Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 3 9 8 / 1 4
vom
29. April 2015
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 29. April 2015 gemäß § 349 Abs. 4,
§ 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 14. Juli 2014 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen III.5 bis III.29 der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 21 Fällen (Tatzeitraum von Januar 2010 bis 11. Dezember 2011 sowie ab 10. Januar 2012 bis Ende Januar 2012) verurteilt worden ist; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;
b) das vorbezeichnete Urteil im Übrigen mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Erfurt zurückverwiesen.

Gründe:

I.

1
1. Der Angeklagte war durch ein erstes Urteil des Landgerichts Gera vom 24. Juni 2013 unter Freispruch im Übrigen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Senat mit Beschluss vom 13. März 2014 - 2 StR 516/13 - dieses Urteil, soweit der Angeklagte verurteilt worden war, aufgehoben und das Verfahren eingestellt, da es an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlte.
2
2. Nach erneuter Anklageerhebung hat das Landgericht Gera den Angeklagten wiederum des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen (Fälle III.1. und III.2. der Urteilsgründe), versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern (Fälle III.3. und III.4. der Urteilsgründe) sowie des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 29 Fällen (Fälle III.5. bis III.33. der Urteilsgründe) schuldig gesprochen. Es hat den Angeklagten wiederum zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt sowie eine Kompensationsentscheidung getroffen.
3
3. Nach den Feststellungen des Landgerichts begann der Angeklagte 2008 mit seiner früheren Lebensgefährtin I. W. abermals eine Beziehung , woraufhin diese im November 2009 mit ihren beiden Kindern, der am 11.12.2003 geborenen Nebenklägerin und ihrem Bruder, zum Angeklagten nach A. zog. Nach anfänglichen Problemen gewöhnte sich die Nebenklägerin an die neuen Lebensumstände und erkannte den Angeklagten, der Erziehungsaufgaben wahrnahm, als Stiefvater an. In dem Zeitraum von Ende 2009 bis kurz vor den Herbstferien 2012 kam es zu mehreren sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin. So führte er innerhalb dieses Zeitraums mindestens einmal einen Finger in den Scheidenvorhof (Fall III.1. der Urteilsgründe) und bei einer weiteren Gelegenheit einen Finger in den After der Nebenklägerin ein (Fall III.2. der Urteilsgründe). In mindestens zwei Fällen versuchte der Angeklagte, seinen Penis in die Scheide der auf dem Bett unter ihm liegenden Nebenklägerin einzuführen, was bei dieser jeweils zu starken Schmerzen führte. Als die Nebenklägerin den Angeklagten darauf hinwies, ließ er von ihr ab. Das Landgericht vermochte sich trotz der erlittenen Schmerzen keine Überzeugung dahin zu bilden, dass der Angeklagte schon in den Scheidenvorhof der Nebenklägerin eingedrungen war. In einem dieser Fälle küsste der Angeklagte das Kind zuvor im Scheidenbereich (Fälle III.3. und III.4. der Urteilsgründe). Ab Januar 2010 bis mindestens Januar 2012 griff der Angeklagte mindestens einmal wöchentlich, wenn sich die Nebenklägerin in einem Wohnzimmersessel auf seinen Schoss setzte, in ihre Unterhose und rieb an ihrer Scheide. Insoweit ging das Landgericht - ersichtlich mit Blick auf den rechtskräftigen Teilfreispruch im ersten Urteil vom 24. Juni 2013 - jedoch nur von 25 Einzeltaten aus (Fälle III.5. bis III.29. der Urteilsgründe). Bei einer weiteren Gelegenheit forderte der Angeklagte die Nebenklägerin auf, an seinem Penis zu manipulieren. Dieser Aufforderung kam die Nebenklägerin wenigstens für einen kurzen Zeitraum nach (Fall III.30. der Urteilsgründe). Zudem masturbierte der Angeklagte mindestens zweimal bis zum Samenerguss vor der Nebenklägerin , wobei in einem Fall auch Sperma auf den Körper des Kindes gelangte (Fälle III.31. und III.32. der Urteilsgründe). Schließlich trug der Angeklagte die Nebenklägerin kurz vor den Herbstferien 2012 huckepack auf dem Rücken durch die Wohnung und griff dabei durch ein Loch in der Strumpfhose an der Unterhose vorbei an ihre Scheide (Fall III.33. der Urteilsgründe).
4
4. Der Angeklagte hat die Taten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung von den Tathandlungen auf die von ihm als glaubhaft erachteten Angaben der Nebenklägerin gestützt.

II.

5
Das Rechtsmittel des Angeklagten führt zu einer teilweisen Einstellung des Verfahrens und hat im Übrigen mit der Sachrüge Erfolg.
6
1. In den Fällen III.5. bis III.29. der Urteilsgründe ist teilweise Strafklageverbrauch eingetreten.
7
a) Das Landgericht geht insoweit - entsprechend der zugelassenen Anklage - von einem Tatzeitraum von Januar 2010 bis mindestens (Ende) Januar 2012 aus, in denen es mindestens einmal pro Woche zu einem sexuellen Übergriff gekommen sein soll. Hiervon bringt es einen Zeitraum von vier Monaten in Abzug, in denen sich der Angeklagte in stationärer Alkoholtherapie befand, was allerdings nur schwer nachvollziehbar ist, da die Therapie überhaupt erst nach dem Klinikaufenthalt der Mutter der Nebenklägerin, der am 10. Januar 2012 begann und 15 Wochen dauerte, begann (vgl. UA S. 5, 17, 20). Im Übrigen sah sich das Landgericht ersichtlich vor dem Hintergrund des rechtskräftigen Teilfreispruchs im ersten Urteil vom 24. Juni 2013 daran gehindert, mehr als 25 Taten abzuurteilen, die es allerdings innerhalb des festgestellten Tatzeitraums nicht näher zeitlich eingeordnet hat.
8
b) Dieses Vorgehen des Landgerichts wird der Rechtskraft des Teilfreispruchs nicht in vollem Umfang gerecht. Da die Taten der bezeichneten Serie nicht nach anderen Merkmalen individualisierbar sind, kommt der Tatzeit maßgebliche Bedeutung dafür zu, welche tatsächlichen Vorgänge von der Rechtskraft des Freispruchs erfasst werden (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 133 f.; siehe auch BGH, Urteil vom 21. Januar 2010 - 4 StR 407/09, NStZ 2010, 346 f.; Urteil vom 22. Juni 2006 - 3 StR 79/06, NStZ-RR 2006, 316; Beschluss vom 13. März 1996 - 3 StR 43/96, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 19; Beschluss vom 22. Juni 1994 - 3 StR 457/93, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8).
9
Im ersten Urteil wurde - entgegen der damaligen Anklageschrift, die ebenfalls von einem Tatzeitraum von Januar 2010 bis Januar 2012 ausging - ein Tatzeitraum von Dezember 2011 bis Oktober 2012 angenommen. Das Landgericht ist insoweit zu Gunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass die Missbrauchshandlungen erst begannen, als die am 11. Dezember 2003 geborene Nebenklägerin gerade noch sieben Jahre alt war, und hat unter der Annahme einer wöchentlichen Tatfrequenz für den Dezember 2011 lediglich drei Taten festgestellt. Für Januar 2012 hat es nur eine Tat angenommen, da sich der Angeklagte nach den damaligen Feststellungen im Zeitraum vom 10. Januar bis 24. April 2012 in stationärer Therapie befunden hatte; für den übrigen Zeitraum ist es unter Berücksichtigung von Sicherheitsabschlägen von insgesamt 21 Taten ausgegangen. Mithin hat es - mangels sonstiger Merkmale, die die Taten dieser Serie als einmalige, unverwechselbare Geschehen erscheinen lassen könnten - den Angeklagten von den Taten, die nach der damaligen Anklage vor dem 11. Dezember 2011 sowie nach dem 10. Januar 2012 (und bis zum 24. April 2012) verübt worden sein sollen, rechtskräftig freigesprochen (vgl. UA S. 28 des Ersturteils). Insoweit ist Strafklageverbrauch eingetreten.
10
Mit Blick auf den hier angeklagten Tatzeitraum von Januar 2010 bis mindestens (Ende) Januar 2012 stand dem Landgericht zur Aburteilung daher nur noch der Zeitraum zwischen 11. Dezember 2011 und 10. Januar 2012 zur Verfügung. Bei Zugrundelegung der festgestellten wöchentlichen Tatfrequenz verbleiben insoweit vier Taten zur Aburteilung, während das Verfahren hinsichtlich der restlichen 21 Taten einzustellen war.
11
2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
12
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (§ 261 StPO). Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (std. Rspr., vgl. nur Senat, Beschluss vom 18. Februar 2015 - 2 StR 278/14 juris Rn. 5 mwN). Bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation hat der Tatrichter zudem grundsätzlich im Wege einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände darzustellen und in seine Überlegung einzubeziehen (vgl. nur Senat, Beschluss vom 7. Juli 2014 - 2 StR 94/14, NStZ 2014, 667 mwN).
13
b) Gemessen daran begegnen den auch in sprachlicher Hinsicht wenig sorgfältig abgefassten Urteilsgründen durchgreifende rechtliche Bedenken.
14
aa) Das Landgericht hat ausgeführt, die Nebenklägerin habe in ihren verschiedenen Vernehmungen das Kerngeschehen sämtlicher festgestellter Tathandlungen "in den verschiedenen Varianten durchgängig und im Wesentlichen konstant mitgeteilt" (UA S. 18, 22). Dies steht teilweise im Widerspruch zu dem im Urteil angegebenen Inhalt der Aussagen. So gab die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung abweichend von den Feststellungen und ihren früheren Schilderungen zu Fall III.2. der Urteilsgründe an, der Angeklagte sei mit dem Penis in den After eingedrungen, mit dem Finger dagegen "einmal oder gar nicht" (UA S. 26). Diese wesentliche Abweichung und die möglichen Gründe hierfür werden in den Urteilsgründen nicht erkennbar erörtert. Jedenfalls in der vorliegenden besonderen Beweissituation hätte sich das Landgericht aber konkret mit diesen Umständen auseinandersetzen müssen, um seine Ausführungen zur Aussagekonstanz für den Senat nachvollziehbar zu machen.
15
bb) Weiter hat die Nebenklägerin ausweislich der Urteilsgründe wiederholt angegeben, der Angeklagte sei am Penis tätowiert (UA S. 24, 33). Ob dies tatsächlich der Fall ist, hat das Landgericht nicht festgestellt. Mit diesem Umstand , der ein gewichtiges Indiz gegen (oder auch für) die Glaubhaftigkeit der Nebenklägerin darstellen könnte, hätte sich das Landgericht ebenfalls auseinandersetzen müssen. Insoweit ist die Beweiswürdigung lückenhaft.
16
cc) Im Rahmen der zusammenfassenden Würdigung der Beweisergebnisse führt das Landgericht aus, der die Taten bestreitende Angeklagte habe mit Blick auf seine Vorstrafen und seiner Beziehung zur Kindesmutter "sicher ein deutlich höheres Interesse daran, die Taten zu leugnen, was zudem sein gutes Recht ist, als das Kind, diese zu erfinden und dauerhaft lügend dann aufrecht zu erhalten" (UA S. 37). Diese Argumentation ist zirkelschlüssig, soweit sie eine Tatbegehung durch den Angeklagten bereits voraussetzt. Im Übrigen kann auch ein Unschuldiger vor Gericht Zuflucht zur Lüge nehmen.
17
Trotz erheblicher, für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sprechender Gesichtspunkte kann der Senat, dem eine eigene Beweiswürdigung verwehrt ist, nicht sicher ausschließen, dass das Urteil auf diesen Rechtsfehlern beruht. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
18
3. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO Gebrauch und verweist die Sache an das Landgericht Erfurt zurück.

III.

19
Der Senat sieht Anlass zu folgenden Hinweisen:
20
1. Soweit die Taten - wie hier in den Fällen III.5. bis III.29. - nicht nach anderen Merkmalen individualisierbar sind, werden die tatsächlichen Grenzen der Urteilsfindung im Sinne der §§ 155, 264 StPO wesentlich durch den angeklagten Tatzeitraum bestimmt (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 134). In der Anklageschrift wurde der angeklagte Tatzeitraum ausdrücklich auf "insgesamt zwei Jahre, nämlich von Januar 2010 bis Januar 2012 beschränkt" (SA Bd. III Bl. 387). Etwaige nach Januar 2012 verübte Taten wären ohne Erhebung einer Nachtragsanklage von der Aburteilungsbefugnis des neuen Tatrichters daher nicht umfasst. Der rechtskräftige Teilfreispruch des ersten Urteils vom 24. Juni 2013, der die Taten im Zeitraum ab Ende Januar bis 24. April 2012 betrifft, wäre im Übrigen weiterhin zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2013 - 5 StR 462/12, BGHR StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 50).
21
2. Den Erwägungen, mit denen das Landgericht in den Fällen III.3. und III.4. der Urteilsgründe einen freiwilligen Rücktritt vom Versuch ausgeschlossen hat, begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. So spielt es für die Frage der Freiwilligkeit keine Rolle, ob der Anstoß zur Tataufgabe von außen kommt oder wie das Rücktrittsmotiv moralisch zu bewerten ist (vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl., § 24 Rn. 19a ff. mwN). Soweit das Landgericht auf die mit einem Weiterhandeln verbundene erhöhte Gefahr einer Aufdeckung des Missbrauchs abstellt, fehlt es an einer Erörterung des allein maßgeblichen subjektiven Vorstellungsbildes des Angeklagten (vgl. nur Senat, Beschluss vom 3. April 2014 - 2 StR 643/13, NStZ-RR 2014, 241 mwN). Dass sich der Angeklagte bei der Tataufgabe bestimmend von einer von ihm als unvertretbar eingeschätzten Risikoerhöhung hat leiten lassen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 4 StR 537/06, NStZ 2007, 265, 266 mwN), liegt im vorliegenden Fall auch nicht auf der Hand. Insbesondere lassen die bislang mitgeteilten Angaben der Nebenklägerin keine tragfähigen Rückschlüsse auf die Vorstellungen des - die Taten bestreitenden - Angeklagten zu.
22
3. Die Ausführungen des Landgerichts zum - straferschwerend berücksichtigten - Zusammenhang zwischen den Vorstrafen des Angeklagten wegen Raub- sowie Körperverletzungsdelikten und den hiesigen Missbrauchstaten sind für sich kaum verständlich. Mit der Erwägung, den "aggressiven Tendenzen" des Angeklagten sei "immanent, dass das Recht der betroffenen Menschen auf ihre körperliche und/oder seelische Unversehrtheit von dem Ange- klagten nicht beachtet wird, um dem selbstsüchtigen Eigennutz - hier in sexueller Form - den Vorrang einzuräumen", wird dem Angeklagten entgegen § 46 Abs. 3 StGB letztlich die Tatbegehung selbst vorgeworfen. Krehl Eschelbach Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Ott ist an der Unterschriftsleistung gehindert. Krehl Zeng Bartel

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Referenzen

(1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet.

(1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.

(1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisionsgericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt.

(2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen.

(3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.

(1) Stellt sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens ein Verfahrenshindernis heraus, so kann das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung das Verfahren durch Beschluß einstellen.

(2) Der Beschluß ist mit sofortiger Beschwerde anfechtbar.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR516/13
vom
13. März 2014
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 13. März 2014 gemäß
§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1, 206a StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Gera vom 24. Juni 2013, soweit der Angeklagte verurteilt wurde, aufgehoben. 2. Das Verfahren wird insoweit eingestellt. 3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 29 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt. Seine Revision hat Erfolg, weil es an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.
2
Der Eröffnungsbeschluss vom 5. April 2013 ist lediglich vom Vorsitzenden und einem Beisitzer unterschrieben. Der weitere auf eine richterliche Beisitzerin hinweisende Schriftzug stammt nicht von dieser, sondern vom Vorsitzenden der Strafkammer.
3
Zwar berührt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine fehlende oder nicht von allen Richtern vorgenommene Unterzeichnung des Eröffnungsbeschlusses dann nicht dessen Wirksamkeit, wenn nachgewiesen ist, dass der Beschluss tatsächlich von allen hierzu berufenen Richtern gefasst worden ist (vgl. zuletzt BGH, NStZ 2012, 225). Dies lässt sich aber hier nicht feststellen. Nach der dienstlichen Erklärung der beisitzenden Richterin, deren Unterschrift auf dem Eröffnungsbeschluss fehlt, hat sie keine Erinnerung, ob es in dieser Sache eine mündliche Beschlussfassung oder eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung über die Eröffnung gegeben habe.
4
Das Fehlen des Eröffnungsbeschlusses führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Einstellung des Verfahrens (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2008 - 4 StR 251/08).
Fischer Schmitt Krehl
Eschelbach Zeng

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 407/09
vom
21. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21. Januar
2010, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Athing,
Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann,
Dr. Franke
als beisitzende Richter,
Richter am Amtsgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 20. April 2009 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 20 Fällen (Verkauf von jeweils 10 g Kokaingemisch im Juli und August 2006) verurteilt worden ist; insoweit fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,
b) das vorbezeichnete Urteil im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die weiteren Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hatte den Angeklagten mit Urteil vom 24. April 2008 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 59 Fällen und wegen Versuchs der Beteiligung an einem Verbrechen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt sowie den Verfall von Wertersatz angeordnet. Gegenstand der Verurteilung waren Betäubungsmittelverkäufe des Angeklagten im Zeitraum Anfang März bis Ende Juni 2006. Auf die Revision des Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 14. Oktober 2008 - 4 StR 384/08 - das Urteil aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Dieses hat nunmehr den Angeklagten des Handelns mit Betäubungsmitteln im Zeitraum Anfang Juni bis Ende August 2006 für schuldig befunden und ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen und wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 30 Fällen unter Freisprechung im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zugleich hat es hinsichtlich eines Geldbetrages von 14.409,70 € den erweiterten Verfall angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel ist teilweise begründet.
2
1. Das Verfahren ist gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen, soweit der Angeklagte wegen des Verkaufs von jeweils 10 g Kokaingemisch in 20 Fällen, begangen in den Monaten Juli und August 2006, verurteilt worden ist, da es insoweit an der Verfahrenvoraussetzung einer wirksamen Anklageerhebung fehlt.
3
a) Die - unverändert zugelassene - Anklage vom 21. November 2007 hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, in dem Zeitraum Anfang März bis Ende Juni 2006 an den Zeugen J. (alias H. ) Kokain verkauft zu haben, und zwar mindestens an jedem zweiten Tag zwischen 10 bis 30 g, in einem weiteren Fall 50 g und in einem Fall nochmals mindestens 100 g. In dem angefochtenen Urteil ist demgegenüber das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte von Anfang Juni bis Ende August 2006 über einen Zeitraum von mindestens 13 Wochen jeweils wöchentlich zwei Kokainverkäufe und an jedem zweiten Wochenende einen zusätzlichen Verkauf, d.h. insgesamt 32 Kokainverkäufe, an J. getätigt hat. Hinsichtlich der Menge hat es dabei in 30 Fällen eine Mindestmenge von 10 g, und in den zwei verbleibenden Fällen eine solche von 50 g und von 100 g zu Grunde gelegt. Den nunmehr festgestellten Tatzeitraum hat es dabei von der Anklageschrift vom 21. November 2007 als mit umfasst angesehen.
4
b) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
5
Allerdings braucht eine Veränderung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben (vgl. BGHSt 46, 130, 133; BGH NStZ-RR 2006, 316, 317 jeweils m.w.N.). Dies setzt aber voraus, dass die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert ist (BGH aaO). Das ist hier in Bezug auf die 20 Taten im Juli und August 2006 nicht der Fall. Diese betreffen jeweils dieselbe Verkaufsmenge von 10 g Kokaingemisch und weisen auch im Übrigen keine individualisierende Merkmale auf, die sie als einmalige, unverwechselbare Geschehen erscheinen lassen könnten. Allein der Umstand, dass die Kokainverkäufe ohne weitere nähere Zuordnung in zwei verschiedenen Wohnungen stattfanden , genügt hierfür nicht (vgl. auch BGHSt 46, 130, 133 f.).
6
c) Anders liegt es indes bei den beiden Verkaufsgeschäften über 50 g bzw. 100 g Kokaingemisch. Zwar hat das Landgericht nicht feststellen können, ob sich diese in dem von der Anklage noch erfassten Zeitraum Juni 2006 oder erst im Juli oder August 2006 ereignet haben. Dem Angeklagten lagen jedoch von vorneherein nur zwei Kokainverkäufe über diese Mengen an den Zeugen J. zur Last. Damit ist insoweit auch bei Zugrundelegung einer Tatzeit erst im Juli oder August 2006 die „Nämlichkeit“ der Tat noch gewahrt, da sich diese beiden Taten unverwechselbar von der übrigen Tatserie abheben (vgl. auch BGH, Urteil vom 28. Mai 2002 - 5 StR 55/02).
7
2. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
8
a) Die Formalrüge (Verstoß gegen § 358 Abs. 1 StPO) ist nicht ordnungsgemäß ausgeführt und erweist sich daher bereits als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
9
b) Auch sachlichrechtlich weist das Urteil keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler auf, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift im Einzelnen zutreffend ausgeführt hat.
10
3. Die Sache bedarf daher zur Höhe der neu festzusetzenden Gesamtstrafe der erneuten Verhandlung und Entscheidung. Hierbei wird der neue Tatrichter die lange Verfahrensdauer gebührend zu berücksichtigen haben.
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke

(1) Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). In ihr sind ferner die Beweismittel, das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, und der Verteidiger anzugeben. Bei der Benennung von Zeugen ist nicht deren vollständige Anschrift, sondern nur deren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben. In den Fällen des § 68 Absatz 1 Satz 3, Absatz 2 Satz 1 genügt die Angabe des Namens des Zeugen. Wird ein Zeuge benannt, dessen Identität ganz oder teilweise nicht offenbart werden soll, so ist dies anzugeben; für die Geheimhaltung des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen gilt dies entsprechend.

(2) In der Anklageschrift wird auch das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen dargestellt. Davon kann abgesehen werden, wenn Anklage beim Strafrichter erhoben wird.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

5
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 30. März 2004 - 1 StR 354/03, NStZ-RR 2004, 238 f.; vom 2. Dezember 2005 - 5 StR 119/05, NJW 2006, 925, 928; Senat, Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 92/14, NStZ-RR 2015, 52).

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 94/14
vom
7. Juli 2014
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 7. Juli 2014 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 16. Dezember 2013 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Sein Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
2
1. a) Nach den Feststellungen des Landgerichts folgte der Angeklagte der 44jährigen B. , die er kurz zuvor an der Theke eines Lokals zum ersten Mal angesprochen hatte, in den Vorraum der dortigen Toilette und „verlangte von ihr, ihm ‚einen zu blasen‘“. B. lehnte ab und „forderte ihn mit derben Worten auf“, sie in Ruhe zu lassen. Der Angeklagte öffnete daraufhin seine Hose, packte die Geschädigte „fest an den Haaren, drückte den Kopf der sich sträubenden Geschädigten hinunter und zwang sie so, seinen ungeschützten Penis in den Mund zu nehmen“. Die Geschädigte wehrte sich. Es gelang ihr, sich wegzudrehen. Sie bat den Angeklagten weinend , er möge sie in Ruhe lassen. Der Angeklagte griff ihr jedoch fest an das TShirt , das dabei einriss, und stieß sie gegen die Toilettenwand, um den Oralverkehr fortzusetzen. Auch schlug er mehrfach auf die Geschädigte ein. Als die Barfrau des Lokals wegen lauter Schreie im Toilettenraum erschien, ließ der Angeklagte von der Geschädigten ab.
3
b) Der Angeklagte hat die Tat in Abrede gestellt. Mit der Geschädigten, die ihm unbekannt gewesen sei, habe er zwar ein paar Worte gewechselt; er habe sie aber „weder im Toilettenraum getroffen noch dort vergewaltigt“.
4
Die Strafkammer ist dieser Einlassung nicht gefolgt. Dass der Angeklagte auf die Geschädigte eingeschlagen und seinen erigierten Penis in Höhe des Gesichts der vor ihm knieenden Geschädigten gehalten habe, habe auch die (tatunbeteiligte) glaubwürdige Barfrau bezeugt. Die in Augenschein genomme- nen Bilder der Überwachungskamera bestätigten ebenfalls „den äußeren Ablauf der Geschehnisse“, wonach der Angeklagte der Geschädigten in den Toilettenbereich folgte, einige Minuten später die Barfrau nachkam und wenige Sekunden darauf die Geschädigte mit zerrissenem T-Shirt im Gastraum erschien und eilig das Lokal verließ. Schließlich habe die glaubwürdige Geschädigte das Geschehen – so wie festgestellt – geschildert, insbesondere hinsichtlich des ihr gegenüber erzwungenen Oralverkehrs.
5
2. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die erhobene Verfahrensrüge, mit der die Verletzung des § 261 StPO gerügt wird, weil sich das Landgericht im Urteil nicht mit der in Augenschein genommenen Videoaufzeichnung erschöpfend auseinandergesetzt habe, und der aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 21. März 2014 in der Sache kein Erfolg beschieden wäre, kommt es deshalb nicht an. Der Senat kann demzufolge auch dahingestellt sein lassen, ob dem Revisionsvortrag nicht (auch) die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu entnehmen sein könnte.
6
a) Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hinsichtlich des sexuellen Übergriffs des Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7
aa) Die Beweiswürdigung ist allein Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich deshalb darauf, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft oder widersprüchlich ist (st. Rspr.; vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 261 Rdn. 3 und 38). Die Beweiswürdigung ist auch dann rechtsfehlerhaft, wenn die Beweise nicht erschöpfend gewürdigt werden (vgl. etwa BGH, Urteil vom 21. November 2006 – 1 StR 392/06, Rn. 13, zit. nach juris). Bei einer Aussagegegen -Aussage-Konstellation hat der Tatrichter zudem grundsätzlich im Wege einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände darzustellen und in seine Überlegung einzubeziehen (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 30. August 2012 – 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rdn. 11a, jeweils mwN).
8
bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
9
Soweit es den erzwungenen Oralverkehr betrifft, ist die Geschädigte alleinige Zeugin; außerhalb ihrer Zeugenaussage bestehende Indizien für einen vollendeten sexuellen Übergriff des Angeklagten sind nicht ersichtlich. Die Strafkammer hat sich im Rahmen der Beweiswürdigung auch damit befasst, ob der Angeklagte die Geschädigte – wie von ihr behauptet – zeitgleich vaginal zu vergewaltigen versucht habe; dieses Geschehen hat das Landgericht indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit als bewiesen erachtet. Denn nicht auszuschließen sei, dass die Geschädigte, die zum Tatzeitpunkt unter Drogeneinfluss (Alkohol und Kokain) gestanden habe, in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen sei. Soweit es dagegen den erzwungenen Oralverkehr betrifft , sei – so das Landgericht – die Aussage der Geschädigten im Kern glaubhaft. „Auch wenn sie zum Tatzeitpunkt unter Alkohol- und Drogeneinfluss stand, so hatte sie daran doch zu keiner Zeit einen Zweifel gelassen, sondern es von Anfang an als stets im Vordergrund stehenden und für sie besonders bedrü- ckenden Umstand hervorgehoben“.
10
Mit dieser für sich genommen schon kaum nachvollziehbaren Bewertung wird die unterschiedliche Behandlung beeinträchtigter Wahrnehmungsfähigkeit der Geschädigten, die zudem – was das Landgericht freilich gesondert erörtert – „ersichtlich falsche und widersprüchliche Angaben zur Tatörtlichkeit gemacht“ habe, nicht widerspruchsfrei dargelegt. Die Bewertung des Landgerichts, der (von der Geschädigten behauptete) erzwungene Oralverkehr sei gegenüber dem (von ihr behaupteten) erzwungenen Vaginalverkehr ein bedrückenderer Umstand gewesen, ist nicht mit Anknüpfungstatsachen belegt. Dieser Schluss liegt auch nicht auf der Hand. Weshalb die Aussage der Geschädigten trotz beeinträchtigter Wahrnehmungsfähigkeit gleichwohl im festgestellten Umfang als glaubhaft angesehen wurde, erschließt sich nicht.
11
Hinzu kommt hier, dass es an einer geschlossenen Darstellung der Aussage der Geschädigten bei der Polizei fehlt. Zwar ist der Tatrichter grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in allen Einzelheiten wiederzugeben. In Fällen, in denen – wie hier – zum Kerngeschehen Aussage gegen Aussage steht, muss aber der entscheidende Teil einer Aussage in das Urteil aufgenommen werden, da dem Revisionsgericht ohne Kenntnis des wesentlichen Aussageinhalts ansonsten die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswür- digung nach den oben aufgezeigten Maßstäben verwehrt ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 – 1 StR 114/11, NStZ 2012, 110, 111).
12
Zwar stellt das Landgericht die Aussage der Geschädigten in der Hauptverhandlung dar; die Darstellung ihrer Aussage bei der Polizei beschränkt sich indes auf die Wiedergabe und die Bewertung einzelner aus dem Gesamtzusammenhang der Aussage gerissener Angaben. Etwaige Bekundungen der Geschädigten zum Kerngeschehen werden dagegen nicht mitgeteilt.
13
Auf dieser Grundlage kann der Senat nicht hinreichend überprüfen, ob das Landgericht eine fachgerechte Analyse der Aussage der Geschädigten zum Kerngeschehen vorgenommen und die dabei von ihr erwähnten "Abweichungen" zutreffend gewichtet hat (zur Gewichtung von Aussagekonstanz und Widerspruchsfreiheit vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 1997 – 4 StR 526/96, NStZRR 1997, 172).
14
b) Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Vergewaltigung lässt auch die – von diesem Rechtsfehler nicht betroffene – Verurteilung wegen der tateinheitlich dazu begangenen (vorsätzlichen) Körperverletzung entfallen (Gericke in KK-StPO, 7. Aufl., § 353 Rdn. 12 mwN).
15
3. Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer wird sichausführlich mit allen Filmsequenzen der Videoaufzeichnung der Überwachungskamera zu befassen haben. Fischer Schmitt Eschelbach Ri'inBGH Dr. Ott ist an Zeng der Unterschriftsleistung gehindert. Fischer

(1) Die Untersuchung und Entscheidung erstreckt sich nur auf die in der Klage bezeichnete Tat und auf die durch die Klage beschuldigten Personen.

(2) Innerhalb dieser Grenzen sind die Gerichte zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigt und verpflichtet; insbesondere sind sie bei Anwendung des Strafgesetzes an die gestellten Anträge nicht gebunden.

(1) Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.

(2) Das Gericht ist an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liegt, nicht gebunden.

5 StR 462/12

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 20. Februar 2013
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Februar 2013

beschlossen:
Die Revision des Angeklagten F. gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 12. März 2012 wird gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Die fehlerhafte Einbeziehung von Strafen aus mehreren, untereinander nicht gesamtstraffähigen Vorverurteilungen beschwert den Angeklagten nicht.
Basdorf Raum Dölp König Bellay

(1) Gegenstand der Urteilsfindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.

(2) Das Gericht ist an die Beurteilung der Tat, die dem Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens zugrunde liegt, nicht gebunden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 6 4 3 / 1 3
vom
3. April 2014
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und der Beschwerdeführer am 3. April 2014 gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten K. und I. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2013 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten K. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und den Angeklagten I. wegen versuchter Strafvereitelung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge Erfolg.
2
I. Die Verurteilung des Angeklagten K. wegen versuchten Totschlags hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es kann dahinstehen, ob schon - wie die Revision des Angeklagten K. meint - die Beweiswürdigung der Schwurgerichtskammer an durchgreifenden rechtlichen Mängeln leidet. Denn das Landgericht hat einen Rücktritt des Angeklagten K. vom versuchten Tötungsdelikt mit einer rechtsfehlerhaften Begründung abgelehnt.
3
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts gerieten der Angeklagte K. und der Geschädigte Kü. in einen Streit, der mit einer Beleidigung durch den Geschädigten, die der Angeklagte erwiderte, seinen Ausgang nahm und schließlich in eine körperliche Auseinandersetzung mündete. Der Geschädigte schlug den Angeklagten, der zu diesem Zeitpunkt bereits - vom Geschädigten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht bemerkt - ein Einhandmesser in der Hand hielt, ins Gesicht, worauf sich beide gegenseitig an den Oberarmen griffen und miteinander rangen. Sie kamen zu Fall, setzten ihre Auseinandersetzung aber am Boden fort. Der Angeklagte führte das Messer nunmehr auch in Richtung des später Geschädigten, der die Hand zunächst abblocken konnte und schließlich - als der Angeklagte mit seiner anderen Hand nachgriff - aus Angst vor Stichen in den Ringfinger von dessen linker Hand biss. Zeitgleich oder unmittelbar auf den Biss folgend versetzte der Angeklagte dem weiter auf dem Boden liegenden Geschädigten mit dem Messer zwei Stiche in den Bereich des linken Mittelbauchs, wobei er den Tod des Opfers billigend in Kauf nahm. Mittlerweile war der Zeuge S. , der als zufälliger Passant auf das Geschehen aufmerksam geworden war, hinzugetreten. Er richtete eine von ihm mitgeführte pistolenähnliche Anscheinswaffe auf den Angeklagten und forderte ihn lautstark zum Aufhören auf. Dieser sah sich zur weiteren Tatausübung nicht mehr in der Lage, erhob und entfernte sich - das Tatmesser weiter in der Hand haltend - vom Tatort (UA S. 6 f.).
4
Das Landgericht, das offenbar vom Vorliegen eines unbeendeten Tötungsversuchs ausgegangen ist, hat einen strafbefreienden Rücktritt vom Tötungsversuch verneint; der Angeklagte K. habe von der Fortführung der Tat nur deshalb abgelassen, weil der Zeuge S. ihn unter Vorhalten einer pistolenähnlichen Anscheinswaffe zum Aufhören aufgefordert habe. Die Tataufgabe sei deshalb nicht freiwillig erfolgt, ginge vielmehr auf das Einschreiten des Zeugen zurück (UA S. 40).
5
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Freiwilligkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor, wenn der Täter "Herr seiner Entschlüsse" geblieben ist und die Ausführung seines Verbrechensplans noch für möglich gehalten hat, er also weder durch eine äußere Zwangslage daran gehindert noch durch seelischen Druck unfähig geworden ist, die Tat zu vollbringen. Maßgebliche Beurteilungsgrundlage ist insoweit nicht die objektive Sachlage, sondern die Vorstellung des Täters hiervon (vgl. nur BGH NStZ-RR 2014, 9 f. mwN). Der Annahme von Freiwilligkeit steht es dabei nicht von vornherein entgegen, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt (BGH NStZ-RR 2010, 366 f.) oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten erfolgt (s. BGH NStZ 1988, 69 f.). Entscheidend für die Annahme von Freiwilligkeit ist, dass der Täter die Tatvollendung aus selbstgesetzten Motiven nicht mehr erreichen will (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2013 - 2 StR 289/13).
6
Unter Zugrundelegung dieses rechtlichen Maßstabs tragen die Feststellungen des Landgerichts den Ausschluss eines strafbefreienden, freiwilligen Rücktritts des Angeklagten nicht.
7
Das Landgericht hat insoweit lediglich festgestellt, dass der Zeuge S. den Angeklagten unter Vorhalten einer pistolenähnlichen Waffe zum Aufhören aufgefordert und dieser deshalb von der weiteren Tatbegehung abgelassen habe. Ob aber allein dieser Umstand geeignet war, eine äußere Zwangslage zu schaffen, die den Angeklagten hinderte, die Tat fortzusetzen, lässt sich den Feststellungen des Landgerichts nicht zweifelsfrei entnehmen. Das Schwurgericht hat sich insoweit auf die Angaben des Zeugen S. gestützt, der angegeben hat, die Stiche wahrgenommen, nach Hinzutreten zu den am Boden Kämpfenden umgehend seine Anscheinswaffe auf den Angeklagten , der ihm den Rücken zugewandt habe, gerichtet und "Aufhören" ge- schrieen zu haben (UA S. 29). Auch wenn der Zeuge S. weiter versicherte , der Angeklagte habe ihn - entgegen dessen Bekundung - "wahrgenommen" , belegt dies noch nicht das Vorliegen einer äußeren Zwangslage, die das Landgericht in der Sache damit begründet hat, dass der Zeuge S. den Angeklagten unter Vorhalten einer pistolenähnlichen Anscheinswaffe zum Aufhören aufgefordert habe. Hätte der Angeklagte den Zeugen S. mit auf ihn gerichteter Waffe gesehen, könnte dies zwar die Annahme einer äußeren Zwangslage durch das Landgericht stützen; ob dies aber der Fall gewesen ist, lässt sich den insoweit nicht eindeutigen Äußerungen des Zeugen S. nicht entnehmen, der lediglich davon gesprochen hat, der Angeklagte habe ihn "wahrgenommen". Dies lässt offen, ob der Angeklagte nur das Rufen des Zeugen S. gehört oder ob er ihn auch gesehen hat. Sollte der Angeklagte aber nur die Rufe des herbeigeeilten Zeugen vernommen haben, ohne zu wissen , dass dieser seine Aufforderung mit einer gezogenen Waffe unterstützte, würde dies die Möglichkeit eines freiwilligen Rücktritts nicht ausschließen. Weitergehende Zweifel daran, dass der Angeklagte den Zeugen S. tatsächlich nicht gesehen hat, ergeben sich im Übrigen daraus, dass dieser nach den Feststellungen des Landgerichts im Rücken des Angeklagten stand (UA S. 29). Da sich auch aus anderen Umständen, insbesondere auch nicht aus den Angaben der Zeugin A. , deren Kenntnis es sich entzog, warum der Angeklagte aufgestanden und weggegangen sei (UA S. 30), nicht erschließt, dass der Angeklagte nicht freiwillig von der Tat abgelassen hat, bleibt letztlich offen, ob die gegenteilige Annahme des Landgerichts auf tragfähigen Feststellungen beruht.
8
3. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs sowie sämtlicher Feststellungen, die nicht nur hinsichtlich des Rücktrittgesche- hens, sondern auch in Bezug auf die eigentliche Tat auf die Bekundungen des Zeugen S. gestützt waren. Der neue Tatrichter soll Gelegenheit zu einer widerspruchsfreien und in sich schlüssigen Würdigung des Gesamtgeschehens erhalten.
9
II. Die Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten K. entzieht ohne Weiteres dem Schuldspruch gegen den Angeklagten I. die Grundlage. Auch insoweit bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Schmitt Krehl Eschelbach Ott Zeng

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 537/06
vom
19. Dezember 2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 19. Dezember 2006 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hagen vom 19. Juli 2006 mit den Feststellungen aufgehoben. 2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht den Angeklagten des unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe in Tateinheit mit der zum Nachteil des Rechtsanwalts und Notars L. begangenen gefährlichen Körperverletzung für schuldig befunden. Dagegen hält die Verurteilung wegen tateinheitlich verwirklichten versuchten Mordes rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar hat der Angeklagte den gezielten Schuss auf den Kopf des Tatopfers nach den auch insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen heimtückisch und mit Tötungsabsicht abgegeben. Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet aber die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die weitere Ausführung der Tat nicht freiwillig aufgegeben, weil er sich hieran durch äußere Umstände gehindert gesehen habe, insbesondere deswegen, weil das Opfer fast sein Haus erreicht habe, aber auch aus Furcht vor einer Entdeckung der Tat angesichts des nach Angaben des Tatopfers zu dieser Zeit noch lebhaften Autoverkehrs.
3
Im Ansatz zutreffend hat das Landgericht die Frage eines strafbefreienden Rücktritts vom unbeendeten Versuch gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB geprüft , der die freiwillige Aufgabe der weiteren Ausführungen der Tat voraussetzt. Nach der für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch maßgeblichen Vorstellung des Angeklagten (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 39, 221, 227 m.N.) war der Mordversuch nicht beendet, weil der Angeklagte nach der Abgabe des Schusses auf Grund der Reaktion des Tatopfers nicht mit dem Eintritt des angestrebten tatbestandsmäßigen Erfolges rechnete. Die Revision beanstandet jedoch zu Recht, dass weder die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei davon ausgegangen, es werde ihm nicht gelingen, noch einmal in Schussnähe an das Tatopfer heranzukommen, noch die Annahme, der Angeklagte habe befürchtet, dass seine Tat von einem der vorbeifahrenden Autoinsassen entdeckt werden könne, hinreichend belegt ist.
4
Soweit das Landgericht darauf abstellt, dass der Angeklagte davon ausging , es werde ihm nicht gelingen, "noch einmal auf Schussnähe" an das Tatopfer heranzukommen, läge ein fehlgeschlagener Versuch vor, bei dem ein Rücktritt gemäß § 24 StGB nach der Rechtsprechung ausgeschlossen ist (vgl. BGHSt 39, 221, 228 m.N.). Worauf das Landgericht die Annahme stützt, dass der Angeklagte davon ausging, die Tat nicht mehr vollenden zu können, lässt sich den Urteilsgründen jedoch nicht entnehmen. Das Landgericht hat weder Feststellungen zu der von dem Tatopfer bis zu dem Eingang zu seinem Haus noch zurückzulegenden Entfernung getroffen, noch dazu, wieweit sich der Angeklagte von dem Tatopfer wegbewegt hatte, als er sah, dass es, nachdem es nach vorne zu Boden gefallen war, "sofort wieder aufstand und auf sein Haus zuging." Dass sich der Angeklagte nicht mehr in "Schussnähe" befunden hat, als das Tatopfer aufstand und auf sein Haus zuging, liegt nach den bisherigen Feststellungen eher fern.
5
Ging der Angeklagte aber davon aus, die Tat mit der von ihm benutzten Pistole noch vollenden zu können, weil diese, wovon mangels gegenteiliger Feststellungen zu Gunsten des Angeklagten auszugehen ist, nach Abgabe des Schusses noch mit weiterer Munition versehen war, wäre ein freiwilliges Aufgeben der Tat, für das der Zweifelsgrundsatz gilt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 199; BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 26), nicht ausgeschlossen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. November 2000 - 4 StR 456/00 - m.N.). Zwar kann die Aufgabe der Tat unfreiwillig sein, wenn sich der Täter nach Tatbeginn mit einer ihm, verglichen mit der Tatplanung, derart ungünstigen Risikoerhöhung konfrontiert sieht, so dass er das mit der Tat verbundene Wagnis nunmehr als unvertretbar hoch einschätzt (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 16). Dass dem Angeklagten die Fortsetzung der Tat zu risikoreich erschien, weil er befürchtete, seine Tat könne "von einem der vorbeifahrenden Autoinsassen" entdeckt werden, ist jedoch nicht rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Revision beanstandet zu Recht, dass sich die zu den Vorstellungen des Angeklagten getroffenen Feststellungen nicht ohne Weiteres damit vereinbaren lassen, dass der Angeklagte zu Beginn des Angriffs auf das Tatopfer - außer diesem - "der einzige Fußgänger in diesem Bereich der Kaiserstraße, die in diesen Augenblicken auch nicht von Kraftfahrzeugen befahren wurde", gewesen ist (UA 11).
Das Landgericht hätte daher in eingehender Beschreibung der örtlichen Verhältnisse und der Nachtatsituation im Einzelnen feststellen müssen, ob und in welcher Weise sich die Verkehrsverhältnisse auf der Kaiserstraße in Tatortnähe nach Abgabe des Schusses verändert hatten.
6
Die Sache bedarf daher neuer Entscheidung. Im Hinblick auf die vom Landgericht angenommene tateinheitliche Verwirklichung von versuchtem Mord, gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe hat der aufgezeigte Rechtsfehler die Aufhebung des Urteils insgesamt zur Folge (vgl. BGHR StPO § 353 Aufhebung 1).
Tepperwien Kuckein Athing
Solin-Stojanović Ernemann

(1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.

(2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht:

die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende,die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille,das Maß der Pflichtwidrigkeit,die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat,das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowiesein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

(3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.