Urteils-Kommentar zu Bundesgerichtshof Urteil, 20. Aug. 2024 - 5 StR 326/23 von ra.de Redaktion

published on 15/05/2025 15:49
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Bundesgerichtshof Urteil, 20. Aug. 2024 - 5 StR 326/23

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I. Einführung

Mit Beschluss vom 20. August 2024 hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision der heute 99-jährigen Irmgard F. gegen ihre Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in fünf Fällen verworfen. Die Angeklagte hatte zwischen 1943 und 1945 als Stenotypistin in der Kommandantur des KZ Stutthof gearbeitet und dort nach Überzeugung des Landgerichts Itzehoe entscheidende Beiträge zur Organisation des Lagerbetriebs und damit auch zu den systematisch verübten Tötungshandlungen geleistet.

Diese Entscheidung reiht sich in eine Reihe spät geführter Strafverfahren gegen Personen ein, die nicht an unmittelbaren Tötungshandlungen beteiligt waren, aber durch ihre dienstlichen Funktionen den Lagerbetrieb organisatorisch mittrugen – darunter die Fälle Demjanjuk (LG München II), Gröning (LG Lüneburg, 2015) und Hanning (LG Detmold, 2016).


 

II. Richtigkeit der Entscheidung

1. Strafbarkeit wegen Beihilfe nach § 27 StGB

Der BGH bekräftigt, dass auch rein administrative Tätigkeiten strafrechtlich als Beihilfe zu Mord gewertet werden können, wenn sie in Kenntnis des Tötungsgeschehens erfolgen und objektiv förderlich für dessen Umsetzung sind. Die Bearbeitung von Kommandanturbefehlen, Verwaltung des Postlaufs sowie die stenografische Umsetzung von Tötungsanweisungen waren nach den Feststellungen des LG Itzehoe wesentlicher Bestandteil der Mordlogistik.

Der Senat folgt damit der neueren Rechtsprechungslinie (vgl. BGHSt 61, 252 – Gröning), wonach es gerade im Kontext organisierter Massenverbrechen nicht darauf ankommt, dass dem Gehilfen ein konkreter Tatbeitrag zu einer einzelnen Mordhandlung nachgewiesen wird. Entscheidend ist vielmehr, ob sein Handeln den Tötungsapparat funktional stützte – und dies in Kenntnis der Gesamtstruktur und Zielrichtung des Lagersystems.

2. Kein Alltagscharakter

Besonders relevant ist der Ausschluss des sogenannten „Alltagscharakters“ der Tätigkeit. Die Verteidigung hatte argumentiert, bei der Tätigkeit der Angeklagten habe es sich um eine neutrale, berufstypische Schreibarbeit gehandelt. Der BGH stellt klar, dass selbst vermeintlich neutrale Handlungen strafbare Beihilfe darstellen können, wenn sie innerhalb eines Systems erbracht werden, das ausschließlich auf verbrecherische Ziele ausgerichtet ist – hier: die Ermordung von als „unwert“ definierten Menschen. Auch das bloße Wissen um die Funktion der Tätigkeit in diesem Kontext reicht aus, um die Handlung als „Solidarisierung“ mit den Haupttätern zu qualifizieren (Rn. 75 ff. des Urteils).


III. Bedeutung und Lehren aus dem Urteil

1. Historische und rechtspolitische Dimension

Das Urteil hat über den Einzelfall hinaus weitreichende Bedeutung. Es zeigt, dass auch vermeintlich untergeordnete Personen in einem Massenverbrechenssystem strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie das System wissentlich stützen. Damit findet ein Paradigmenwechsel seinen Abschluss, der spätestens seit der Demjanjuk-Entscheidung eingesetzt hatte: weg von der Forderung nach einem individuellen Tatnachweis hin zu einer funktionalen Betrachtung der Täterschaft in arbeitsteilig organisierten Mordsystemen.

2. Stärkung der Rolle psychischer Beihilfe

Der BGH hebt hervor, dass neben der physischen auch die psychische Unterstützung – etwa durch zuverlässige, gehorsame Zusammenarbeit mit den Haupttätern – Beihilfe darstellen kann. Diese Betonung psychischer Tatbeiträge erinnert an frühere strafrechtstheoretische Überlegungen Fritz Bauers, der eine bloße Präsenz im KZ unter bestimmten Umständen als strafbare Unterstützung wertete.


IV. Kritische Einordnung und offene Fragen

1. Abgrenzung zu neutralen Handlungen

In der Literatur wird teils kritisiert, dass die Schwelle zwischen strafloser Tätigkeit und strafbarer Beihilfe bei solchen Fällen kaum trennscharf sei (vgl. Roxin, JR 2017, 88). Die Entscheidung des BGH bemüht sich zwar, durch die objektive Relevanz und subjektive Kenntnis eine Grenze zu ziehen, faktisch aber bleibt das Risiko einer extensiven Ausdehnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit bestehen – etwa auf Personen, die unter Zwang oder ohne Handlungsspielraum tätig waren.

2. Geltung für andere Kontexte?

Ein weiterer Diskussionspunkt ist, ob die Rechtsprechung auch auf andere Kontexte organisierter staatlicher Gewalt (z. B. moderne Kriegsverbrechen oder autoritäre Regime) übertragbar ist. Das Urteil könnte als Referenzpunkt dienen, wenn künftig über die Verantwortlichkeit von Funktionsträgern in Unrechtsregimen außerhalb des NS-Kontexts gestritten wird.


V. Fazit

Der BGH hat mit seiner Entscheidung eine klare und aus dogmatischer Sicht konsequente Linie fortgesetzt: Auch wer im Hintergrund und „am Schreibtisch“ arbeitsteilig zu einem Massenverbrechen beiträgt, kann strafrechtlich verantwortlich sein – vorausgesetzt, er erkennt das Unrecht und nimmt es billigend in Kauf. Das Urteil ist im Ergebnis rechtsdogmatisch richtig, historisch bedeutsam und markiert möglicherweise den Schlusspunkt der deutschen NS-Strafjustiz. Es erinnert zugleich an die Notwendigkeit, Justiz nicht nur als Exekution von Recht, sondern auch als Teil gesellschaftlicher Selbstvergewisserung zu verstehen.

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(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat. (2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu milde
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07/01/2024 12:56

Das Bundesgerichtshof (BGH) hob ein Urteil des Landgerichts Magdeburg auf, das zwei Angeklagte freigesprochen hatte. Die Staatsanwaltschaft legte den Angeklagten zur Last, gemeinschaftlich versucht zu haben, einen Dritten zur Begehung eines Mordes zu bestimmen. Der BGH entschied, dass die Angeklagten sich einer verabredeten Anstiftung zum Mord schuldig gemacht hatten. Die Absprachen zwischen den Angeklagten waren konkret und individuell, um einen potenziellen Täter zur Ausführung des Verbrechens zu bestimmen. Der BGH betonte, dass es nicht entscheidend sei, ob zum Zeitpunkt der Verabredung bereits ein konkreter Täter feststand. Der Fall wird zur neuen Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Streifler&Kollegen - Rechtsanwälte Berlin
07/02/2024 13:55

Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem heute veröffentlichten Beschluss einer rechtskräftig verurteilten Frau teilweise stattgegeben, die gegen die Ablehnung einer Wiederaufnahme ihres Strafverfahrens geklagt hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte zuvor eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt. Die Beschwerdeführerin war wegen Mordes an ihrem Ehemann zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Ein Richter, der auch am Urteil gegen den ehemaligen Lebensgefährten der Frau beteiligt war, wirkte ebenfalls an ihrem Verfahren mit. Nach der Feststellung des EGMR, dass dies einen Konventionsverstoß darstellte, beantragte die Frau die Wiederaufnahme ihres Verfahrens. Dies wurde vom Landgericht abgelehnt, und das Oberlandesgericht wies die sofortige Beschwerde zurück, da die Frau nicht darlegen konnte, dass das Urteil auf dem Konventionsverstoß beruhte. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das Oberlandesgericht den Justizgewährungsanspruch der Beschwerdeführerin verletzte. Die Anforderungen an die Darlegung des Konventionsverstoßes seien unerfüllbar und unzumutbar. Das Gericht verkenne, dass der Konventionsverstoß nicht nur einen möglicherweise voreingenommenen Richter betraf, sondern bereits dessen Einflussnahme im Verfahren gegen die Beschwerdeführerin. Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Die aufgestellten Anforderungen seien sachlich nicht gerechtfertigt und dürften nicht zu einer generellen Ausschließung von Wiederaufnahmen führen, wenn ein Konventionsverstoß festgestellt wurde. Dies würde einen Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen schaffen, die aus einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter resultieren.
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(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.

(2) Die Strafe für den Gehilfen richtet sich nach der Strafdrohung für den Täter. Sie ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.