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| Die fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 3 VwGO entsprechend begründete Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 1. September 2010, mit dem der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wurde, den türkischen Nationalpass des Antragstellers an diesen herauszugeben, bleibt ohne Erfolg. Die vom Antragsgegner vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdeverfahren grundsätzlich zu beschränken hat (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), gebieten keine andere Entscheidung. |
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| Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist statthaft, da es sich bei der amtlichen Verwahrung des Passes um einen Realakt handelt (vgl. hierzu GK-AufenthG, § 50 Rn. 55; Hailbronner, AuslR, § 50 AufenthG Rn. 42); eine Verfügung auf der Grundlage des § 48 AufenthG ist vorliegend nicht ergangen. Nach den vom Verwaltungsgericht eingeholten Auskünften bei der Bundespolizeiinspektion Stuttgart und dem Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen Polizei- und Zollzusammenarbeit bestehen auch keine Zweifel am Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses. Dem Antragsteller ist eine Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als Kraftfahrer für eine international tätige Spedition unabhängig von der europarechtskonform zu beurteilenden Frage etwaiger Visumspflichten im grenzüberschreitenden Güterverkehr (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 19.02.2009, Rs. C-228/06 , Slg. 2009, 1031) nur mit einem gültigen Pass möglich. |
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| Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend dargelegt, dass der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). |
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| Es besteht ein Anordnungsgrund. Nach den vorgelegten Bescheinigungen des Arbeitgebers des Antragstellers vom 04.06.2010 und 26.07.2010 ist es aufgrund der internationalen Ausrichtung des Arbeitgebers unbedingt erforderlich, dass der Antragsteller auch Fahrten in benachbarte Länder der Bundesrepublik Deutschland durchführen kann. Ein Einsatz des Antragstellers ausschließlich im Inland führt zu erheblichen organisatorischen Problemen und Kosten. Dem Antragsteller droht der Verlust des Arbeitsplatzes, wenn er nicht die notwendigen Papiere - insbesondere den Pass - vorlegen kann. |
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| Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf Herausgabe des in Verwahrung genommenen Passes glaubhaft gemacht. Dem Antragsgegner fehlt ein rechtlicher Grund, den Pass des Antragstellers einzubehalten. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gebietet hier ausnahmsweise die einstweilige Vorwegnahme der Hauptsache. |
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| Nach § 50 Abs. 6 AufenthG soll der Pass eines ausreisepflichtigen Ausländers bis zur Ausreise in Verwahrung genommen werden. Damit soll verhindert werden, dass ausreisepflichtige Ausländer durch Vernichtung ihres Passes oder durch die Behauptung des Passverlustes ihre Ausreise oder Abschiebung zu verhindern oder verzögern suchen. Die Behörde wird in die Lage versetzt, die Erfüllung der Ausreisepflicht zu kontrollieren (vgl. BT-Drs. 15/420, 89; BT-Drs. 11/6321, 71; Hailbronner, AuslR, § 50 AufenthG Rn. 41). Auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht kommt es insoweit nicht an (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.06.2001 - 13 S 542/01 - juris). |
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| 1. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung fehlt es derzeit am Vorliegen einer Ausreisepflicht. Der Antragsteller ist nicht nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, denn sein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 ist (bislang) nicht erloschen. Die Klage gegen die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 31.08.2008 entfaltet insoweit „echte“ aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). Die vom Antragsgegner in Bezug genommene Bestimmung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt lassen, findet vorliegend keine Anwendung. |
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| Der 1965 in der Türkei geborene Antragsteller hat das Bestehen einer Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 glaubhaft gemacht: Er ist als Minderjähriger im Jahre 1979 im Wege der Familienzusammenführung zu seinen hier lebenden Eltern gezogen. Sein Vater, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerem rechtmäßig als Arbeitnehmer in Deutschland auf. Der Antragsteller dürfte damit als Familienangehöriger eines jedenfalls in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers - seines Vaters - nach über fünfjährigem ordnungsgemäßem Wohnsitz in Deutschland eine Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 besitzen (vgl. zu den Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 im Einzelnen: Hailbronner, AuslR D 5.2, Art. 7 ARB 1/80). |
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| Ein türkischer Staatsangehöriger, der - wie der Antragsteller - als Kind im Wege der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einreisen durfte und das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat lediglich in zwei Fallgruppen, nämlich in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 oder bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe. Dies gilt auch dann, wenn er älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt, und dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang wegen der Verbüßung einer gegen ihn verhängten und nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von solcher Dauer nicht zu Verfügung gestanden hat (vgl. EuGH, Urteil vom 04.10.2007, Rs. C-349/06 , NVwZ 2008, 59; Urteil vom 18.07.2007, Rs. C-325/05 , NVwZ 2007, 1393 m.w.N.). Das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts bestimmt sich nicht nach den nationalen Bestimmungen, sondern nach Assoziationsrecht bzw. unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.07.2007 - 11 S 723/07 - juris). |
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| Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Antragstellers kann materiell-rechtlich nur erloschen sein, wenn es in Übereinstimmung mit 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt worden ist. Ob die gegen den Antragsteller verfügte Ausweisung nach Maßgabe des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 in der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung im Ergebnis rechtmäßig ist, ist jedoch derzeit offen. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen hat das gegen die Ausweisungsverfügung anhängige Klageverfahren mit Beschluss vom 20.05.2010 - 8 K 636/08 - bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 - 1 C 25/08 - sowie das Vorabentscheidungsersuchen des OVG Nordrhein-Westfalen vom 20.08.2009 - 18 A 2263/08 - ausgesetzt. Die dort aufgeworfenen Fragen dazu, ob Art. 28 Abs. 3a der Unionsbürger-RL 2004/38/EG auf türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 besitzen, Anwendung findet und wie Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie auszulegen ist, sind auch im Fall des Antragstellers, der sich seit über 10 Jahren in Deutschland aufhält, ungeachtet der Tatsache, dass seine Verurteilung wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren (vgl. rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Ravensburg vom 22.06.2004 - 1 Ks 31 Js 18788/03 -) die Tatbestandsvoraussetzungen der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU in der Fassung vom 19.08.2007 grundsätzlich erfüllt, entscheidungserheblich (vgl. zu den aufzuwerfenden Fragen auch die Vorlagebeschlüsse des VGH Baden-Württemberg vom 22.07.2008 - 13 S 1917/07 - juris und vom 09.04.2009 - 13 S 342/09 - juris; s. hierzu nunmehr auch die Schlussanträge des Generalanwaltes vom 08.06.2010 im anhängigen Verfahren beim EuGH C-145/09 „Tsakouridis“, der sich gegen eine enge Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit ausspricht; zur engen Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit und zur gebotenen Einzelfallprüfung vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.09.2008 - 13 S 2380/07 - InfAuslR 2008, 439). |
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| Die Tatsache, dass das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts weder bestandskräftig feststeht, noch die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet worden ist, führt im Ergebnis dazu, dass derzeit nicht zulasten des Antragstellers vom Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgegangen werden kann. Mangels Ausreisepflicht kommt damit eine Passeinbehaltung nach § 50 Abs. 6 AufenthG derzeit nicht in Betracht. |
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| Die hier einschlägigen nationalen Bestimmungen unterscheiden in Übereinstimmung mit den unionsrechtlichen Vorgaben ausdrücklich zwischen dem Bestehen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts und der Gültigkeit eines Aufenthaltstitels. Nach § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitztund ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Letzteres aber ist im Falle des Antragstellers derzeit (noch) nicht der Fall. Das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts lässt sich mangels Bestandskraft der Ausweisungsverfügung gerade nicht feststellen. Auch eine sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisung, die es rechtfertigen könnte, vom Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach ARB 1/80 wenigstens vorläufig auszugehen, wurde nicht angeordnet. Die in § 50 Abs. 1 AufenthG vorgenommene Unterscheidung von assoziationsrechtlichem Aufenthaltsrecht und Aufenthaltstitel findet sich auch in § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG. Danach erlischt (nur) der Aufenthaltstitel im Falle der Ausweisung des Ausländers; eine Regelung zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus ARB 1/80 ist damit gerade nicht getroffen worden. Der Unterscheidung des kraft Gesetzes bestehenden Aufenthaltsrechts und der insoweit lediglich deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis tragen nicht zuletzt auch § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AufenthG Rechnung (vgl. hierzu auch EuGH, Urteil vom 16.03.2000, Rs. C-329/97 , Slg. 2000, 1487; Urteil vom 22.06.2000, Rs. C-65/98 , Slg. 2000, 4747; vgl. auch BT-Drs. 15/420, 69). |
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| Dem Antragsteller kann die Bestimmung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht entgegen gehalten werden. Danach lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt. Die zwar wirksame, aber nicht vollziehbare Ausweisung führt bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen nach dem europarechtlichen Grundsatz des „effet utile“ nicht zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus ARB 1/80. |
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| Dem Verwaltungsgericht ist allerdings wohl nicht darin zu folgen, dass der Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 entgegensteht, denn ungeachtet der Frage, wie weit der Schutzbereich von Art. 13 ARB 1/80 im Einzelfall reicht (vgl. zur Reichweite des Verschlechterungsverbots: EuGH, Urteil vom 17.09.2009, Rs. C-242/06 , juris; das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage, ob die auf den Zugang zum Arbeits- bzw. Binnenmarkt zugeschnittenen Standstill-Klauseln sachlich überhaupt die Erlöschenstatbestände für Aufenthaltstitel erfassen, offen gelassen im Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27), dürfte es an einer Verschlechterung fehlen. Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Verschlechterungsverbot ist darauf abzustellen, ob die von den zuständigen Behörden angewandte innerstaatliche Regelung die rechtliche Situation des türkischen Staatsangehörigen im Verhältnis zu den Vorschriften, die beim Inkrafttreten des Verbots am 01.12.1980 (Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80) galten, erschwert, für ihn also ungünstiger ist. Dabei sind die Rechtsprechung zu den damaligen Vorschriften und eine mit dieser in Einklang stehende Verwaltungspraxis zu berücksichtigen (vgl. m.w.N. BVerwG, Urteil vom 26.02.2002 - 1 C 21.00 - BVerwGE 116, 55; Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27). |
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| Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, dass nach dem 1980 noch geltenden Ausländergesetz 1965 die Klage gegen eine Ausweisung eine gesetzlich nicht eingeschränkte aufschiebende Wirkung gehabt habe und das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 vor Entscheidung über die Klage nicht erloschen sei, lässt sich dies nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung nicht bestätigen, denn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist nach wohl überwiegender Ansicht und dem im Gesetzgebungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers Ausdruck der seit langem herrschenden sog. „Vollziehbarkeitstheorie“ und soll die ohnehin bestehende Rechtslage nur nachzeichnen (vgl. zur insoweit lediglich beabsichtigten Klarstellung durch Einführung der wortgleichen Vorgängerbestimmung des § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG 1990: BT-Drs. 11/6321, 81 und 11/6960, 26; vgl. dazu, dass § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG nichts anderes ist als eine gesetzliche Formulierung der damals in der Praxis der Gerichte ohnehin schon herrschenden Vollziehbarkeitstheorie: Jacob, Ausländerrechtliche Eilverfahren - Ein Überblick, VBlBW 2008, 418<424>). So vertritt insbesondere das Bundesverwaltungsgericht bereits seit den 50er Jahren in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die aufschiebende Wirkung nicht die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsakts beseitigt (vgl. hierzu m.w.N. BVerwG, Urteil vom 27.10.1982 - 3 C 6.82 - BVerwGE 66, 218). Die Rechtsprechung im Ausländerrecht war und ist zwar uneinheitlich, insbesondere ist umstritten, was im Einzelfall „Vollziehung“ ist, doch wurde bereits zum AuslG 1965 vertreten, dass die wirksame Ausweisung das jeweilige Aufenthaltsrecht entfallen lässt und es nicht auf die Vollziehbarkeit ankommt (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 14.02.1985 - 13 S 2749/84 - und vom 19.02.1986 - 13 S 2750/85 -; anders VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.07.1979 - XI 403/79 - juris; s. a. Kanein, AuslG 3. Aufl. 1980, § 10 A Nr. 5; unscharf zum AuslG 1990 bleibt BVerwG, Beschluss vom 09.09.1992 - 1 B 71.92 - InfAuslR 1993, 12). Eine Rechtspraxis dahingehend, dass 1980 im Unterschied zu heute überwiegend davon ausgegangen worden wäre, dass erst mit Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausweisung das Aufenthaltsrecht erlischt, lässt sich vor diesem Hintergrund wohl nicht mit der notwendigen Sicherheit feststellen. |
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| § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 besitzen, jedoch aus Gründen des Unionsrechts nicht anwendbar. Denn dieses verbietet es, im Zusammenhang mit einer nicht bestandskräftigen Ausweisung einen schematischen, sofort wirksamen Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts anzuerkennen, der keine Rechtfertigung im konkreten Einzelfall hat. |
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| Die Ausweisung stellt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Verneinung des durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen und garantierten Aufenthaltsrechts dar (vgl. hierzu etwa EuGH, Urteil vom 16.03.2000 a.a.O.). Die unionsrechtskonforme Auslegung des Ausweisungsrechts gebietet vor diesem Hintergrund eine Einzelfallbetrachtung, bei der insbesondere die jeweilige Gefahrenlage gebührend berücksichtigt wird (vgl. hierzu bereits EuGH, Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 , Slg. 2004, 5257). Eine Anwendung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG würde jedoch dazu führen, dass ungeachtet des Suspensiveffekts zulasten des Ausländers Maßnahmen getroffen werden könnten - hier: Einbehaltung des Passes nach § 50 Abs. 6 AufenthG -, ohne dass in der Sache geprüft werden muss, ob die Ausweisung überhaupt den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 Rechnung trägt und ob ein besonderes öffentliches Vollziehungsinteresse besteht. Das dürfte dem unionsrechtlichen Erfordernis der notwendigen Einzelfallprüfung zuwiderlaufen. |
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| Die Mitgliedstaaten sind nicht befugt, das dem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar durch das Unionsrecht verliehene Recht auf freien Zugang zu jeder beruflichen Tätigkeit und das korrelierende Recht, sich zu diesem Zweck im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten derart zu beschränken, dass eine Einzelfallprüfung nicht gewährleistet ist. Der Eintritt des Suspensiveffekts führt daher in Übereinstimmung mit § 80 Abs. 1 VwGO dazu, dass aus der bloß wirksamen, aber nicht vollziehbaren Ausweisung keine negativen Folgerungen für den assoziationsberechtigten Ausländer abgeleitet werden dürfen. Die zuständige Ausländerbehörde hat es - insoweit in Übereinstimmung mit Unionsrecht - in der Hand, bei Vorliegen der hierfür notwendigen Voraussetzungen die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO aufgrund besonderer öffentlicher Interessen im Einzelfall anzuordnen. Insoweit ist dann auch die erforderliche Einzelfallprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährleistet. Denn hierbei kommt es maßgeblich auf die materiell-rechtliche Frage der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Ausweisung vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 an. Wird jedoch die sofortige Vollziehbarkeit nicht angeordnet, dürfen bis zum Eintritt der Bestandskraft keine nachteiligen Folgen aus der nicht vollziehbaren Ausweisungsverfügung abgeleitet werden. Nur bei dieser Auslegung wird dem europarechtlichen „effet-utile“-Grundsatz hinreichend Rechnung getragen. |
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| Das Besserstellungsverbot aus Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei dürfte dem nicht entgegenstehen. Türkische Staatsangehörige dürfen danach keine günstigere Behandlung erhalten als Unionsbürger, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden. Zwar gilt für Unionsbürger nach § 11 Abs. 1 FreizügG/EU die Bestimmung des § 84 AufenthG nicht, doch regelt § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in der seit dem 28.08.2007 gültigen Fassung, dass Unionsbürger ausreisepflichtig sind, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Danach soll bereits die wirksame Verlustfeststellung zur Ausreisepflicht führen. Soweit in der Folge nach § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. § 50 Abs. 6 AufenthG die Verwahrung des Passes vor Eintritt der Bestandskraft und ohne Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der feststellenden Verfügung vorgesehen ist, dürften hiergegen jedoch durchgreifende europarechtliche Bedenken bestehen (vgl. hierzu näher GK-AufenthG § 50 Rn. 54.1; Hofmann, HK-AuslR § 11 FreizügG/EU Rn. 18; Möller, HK-AuslR § 50 Rn. 24). Eine unzulässige Besserstellung der türkischen Staatsangehörigen ist vor diesem Hintergrund jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht hinreichend erkennbar. |
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| Besteht das Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 damit noch fort, können ungeachtet der wirksam ergangenen Ausweisungsverfügung auch die Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AufenthG im Ergebnis nicht gelten. Dem Antragsteller ist bis zur Bestandskraft der Ausweisung oder Anordnung des Sofortvollzugs eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG auszustellen. |
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| Nach § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gilt der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit als fortbestehend, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Mit dieser Bestimmung wird der Fortbestand des Aufenthaltstitels - hier: Niederlassungserlaubnis des Antragstellers - zu Erwerbszwecken fingiert. Nach dem Regelungsgehalt des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist der Antragsteller für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit so zu stellen, als ob er noch im Besitz der Niederlassungserlaubnis wäre. Die hierüber auszustellende Bescheinigung muss ihm insoweit auch die Ausreise und Wiedereinreise in das Bundesgebiet für Zwecke der Erwerbstätigkeit ermöglichen (vgl. zum Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung entsprechend Anlage D 3 zur AufenthV in einem vergleichbaren Fall: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.03.2008 - 11 S 167/08 - InfAuslR 2008, 355; vgl. zu Inhalt und Rechtsnatur einer entsprechenden Bescheinigung auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.04.2009 - 13 S 3086/08 - juris; BVerwG, Beschluss vom 21.01.2010 - 1 B 17.09 - NVwZ-RR 2010, 330). Eine etwaige Sperrwirkung nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann dem Antragsteller insoweit ebenfalls nicht entgegen gehalten werden. |
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| Ob die dem Antragsteller unter dem 13.04.2010 ausgestellte Bescheinigung, wonach eine Erwerbstätigkeit uneingeschränkt gestattet ist, diesen Anforderungen genügt und eine Tätigkeit als Fernfahrer auch im internationalen Verkehr tatsächlich ermöglicht, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Sinn und Zweck der Norm gebieten es jedoch, dass die Fiktionswirkung des § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht deshalb leerlaufen darf, weil der Antragsteller durch die Einbehaltung seines Nationalpasses an der Ausübung seiner grenzüberschreitenden beruflichen Tätigkeit gehindert wird. Im Hinblick auf die hier angewandte Bestimmung des § 50 Abs. 6 AufenthG bedeutet dies, dass vorliegend ein atypischer Fall anzunehmen ist, der der im Regelfall vorzunehmenden Einbehaltung des Passes im Einzelfall entgegensteht, nachdem auch keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Antragsteller durch Vernichtung oder Unbrauchbarmachung seines Passes einer späteren Vollziehung seiner eventuellen Ausreispflicht entgegen zu wirken versucht. |
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