Umlegung ist hingegen kein von der Gemeinde - auch gegen den Willen der betroffenen Eigentümer - eingeleitetes Verwaltungsverfahren, sondern eine vertragliche Vereinbarung, die eine einvernehmliche Neuordnung der Grundstücksverhältnisse zum Gegenstand hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eröffnet die freiwillige Umlegung Raum für Regelungen solcher Art, die einseitig im Umlegungsplan des förmlichen Umlegungsrechts nicht getroffen werden könnten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Juli 2001 - BVerwG 4 B 24.01 -, NVwZ 2002, S. 473 <474>; siehe auch Dirnberger, in: Jäde/Dirnberger/Weiß, Baugesetzbuch, 7. Aufl. 2013, § 11 Rn. 23 ff.). Demgemäß seien etwa Vereinbarungen möglich, die von den Vorgaben in §§ 55 ff. BauGB abweichende Verteilungsmaßstäbe und Kostentragungsregelungen vorsähen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1984 - BVerwG 4 C 24.80 -, NJW 1985, S. 989; BVerwG, Beschluss vom 13. Dezember 1994 - BVerwG 4 B 216.94 - Buchholz 316 § 59 VwVfG Nr. 11). Auch der Eigentumsübergang an den betroffenen Grundstücken erfolgt hier durch Rechtsgeschäft nach Auflassung (§ 925 BGB) und Eintragung im Grundbuch (§ 873 BGB).

48

cc) Beide Umlegungsarten weisen danach in städtebaulicher Hinsicht zwar eine gleiche Zielrichtung auf. Ihre Unterschiede bezüglich des zugrunde liegenden Verfahrens und der Freiwilligkeit der Teilnahme daran sind jedoch von solchem Gewicht, dass der Gesetzgeber sie im Hinblick auf den Charakter der Grunderwerbsteuer als Verkehrsteuer unterschiedlich behandeln darf. Gemessen an dem hier anzulegenden, großzügigen Maßstab liegt ein tragfähiger Sachgrund für die grunderwerbsteuerliche Ungleichbehandlung jedenfalls darin, dass der die Grunderwerbsteuer auslösende Wechsel in der Eigentumszuordnung (vgl. BFHE 206, 374 <378> m.w.N.) bei der freiwilligen Umlegung auf einer privatautonomen Entscheidung des Grundstückseigentümers beruht, während er bei der amtlichen Umlegung auch gegen den Willen des Eigentümers durchgesetzt werden kann. Wer im Rahmen einer freiwilligen Umlegung ein Grundstück erwirbt, nimmt aufgrund eigenen Entschlusses am Markt teil (in diesem Sinne auch BTDrucks 9/2114, S. 5) und wird dadurch grunderwerbsteuerpflichtig. Hingegen würde die Belastung mit Grunderwerbsteuer bei einem amtlichen Umlegungsverfahren nicht an das Ergebnis einer autonomen Entscheidung anknüpfen, sondern an die Neuordnung der Grundstücke durch Verwaltungsakt, die auch gegen den Willen des Eigentümers durchgesetzt werden kann.

49

dd) Die in diesem Verfahren eingeholten Stellungnahmen haben auch nicht ergeben, dass freiwillige und amtliche Umlegung in der kommunalen Praxis weitgehend als beliebig austauschbar behandelt werden und deshalb keine Differenzierung gerechtfertigt sei. Sie werden offenbar vielmehr als Instrumente der Bodenordnung mit deutlich unterschiedlichem Rechtscharakter und dementsprechend je eigenen Vor- und Nachteilen wahrgenommen und nach Maßgabe der örtlichen Grundstücks- und Eigentumsstrukturen bewusst eingesetzt. So wird die freiwillige Umlegung nach den insoweit weitgehend übereinstimmenden Angaben in aller Regel nur bei absehbar konsensual zu lösenden Verteilungsfragen in Betracht gezogen. Schließlich führt nach diesen Erkenntnissen das Scheitern einer freiwilligen Umlegung auch keineswegs immer und selbstverständlich zu einer amtlichen Umlegung.

50

b) Die im Gesetz vorgesehene grunderwerbsteuerliche Ungleichbehandlung freiwilliger und amtlicher Grundstücksumlegungen wäre auch dann gerechtfertigt, wenn man den Belastungsgrund der Grunderwerbsteuer in der Abschöpfung einer sich in der Vermögensverwendung äußernden Leistungsfähigkeit sähe.

51

Nach der im Gesetzgebungsverfahren verschiedentlich zum Ausdruck gekommenen Vorstellung des Gesetzgebers soll die Grunderwerbsteuer die sich im Erwerbsvorgang offenbarende Leistungsfähigkeit erfassen (vgl. BTDrucks 8/2555, S. 7 und 9/251, S. 12 mit Verweis auf das Gutachten der Steuerreformkommission 1971, Abschnitt IX Verkehrsteuern, Rn. 106). Es bedarf hier keiner Entscheidung der im steuerrechtlichen Schrifttum und in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich beurteilten Frage, ob die Grunderwerbsteuer als Verkehrsteuer hiernach auch am Leistungsfähigkeitsprinzip zu messen ist (vgl. dazu Fischer, in: Boruttau, Grunderwerbsteuergesetz, 17. Aufl. 2011, Vorbemerkungen Rn. 137 ff.; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand Januar 2012, § 3 AO Rn. 50a; Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 18 Rn. 4, jeweils m.w.N. und BFH, Urteil vom 9. April 2008 - II R 32/06 -, DStRE 2008, S. 1152 <1153 f.>). Denn auch im Falle einer an Leistungsfähigkeitsaspekten orientierten Grunderwerbsbesteuerung wäre es nicht geboten, die freiwillige Umlegung und die gesetzliche Umlegung grunderwerbsteuerlich gleich zu behandeln.

52

Sollte mit der Grunderwerbsteuer die durch Nachfrage und Konsumbereitschaft zum Ausdruck kommende vermutete Zahlungsfähigkeit des Steuerschuldners erfasst werden (vgl. P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 247), könnte dieser Schluss ohnehin nur für die Beteiligung an einer freiwilligen Umlegung gezogen werden. Die Teilnahme an einem solchen (Umlegungs-)Vertragsverhältnis, die eine freiwillige Vermögensdisposition zur Folge hat, vermag typisierend Zahlungsfähigkeit zu indizieren. Beruht ein Grundstücksverkehrsvorgang hingegen nicht auf freiwilligen Vermögensdispositionen, sondern auf Hoheitsakten, die gegenüber dem Betroffenen gegebenenfalls auch mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden können, so kann daraus nicht geschlossen werden, dass in ihm typischerweise Zahlungskraft zum Ausdruck kommt. Auch unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten besteht daher ein Unterschied zwischen Eigentumsübergängen bei freiwilligen Umlegungen und bei Umlegungen nach den Vorschriften der §§ 45 ff. BauGB, der eine entsprechende Differenzierung in der Besteuerung rechtfertigt.

II.

53

Der Bundesfinanzhof hat, indem er die Sache nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt hat, nicht gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen, weil er die beanstandete Regelung nicht für verfassungswidrig gehalten hat (vgl. BVerfGE 117, 330 <356>).

54

Die Entscheidung ist mit 6 : 2 Stimmen ergangen.

(1) Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35a Absatz 2 Nummer 2 bis 4 gewährt, so ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Er umfasst die Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen.

(2) Der gesamte regelmäßig wiederkehrende Bedarf soll durch laufende Leistungen gedeckt werden. Sie umfassen außer im Fall des § 32 und des § 35a Absatz 2 Nummer 2 auch einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung des Kindes oder des Jugendlichen. Die Höhe des Betrages wird in den Fällen der §§ 34, 35, 35a Absatz 2 Nummer 4 von der nach Landesrecht zuständigen Behörde festgesetzt; die Beträge sollen nach Altersgruppen gestaffelt sein. Die laufenden Leistungen im Rahmen der Hilfe in Vollzeitpflege (§ 33) oder bei einer geeigneten Pflegeperson (§ 35a Absatz 2 Nummer 3) sind nach den Absätzen 4 bis 6 zu bemessen.

(3) Einmalige Beihilfen oder Zuschüsse können insbesondere zur Erstausstattung einer Pflegestelle, bei wichtigen persönlichen Anlässen sowie für Urlaubs- und Ferienreisen des Kindes oder des Jugendlichen gewährt werden.

(4) Die laufenden Leistungen sollen auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten gewährt werden, sofern sie einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Die laufenden Leistungen umfassen auch die Erstattung nachgewiesener Aufwendungen für Beiträge zu einer Unfallversicherung sowie die hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen zu einer angemessenen Alterssicherung der Pflegeperson. Sie sollen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalls abweichende Leistungen geboten sind. Ist die Pflegeperson in gerader Linie mit dem Kind oder Jugendlichen verwandt und kann sie diesem unter Berücksichtigung ihrer sonstigen Verpflichtungen und ohne Gefährdung ihres angemessenen Unterhalts Unterhalt gewähren, so kann der Teil des monatlichen Pauschalbetrages, der die Kosten für den Sachaufwand des Kindes oder Jugendlichen betrifft, angemessen gekürzt werden. Wird ein Kind oder ein Jugendlicher im Bereich eines anderen Jugendamts untergebracht, so soll sich die Höhe des zu gewährenden Pauschalbetrages nach den Verhältnissen richten, die am Ort der Pflegestelle gelten.

(5) Die Pauschalbeträge für laufende Leistungen zum Unterhalt sollen von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festgesetzt werden. Dabei ist dem altersbedingt unterschiedlichen Unterhaltsbedarf von Kindern und Jugendlichen durch eine Staffelung der Beträge nach Altersgruppen Rechnung zu tragen. Das Nähere regelt Landesrecht.

(6) Wird das Kind oder der Jugendliche im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 des Einkommensteuergesetzes bei der Pflegeperson berücksichtigt, so ist ein Betrag in Höhe der Hälfte des Betrages, der nach § 66 des Einkommensteuergesetzes für ein erstes Kind zu zahlen ist, auf die laufenden Leistungen anzurechnen. Ist das Kind oder der Jugendliche nicht das älteste Kind in der Pflegefamilie, so ermäßigt sich der Anrechnungsbetrag für dieses Kind oder diesen Jugendlichen auf ein Viertel des Betrages, der für ein erstes Kind zu zahlen ist.

(7) Wird ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthalts in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie selbst Mutter eines Kindes, so ist auch der notwendige Unterhalt dieses Kindes sicherzustellen.

Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.

(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn

1.
das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2.
eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a)
die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
b)
eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3.
ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen.

(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären, die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. Dem Kind oder dem Jugendlichen ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen. Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen; § 39 Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend. Das Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind; der mutmaßliche Wille der Personensorge- oder der Erziehungsberechtigten ist dabei angemessen zu berücksichtigen. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 gehört zu den Rechtshandlungen nach Satz 4, zu denen das Jugendamt verpflichtet ist, insbesondere die unverzügliche Stellung eines Asylantrags für das Kind oder den Jugendlichen in Fällen, in denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass das Kind oder der Jugendliche internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 des Asylgesetzes benötigt; dabei ist das Kind oder der Jugendliche zu beteiligen.

(3) Das Jugendamt hat im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1 und 2 die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten unverzüglich von der Inobhutnahme zu unterrichten, sie in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form umfassend über diese Maßnahme aufzuklären und mit ihnen das Gefährdungsrisiko abzuschätzen. Widersprechen die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme, so hat das Jugendamt unverzüglich

1.
das Kind oder den Jugendlichen den Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach der Einschätzung des Jugendamts eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden oder
2.
eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen.
Sind die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten nicht erreichbar, so gilt Satz 2 Nummer 2 entsprechend. Im Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen. Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme nicht, so ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten.

(4) Die Inobhutnahme endet mit

1.
der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten,
2.
der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch.

(5) Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen der Inobhutnahme sind nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.

(6) Ist bei der Inobhutnahme die Anwendung unmittelbaren Zwangs erforderlich, so sind die dazu befugten Stellen hinzuzuziehen.

(1) Die Beiträge für Kindererziehungszeiten werden vom Bund gezahlt.

(2) Der Bund zahlt zur pauschalen Abgeltung für die Beitragszahlung für Kindererziehungszeiten an die allgemeine Rentenversicherung für das Jahr 2000 einen Betrag in Höhe von 22,4 Milliarden Deutsche Mark. Dieser Betrag verändert sich im jeweils folgenden Kalenderjahr in dem Verhältnis, in dem

1.
die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Abs. 2 Satz 1) im vergangenen Kalenderjahr zu den entsprechenden Bruttolöhnen und -gehältern im vorvergangenen Kalenderjahr stehen,
2.
bei Veränderungen des Beitragssatzes der Beitragssatz des Jahres, für das er bestimmt wird, zum Beitragssatz des laufenden Kalenderjahres steht,
3.
die Anzahl der unter Dreijährigen im vorvergangenen Kalenderjahr zur entsprechenden Anzahl der unter Dreijährigen in dem dem vorvergangenen vorausgehenden Kalenderjahr steht.

(3) Bei der Bestimmung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer sind für das vergangene Kalenderjahr und für das vorvergangene Kalenderjahr die Daten zugrunde zu legen, die dem Statistischen Bundesamt zu Beginn des Kalenderjahres, in dem die Bestimmung erfolgt, vorliegen. Bei der Anzahl der unter Dreijährigen in einem Kalenderjahr sind die für das jeweilige Kalenderjahr zum Jahresende vorliegenden Daten des Statistischen Bundesamtes zugrunde zu legen.

(4) Die Beitragszahlung des Bundes erfolgt in zwölf gleichen Monatsraten. Die Festsetzung und Auszahlung der Monatsraten sowie die Abrechnung führt das Bundesamt für Soziale Sicherung entsprechend den haushaltsrechtlichen Vorschriften durch.

(1) Wird Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35a Absatz 2 Nummer 2 bis 4 gewährt, so ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen. Er umfasst die Kosten für den Sachaufwand sowie für die Pflege und Erziehung des Kindes oder Jugendlichen.

(2) Der gesamte regelmäßig wiederkehrende Bedarf soll durch laufende Leistungen gedeckt werden. Sie umfassen außer im Fall des § 32 und des § 35a Absatz 2 Nummer 2 auch einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung des Kindes oder des Jugendlichen. Die Höhe des Betrages wird in den Fällen der §§ 34, 35, 35a Absatz 2 Nummer 4 von der nach Landesrecht zuständigen Behörde festgesetzt; die Beträge sollen nach Altersgruppen gestaffelt sein. Die laufenden Leistungen im Rahmen der Hilfe in Vollzeitpflege (§ 33) oder bei einer geeigneten Pflegeperson (§ 35a Absatz 2 Nummer 3) sind nach den Absätzen 4 bis 6 zu bemessen.

(3) Einmalige Beihilfen oder Zuschüsse können insbesondere zur Erstausstattung einer Pflegestelle, bei wichtigen persönlichen Anlässen sowie für Urlaubs- und Ferienreisen des Kindes oder des Jugendlichen gewährt werden.

(4) Die laufenden Leistungen sollen auf der Grundlage der tatsächlichen Kosten gewährt werden, sofern sie einen angemessenen Umfang nicht übersteigen. Die laufenden Leistungen umfassen auch die Erstattung nachgewiesener Aufwendungen für Beiträge zu einer Unfallversicherung sowie die hälftige Erstattung nachgewiesener Aufwendungen zu einer angemessenen Alterssicherung der Pflegeperson. Sie sollen in einem monatlichen Pauschalbetrag gewährt werden, soweit nicht nach der Besonderheit des Einzelfalls abweichende Leistungen geboten sind. Ist die Pflegeperson in gerader Linie mit dem Kind oder Jugendlichen verwandt und kann sie diesem unter Berücksichtigung ihrer sonstigen Verpflichtungen und ohne Gefährdung ihres angemessenen Unterhalts Unterhalt gewähren, so kann der Teil des monatlichen Pauschalbetrages, der die Kosten für den Sachaufwand des Kindes oder Jugendlichen betrifft, angemessen gekürzt werden. Wird ein Kind oder ein Jugendlicher im Bereich eines anderen Jugendamts untergebracht, so soll sich die Höhe des zu gewährenden Pauschalbetrages nach den Verhältnissen richten, die am Ort der Pflegestelle gelten.

(5) Die Pauschalbeträge für laufende Leistungen zum Unterhalt sollen von den nach Landesrecht zuständigen Behörden festgesetzt werden. Dabei ist dem altersbedingt unterschiedlichen Unterhaltsbedarf von Kindern und Jugendlichen durch eine Staffelung der Beträge nach Altersgruppen Rechnung zu tragen. Das Nähere regelt Landesrecht.

(6) Wird das Kind oder der Jugendliche im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 des Einkommensteuergesetzes bei der Pflegeperson berücksichtigt, so ist ein Betrag in Höhe der Hälfte des Betrages, der nach § 66 des Einkommensteuergesetzes für ein erstes Kind zu zahlen ist, auf die laufenden Leistungen anzurechnen. Ist das Kind oder der Jugendliche nicht das älteste Kind in der Pflegefamilie, so ermäßigt sich der Anrechnungsbetrag für dieses Kind oder diesen Jugendlichen auf ein Viertel des Betrages, der für ein erstes Kind zu zahlen ist.

(7) Wird ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthalts in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie selbst Mutter eines Kindes, so ist auch der notwendige Unterhalt dieses Kindes sicherzustellen.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.