Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 11. Dez. 2015 - A 11 K 1904/15

bei uns veröffentlicht am11.12.2015

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Die am xxx1988 geborene Klägerin ist kosovarische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 16.10.2014 in das Bundesgebiet ein. Am 23.03.2015 beantragte sie die Gewährung von Asyl. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung in Eningen am 23.03.2015 trug die Klägerin vor, sie gehöre der Volksgruppe der Ashkali an. Zusammen mit ihren Eltern, sechs Schwestern, vier Brüdern, einer Schwägerin und zwei Kindern habe sie im Kosovo in zwei Zimmern gelebt. Ihre Eltern, drei Schwestern und ein Bruder lebten nach wie vor dort. Ihre Tanten väterlicherseits seien in Deutschland verheiratet. Eine Schule habe sie nicht besucht und gearbeitet habe sie auch nicht. Ihre Familie habe von freiwilligen Hilfen gelebt. Man habe ihr Lebensmittel gegeben. Außerdem hätten sie Müll gesammelt. Sie leide an Epilepsie. Bei einem Arzt im Kosovo sei sie nicht gewesen. Sie hätten kein Geld, um einen Arzt aufzusuchen. Im August 2014 habe es vor ihrem Haus eine Schlägerei gegeben, nachdem ein Cousin versucht habe, ihre Schwester, die einen Tumor habe, zu vergewaltigen. Daraufhin sei es zu einem Streit gekommen, in dessen Verlauf die anderen ihr Haus demoliert hätten. Ihr Onkel habe die Polizei gerufen. Als diese gekommen sei, habe ihr Onkel ihr mitgeteilt, dass ihre Familie die Familie des Onkels angegriffen habe. Daraufhin hätten die Polizisten ihren Vater, ihre beiden Schwestern und auch sie selbst geschlagen und sie auf die Polizeistation gebracht. Fünf oder sechs Stunden hätten sie dort bleiben müssen. Danach seien sie einfach entlassen worden. Von ihrer Mutter habe sie nunmehr erfahren, dass vor ca. einer Woche eine Ladung zum Gericht eingegangen sei. Der Postbote habe den Brief jedoch wieder mitgenommen, als ihre Mutter mitgeteilt habe, dass sie sich in Deutschland aufhielten. Sie habe nunmehr Angst, bei einer Rückkehr in den Kosovo ins Gefängnis gehen zu müssen. Von der Frau des Cousins sei sie auch angezeigt worden, weil diese bei der Prügelei fast ihr Kind verloren habe. In Deutschland habe sie zudem Probleme mit einem anderen Onkel, dieser lasse sie nicht in Ruhe. Er habe sie bedroht, weil ein anderer Onkel sich um sie kümmere und er sie zum Arzt begleite. Der Onkel habe ihr mitgeteilt, er werde sie töten, da er davon ausgehe, dass sie etwas mit dem anderen Onkel habe. Neben diesen Schwierigkeiten habe sie den Kosovo auch verlassen, da sie dort nichts zu essen hätten und die wirtschaftliche Lage sehr schlecht sei. Seit der Prügelei bekomme sie immer Epilepsieanfälle, wenn sie Polizisten sehe. Auch wenn sie nervös sei, bekomme sie Epilepsieanfälle. Manchmal habe sie derartige Anfälle auch im Schlaf.
Mit Bescheid vom 02.04.2015 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen. Außerdem wurde der Klägerin mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung in den Kosovo angedroht.
Am 15.04.2015 hat die Klägerin Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, sie leide unter wiederkehrenden Krampfanfällen, die auf traumatisierende Erlebnisse in ihrem Herkunftsland zurückzuführen seien. Bei einer Rückkehr in den Kosovo müsse mit einer Retraumatisierung und einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes gerechnet werden.
Im von der Klägerin vorgelegten Arztbrief der Neurologischen Klinik des Helius-Klinikums Pforzheim vom 16.11.2014 ist ausgeführt, die Klägerin sei vom Notarzt in die neurologische Notaufnahme eingeliefert worden. Ein Onkel und eine Cousine hätten ausgesagt, die Klägerin sei von zwei Polizisten im Kosovo auf einen Betonboden geworfen und mit Schlagstöcken zusammengeschlagen worden und sie hätten ihr eine Pistole an den Kopf gehalten. Seither habe die Klägerin nachts Albträume und weine viel. Aus ärztlicher Sicht bestehe der Verdacht auf psychogene Anfälle/dissoziative Anfälle bei einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Nachweis eines epileptischen Anfalls bestehe nicht.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 02.04.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen;
höchst hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin vorgetragen, eine Schule habe sie nicht besucht und einen Beruf nicht erlernt. Um im Kosovo zu überleben, habe sie gebettelt und Müllcontainer durchwühlt. 2 bis 3 Monate vor der Ausreise habe es Probleme mit Verwandten gegeben. Ein Cousin habe versucht, ihre kranke Schwester zu vergewaltigen. Es habe dann Streit zwischen den Familien gegeben. Der Onkel habe die Polizei gerufen. Diese habe ihren Vater mitgenommen und diesen geschlagen. Am nächsten Tag sei die Polizei erneut erschienen, diesmal mit zwei Geländewagen mit mehr als zehn Polizisten. Später sei ein dritter Geländewagen hinzugekommen. Ihr Bruder U sei dann aus dem Haus getreten und habe den Polizisten gesagt, sie hätten seinen Vater ohne Grund verprügelt. Er sei dann geflüchtet, die Polizisten hätten ihn jedoch erwischt und ihn verprügelt. Sie und ihre Schwester R seien dann dazwischen gegangen. Daraufhin seien sie beide von zwei Polizisten mit Schlagstöcken geschlagen und auf den Boden geworfen worden. Dies sei vor den Augen der Familienangehörigen passiert. Ein Polizist habe auch seine Waffe auf sie gerichtet. Daraufhin sei ihre Mutter dazwischen gegangen. Ihr Vater, ihre Schwester R und sie selbst seien dann von den Polizisten mitgenommen worden. Der Bruder U sei schon zuvor weggefahren worden. 4 bis 5 Stunden habe sie sich in einer Zelle zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater aufgehalten. Die Polizisten hätten ihnen mit dem Tod gedroht, wenn sie von den Schlägen berichten würden. Der Chef der Polizeiwache sei gekommen und habe sie befragt, warum es zum Streit gekommen sei. Die Frau des Cousins sei schwanger gewesen und habe ausgesagt, sie (die Klägerin) habe ihr Schläge in den Bauch verpasst. Schließlich sei ihr Schwager gekommen und habe sich mit den Polizisten unterhalten; daraufhin seien sie freigekommen. Zwei Monate nach ihrer Ausreise habe sie von ihren Eltern erfahren, dass ein Postbote einen Brief der Polizei gebracht habe, wonach sie 250 EUR zahlen müsse. Auf Vorhalt: Soweit sie der Ärztin Dr. C mitgeteilt habe, dass sie sich 24 Stunden auf dem Polizeirevier aufgehalten habe, habe sie sich geirrt. Sie sei auf dem Revier bewusstlos geworden. Aus der Bewusstlosigkeit sei sie zu Hause aufgewacht. Von ihrer Familie habe sie erfahren, dass sie nach 4 bis 5 Stunden wieder freigekommen seien.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörende Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten über die Sache verhandeln und entscheiden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a), oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b). Eine Verfolgung kann ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c AsylG).
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Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die Maßnahmen im Sinne von Nr. 2 können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen; sie müssen aber in ihrer Gesamtheit eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67).
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Die genannten Folgen und Sanktionen müssen dem Antragsteller im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller festgestellten Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162 und Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67).
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Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Zwar bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 RL 2011/95/EU erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Hat ein Antragsteller indes bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten, für den streitet die widerlegbare tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u. a., Abdulla-, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - a.a.O.).
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Ob ein Verfolgungsgrund zu bejahen ist, ist in einem eigenen Prüfungsschritt zu ermitteln und beurteilt sich nach den Vorgaben des § 3b AsylG.
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Es ist Sache des Asylsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Hierzu gehört, dass der Betreffende zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983 - 9 C 68/81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321/85 - NVwZ 1987, 701 und Beschl. v. 19.03.1991 - 9 B 56/91 - NVwZ-RR 1991). Ein im Laufe des Verfahrens sich widersprechendes oder sich steigerndes Vorbringen kann die Glaubwürdigkeit des Betreffenden in Frage stellen; ändert der Asylsuchende in einem späteren Vortrag sein früheres Vorbringen, so muss er überzeugende Gründe darlegen, weshalb sein früheres Vorbringen falsch gewesen ist, will er nicht den Eindruck der Unglaubwürdigkeit erwecken (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 26/85 - juris -; Urt. v. 23.02.1988 - 9 C 32/87 - DVBl 1988, 653 und Beschl. v. 21.07.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90 - InfAuslR 1991, 94).
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Die Gefahr einer Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des von dem Antragsteller behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109/84 - BVerwGE 71, 180 und Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 26/85 - InfAuslR 1986, 79).
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In Anwendung dieser Grundsätze hat sich das Gericht von der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nicht überzeugen können. So weichen die der fachärztlichen Bescheinigung vom 03.10.2015 zu Grunde liegenden Angaben über die Erlebnisse im Kosovo erheblich vom Vortrag der Klägerin im Rahmen der persönlichen Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung ab. Widersprüchlich ist bereits das Vorbringen zum Schulbesuch. Der Ärztin Dr. C gegenüber gab die Klägerin an, sie habe zwei Jahre lang im Kosovo eine Schule besucht. Dem gegenüber teilte sie bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung mit, eine Schule habe sie im Kosovo nicht besucht. Auch der Anlass des Streits mit den Verwandten wurde unterschiedlich geschildert. Bei Dr. C ließ sich die Klägerin dahin ein, Söhne des Onkels hätten ihre behinderte Schwester geschlagen. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung wusste die Klägerin hingegen zu berichten, ein Cousin habe versucht, ihre Schwester zu vergewaltigen. Widersprüchlich sind zudem die Angaben der Klägerin zu den angeblichen Misshandlungen durch Polizisten. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung gab die Klägerin an, die Polizisten hätten ihren Vater, ihre beiden Schwestern und auch sie selbst geschlagen. In der mündlichen Verhandlung berichtete die Klägerin hingegen nur von Schlägen gegen eine ihrer Schwestern und gegen sich selbst, nachdem am Tag zuvor ihr Vater Schläge erhalten habe. Diese Angabe steht zudem im Widerspruch zu den Mitteilungen des Bruders U bei dessen Anhörung im Rahmen der Vorprüfung am 23.03.2015, wonach nur er allein auf dem Hof von Polizisten vor den Augen der Familienmitglieder geschlagen worden sei. Auch das Vorbringen der Klägerin zum Geschehen auf der Polizeistation ist widersprüchlich. So gab sie bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung an, sie hätten fünf oder sechs Stunden dort bleiben müssen, bei Dr. C sprach sie von 24 Stunden und in der mündlichen Verhandlung von vier bis fünf Stunden. Außerdem teilte sie Dr. C mit, sie sei auf dem Revier zum ersten Mal bewusstlos geworden, dies wiederholte sie auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung. Von diesem gesteigerten Vorbringen wusste sie jedoch bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung nichts zu berichten
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Selbst wenn aber das Kernvorbringen der Klägerin als glaubhaft bewertet würde, hat ihr Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG keinen Erfolg.
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Eine körperliche Verletzung der Klägerin durch Polizisten wäre zwar die Anwendung physischer Gewalt im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG und damit eine relevante Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Es handelte sich um eine von Staatsbediensteten ausgehende kriminelle Handlung, die dem Staat Kosovo aber als vereinzelte Exzesstat von Amtswaltern nicht zurechenbar wäre. Verfolgungen (Dritter) sind dem Staat dann zurechenbar, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 und Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 - BVerfGE 83, 216). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081; VGH Mannheim, Urt. v. 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 - juris - und Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - juris -). So liegt der Fall hier. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Misshandlungen und Schikanen durch Gefängniswärter und Polizisten in der Praxis häufig vorkommen. Seit November 2000 gibt es die Einrichtung einer Ombudsperson, die für alle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen oder Amtsmissbrauch durch die zivilen Behörden im Kosovo zuständig ist. Die Ombudsperson geht Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen nach und gibt in einem Jahresbericht an das Parlament Empfehlungen für deren Behebung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Gezielte Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt. Zwar kommt es immer wieder zu einzelnen Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen; diesen wird aber in der Regel durch NROs, die Ombudsperson, aber auch durch staatliche Stellen nachgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Hieraus folgt zur Überzeugung des Gerichts, dass Übergriffe der Sicherheitskräfte in der Regel angemessen verfolgt werden. Der Klägerin war somit zumutbar, unter Einschaltung der Ombudsperson die Hilfe von Strafverfolgungsorganen in Anspruch zu nehmen.
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Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
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Nach dieser Bestimmung ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Bei der Prognose, ob für den Ausländer im Drittstaat die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Dass sich eine Vielzahl von Personen in derselben Situation befinden können, schließt die Anwendung des § 4 Abs. 1 AsylG nicht aus.
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§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG schützt indes nur vor Misshandlungen, die ein Mindestmaß an Schwere aufweisen. Damit eine Bestrafung oder Behandlung tatsächlich mit den Begriffen unmenschlich oder erniedrigend verbunden werden kann, müssen die damit verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen. Kriterien hierfür sind aus allen Umständen des Falles abzuleiten wie beispielsweise aus der Art der Behandlung oder Bestrafung und dem Zusammenhang, in dem sie erfolgt (vgl. EGMR, Urt. v. 07.07.1989 - 1/1989/161/217 -, Fall Soering, NJW 1990, 2183). Bei der Feststellung ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr einer Misshandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG im Zielstaat besteht, ist sowohl die allgemeine Lage in diesem Staat als auch die persönliche Situation des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. EGMR, Urt. v. 30.10.1991 - 45/1990/236/302-306 -, Fall Vilvarajah, NVwZ 1992, 869).
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Anhaltspunkte für das Vorliegen der genannten Voraussetzungen sind mit Blick auf die Ausführungen zur Flüchtlingszuerkennung nicht ersichtlich.
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Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
32 
Im Hinblick auf die humanitären Bedingungen im Kosovo bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung der Klägerin dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt.
33 
Zwar ist die wirtschaftliche Versorgungssituation im Kosovo weiterhin schwierig. Angehörige ethnischer Minderheiten sind noch immer gravierenden Hindernissen beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen in den Bereichen des Gesundheitswesens, des Schulwesens, der Justiz und der öffentlichen Verwaltung ausgesetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Sollte die Klägerin keine Unterstützung von Angehörigen erfahren, besteht aber die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beziehen (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O.).
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Auch die Beschaffung von Wohnraum ist Angehörigen der Volksgruppe der Roma und Ashkali möglich. Zudem können Rückkehrer die in fast allen Gemeinden eingerichteten „Büros für Gemeinschaften und Rückkehrer (MOCR)“ in Anspruch nehmen. Diese sind zuständig für die Entgegennahme von Anträgen für Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm sowie für Beratungsleistungen. Sie sollen innerhalb von max. sieben Tagen über die Bewilligung von Leistungen entscheiden, die im Rahmen einer Soforthilfe gewährt werden müssen, insbesondere Unterkunft und Verpflegung. Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm werden grundsätzlich für bis zu zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus kann die Klägerin auf die Leistungen aus dem Rückkehrer-Projekt „URA II“ zurückgreifen. Dieses Projekt bietet in seiner Einrichtung in der Innenstadt von Pristina Integrations-, Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen für Rückkehrer aus Deutschland an. Es hilft u.a. bei der Wohnungssuche, zahlt für einen Übergangszeitraum die Miete, stellt Geld für Lebensmittel zur Verfügung, ist bei der Arbeitsplatz- und Ausbildungssuche behilflich und begleitet Zurückgekehrte bei Behördengängen (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O.).
35 
Die Klägerin hat auch im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand keinen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
36 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O.). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O. und Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1/94 - InfAuslR 1995, 24). Dieser Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ist auch in Fällen bereits erlittener gleichartiger Gefahrenlagen nicht herabzusetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O.)
37 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - BVerwGE 105, 383; Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13/97 - NVwZ 1998, 973 und Urt. v. 21.09.1999 -9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - a.a.O. und Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - a.a.O.). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2002 - 1 B 59/02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003 - 7 UE 3606/99.A - AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001 - 1 B 185/01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). An die Qualität und Dichte der Gesundheitsversorgung im Abschiebungszielland einschließlich Kostenbeteiligung des Betroffenen können allerdings keine der hiesigen Gesundheitsversorgung entsprechenden Anforderungen gestellt werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v. V6.09.2004 - 18 B 2661/03 - AuAS 2005, 31).
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Nach aktueller Erkenntnislage ist der Zugang zu medizinischen Behandlungen des öffentlichen Gesundheitssystems für die Bevölkerung im Kosovo unabhängig von der ethnischen Herkunft gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014).
39 
Die Erkrankung der Klägerin rechtfertigt nicht die Annahme einer Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dem vorgelegten ärztlichen Attest von Dr. C vom 03.10.2015 leidet die Klägerin an psychogenen Krampfanfällen und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Erkrankung der Klägerin wird ausschließlich medikamentös behandelt; eine psychotherapeutische Behandlung erfolgt nicht.
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Das Gericht ist aber nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass bei der Klägerin eine behandlungsbedürftige Erkrankung an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vorliegt. Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10)“ entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (traumatisierendes Ereignis, sog. A-Kriterium). Somit ist für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41; OVG Magdeburg, Beschl. v. 01.12.2014 - 2 M 119/14 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 14.01.2008 - A 11 K 4941/07 - InfAuslR 2008, 323). Die Feststellung des behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach den obigen Ausführungen ist das Gericht gerade nicht davon überzeugt, dass sich das von der Klägerin geltend gemachte Verfolgungsgeschehen ereignet hat. Ein anderes traumatisierendes Ereignis wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Fehlt es damit am Nachweis eines traumatisierenden Ereignisses, ist das Symptomspektrum einer PTBS nicht ausgefüllt.
41 
Selbst wenn bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung vorläge, wäre diese im Kosovo nach dem dortigen Standard, auf den sich die Klägerin verweisen lassen muss, hinreichend behandelbar. Im Übrigen steht der Klägerin eine medikamentöse Behandlung im Kosovo zu den diagnostizierten psychogenen Krampfanfällen und zur posttraumatischen Belastungsstörung zur Verfügung.
42 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014 erfolgt die staatlich finanzierte medizinische Grundversorgung der Bevölkerung im Kosovo in einem öffentlichen dreistufigen Gesundheitssystem. Es besteht aus Erstversorgungszentren, Krankenhäusern auf regionaler Ebene sowie einer spezialisierten medizinischen Versorgung durch die Universitätsklinik Pristina. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen wird im öffentlichen Gesundheitssystem in neun regionalen Gesundheitszentren durchgeführt. Patienten, die einer stationären Behandlung bedürfen, werden in den Regionalkrankenhäusern in den Abteilungen für stationäre Psychiatrie sowie in der psychiatrischen Klinik der Universitätsklinik Pristina behandelt. In den Regionalkrankenhäusern stehen ausreichende Kapazitäten zur Verfügung. Zudem verfügen diese Einrichtungen jeweils über eine angeschlossene psychiatrische Ambulanz mit ambulanter fachärztlicher Betreuung. Patienten, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, werden in den psychiatrischen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitssystems weiterhin primär medikamentös behandelt. Eine Behandlung auf psychotherapeutischer Grundlage wird durchgeführt, wenn hierfür eine medizinische Notwendigkeit vorliegt und die für die Durchführung von psychotherapeutisch orientierten Gesprächen erforderliche Zeit zur Verfügung steht. Daneben führen auch Nichtregierungsorganisationen Behandlungen auf psychotherapeutischer Basis durch. Medikamente sind in allen Städten im Kosovo in ca. 500 lizenzierten privaten Apotheken erhältlich. Es ist nicht ersichtlich, dass es für die Klägerin nicht zumutbar wäre, auf die aufgeführten Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo verwiesen zu werden.
43 
Das Gericht geht auch davon aus, dass die Klägerin die Behandlung tatsächlich wird erlangen können. Es bestehen weder unüberwindliche finanzielle noch anderweitige Hindernisse. Ob die Medikamente Mirtazipin, Citalopram, Ibuprofen und Novaminsulfon auf der „Essential Drug List“ für den Kosovo, die alle staatlich finanzierten Basismedikamente und -wirkstoffe, Verbrauchsmaterialien sowie Zytostatika auflistet, verzeichnet sind, kann dahingestellt bleiben. Dort finden sich jedenfalls Medikamente derselben Wirkstoffgruppen. Der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme ist nicht zu entnehmen, dass eine Umstellung auf andere Präparate mit vergleichbarer Wirksamkeit ausgeschlossen ist. Deshalb ist denkbar, dass der Klägerin bei der Ausreise aus Deutschland ein Medikamentenvorrat zur Verfügung gestellt wird und nach Beratung durch kosovarische Ärzte langfristig eine Umstellung der Medikation im Kosovo stattfindet.
44 
Zwar müssen Patienten für medizinische Leistungen sowie für die auf der „Essential Drug List“ verzeichneten Medikamente grundsätzlich Eigenbeteiligungen zahlen, die nach vorgegebenen Sätzen pauschal erhoben werden. Von der Zuzahlungspflicht befreit sind aber Empfänger von Sozialhilfeleistungen, chronisch Kranke, Kinder bis zum 15. Lebensjahr, Schüler und Studenten bis zum Ende der Regelausbildungszeit und Personen über 65 Jahre. Zu dieser Gruppe dürfte die Klägerin aufgrund der diagnostizierten Chronizität voraussichtlich gehören, so dass sie die erforderliche Behandlung kostenfrei erhalten wird.
45 
Bei einer Rückkehr in den Kosovo ist auch eine Anschlussbehandlung unmittelbar nach der Rückkehr sichergestellt. Die Klägerin kann die vielfältigen Leistungen des Rückkehrerprojektes URA II in Anspruch nehmen. So können alle Rückkehrer von den in Deutschland zu Traumaspezialisten geschulten Psychologen des Projektes eine professionelle Behandlung psychischer Erkrankungen erhalten und URA vermittelt psychisch Kranken entsprechende Behandlungsmöglichkeiten bei kosovarischen Ärzten. Die genannten Leistungen sind für Rückkehrer kostenfrei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Im Hinblick auf diese Erkenntnislage ist die Aussage von Dr. C im ärztlichen Attest vom 03.10.2015, wonach es alsbald im Zielland mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung käme, unqualifiziert und durch nichts belegt. Es ist schon erstaunlich, dass eine Gutachterin wie Frau Dr. C die Prognose einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung stellt, ohne die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland auch nur im Ansatz zur Kenntnis zu nehmen bzw. zu würdigen. Zudem ist die ärztlicherseits gestellte Schlussfolgerung nicht nachvollziehbar, da eine medikamentöse Versorgung der Klägerin im Kosovo möglich und erreichbar ist, eine psychotherapeutische Behandlung der Klägerin im Bundesgebiet nicht besteht und diese deshalb im Falle einer Rückkehr in den Kosovo auch nicht abgebrochen würde. Damit ist auch fraglich, ob die von Frau Dr. C gestellte unsubstantiierte Prognose, wonach es vor und während der Abschiebung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung käme, zu berücksichtigen ist. Dies kann aber offen bleiben, da eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes vor und während der Abschiebung und eventuelle Suizidabsichten lediglich inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sein können, die ausschließlich von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206).
46 
Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung entsprechen den gesetzlichen Vorgaben (§§ 34, 36 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG).
47 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Gründe

 
14 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten über die Sache verhandeln und entscheiden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
15 
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
16 
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a), oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b). Eine Verfolgung kann ausgehen von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c AsylG).
17 
Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die Maßnahmen im Sinne von Nr. 2 können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen; sie müssen aber in ihrer Gesamtheit eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67).
18 
Die genannten Folgen und Sanktionen müssen dem Antragsteller im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller festgestellten Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162 und Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23/12 - BVerwGE 146, 67).
19 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Zwar bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden i.S.d. Art. 15 RL 2011/95/EU erlitten hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Hat ein Antragsteller indes bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten, für den streitet die widerlegbare tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urt. v. 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u. a., Abdulla-, NVwZ 2010, 505). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - a.a.O.).
20 
Ob ein Verfolgungsgrund zu bejahen ist, ist in einem eigenen Prüfungsschritt zu ermitteln und beurteilt sich nach den Vorgaben des § 3b AsylG.
21 
Es ist Sache des Asylsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Hierzu gehört, dass der Betreffende zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983 - 9 C 68/81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44; Urt. v. 24.03.1987 - 9 C 321/85 - NVwZ 1987, 701 und Beschl. v. 19.03.1991 - 9 B 56/91 - NVwZ-RR 1991). Ein im Laufe des Verfahrens sich widersprechendes oder sich steigerndes Vorbringen kann die Glaubwürdigkeit des Betreffenden in Frage stellen; ändert der Asylsuchende in einem späteren Vortrag sein früheres Vorbringen, so muss er überzeugende Gründe darlegen, weshalb sein früheres Vorbringen falsch gewesen ist, will er nicht den Eindruck der Unglaubwürdigkeit erwecken (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 26/85 - juris -; Urt. v. 23.02.1988 - 9 C 32/87 - DVBl 1988, 653 und Beschl. v. 21.07.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; BVerfG, Beschl. v. 29.11.1990 - 2 BvR 1095/90 - InfAuslR 1991, 94).
22 
Die Gefahr einer Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG kann schließlich nur festgestellt werden, wenn sich das Gericht in vollem Umfang die Überzeugung von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des von dem Antragsteller behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals verschafft (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.04.1985 - 9 C 109/84 - BVerwGE 71, 180 und Urt. v. 12.11.1985 - 9 C 26/85 - InfAuslR 1986, 79).
23 
In Anwendung dieser Grundsätze hat sich das Gericht von der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nicht überzeugen können. So weichen die der fachärztlichen Bescheinigung vom 03.10.2015 zu Grunde liegenden Angaben über die Erlebnisse im Kosovo erheblich vom Vortrag der Klägerin im Rahmen der persönlichen Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung ab. Widersprüchlich ist bereits das Vorbringen zum Schulbesuch. Der Ärztin Dr. C gegenüber gab die Klägerin an, sie habe zwei Jahre lang im Kosovo eine Schule besucht. Dem gegenüber teilte sie bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung mit, eine Schule habe sie im Kosovo nicht besucht. Auch der Anlass des Streits mit den Verwandten wurde unterschiedlich geschildert. Bei Dr. C ließ sich die Klägerin dahin ein, Söhne des Onkels hätten ihre behinderte Schwester geschlagen. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung und in der mündlichen Verhandlung wusste die Klägerin hingegen zu berichten, ein Cousin habe versucht, ihre Schwester zu vergewaltigen. Widersprüchlich sind zudem die Angaben der Klägerin zu den angeblichen Misshandlungen durch Polizisten. Bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung gab die Klägerin an, die Polizisten hätten ihren Vater, ihre beiden Schwestern und auch sie selbst geschlagen. In der mündlichen Verhandlung berichtete die Klägerin hingegen nur von Schlägen gegen eine ihrer Schwestern und gegen sich selbst, nachdem am Tag zuvor ihr Vater Schläge erhalten habe. Diese Angabe steht zudem im Widerspruch zu den Mitteilungen des Bruders U bei dessen Anhörung im Rahmen der Vorprüfung am 23.03.2015, wonach nur er allein auf dem Hof von Polizisten vor den Augen der Familienmitglieder geschlagen worden sei. Auch das Vorbringen der Klägerin zum Geschehen auf der Polizeistation ist widersprüchlich. So gab sie bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung an, sie hätten fünf oder sechs Stunden dort bleiben müssen, bei Dr. C sprach sie von 24 Stunden und in der mündlichen Verhandlung von vier bis fünf Stunden. Außerdem teilte sie Dr. C mit, sie sei auf dem Revier zum ersten Mal bewusstlos geworden, dies wiederholte sie auf Vorhalt in der mündlichen Verhandlung. Von diesem gesteigerten Vorbringen wusste sie jedoch bei der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung nichts zu berichten
24 
Selbst wenn aber das Kernvorbringen der Klägerin als glaubhaft bewertet würde, hat ihr Begehren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG keinen Erfolg.
25 
Eine körperliche Verletzung der Klägerin durch Polizisten wäre zwar die Anwendung physischer Gewalt im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG und damit eine relevante Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Es handelte sich um eine von Staatsbediensteten ausgehende kriminelle Handlung, die dem Staat Kosovo aber als vereinzelte Exzesstat von Amtswaltern nicht zurechenbar wäre. Verfolgungen (Dritter) sind dem Staat dann zurechenbar, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 und Beschl. v. 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 - BVerfGE 83, 216). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081; VGH Mannheim, Urt. v. 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 - juris - und Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1872/12 - juris -). So liegt der Fall hier. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Misshandlungen und Schikanen durch Gefängniswärter und Polizisten in der Praxis häufig vorkommen. Seit November 2000 gibt es die Einrichtung einer Ombudsperson, die für alle Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen oder Amtsmissbrauch durch die zivilen Behörden im Kosovo zuständig ist. Die Ombudsperson geht Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen nach und gibt in einem Jahresbericht an das Parlament Empfehlungen für deren Behebung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Gezielte Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt. Zwar kommt es immer wieder zu einzelnen Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen; diesen wird aber in der Regel durch NROs, die Ombudsperson, aber auch durch staatliche Stellen nachgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Hieraus folgt zur Überzeugung des Gerichts, dass Übergriffe der Sicherheitskräfte in der Regel angemessen verfolgt werden. Der Klägerin war somit zumutbar, unter Einschaltung der Ombudsperson die Hilfe von Strafverfolgungsorganen in Anspruch zu nehmen.
26 
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
27 
Nach dieser Bestimmung ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
28 
Bei der Prognose, ob für den Ausländer im Drittstaat die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377). Dass sich eine Vielzahl von Personen in derselben Situation befinden können, schließt die Anwendung des § 4 Abs. 1 AsylG nicht aus.
29 
§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG schützt indes nur vor Misshandlungen, die ein Mindestmaß an Schwere aufweisen. Damit eine Bestrafung oder Behandlung tatsächlich mit den Begriffen unmenschlich oder erniedrigend verbunden werden kann, müssen die damit verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen. Kriterien hierfür sind aus allen Umständen des Falles abzuleiten wie beispielsweise aus der Art der Behandlung oder Bestrafung und dem Zusammenhang, in dem sie erfolgt (vgl. EGMR, Urt. v. 07.07.1989 - 1/1989/161/217 -, Fall Soering, NJW 1990, 2183). Bei der Feststellung ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr einer Misshandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG im Zielstaat besteht, ist sowohl die allgemeine Lage in diesem Staat als auch die persönliche Situation des Ausländers zu berücksichtigen (vgl. EGMR, Urt. v. 30.10.1991 - 45/1990/236/302-306 -, Fall Vilvarajah, NVwZ 1992, 869).
30 
Anhaltspunkte für das Vorliegen der genannten Voraussetzungen sind mit Blick auf die Ausführungen zur Flüchtlingszuerkennung nicht ersichtlich.
31 
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
32 
Im Hinblick auf die humanitären Bedingungen im Kosovo bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung der Klägerin dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt.
33 
Zwar ist die wirtschaftliche Versorgungssituation im Kosovo weiterhin schwierig. Angehörige ethnischer Minderheiten sind noch immer gravierenden Hindernissen beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen in den Bereichen des Gesundheitswesens, des Schulwesens, der Justiz und der öffentlichen Verwaltung ausgesetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Sollte die Klägerin keine Unterstützung von Angehörigen erfahren, besteht aber die Möglichkeit, Sozialleistungen zu beziehen (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O.).
34 
Auch die Beschaffung von Wohnraum ist Angehörigen der Volksgruppe der Roma und Ashkali möglich. Zudem können Rückkehrer die in fast allen Gemeinden eingerichteten „Büros für Gemeinschaften und Rückkehrer (MOCR)“ in Anspruch nehmen. Diese sind zuständig für die Entgegennahme von Anträgen für Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm sowie für Beratungsleistungen. Sie sollen innerhalb von max. sieben Tagen über die Bewilligung von Leistungen entscheiden, die im Rahmen einer Soforthilfe gewährt werden müssen, insbesondere Unterkunft und Verpflegung. Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm werden grundsätzlich für bis zu zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus kann die Klägerin auf die Leistungen aus dem Rückkehrer-Projekt „URA II“ zurückgreifen. Dieses Projekt bietet in seiner Einrichtung in der Innenstadt von Pristina Integrations-, Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen für Rückkehrer aus Deutschland an. Es hilft u.a. bei der Wohnungssuche, zahlt für einen Übergangszeitraum die Miete, stellt Geld für Lebensmittel zur Verfügung, ist bei der Arbeitsplatz- und Ausbildungssuche behilflich und begleitet Zurückgekehrte bei Behördengängen (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O.).
35 
Die Klägerin hat auch im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand keinen Anspruch auf Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
36 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O.). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O. und Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1/94 - InfAuslR 1995, 24). Dieser Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ist auch in Fällen bereits erlittener gleichartiger Gefahrenlagen nicht herabzusetzen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - a.a.O.)
37 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - BVerwGE 105, 383; Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13/97 - NVwZ 1998, 973 und Urt. v. 21.09.1999 -9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - a.a.O. und Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.07.1999 - 9 C 2/99 - a.a.O.). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - DVBl 2003, 463 und Beschl. v. 29.04.2002 - 1 B 59/02 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urt. v. 24.06.2003 - 7 UE 3606/99.A - AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.10.2001 - 1 B 185/01 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51). An die Qualität und Dichte der Gesundheitsversorgung im Abschiebungszielland einschließlich Kostenbeteiligung des Betroffenen können allerdings keine der hiesigen Gesundheitsversorgung entsprechenden Anforderungen gestellt werden (vgl. OVG Münster, Beschl. v. V6.09.2004 - 18 B 2661/03 - AuAS 2005, 31).
38 
Nach aktueller Erkenntnislage ist der Zugang zu medizinischen Behandlungen des öffentlichen Gesundheitssystems für die Bevölkerung im Kosovo unabhängig von der ethnischen Herkunft gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014).
39 
Die Erkrankung der Klägerin rechtfertigt nicht die Annahme einer Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dem vorgelegten ärztlichen Attest von Dr. C vom 03.10.2015 leidet die Klägerin an psychogenen Krampfanfällen und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Erkrankung der Klägerin wird ausschließlich medikamentös behandelt; eine psychotherapeutische Behandlung erfolgt nicht.
40 
Das Gericht ist aber nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass bei der Klägerin eine behandlungsbedürftige Erkrankung an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) vorliegt. Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10)“ entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (traumatisierendes Ereignis, sog. A-Kriterium). Somit ist für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41; OVG Magdeburg, Beschl. v. 01.12.2014 - 2 M 119/14 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 14.01.2008 - A 11 K 4941/07 - InfAuslR 2008, 323). Die Feststellung des behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach den obigen Ausführungen ist das Gericht gerade nicht davon überzeugt, dass sich das von der Klägerin geltend gemachte Verfolgungsgeschehen ereignet hat. Ein anderes traumatisierendes Ereignis wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Fehlt es damit am Nachweis eines traumatisierenden Ereignisses, ist das Symptomspektrum einer PTBS nicht ausgefüllt.
41 
Selbst wenn bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung vorläge, wäre diese im Kosovo nach dem dortigen Standard, auf den sich die Klägerin verweisen lassen muss, hinreichend behandelbar. Im Übrigen steht der Klägerin eine medikamentöse Behandlung im Kosovo zu den diagnostizierten psychogenen Krampfanfällen und zur posttraumatischen Belastungsstörung zur Verfügung.
42 
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014 erfolgt die staatlich finanzierte medizinische Grundversorgung der Bevölkerung im Kosovo in einem öffentlichen dreistufigen Gesundheitssystem. Es besteht aus Erstversorgungszentren, Krankenhäusern auf regionaler Ebene sowie einer spezialisierten medizinischen Versorgung durch die Universitätsklinik Pristina. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen wird im öffentlichen Gesundheitssystem in neun regionalen Gesundheitszentren durchgeführt. Patienten, die einer stationären Behandlung bedürfen, werden in den Regionalkrankenhäusern in den Abteilungen für stationäre Psychiatrie sowie in der psychiatrischen Klinik der Universitätsklinik Pristina behandelt. In den Regionalkrankenhäusern stehen ausreichende Kapazitäten zur Verfügung. Zudem verfügen diese Einrichtungen jeweils über eine angeschlossene psychiatrische Ambulanz mit ambulanter fachärztlicher Betreuung. Patienten, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, werden in den psychiatrischen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitssystems weiterhin primär medikamentös behandelt. Eine Behandlung auf psychotherapeutischer Grundlage wird durchgeführt, wenn hierfür eine medizinische Notwendigkeit vorliegt und die für die Durchführung von psychotherapeutisch orientierten Gesprächen erforderliche Zeit zur Verfügung steht. Daneben führen auch Nichtregierungsorganisationen Behandlungen auf psychotherapeutischer Basis durch. Medikamente sind in allen Städten im Kosovo in ca. 500 lizenzierten privaten Apotheken erhältlich. Es ist nicht ersichtlich, dass es für die Klägerin nicht zumutbar wäre, auf die aufgeführten Behandlungsmöglichkeiten im Kosovo verwiesen zu werden.
43 
Das Gericht geht auch davon aus, dass die Klägerin die Behandlung tatsächlich wird erlangen können. Es bestehen weder unüberwindliche finanzielle noch anderweitige Hindernisse. Ob die Medikamente Mirtazipin, Citalopram, Ibuprofen und Novaminsulfon auf der „Essential Drug List“ für den Kosovo, die alle staatlich finanzierten Basismedikamente und -wirkstoffe, Verbrauchsmaterialien sowie Zytostatika auflistet, verzeichnet sind, kann dahingestellt bleiben. Dort finden sich jedenfalls Medikamente derselben Wirkstoffgruppen. Der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme ist nicht zu entnehmen, dass eine Umstellung auf andere Präparate mit vergleichbarer Wirksamkeit ausgeschlossen ist. Deshalb ist denkbar, dass der Klägerin bei der Ausreise aus Deutschland ein Medikamentenvorrat zur Verfügung gestellt wird und nach Beratung durch kosovarische Ärzte langfristig eine Umstellung der Medikation im Kosovo stattfindet.
44 
Zwar müssen Patienten für medizinische Leistungen sowie für die auf der „Essential Drug List“ verzeichneten Medikamente grundsätzlich Eigenbeteiligungen zahlen, die nach vorgegebenen Sätzen pauschal erhoben werden. Von der Zuzahlungspflicht befreit sind aber Empfänger von Sozialhilfeleistungen, chronisch Kranke, Kinder bis zum 15. Lebensjahr, Schüler und Studenten bis zum Ende der Regelausbildungszeit und Personen über 65 Jahre. Zu dieser Gruppe dürfte die Klägerin aufgrund der diagnostizierten Chronizität voraussichtlich gehören, so dass sie die erforderliche Behandlung kostenfrei erhalten wird.
45 
Bei einer Rückkehr in den Kosovo ist auch eine Anschlussbehandlung unmittelbar nach der Rückkehr sichergestellt. Die Klägerin kann die vielfältigen Leistungen des Rückkehrerprojektes URA II in Anspruch nehmen. So können alle Rückkehrer von den in Deutschland zu Traumaspezialisten geschulten Psychologen des Projektes eine professionelle Behandlung psychischer Erkrankungen erhalten und URA vermittelt psychisch Kranken entsprechende Behandlungsmöglichkeiten bei kosovarischen Ärzten. Die genannten Leistungen sind für Rückkehrer kostenfrei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 25. November 2014). Im Hinblick auf diese Erkenntnislage ist die Aussage von Dr. C im ärztlichen Attest vom 03.10.2015, wonach es alsbald im Zielland mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung käme, unqualifiziert und durch nichts belegt. Es ist schon erstaunlich, dass eine Gutachterin wie Frau Dr. C die Prognose einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung stellt, ohne die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland auch nur im Ansatz zur Kenntnis zu nehmen bzw. zu würdigen. Zudem ist die ärztlicherseits gestellte Schlussfolgerung nicht nachvollziehbar, da eine medikamentöse Versorgung der Klägerin im Kosovo möglich und erreichbar ist, eine psychotherapeutische Behandlung der Klägerin im Bundesgebiet nicht besteht und diese deshalb im Falle einer Rückkehr in den Kosovo auch nicht abgebrochen würde. Damit ist auch fraglich, ob die von Frau Dr. C gestellte unsubstantiierte Prognose, wonach es vor und während der Abschiebung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlimmerung der Erkrankung käme, zu berücksichtigen ist. Dies kann aber offen bleiben, da eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes vor und während der Abschiebung und eventuelle Suizidabsichten lediglich inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sein können, die ausschließlich von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.09.1999 - 9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206).
46 
Die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung entsprechen den gesetzlichen Vorgaben (§§ 34, 36 Abs. 1 AsylG, § 59 AufenthG).
47 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 11. Dez. 2015 - A 11 K 1904/15 zitiert 14 §§.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 60 Verbot der Abschiebung


(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalit

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 4 Subsidiärer Schutz


(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der To

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3 Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft


(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 83b Gerichtskosten, Gegenstandswert


Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 108


(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. (2) Das Urteil darf nur auf Tatsache

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 59 Androhung der Abschiebung


(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfal

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 36 Verfahren bei Unzulässigkeit nach § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 und bei offensichtlicher Unbegründetheit


(1) In den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 und der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist eine Woche. (2) Das Bundesamt übermittelt mit der Zustellung der Ent

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 102


(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende di

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 34 Abschiebungsandrohung


(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn 1. der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,2. dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wir

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3a Verfolgungshandlungen


(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen n

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3b Verfolgungsgründe


(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen: 1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;2. der Begrif

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3c Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann


Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3d Akteure, die Schutz bieten können


(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden 1. vom Staat oder2. von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,sofern sie willens und in d

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Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 11. Dez. 2015 - A 11 K 1904/15 zitiert oder wird zitiert von 5 Urteil(en).

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Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Beschluss, 01. Dez. 2014 - 2 M 119/14

bei uns veröffentlicht am 01.12.2014

Gründe 1 I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg. 2 Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshind

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 07. März 2013 - A 9 S 1872/12

bei uns veröffentlicht am 07.03.2013

Tenor Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14. Juni 2012 - A 6 K 737/12 - wird zurückgewiesen.Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.Die Revision wird nicht zugelassen. Tatbestand

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Urteil, 03. Nov. 2011 - A 8 S 1116/11

bei uns veröffentlicht am 03.11.2011

Tenor Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 27. Apr. 2010 - 10 C 5/09

bei uns veröffentlicht am 27.04.2010

Tatbestand 1 Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

Verwaltungsgericht Stuttgart Urteil, 14. Jan. 2008 - A 11 K 4941/07

bei uns veröffentlicht am 14.01.2008

Tenor Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
10 
Die Beklagte beantragt,
11 
die Berufung zurückzuweisen.
12 
Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
13 
Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
14 
Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
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bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
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Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
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Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
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(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
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Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
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Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
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Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
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cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
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Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
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Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
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Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
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Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
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Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
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d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
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bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
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(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14. Juni 2012 - A 6 K 737/12 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der nach seinen Angaben am ...1977 in Douala geborene Kläger ist kamerunischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Bamileke an. Er ist ledig, christlichen Glaubens und spricht Französisch, Bamileke und etwas Englisch. Vor seiner Ausreise lebte er in Yaoundé in Kamerun. Seine Mutter und vier Geschwister leben in Kamerun; sein Vater ist 1993 verstorben. Der Kläger reiste am 16.11.2011 mit dem Flugzeug nach Deutschland ein.
Am 06.12.2011 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 17.01.2012 gab er an, er sei homosexuell. Er sei am 11.02.2011 von der Polizei verhaftet, zusammengeschlagen und an der Lippe verletzt worden, so dass sie stark geblutet habe. Bei einem der nachfolgenden Krankenhausbesuche habe er vor der Polizei fliehen können und habe Kamerun verlassen. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass er seinen Freund M... bei dessen Ankunft zu einer Geburtstagsfeier in der Öffentlichkeit umarmt und geküsst habe. Nachbarn, die dies gesehen hätten, sowie die Polizei seien kurz darauf in die Wohnung eingedrungen, in der die Feier stattgefunden habe. Der Kläger übergab dem Bundesamt eine Fotografie, auf der er mit einem Pflaster an der rechten Oberlippe zu sehen ist.
Mit Bescheid vom 15.03.2012 lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte (2.) fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Außerdem stellte es (3.) fest, dass die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde (4.) zur Ausreise aufgefordert, ihm wurde die Abschiebung nach Kamerun angedroht.
Am 04.04.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat seinen bisherigen Vortrag ergänzt und vertieft. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2012 ist der Kläger vom Einzelrichter persönlich angehört worden. Wegen seiner dortigen Angaben wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Akte des Verwaltungsgerichts verwiesen (A 6 K 737/12). Der ursprüngliche Antrag auf Verpflichtung der Beklagten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, ist in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt worden.
Mit Urteil vom 14.06.2012 hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, hat den Bescheid des Bundesamtes vom 15.03.2012 hinsichtlich Ziffer 2 und 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er habe in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass er im Jahr 2000 zur Erkenntnis gekommen sei, homosexuell veranlagt zu sein, und seither sein Leben entsprechend gestaltet habe. Offen ausgelebte Homosexualität sei in Kamerun gesellschaftlich geächtet. Homosexuelle Handlungen seien in Kamerun auch dann strafbar, wenn sie unter erwachsenen Männern im Einverständnis aller Beteiligten erfolgten. Sie würden mit Gefängnis zwischen sechs Monaten und fünf Jahren sowie Geldstrafe bestraft. Auch Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Homosexualität sei möglich. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werde Art. 347bis Code Pénal, der lediglich homosexuelle Handlungen bestrafe, von den Strafverfolgungsbehörden in der Praxis falsch angewandt, indem Personen schon wegen Homosexualität verhaftet und verurteilt würden und nicht nur dann, wenn tatsächlich homosexuelle Handlungen vorlägen. Dementsprechend würden Personen allein aufgrund einer (auch nur vermuteten) homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen und der Unzucht angeklagt, bevor überhaupt nach Beweisen für die Homosexualität gesucht werde. Es komme zu willkürlichen Festnahmen aufgrund vermuteter Homosexualität. Unter diesen Umständen bestehe eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger wegen seiner gleichgeschlechtlichen Neigungen in Kamerun Freiheitsentziehung drohe. Dabei könne für die Beurteilung der Schwere der dem Kläger drohenden Gefahr auch nicht außer Acht bleiben, dass ihm schon im Falle der bloßen vorläufigen Festnahme aufgrund einer Anzeige Polizeigewalt, extralegale Exekution oder langjährige Untersuchungshaft unter erbärmlichen Bedingungen drohten. Es könne ihm auch nicht zugemutet werden, das persönlichkeitsprägende Merkmal der Homosexualität zu unterdrücken oder zu verheimlichen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 13.07.2012 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 11.09.2012 hat der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (A 9 S 1510/12).
Am 27.09.2012 hat die Beklagte die Berufung begründet. Das Verwaltungsgericht habe zunächst zu Recht dem Kläger nicht geglaubt, dass er vorverfolgt ausgereist sei. Jedoch hätte das Verwaltungsgericht auch im Übrigen aufgrund der allgemeinen Lage keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung annehmen dürfen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14.06.2011 werde Homosexualität nur in Einzelfällen strafrechtlich verfolgt. Vielmehr gebe es in Kamerun ein homosexuelles Leben, das aber nicht öffentlich gemacht werde.
Das Urteil des EuGH vom 05.09.2012 (Rs. C-71/11 u.a.) sei auf den vorliegenden Fall nur bedingt übertragbar. Es beziehe sich auf einen anderen Verfolgungsgrund. Gleichwohl habe die Beklagte entschieden, in Übertragung dieser Grundsätze einen Schutzsuchenden wegen seiner individuellen sexuellen Prägung nicht mehr auf eine mögliche Verhaltensanpassung zur Vermeidung einer Verfolgung zu verweisen. Dazu sei die Beklagte nach Art. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.09.2004, S. 12, ber. ABl. L 204 vom 05.08.2005, S. 24 - im Folgenden: RL 2004/83/EG) befugt. Notwendig sei eine doppelte Prognose: Zunächst zum konkret im Einzelfall tatsächlich nach Rückkehr zu erwartenden Verhalten und sodann zu den gerade hieran anknüpfenden Reaktionen seitens der in Betracht zu ziehenden Verfolgungsakteure. Der EuGH habe eine Prüfung und Feststellung im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen gefordert, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr laufe, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Eine begründete Furcht liege vor, sobald im Hinblick auf die persönlichen Umstände vernünftigerweise anzunehmen sei, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland Betätigungen vornehmen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzten. Sei nach der Einzelfallprüfung davon auszugehen, dass sich der Kläger nach Rückkehr lediglich in zurückgenommener Weise verhalten werde, und zeige sich nach der Quellenlage nicht, dass ein beachtliches Gefährdungsrisiko in Anknüpfung an dieses Verhalten bestehe, sei die Situation nicht anspruchsbegründend. Soweit die Verhaltensanpassung auf subjektive Befürchtungen für den Fall eines darüber hinausgehenden Handelns zurückzuführen sei, stelle dies zwar eine Beeinträchtigung des Einzelnen dar. Die Beeinträchtigung müsse jedoch eine Intensität im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG erreichen. Dies sei dann nicht erkennbar. Die Verhaltenseinschränkung erreiche nicht die Schwere einer Verletzung nach Art. 3 EMRK, weil die Verhaltensveränderung nicht erzwungen sei, sondern darauf zurückgehe, dass der Kläger - unabhängig von den ihn leitenden Motiven - es von sich aus für geboten halte, sein Verhalten entsprechend einzuschränken.
10 
Zu prüfen sei daher, wie sich der Kläger vor dem Verlassen seines Heimatlandes verhalten habe, wie er sich seither hier verhalte und ob sich dies bei der Gesamtbetrachtung als Konsequenz einer bestehenden Persönlichkeitsprägung zeige. Dabei könne es nicht allein auf die subjektive Sicht des Schutzsuchenden ankommen. Vielmehr sei auch nach der Rechtsprechung des EuGH zu prüfen, wie sich der Betreffende vernünftigerweise verhalten werde. Bislang sei nicht feststellbar, dass der Kläger in Kamerun kein den dortigen Verhältnissen angepasstes Leben führen werde, sondern darüber hinaus gehe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger sich bei einer Rückkehr an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seinem Heimatland orientieren werde.
11 
Die Beklagte beantragt,
12 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14.06.2012 - A 6 K 737/12 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
die Berufung zurückzuweisen.
15 
Zur Begründung verweist der Kläger auf seine bisherigen Angaben. Er sei in seinem Heimatland misshandelt und in Haft genommen worden.
16 
Mit Beschluss vom 31.10.2012 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung des Senats persönlich angehört worden. Insoweit wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 07.03.2013 verwiesen.
17 
Der Senat hat die Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten am 04.02.2012 übermittelten Liste sowie in dem Schreiben des Senats vom 15.02.2013 (AS 307) genannt sind, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Des Weiteren sind die „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 „Kamerun - Todesdrohungen gegen Menschenrechtsanwälte“ und die Länderinformation von der Homepage des Auswärtigen Amtes „Kamerun, Stand Oktober 2012“ in die mündliche Verhandlung eingeführt worden. Zudem hat der Senat beim Auswärtigen Amt, bei Amnesty International und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Auskünfte eingeholt. Sie sind den Beteiligten vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gebracht worden.
18 
Dem Senat liegt die den Kläger betreffende Akte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akte, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Auskünfte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die Berufung hat keinen Erfolg.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) der Beklagten ist nicht begründet.
I.
21 
Der Kläger hat auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Kamerun vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG und § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung wird in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG modifiziert. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Kamerun eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen bzw. auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Kamerun gegeben. In Kamerun ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Kamerun nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen bzw. im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger - zumindest auch - homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Das Vorbringen des Klägers zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie zu seinem Sexualverhalten machte auf den Senat den Eindruck, dass er von selbst Erlebtem berichtet. Der Kläger hat angegeben, seit dem Jahr 2000 - also im Alter von 23 Jahren - gemerkt zu haben, dass er „sich mit Männern besser fühle“. Davor sei er zwar auch mit Frauen ausgegangen und habe etwas mit Frauen gehabt. Der Wechsel sei jedoch ein natürlicher Vorgang gewesen. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger dazu angegeben, dies sei keine allmähliche Entwicklung gewesen. Sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Senat hat der Kläger angegeben, M...-... sei seine erste homosexuelle Beziehung gewesen, sie habe seit dem Jahr 2000 bis zur Ausreise im Jahr 2011 angedauert. Vor seiner Verhaftung am 11.02.2011 habe er ihn nicht zum ersten Mal öffentlich geküsst. Dies sei ein Reflex, den man nicht kontrollieren könne. Allerdings habe man nicht zusammengelebt. Nach seiner Flucht habe er M... von der Elfenbeinküste aus eine E-Mail geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Er habe seit dem Vorfall keinen Kontakt mehr mit ihm. Vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, er habe mit M... keinen Kontakt mehr, weil er keine Handynummer von ihm besitze. Diese Angabe ist plausibel, weil der Kläger in seiner Anhörung in anderem Zusammenhang angegeben hat, die Polizei habe ihm sein Portemonnaie sowie sein Handy weggenommen. In Deutschland hatte der Kläger nach eigenen Angaben nur eine kurze Beziehung zu einer Person außerhalb Baden-Württembergs. Allerdings ist auch hier angesichts des ländlichen Wohnorts des Klägers und seiner Sprachschwierigkeiten nachvollziehbar, dass er es trotz der Freiheit in Deutschland schwer hat, eine neue homosexuelle Beziehung zu finden. Für den Senat glaubhaft hat der Kläger weiter angegeben, in Kamerun hätten seine Arbeitskollegen nichts von seiner Homosexualität gewusst, nur einige Freunde. Seine Familie in Douala habe zunächst nur vermutetet, dass er homosexuell sei. Nach seiner Festnahme am 11.02.2011 hätten sie es jedoch erfahren. Gleichwohl hätten sie ihn nicht verstoßen. Er sei weiterhin in der Nachfolge seines Vaters der „Chef“ der Familie bzw. des Clans. Die Blutsbande seien insoweit stärker. Probleme mit der Polizei habe er bis zum Vorfall vom 11.02.2011 nicht gehabt.
52 
Der Senat geht vor diesem Hintergrund weiter davon aus, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Kamerun wie bisher verhalten wird und dass dies für seine Identität besonders wichtig ist.
53 
b) Von diesen persönlichen Verhältnissen und einem daraus abzuleitenden wahrscheinlichen Verhalten des Klägers ausgehend droht ihm von staatlicher Seite derzeit Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG, insbesondere in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
54 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens bzw. des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellten, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
55 
Bei der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten bzw. öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
56 
bb) Dem Kläger droht eine solche Verfolgung allerdings nicht - wie das Verwaltungsgericht der Sache nach angenommen hat - schon allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Gruppe der Homosexuellen in Kamerun.
57 
(1) Denn nach derzeitiger Erkenntnislage unterliegen Homosexuelle in Kamerun wegen des Fehlens der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte keiner Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
58 
(a) In den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wird zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG durch den Staat Kamerun wegen Homosexualität Folgendes ausführt:
59 
Art. 347bis Code Pénal sieht bei gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis 5 Jahren und eine Geldstrafe zwischen 20.000 und 200.000 CFA-Francs BEAC (etwa 30 bis 300 EUR) vor (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012; Auskunft von Amnesty International - AI - an den Senat vom 13.12.2012; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - an den Senat vom 07.11.2012, S. 1). Die Regierung hat wohl angekündigt, das Strafgesetzbuch dahingehend zu verschärfen, dass gegen Personen wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren Gefängnis und eine Geldstrafe in Höhe von bis zu zwei Millionen CFA-Francs BEAC (ca. 3.050 EUR) verhängt werden kann. Allerdings hat sie das Vorhaben bisher nicht umgesetzt. Es haben nach der Ankündigung des ehemaligen Justizministers im Jahr 2011 keine weiteren Debatten dazu stattgefunden (SFH, Auskunft vom 07.11.2012, S. 1 f.; AI, Auskunft vom 06.12.2012).
60 
Soweit homosexuelle Personen diskret leben, wird dies nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012 von der Gesellschaft zumeist - zumindest in den urbanen Gebieten (Yaoundé, Douala, Bamenda) - toleriert und von den Strafverfolgungsbehörden erst verfolgt, wenn eine Anzeige erstattet wird. Wer Homosexualität dagegen öffentlich lebt, läuft dringende Gefahr, dafür seitens der Strafverfolgungsbehörden bestraft zu werden zu werden. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 wird Homosexualität in Einzelfällen verfolgt. Verurteilungen stehen oft in Verbindung mit anderen Straftaten wie etwa Bestechung oder - aus dem Bereich der „Offenses Sexuelles“ - die Verletzung des Schamgefühls Dritter im privaten Bereich, was den Tatbestand der Nötigung miteinschließt („Outrage privé à la pudeur“, Art. 295). Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen sind zwar selten, kommen jedoch vor. Zumeist führen Denunziation oder üble Nachrede zu diesen Festnahmen. Am 26.03.2010 wurden in der Lobby eines großen Hotels in Duala ein australischer Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die für Rechte von Homosexuellen eintritt, sowie zwei Kameruner von Polizisten in Zivil festgenommen. Der Vorwurf, gegen Art. 347bis des kamerunischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben, ließ sich nach Augenzeugenberichten nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz wurden die drei Männer in Haft genommen und erst drei Tage später aufgrund der Intervention der Menschenrechtsanwältin Alice Nkom wieder freigelassen. Es ist in Kamerun nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.12.2012 weiter nicht unüblich, unzutreffenden Vorwürfen ausgesetzt zu werden. Dies ist ein beliebtes Mittel, eine Person zu diffamieren und zu schwächen. Dabei wird häufig der Vorwurf der Korruption verwendet; aber auch der Homosexualität. Eine statistische Aussage über die Häufigkeit kann naturgemäß nicht getroffen werden. Sie hält sich jedoch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Bereich von weniger als zehn Fällen landesweit pro Jahr.
61 
Zur Praxis der Strafverfolgung hat Amnesty International am 13.12.2012 Folgendes mitgeteilt:
62 
„Seit 2005 werden in Kamerun Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Orientierung zunehmend Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Inhaftierungen und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen. Die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker äußerte im Mai 2005 ihre große Sorge über die wachsende Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten in Kamerun.
63 
Auch bei bloßer, unbestätigter Homosexualität droht in Kamerun Strafverfolgung, wenn Menschen nach Ansicht ihrer Umwelt zum Beispiel Kleidung tragen oder Verhaltensweisen und Eigenschaften zeigen, die nicht ihrem Geschlecht entsprechen. Dabei ist es unerheblich, welche sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität sie tatsächlich haben. Solche Menschen werden diskriminiert, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt und werden häufig von Menschen ihrer Umgebung angezeigt und von der Polizei willkürlich festgenommen. Angehörige der Polizei werden bei jedem Hinweis auf Homosexualität aus der Bevölkerung tätig.
64 
Da gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen nach dem Strafgesetzbuch von Kamerun eine Straftat darstellen, bleibt Homosexuellen in Kamerun nur die Möglichkeit, so zu leben, dass ihre sexuelle Orientierung oder Identität in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird. Sie müssen in ständiger Angst vor Denunziation oder weiterer Verfolgung leben.
65 
Es ist Homosexuellen in Kamerun de facto nicht möglich, ihre sexuelle Orientierung offen zu leben. Festnahme und gerichtliche Verfolgung sind ihnen gewiss. Ihnen drohen angesichts der sehr weitverbreiteten Homophobie in der Gesellschaft weitreichende Ausgrenzung sowie gewalttätige körperliche oder psychische Übergriffe seitens der staatlichen Behörden, der Bevölkerung, des Gefängnispersonals und der Sicherheitskräfte.
66 
Laut Strafgesetzbuch sind lediglich gleichgeschlechtliche Handlungen verboten. In der Praxis wird das Gesetz jedoch wesentlich weiter ausgelegt. So werden die meisten Betroffenen allein aufgrund ihrer vermuteten sexuellen Orientierung verfolgt, angeklagt und verurteilt. In kaum einem Fall gibt es Zeugenaussagen über mutmaßliche gleichgeschlechtliche Handlungen.
67 
Rechtsstaatliche Prinzipien werden bei den Verfahren nicht hinreichend beachtet. So erfolgt beispielsweise keine ordentliche Beweisaufnahme. Die Anklageerhebung erfolgt nicht entsprechend der Strafprozessordnung Kameruns: So befinden sich verdächtige Personen z.T. mehrere Monate oder Jahre ohne Anklageerhebung oder Anhörung in Untersuchungshaft. Verurteilte Inhaftierte werden mitunter auch nach Ende ihrer Haftstrafe weiterhin im Gefängnis festgehalten. Die Richter unterliegen politischer Einflussnahme und Korruption.
68 
In einigen Fällen werden im Gewahrsam durch psychische oder körperliche Folter und andere Formen der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung Geständnisse erpresst. Hierfür sind z.B. Schläge auf die Fußsohlen im Polizeigewahrsam üblich. Immer wieder berichten homosexuelle Männer, dass sie unter Zwang einer medizinischen Analuntersuchung unterzogen werden, die Folter und anderen Formen von grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen kann und gegen die Achtung der Privatsphäre verstößt.“…
69 
„Da der bloße Verdacht auf Homosexualität für eine Anklage reicht, macht es keinen Unterschied, ob Homosexualität diskret oder indiskret gelebt wird.“…
70 
„Amnesty International verfügt über keine vollständige Liste von Personen, die Opfer von Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Begründung ihrer mutmaßlichen sexuellen Orientierung wurden.“ … „Im Zeitraum März 2011 bis März 2012 wurden 17 Menschen festgenommen, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Die Zahl ist steigend.“
71 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 ergibt sich, dass Human Rights Watch Präsident Biya aufgefordert hat, etwas gegen die andauernden Todesdrohungen gegen zwei Menschenrechtsanwälte, Alice Nkom und Michel Togué, zu unternehmen, die Personen vertreten, die wegen angeblicher Homosexualität angeklagt sind.
72 
Aus einer weiteren „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 14.01.2013 ergibt sich, dass in einem Revisionsverfahren am 07.01.2013 in der Hauptstadt Yaoundé zwei Männer vom Vorwurf der Homosexualität freigesprochen wurden. Sie waren im Juli 2011 festgenommen und im November 2011 wegen Homosexualität zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil war 2011 u.a. damit begründet worden, dass die beiden Frauenkleider getragen hätten. Wie Human Rights Watch im Oktober 2012 berichtete, verbüßten zu diesem Zeitpunkt mindestens vier Personen Haftstrafen wegen Homosexualität. 2011 seinen 14 Personen deswegen angeklagt und 12 davon verurteilt worden.
73 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamts vom 27.02.2012 ergibt sich, dass erstmals drei Frauen wegen der Vornahme von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen angeklagt wurden.
74 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 zur Strafverfolgungspraxis Folgendes ausgeführt:
75 
„Missachtung der gesetzlichen Grundlagen. In der Praxis werden Personen willkürlich aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen. 2011 wurden laut Angaben von Amnesty International und des US Department of State zehn bis dreizehn Personen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftet. Eine Mehrheit dieser wurde nicht in flagrante delicto ertappt, wie es Art. 347bis des Strafgesetzbuchs vorschreibt, sondern lediglich aufgrund der Vermutung inhaftiert, dass sie homosexuelle Beziehungen unterhalten. Oftmals wurden die rechtlichen Vorgaben doppelt missachtet, einerseits Personen ohne ausreichende Beweislage in Bars oder ihren Häusern verhaftet, und zudem erfolgte dies ohne den benötigten Haftbefehl. Regelmäßig werden Männer festgenommen, weil sie Makeup oder feminine Kleidung tragen, die nicht den traditionellen kamerunischen Kleidern entsprechen, oder weil sie allgemein ein feminines Aussehen haben. Um eine homosexuelle Orientierung nachzuweisen, wird bei manchen Männern eine Analuntersuchung richterlich angeordnet, um Penetration vermeintlich nachweisen zu können. Sowohl Frauen als auch Männer werden in Untersuchungshaft auf verschiedenste Art und Weise, etwa durch Schläge auf die Fußsohlen, dazu gebracht, ihre Homosexualität zu gestehen.
76 
Verurteilungen gemäß Art. 347bis. Im November 2011 wurden drei Männer wegen „homosexueller Handlungen“ für schuldig befunden und erhielten eine Gefängnisstrafe von je fünf Jahren. Drei weitere Männer und eine Frau, welchen vorgeworfen wurde, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu führen, waren im August 2011 verhaftet worden und warteten am Jahresende noch immer in Haft auf die Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Amnesty International nennt weitere Personen, die wegen vermeintlichen homosexuellen Handlungen festgenommen und daraufhin vorläufig frei gelassen wurden. Zum Teil wurden diese Personen in die Falle gelockt von Spitzeln und Angehörigen der Sicherheitskräfte, die mit ihnen Kontakt aufnahmen und vortäuschten, homosexuell zu sein. Ein prominenter Fall ist der von Jean-Claude Mbede, der am 28. April 2011 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, nachdem er eine als verdächtig erachtete SMS an einen Bekannten geschickt hatte. Der Bekannte gab vor, sich mit Mbede verabreden zu wollen, zeigte die SMS aber der Polizei, welche Mbede daraufhin bei der vermeintlichen Verabredung auflauerte und festnahm. Im August und September 2011 gab sich ein Hochstapler auf von Homosexuellen rege benutzten sozialen Netzwerken als schwul aus, verabredete sich mit mindestens drei Männern und übergab sie dann umgehend der Polizei. Die verhafteten Männer wurde gezwungen, Schmiergelder zu bezahlen, welche sich der Betrüger und die Polizisten unter einander aufteilten.
77 
Gefängnisbedingungen. Die Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen als inhuman und sogar lebensbedrohlich beschrieben. Zellen sind chronisch überbelegt und verdreckt, Betten und sanitäre Anlagen sind ungenügend vorhanden, Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte und Folter sind weit verbreitet. Inhaftierte homosexuelle Personen werden in den Gefängnissen oft Opfer von Diskriminierung, Schlägen, verbaler und sexueller Gewalt durch andere Häftlinge oder Gefängniswärter. Jugendliche, die angeklagt sind, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, erhalten in Hafteinrichtungen nicht den für Minderjährige verlangten Schutz. Einem jungen homosexuellen Mann, der 2005 inhaftiert und im Gefängnis vergewaltigt wurde, wurde zudem der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung verwehrt. Er starb wenige Tage nach seiner Entlassung an den Folgen einer unbehandelten AIDS-Erkrankung.“
78 
(b) Zu von Seiten nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG drohenden Verfolgungshandlungen enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
79 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 ausgeführt:
80 
„Zugehörige der LGBT-Gemeinschaft (erg.: Abkürzung für Lesbian, Gays, Bisexual, Transgender) werden in Kamerun regelmäßig zu Opfern von Belästigung und Erpressung, sowohl von Seiten der Zivilbevölkerung als auch Polizeibeamten und anderen Gesetzeshütern. In Folge dessen sind sie gezwungen, sich unauffällig zu verhalten und ihre sexuelle Identität zu verstecken, indem sie zumeist in heterosexuellen Beziehungen leben. Oftmals sind es Personen im unmittelbaren Umfeld der Opfer, wie zum Beispiel Nachbarn, Vermieter oder Bekannte, welche sie anzeigen und ihnen Homosexualität vorwerfen.
81 
Seit einer homophoben Predigt des Erzbischofs von Yaoundé, Victor Tonyé Bakot, im Dezember 2005, hat sich die Situation für homosexuelle Menschen in Kamerun weiter verschlechter. Als Folgen von Tonyé Bakots Predigt starteten 2006 drei kamerunische Zeitungen eine Hetzkampagne und publizierten Listen mit Namen und Fotos von 'verdächtigen Homosexuellen', viele davon namhafte Politiker und Geschäftsführer. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, weitere Homosexuelle anzuzeigen. Am 1. Januar 2010 hat der Erzbischof von Yaoundé erneut in einer öffentlichen Rede homosexuelle Kameruner angeprangert, deren 'unmoralische' Aktivitäten 'gegen christliche Sitten verstoßen' und die deshalb in katholischen Kirchen nicht willkommen seien. Homosexualität wird im öffentlichen Diskurs als 'unafrikanisch' und allgemeines Grundübel der Gesellschaft bezeichnet. Die damit verbundenen Assoziationen sind mannigfaltig, sie reichen von sozialen Problemen wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenkonsum zu Infektionen und gesundheitlichen Beschwerden, Hämorrhoiden und Inkontinenz. Regelmäßig werden sowohl von Privatpersonen als auch Regierungsangehörigen Vorwürfe von vermuteter Homosexualität benutzt, um Rufmordkampagnen gegen politische Gegner durchzuführen oder Geld zu erpressen.“…
82 
„Fehlender staatlicher Schutz vor Übergriffen. Kameruns Justizsystem ist politisch beeinflussbar, ineffizient und chronisch korrupt. Nur begrenzt wird gegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte, der Polizei und der Gendarmerie vorgegangen, und auch bei Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung existiert eine hohe Straflosigkeit. Justizbehörden sind außerdem nicht in der Lage, die Sicherheit von inhaftierten Personen in Gefängnissen zu gewährleisten. Laut Angaben einer Kontaktperson vor Ort bietet der kamerunische Staat Angehörigen von sexuellen Minderheiten keinerlei Schutz vor Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung. Aus Angst, die Täter könnten der Polizei ihre sexuelle Identität offenbaren, verzichten Homosexuelle oftmals auch darauf, Anzeige bei Verbrechen wie Diebstahl, Raub oder Belästigung zu erstatten. Der kamerunische Soziologe Charles Gueboguo hält es für eine bewusste Strategie der kamerunischen Regierung, Homosexuellen keinen Schutz vor Übergriffen zu bieten oder sich gegen die weit verbreitete Homophobie einzusetzen, da dies von anderen wesentlichen Problemen Kameruns wie der stetig steigenden Armut ablenkt. Mit der prekären sozioökonomischen Lage Kameruns ist 'queer bashing' so zu einer legitimen Haltung avanciert, welche der Bevölkerung ein Ventil für andere Sorgen zu bieten scheint.
83 
LGBT-Aktivisten und -Organisationen. Es gibt eine Anzahl von Organisationen in Kamerun, die sich für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft einsetzen…. Die Diskriminierung von Personen, die in LGBT-Organisationen tätig sind, ist jedoch weit verbreitet, und Aktivisten setzen sich aufgrund ihres Engagements großen Risiken aus. …“.
84 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 zu den von privater Seite drohenden Gefahren und zu eventuellem Schutz durch staatliche Stellen Folgendes ausgeführt:
85 
„Die bloße, unbetätigte Veranlagung wird von der Gesellschaft in weiten Teilen toleriert. Homosexuelle können ihre Veranlagung jedoch nicht öffentlich leben. Auch die diskrete Lebensweise wird allenfalls geduldet. Oft weiß man davon, 'schaut aber weg'. Wer Homosexualität offen lebt, läuft dringend Gefahr, Opfer von Diskriminierung bis hin zu physischer Gewalt zu werden. Die großen Kirchen haben sich ausdrücklich gegen die Akzeptanz von Homosexualität ausgesprochen. Diese Haltung spiegelt die der Gesellschaft wider. In den Augen des allergrößten Teils der Gesellschaft ist Homosexualität widernatürlich und krank. Der Staat schützt nach dem Gesetz jeden Bürger gleichermaßen. In der Lebenswirklichkeit in Kamerun wird die Polizei jedoch die von privater Seite drohenden Gefahren für eine Zeitlang in Kauf nehmen und erst auf medialen Druck einschreiten.“
86 
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 ist ausgeführt (S. 12):
87 
„Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Homosexualität in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch gebracht, geächtet und verurteilt. Fast alle gesellschaftliche Gruppen, auch zahlreiche Kirchen, an prominenter Stelle auch Vertreter der katholischen Kirche, setzen sich für ein strikteres staatliches Vorgehen gegen Homosexuelle ein. Die Freiheit der sexuellen Orientierung ist nicht als Menschenrecht anerkannt.“
88 
Amnesty International hat in seiner Auskunft an den Senat vom 13.12.2012 Folgendes ausgeführt:
89 
„Züchtigung und Bestrafung durch Mitglieder der Familie, Verstoß aus der Familie, Schuldzuweisungen wie Verdächtigung der Hexerei und Magie sowie Denunzierung durch Angehörige und Bekannte sind hochwahrscheinlich… Religiöse Führer und Medien rufen immer wieder zur Ablehnung und Verfolgung von Homosexualität auf. So veröffentlichten die Zeitungen ‚L’Anecdote‘ und 'Nouvelle Afrique' 2006 eine Liste mit Namen von mutmaßlichen Homosexuellen. Im Juni 2012 schrieb der katholische Geistliche Moses Tazoh in der Zeitung ‚L’Effort camerounais‘, dass die Kirche Homosexualität als widernatürliches, abnormales Verhalten ablehne. Immer wieder wird Homosexualität auch mit Pädophilie gleichgesetzt.
90 
Im Dezember 2011 wurden vier Studenten in Kumba (Südwestregion) von einem jungen Mann beschuldigt, homosexuell zu sein, nachdem er versucht hatte, Geld von ihnen zu bekommen. Da die Studenten ihm dieses Mal kein Almosen gaben, alarmierte der Mann die Nachbarschaft. Daraufhin schlugen und traten Nachbarn die Studenten, so dass sie später medizinisch behandelt werden mussten. Einer der Studenten wurde anschließend von seinem Schwager zur Polizeiwache gebracht und als homosexuell denunziert. Polizeibeamte misshandelten ihn und versuchten, das Geständnis zu erpressen, dass er gleichgeschlechtlichen Sex mit einem seiner Freunde hatte. Die vier Studenten wurden in Polizeigewahrsam genommen und nach neun Tagen in Untersuchungshaft verlegt. Das Gerichtsverfahren ist weiter anhängig. Inzwischen wurden die Männer auf Kaution vorläufig freigelassen.
91 
Von staatlicher Seite können Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören, keinerlei Schutz erwarten. Die meisten homosexuellen Personen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, haben Angst, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Sie gehen davon aus, dass die Täter nicht bestraft werden und viele Angehörige der Polizei und der Sicherheitskräfte korrupt sind, Anzeigen nicht weiterleiten und selber gewalttätige Übergriffe an vermeintlichen Homosexuellen verüben…. Regierungsvertreter Kameruns und staatliche Sicherheitskräfte befürworten öffentlich, gezielt gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen vorzugehen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen engagieren, und sie zu attackieren…. Die allgegenwärtigen Vorurteile gegen LGBTI-Personen, die in Gesetz und Praxis zementiert werden, schaffen ein Umfeld, in dem die Bevölkerung oft zu Recht glaubt, dass sie LGBTI-Personen mit Straffreiheit diskriminieren kann. Am 27. Juni 2011 wurden beispielsweise zwei junge Frauen in der Zeitung „New Bell District Douala“ von ihren Familienangehörigen der Beteiligung an einer gleichgeschlechtlichen Beziehung bezichtigt. In der Folge gab es Übergriffe auf die Frauen. Aus Angst um das Leben der beiden Frauen riefen einige Familienmitglieder die Polizei. Jedoch wurden die Frauen verhaftet und später freigelassen. Die Behörden haben keine Maßnahmen gegen die Täter ergriffen.“
92 
(c) Zur Frage, ob in Kamerun eine Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 RL 2004/83/EG besteht, enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
93 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft an den Senat vom 06.12.2012 mitteilt:
94 
„Es gibt in Kamerun geographische und soziale Unterschiede. Im ländlichen Bereich sowie im eher muslimischen Norden werden Homosexuelle eher Schwierigkeiten haben als in urbanen Gebieten. In den Metropolen Jaounde und Douala gibt es informelle Treffpunkte, wo Homosexuelle zusammenkommen. Einblick in die Oberschicht wird in dieser Frage Außenstehenden jedoch nicht gewährt. Die Hinweise auf bestehende einschlägige Institutionen und Treffen sind jedoch allgegenwärtig und glaubwürdig.“
95 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Stellungnahme vom 07.11.2012 an den Senat ausgeführt:
96 
„Nach Angaben einer Kontaktperson vor Ort gibt es keine spezifischen sozialen Kreise oder Regionen, in denen sexuelle Minderheiten weniger stigmatisiert und marginalisiert sind. Die Konzentration von LGBT-Organisationen auf gewisse Städte führe aber dazu, dass Homosexuelle nur in diesen Regionen Zugang zu Aktivitäten zur Verteidigung der Rechte als sexuelle Minderheiten und zu juristischer Vertretung haben. Als Folge stammt die Mehrheit der dokumentierten Fälle von Inhaftierungen und Verurteilungen aus diesen urbanen Gegenden. Tatsächlich fanden die Mehrheit der seit 2005 dokumentierten Verhaftungen in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé und in der verhältnismäßig liberalen Stadt Douala im Südwesten Kameruns statt. Drei Frauen wurden außerdem im ländlichen Grenzdorf Ambam im Süden Kameruns verhaftet. Human Rights Watch berichtet weiter von einer Anzahl von Personen, die in Gefängnissen in Buea und Ebolowa inhaftiert sind, zwei Städten ebenfalls im Südwesten Kameruns.
97 
Bildungsbereich. Homophobie und Stigmatisierung beruhen auch im Bildungsbereich, wo homosexuelle Personen teilweise von Schulen und Universitäten gewiesen werden. So wurde beispielsweise ein junger Mann nach Beendigung seiner Haftstrafe von der Universität, an der er Informatik studierte, ausgeschlossen. Er war im Mai 2005 während einer Razzia in einem Nachtklub in Yaoundé festgenommen und neun Monate später unter Artikel 347bis zu Freiheitsentzug verurteilt worden.“
98 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 an den Senat Folgendes mitgeteilt:
99 
„Die Gesetze und Rechtsprechung gelten landesweit. In keiner der 17 Regionen Kameruns wird Homosexualität von Amtsträgern oder gesellschaftlich toleriert. Homosexualität kann in keinem Landesteil offen oder diskret gefahrlos gelebt werden, Homosexuelle sind an allen Orten der ständigen Gefahr der Diskriminierung und Denunziation mit entsprechenden Folgen ausgesetzt.
100 
In den Metropolen Yaoundé und Douala sind die Organisationen für die Rechte von LGBTI-Personen und HIV/AIDS-Prävention, die mit LGBTI-Personen arbeiten sowie die wenigen Anwälte für LGBTI-Rechte ansässig. Zusätzlich gibt es in diesen Städten auch einige Treffpunkte für Homosexuelle. Die Möglichkeiten der Kommunikation und der Internetvernetzung sind besser. Daher befindet sich dort die größte LGBTI-Gemeinschaft. Ebenso sind Medien in diesen Städten vertreten. Folglich gibt es in diesen Städten auch mehr Verfolgung von LGBTI-Personen und die größte Zahl an Verhaftungen.
101 
In ländlichen Regionen und kleineren Städten findet Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ebenso statt und es kommt zu Verhaftungen. Es gibt weniger Anonymität. Die Bevölkerung ist in den Familien und lokalen Gemeinschaften sowie in religiösen Gemeinden und durch die Tradition stärker eingebunden. Mutmaßliche Homosexuelle werden zusätzlich der Hexerei und Magie beschuldigt. … Homosexuelle der obersten Elite aus Politik, Wirtschaft und Kultur können aufgrund vorhandener finanzieller Möglichkeiten und Beziehungen diskreter leben als Menschen in der Mittel- und Unterschicht. Gleichwohl gab es seit 2005 auch öffentliche Anschuldigungen von Homosexualität gegen bekannte Persönlichkeiten. Bislang ist Amnesty International jedoch kein Fall bekannt, in dem eine dieser Beschuldigungen zu einer Festnahme oder Anklageerhebung geführt hätte. … Der Zugang zur Justiz ist Personen aus der Unterschicht und Mittelschicht dagegen wegen hoher Kosten und langwieriger Prozesse verwehrt. Ferner verlieren sie jeglichen gesellschaftlichen und familiären Rückhalt. Der Beispielsfall verdeutlicht auch, dass Denunzierungen genutzt werden, um Menschen zu schädigen, da Vorwürfe von Homosexualität mit Rufmord gleichzusetzen sind. Es wird versucht, politische Gegner mit diesem Mittel auszuschalten.“
102 
(d) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Kamerun im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Kamerun mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
103 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb als solche öffentlich bemerkbar sind, kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist von einem erheblichen Risiko auszugehen, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln (vgl. zusätzlich den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7) ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
104 
Außerdem ist es beachtlich wahrscheinlich, dass Homosexuelle, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar sind, auch von privater Seite Verfolgungshandlungen erleiden, wie etwa physische Gewalt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG, ohne dass staatliche Stellen in der Lage oder willens wären, hiervor Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu bieten.
105 
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
106 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
107 
Der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sind in Kamerun jedoch nur gering ausgeprägt (vgl. auch den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7 bis 9), so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Staat Kamerun homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung im Falle von strafrechtlich relevanten Handlungen gegen Homosexuelle ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
108 
Diese Aussagen gelten landesweit; auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen schon wegen (vermuteter) Homosexualität verhaftet oder unterliegen Gewalttaten von nichtstaatlicher Seite.
109 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
110 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
111 
Allerdings kann es auch in Fällen einer im Verborgenen gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte, der die Veranlagung im Verborgenen lebt, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Kamerun zu gering. Die Zahl derjenigen, die wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 347bis Code Pénal verhaftet wurden, liegt im unteren zweistelligen Bereich. Amnesty International geht in seiner Auskunft vom 13.12.2012 davon aus, dass 17 Personen im Zeitraum März 2011 bis März 2012 festgenommen wurden, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Auch die Zahl der berichteten sonstigen körperlichen Übergriffe liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
112 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: 25.02.2013) davon aus, dass in Kamerun geschätzte 20,5 Millionen Menschen leben. Legt man weiter zugrunde, dass davon 40,5 % bis 14 Jahre alt, 20,5 % zwischen 15 und 24 Jahren, 33,8 % zwischen 25 und 59 Jahren und 5,2 % 60 Jahre und älter sind (vgl. die für realistisch befundenen Angaben der Beklagten zur Gesamtbevölkerung) sowie ferner, dass 1 bis 2 % der Frauen und 2 bis 4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“), kommt man für die Bevölkerungsgruppe zwischen 15 und 59 Jahren selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern zu einer Zahl von 100.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen damit lässt die Zahl der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Fälle, die sich im unteren zweistelligen Bereich bewegt, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer körperlichen Verletzung oder einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt. Denn es ist auch zu berücksichtigen, dass nach den oben dargestellten Erkenntnismitteln Verfolgungshandlungen nicht immer nur tatsächlich homosexuell veranlagte Menschen treffen. Vielmehr wird der Vorwurf der Homosexualität auch häufig eingesetzt, um eine Person öffentlich zu diskreditieren oder zu beseitigen. Diese Möglichkeit besteht jedoch potentiell bei jedem erwachsenen Einwohner Kameruns unabhängig von seiner sexuellen Ausrichtung. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine homosexuell veranlagte Person auch ohne handfeste Beweise aufgrund bloßer Verdächtigungen oder aufgrund einer Denunzierung durch Nachbarn, Bekannte oder Kollegen einer Verfolgungshandlung ausgesetzt wird, höher als bei nicht homosexuell veranlagten Menschen. Insgesamt ist jedoch auch dann keine solche Verfolgungsdichte gegeben, dass allein aufgrund des Merkmals der Homosexualität von einer Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann.
113 
(2) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
114 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Kamerun geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
115 
cc) Jedoch ist hinsichtlich des Klägers nach einer individuellen Prüfung davon auszugehen, dass ihm von staatlicher Seite - weiterhin - Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG drohen. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass er bereits einmal derartige staatliche Verfolgungshandlungen erlitten hat. Insoweit kommt ihm die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zu Gute. Daher kann hier dahinstehen, ob dem Kläger auch unabhängig von einer Vorverfolgung nach einer bloßen Würdigung der übrigen in seiner Person vorliegenden Umstände bei einer Rückkehr nach Kamerun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde (zum Maßstab vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
116 
(1) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger wegen seiner Homosexualität bereits einer diskriminierenden Strafverfolgung unterzogen wurde (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Der Kläger war bis zu seiner Flucht für zehn Tage in einer Polizeistation inhaftiert. Er hat für den Senat glaubhaft angegeben, dass er dort verhört worden sei. Außerdem sei einer der Bewohner des Stadtviertels, in dem der Vorfall passiert sei, als Zeuge vernommen worden. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass der Kläger auf der Straße seinen Freund M... begrüßt, umarmt und geküsst habe. Nach der Begrüßung sei der Kläger mit M... in die Wohnung eines weiteren Freunds gegangen, in der eine Feier stattgefunden habe. Kurz darauf seien Nachbarn mit Schlagstöcken in die Wohnung eingedrungen und hätten gesagt, dies sei ein Haus von Homosexuellen. Die Polizei sei ebenfalls eingetroffen. Er habe aus der Wohnung fliehen können. Ein Polizist habe jedoch das Taxi, mit dem er habe wegfahren wollen, gestoppt und ihn festgenommen. Die diesbezüglichen Angaben des Klägers im Rahmen der verschiedenen Anhörungen sind im Wesentlichen konstant und detailreich, so dass der Senat davon ausgeht, dass der Kläger der Wahrheit entsprechend berichtete. Hierfür spricht auch, dass der Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung immer in der Lage war, auf die Fragen des Senats und der Beklagten-Vertreterin spontan, anschaulich und nachvollziehbar zu antworten, sodass der Senat ein plastisches Bild von den behaupteten Geschehnissen gewinnen konnte.
117 
Homosexuelle Handlungen sind nach Art. 347bis Code Pénal der Republik Kamerun mit Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren belegt (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 12). Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.). Zudem genügen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig nicht den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
118 
(2) Nach Überzeugung des Senats wurde der Kläger, der sich wegen des Vorwurfs der Homosexualität nicht festnehmen lassen wollte, außerdem von einem Polizisten verprügelt und an der Lippe verletzt. Die Verletzung an der Lippe hat der Kläger glaubhaft mit einem Foto dokumentiert. Auch war immer noch eine Narbe an der Lippe erkennbar. Er hat dazu plausibel und überzeugend ausgeführt, das Foto sei von dem behandelnden Arzt gefertigt und auf Bitten des Klägers an einen Freund per Mail geschickt worden. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger ebenfalls angegeben, den ihn behandelnden Arzt über den Vorfall informiert zu haben. Der Arzt habe ein Foto von ihm gemacht. Er habe den Arzt gebeten, einen Freund zu informieren.
119 
Mithin hat der Kläger wegen seiner Homosexualität auch physische Gewalt erlitten (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Die körperliche Verletzung des Klägers durch einen Polizisten ist dem Staat Kamerun zurechenbar. So kann es zwar bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können. Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 40, m.w.N.). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Misshandlungen und Schikane durch Gefängniswärter, Polizisten und Angehörige des Geheimdienstes in der Praxis häufig vorkommen. Übergriffe der Sicherheitskräfte werden in der Regel nicht angemessen verfolgt (vgl. auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 7 f. und 14).
120 
dd) Des Weiteren bestehen gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird. Der Senat legt seiner Beurteilung dabei folgende Erkenntnislage zugrunde:
121 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 auf die diesbezügliche Frage des Senats ausgeführt:
122 
„Eine homosexuelle Person, die bereits wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen angeklagt wurde, muss damit rechnen, nach ihrer Rückkehr nach Kamerun verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden. Dabei wirkt sich die Flucht im laufenden Verfahren erschwerend aus, insbesondere wenn die Person aus der Haft geflohen ist. Dieser Umstand wird nicht separat verhandelt, sondern wirkt sich kumulativ auf das Strafmaß aus. Entsprechend Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs kann das Strafmaß zusätzlich um drei Monate bis ein Jahr Gefängnis erhöht werden.
123 
Homosexuelle Gefangene oder solche, die dafür gehalten werden, leiden nicht nur an unmenschlichen Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen wie Überbelegung, schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder medizinischer Versorgung und unzureichender Essensausgabe. Sie sind davon in besonderem Maße betroffen, da die meisten von ihnen von ihren Familien verstoßen wurden, diese sie daher nicht mit Essen oder Geld versorgen, um z.B. ein Bett und notwendige Medikamente zu erhalten oder Arztkosten zu begleichen.“
124 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft vom 07.11.2012 ausgeführt:
125 
„Rückkehrgefährdung. Für homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit vor einer Verurteilung ins Ausland geflüchtet sind, besteht das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft bei deren Rückkehr nach Kamerun ein Strafverfahren gegen sie einleitet. Die Tatsache der Landesausreise wird dabei nicht als separates Vergehen behandelt, sondern als erschwerender Umstand gewertet. Teilweise werden Suchbefehle (avis de recherche) für Personen ausgestellt, für die ein Verdacht auf homosexuelle Handlungen vorliegt, dies ist allerdings nicht immer die übliche Praxis. Der betroffenen Person droht unter Umständen, zusätzlich zu der Strafverfolgung aufgrund ihrer sexuellen Identität, auch eine Strafe aufgrund ihrer vergangenen Flucht vor der Verurteilung. Das Strafmaß für Flucht aus Inhaftierung liegt gemäß Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs zwischen drei Monaten und bis zu einem Jahr Gefängnis.“ (Ebenso: SFH, Gutachten vom 14.03.2007, S. 7; SFH, Auskunft vom 06.10.2009, S. 6 f.).
126 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 mitgeteilt:
127 
„Eine ausstehende Strafverfolgung aus dem Jahr 2011 wird nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes weiterhin aktuell sein und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Rückkehr der Person nach Kamerun wieder aufleben.
128 
Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass derzeit in der Praxis nur die Fälle zu tatsächlichen Gefängnisstrafen führen, bei denen die Beschuldigten durch ihr Verhalten für Aufruhr in der Bevölkerung sorgen.“
129 
Auf der Grundlage dieser weitgehend übereinstimmenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, dass der Kläger damit rechnen muss, bei seiner Rückkehr verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden und eine Haftstrafe verbüßen zu müssen. Dies gilt auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes. Denn das Verhalten des Klägers, das für seine Festnahme ursächlich war, hat zu Aufruhr in der Bevölkerung geführt.
130 
Ein etwaiges Vermeidungsverhalten des Klägers wäre im Falle seiner Rückkehr im Übrigen schon mit Blick auf die festgestellte Vorverfolgung unerheblich (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2000, a.a.O., Rn. 74).
131 
ee) Der Kläger kann bei seiner Rückkehr auch nicht auf eine derzeit bestehende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden. Es ist auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnislage nicht ersichtlich, in welchem Landesteil sich der Kläger angesichts der noch ausstehenden Strafverfolgung aufhalten bzw. in welchen er überhaupt unbehelligt einreisen kann. Jedenfalls liegen insoweit keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass ihm eine solche Fluchtalternative zur Verfügung steht.
II.
132 
Das Verwaltungsgericht hat auch über die Anfechtungsklage des Klägers zutreffend entschieden und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 15.03.2012 zu Recht aufgehoben. Denn die dort enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
133 
Auf die in erster Instanz hilfsweise geltend gemachten Verpflichtungsanträge auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, die in der Berufungsinstanz anwachsen würden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 19/96 -, BVerwGE 104, 260; Kuhlmann, in: Wysk , VwGO, 2011, § 129 Rn. 2), kommt es daher nicht mehr an.
III.
134 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
135 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
19 
Die Berufung hat keinen Erfolg.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) der Beklagten ist nicht begründet.
I.
21 
Der Kläger hat auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Kamerun vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG und § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung wird in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG modifiziert. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Kamerun eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen bzw. auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Kamerun gegeben. In Kamerun ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Kamerun nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen bzw. im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger - zumindest auch - homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Das Vorbringen des Klägers zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie zu seinem Sexualverhalten machte auf den Senat den Eindruck, dass er von selbst Erlebtem berichtet. Der Kläger hat angegeben, seit dem Jahr 2000 - also im Alter von 23 Jahren - gemerkt zu haben, dass er „sich mit Männern besser fühle“. Davor sei er zwar auch mit Frauen ausgegangen und habe etwas mit Frauen gehabt. Der Wechsel sei jedoch ein natürlicher Vorgang gewesen. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger dazu angegeben, dies sei keine allmähliche Entwicklung gewesen. Sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Senat hat der Kläger angegeben, M...-... sei seine erste homosexuelle Beziehung gewesen, sie habe seit dem Jahr 2000 bis zur Ausreise im Jahr 2011 angedauert. Vor seiner Verhaftung am 11.02.2011 habe er ihn nicht zum ersten Mal öffentlich geküsst. Dies sei ein Reflex, den man nicht kontrollieren könne. Allerdings habe man nicht zusammengelebt. Nach seiner Flucht habe er M... von der Elfenbeinküste aus eine E-Mail geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Er habe seit dem Vorfall keinen Kontakt mehr mit ihm. Vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, er habe mit M... keinen Kontakt mehr, weil er keine Handynummer von ihm besitze. Diese Angabe ist plausibel, weil der Kläger in seiner Anhörung in anderem Zusammenhang angegeben hat, die Polizei habe ihm sein Portemonnaie sowie sein Handy weggenommen. In Deutschland hatte der Kläger nach eigenen Angaben nur eine kurze Beziehung zu einer Person außerhalb Baden-Württembergs. Allerdings ist auch hier angesichts des ländlichen Wohnorts des Klägers und seiner Sprachschwierigkeiten nachvollziehbar, dass er es trotz der Freiheit in Deutschland schwer hat, eine neue homosexuelle Beziehung zu finden. Für den Senat glaubhaft hat der Kläger weiter angegeben, in Kamerun hätten seine Arbeitskollegen nichts von seiner Homosexualität gewusst, nur einige Freunde. Seine Familie in Douala habe zunächst nur vermutetet, dass er homosexuell sei. Nach seiner Festnahme am 11.02.2011 hätten sie es jedoch erfahren. Gleichwohl hätten sie ihn nicht verstoßen. Er sei weiterhin in der Nachfolge seines Vaters der „Chef“ der Familie bzw. des Clans. Die Blutsbande seien insoweit stärker. Probleme mit der Polizei habe er bis zum Vorfall vom 11.02.2011 nicht gehabt.
52 
Der Senat geht vor diesem Hintergrund weiter davon aus, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Kamerun wie bisher verhalten wird und dass dies für seine Identität besonders wichtig ist.
53 
b) Von diesen persönlichen Verhältnissen und einem daraus abzuleitenden wahrscheinlichen Verhalten des Klägers ausgehend droht ihm von staatlicher Seite derzeit Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG, insbesondere in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
54 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens bzw. des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellten, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
55 
Bei der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten bzw. öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
56 
bb) Dem Kläger droht eine solche Verfolgung allerdings nicht - wie das Verwaltungsgericht der Sache nach angenommen hat - schon allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Gruppe der Homosexuellen in Kamerun.
57 
(1) Denn nach derzeitiger Erkenntnislage unterliegen Homosexuelle in Kamerun wegen des Fehlens der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte keiner Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
58 
(a) In den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wird zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG durch den Staat Kamerun wegen Homosexualität Folgendes ausführt:
59 
Art. 347bis Code Pénal sieht bei gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis 5 Jahren und eine Geldstrafe zwischen 20.000 und 200.000 CFA-Francs BEAC (etwa 30 bis 300 EUR) vor (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012; Auskunft von Amnesty International - AI - an den Senat vom 13.12.2012; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - an den Senat vom 07.11.2012, S. 1). Die Regierung hat wohl angekündigt, das Strafgesetzbuch dahingehend zu verschärfen, dass gegen Personen wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren Gefängnis und eine Geldstrafe in Höhe von bis zu zwei Millionen CFA-Francs BEAC (ca. 3.050 EUR) verhängt werden kann. Allerdings hat sie das Vorhaben bisher nicht umgesetzt. Es haben nach der Ankündigung des ehemaligen Justizministers im Jahr 2011 keine weiteren Debatten dazu stattgefunden (SFH, Auskunft vom 07.11.2012, S. 1 f.; AI, Auskunft vom 06.12.2012).
60 
Soweit homosexuelle Personen diskret leben, wird dies nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012 von der Gesellschaft zumeist - zumindest in den urbanen Gebieten (Yaoundé, Douala, Bamenda) - toleriert und von den Strafverfolgungsbehörden erst verfolgt, wenn eine Anzeige erstattet wird. Wer Homosexualität dagegen öffentlich lebt, läuft dringende Gefahr, dafür seitens der Strafverfolgungsbehörden bestraft zu werden zu werden. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 wird Homosexualität in Einzelfällen verfolgt. Verurteilungen stehen oft in Verbindung mit anderen Straftaten wie etwa Bestechung oder - aus dem Bereich der „Offenses Sexuelles“ - die Verletzung des Schamgefühls Dritter im privaten Bereich, was den Tatbestand der Nötigung miteinschließt („Outrage privé à la pudeur“, Art. 295). Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen sind zwar selten, kommen jedoch vor. Zumeist führen Denunziation oder üble Nachrede zu diesen Festnahmen. Am 26.03.2010 wurden in der Lobby eines großen Hotels in Duala ein australischer Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die für Rechte von Homosexuellen eintritt, sowie zwei Kameruner von Polizisten in Zivil festgenommen. Der Vorwurf, gegen Art. 347bis des kamerunischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben, ließ sich nach Augenzeugenberichten nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz wurden die drei Männer in Haft genommen und erst drei Tage später aufgrund der Intervention der Menschenrechtsanwältin Alice Nkom wieder freigelassen. Es ist in Kamerun nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.12.2012 weiter nicht unüblich, unzutreffenden Vorwürfen ausgesetzt zu werden. Dies ist ein beliebtes Mittel, eine Person zu diffamieren und zu schwächen. Dabei wird häufig der Vorwurf der Korruption verwendet; aber auch der Homosexualität. Eine statistische Aussage über die Häufigkeit kann naturgemäß nicht getroffen werden. Sie hält sich jedoch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Bereich von weniger als zehn Fällen landesweit pro Jahr.
61 
Zur Praxis der Strafverfolgung hat Amnesty International am 13.12.2012 Folgendes mitgeteilt:
62 
„Seit 2005 werden in Kamerun Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Orientierung zunehmend Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Inhaftierungen und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen. Die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker äußerte im Mai 2005 ihre große Sorge über die wachsende Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten in Kamerun.
63 
Auch bei bloßer, unbestätigter Homosexualität droht in Kamerun Strafverfolgung, wenn Menschen nach Ansicht ihrer Umwelt zum Beispiel Kleidung tragen oder Verhaltensweisen und Eigenschaften zeigen, die nicht ihrem Geschlecht entsprechen. Dabei ist es unerheblich, welche sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität sie tatsächlich haben. Solche Menschen werden diskriminiert, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt und werden häufig von Menschen ihrer Umgebung angezeigt und von der Polizei willkürlich festgenommen. Angehörige der Polizei werden bei jedem Hinweis auf Homosexualität aus der Bevölkerung tätig.
64 
Da gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen nach dem Strafgesetzbuch von Kamerun eine Straftat darstellen, bleibt Homosexuellen in Kamerun nur die Möglichkeit, so zu leben, dass ihre sexuelle Orientierung oder Identität in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird. Sie müssen in ständiger Angst vor Denunziation oder weiterer Verfolgung leben.
65 
Es ist Homosexuellen in Kamerun de facto nicht möglich, ihre sexuelle Orientierung offen zu leben. Festnahme und gerichtliche Verfolgung sind ihnen gewiss. Ihnen drohen angesichts der sehr weitverbreiteten Homophobie in der Gesellschaft weitreichende Ausgrenzung sowie gewalttätige körperliche oder psychische Übergriffe seitens der staatlichen Behörden, der Bevölkerung, des Gefängnispersonals und der Sicherheitskräfte.
66 
Laut Strafgesetzbuch sind lediglich gleichgeschlechtliche Handlungen verboten. In der Praxis wird das Gesetz jedoch wesentlich weiter ausgelegt. So werden die meisten Betroffenen allein aufgrund ihrer vermuteten sexuellen Orientierung verfolgt, angeklagt und verurteilt. In kaum einem Fall gibt es Zeugenaussagen über mutmaßliche gleichgeschlechtliche Handlungen.
67 
Rechtsstaatliche Prinzipien werden bei den Verfahren nicht hinreichend beachtet. So erfolgt beispielsweise keine ordentliche Beweisaufnahme. Die Anklageerhebung erfolgt nicht entsprechend der Strafprozessordnung Kameruns: So befinden sich verdächtige Personen z.T. mehrere Monate oder Jahre ohne Anklageerhebung oder Anhörung in Untersuchungshaft. Verurteilte Inhaftierte werden mitunter auch nach Ende ihrer Haftstrafe weiterhin im Gefängnis festgehalten. Die Richter unterliegen politischer Einflussnahme und Korruption.
68 
In einigen Fällen werden im Gewahrsam durch psychische oder körperliche Folter und andere Formen der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung Geständnisse erpresst. Hierfür sind z.B. Schläge auf die Fußsohlen im Polizeigewahrsam üblich. Immer wieder berichten homosexuelle Männer, dass sie unter Zwang einer medizinischen Analuntersuchung unterzogen werden, die Folter und anderen Formen von grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen kann und gegen die Achtung der Privatsphäre verstößt.“…
69 
„Da der bloße Verdacht auf Homosexualität für eine Anklage reicht, macht es keinen Unterschied, ob Homosexualität diskret oder indiskret gelebt wird.“…
70 
„Amnesty International verfügt über keine vollständige Liste von Personen, die Opfer von Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Begründung ihrer mutmaßlichen sexuellen Orientierung wurden.“ … „Im Zeitraum März 2011 bis März 2012 wurden 17 Menschen festgenommen, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Die Zahl ist steigend.“
71 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 ergibt sich, dass Human Rights Watch Präsident Biya aufgefordert hat, etwas gegen die andauernden Todesdrohungen gegen zwei Menschenrechtsanwälte, Alice Nkom und Michel Togué, zu unternehmen, die Personen vertreten, die wegen angeblicher Homosexualität angeklagt sind.
72 
Aus einer weiteren „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 14.01.2013 ergibt sich, dass in einem Revisionsverfahren am 07.01.2013 in der Hauptstadt Yaoundé zwei Männer vom Vorwurf der Homosexualität freigesprochen wurden. Sie waren im Juli 2011 festgenommen und im November 2011 wegen Homosexualität zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil war 2011 u.a. damit begründet worden, dass die beiden Frauenkleider getragen hätten. Wie Human Rights Watch im Oktober 2012 berichtete, verbüßten zu diesem Zeitpunkt mindestens vier Personen Haftstrafen wegen Homosexualität. 2011 seinen 14 Personen deswegen angeklagt und 12 davon verurteilt worden.
73 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamts vom 27.02.2012 ergibt sich, dass erstmals drei Frauen wegen der Vornahme von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen angeklagt wurden.
74 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 zur Strafverfolgungspraxis Folgendes ausgeführt:
75 
„Missachtung der gesetzlichen Grundlagen. In der Praxis werden Personen willkürlich aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen. 2011 wurden laut Angaben von Amnesty International und des US Department of State zehn bis dreizehn Personen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftet. Eine Mehrheit dieser wurde nicht in flagrante delicto ertappt, wie es Art. 347bis des Strafgesetzbuchs vorschreibt, sondern lediglich aufgrund der Vermutung inhaftiert, dass sie homosexuelle Beziehungen unterhalten. Oftmals wurden die rechtlichen Vorgaben doppelt missachtet, einerseits Personen ohne ausreichende Beweislage in Bars oder ihren Häusern verhaftet, und zudem erfolgte dies ohne den benötigten Haftbefehl. Regelmäßig werden Männer festgenommen, weil sie Makeup oder feminine Kleidung tragen, die nicht den traditionellen kamerunischen Kleidern entsprechen, oder weil sie allgemein ein feminines Aussehen haben. Um eine homosexuelle Orientierung nachzuweisen, wird bei manchen Männern eine Analuntersuchung richterlich angeordnet, um Penetration vermeintlich nachweisen zu können. Sowohl Frauen als auch Männer werden in Untersuchungshaft auf verschiedenste Art und Weise, etwa durch Schläge auf die Fußsohlen, dazu gebracht, ihre Homosexualität zu gestehen.
76 
Verurteilungen gemäß Art. 347bis. Im November 2011 wurden drei Männer wegen „homosexueller Handlungen“ für schuldig befunden und erhielten eine Gefängnisstrafe von je fünf Jahren. Drei weitere Männer und eine Frau, welchen vorgeworfen wurde, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu führen, waren im August 2011 verhaftet worden und warteten am Jahresende noch immer in Haft auf die Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Amnesty International nennt weitere Personen, die wegen vermeintlichen homosexuellen Handlungen festgenommen und daraufhin vorläufig frei gelassen wurden. Zum Teil wurden diese Personen in die Falle gelockt von Spitzeln und Angehörigen der Sicherheitskräfte, die mit ihnen Kontakt aufnahmen und vortäuschten, homosexuell zu sein. Ein prominenter Fall ist der von Jean-Claude Mbede, der am 28. April 2011 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, nachdem er eine als verdächtig erachtete SMS an einen Bekannten geschickt hatte. Der Bekannte gab vor, sich mit Mbede verabreden zu wollen, zeigte die SMS aber der Polizei, welche Mbede daraufhin bei der vermeintlichen Verabredung auflauerte und festnahm. Im August und September 2011 gab sich ein Hochstapler auf von Homosexuellen rege benutzten sozialen Netzwerken als schwul aus, verabredete sich mit mindestens drei Männern und übergab sie dann umgehend der Polizei. Die verhafteten Männer wurde gezwungen, Schmiergelder zu bezahlen, welche sich der Betrüger und die Polizisten unter einander aufteilten.
77 
Gefängnisbedingungen. Die Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen als inhuman und sogar lebensbedrohlich beschrieben. Zellen sind chronisch überbelegt und verdreckt, Betten und sanitäre Anlagen sind ungenügend vorhanden, Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte und Folter sind weit verbreitet. Inhaftierte homosexuelle Personen werden in den Gefängnissen oft Opfer von Diskriminierung, Schlägen, verbaler und sexueller Gewalt durch andere Häftlinge oder Gefängniswärter. Jugendliche, die angeklagt sind, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, erhalten in Hafteinrichtungen nicht den für Minderjährige verlangten Schutz. Einem jungen homosexuellen Mann, der 2005 inhaftiert und im Gefängnis vergewaltigt wurde, wurde zudem der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung verwehrt. Er starb wenige Tage nach seiner Entlassung an den Folgen einer unbehandelten AIDS-Erkrankung.“
78 
(b) Zu von Seiten nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG drohenden Verfolgungshandlungen enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
79 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 ausgeführt:
80 
„Zugehörige der LGBT-Gemeinschaft (erg.: Abkürzung für Lesbian, Gays, Bisexual, Transgender) werden in Kamerun regelmäßig zu Opfern von Belästigung und Erpressung, sowohl von Seiten der Zivilbevölkerung als auch Polizeibeamten und anderen Gesetzeshütern. In Folge dessen sind sie gezwungen, sich unauffällig zu verhalten und ihre sexuelle Identität zu verstecken, indem sie zumeist in heterosexuellen Beziehungen leben. Oftmals sind es Personen im unmittelbaren Umfeld der Opfer, wie zum Beispiel Nachbarn, Vermieter oder Bekannte, welche sie anzeigen und ihnen Homosexualität vorwerfen.
81 
Seit einer homophoben Predigt des Erzbischofs von Yaoundé, Victor Tonyé Bakot, im Dezember 2005, hat sich die Situation für homosexuelle Menschen in Kamerun weiter verschlechter. Als Folgen von Tonyé Bakots Predigt starteten 2006 drei kamerunische Zeitungen eine Hetzkampagne und publizierten Listen mit Namen und Fotos von 'verdächtigen Homosexuellen', viele davon namhafte Politiker und Geschäftsführer. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, weitere Homosexuelle anzuzeigen. Am 1. Januar 2010 hat der Erzbischof von Yaoundé erneut in einer öffentlichen Rede homosexuelle Kameruner angeprangert, deren 'unmoralische' Aktivitäten 'gegen christliche Sitten verstoßen' und die deshalb in katholischen Kirchen nicht willkommen seien. Homosexualität wird im öffentlichen Diskurs als 'unafrikanisch' und allgemeines Grundübel der Gesellschaft bezeichnet. Die damit verbundenen Assoziationen sind mannigfaltig, sie reichen von sozialen Problemen wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenkonsum zu Infektionen und gesundheitlichen Beschwerden, Hämorrhoiden und Inkontinenz. Regelmäßig werden sowohl von Privatpersonen als auch Regierungsangehörigen Vorwürfe von vermuteter Homosexualität benutzt, um Rufmordkampagnen gegen politische Gegner durchzuführen oder Geld zu erpressen.“…
82 
„Fehlender staatlicher Schutz vor Übergriffen. Kameruns Justizsystem ist politisch beeinflussbar, ineffizient und chronisch korrupt. Nur begrenzt wird gegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte, der Polizei und der Gendarmerie vorgegangen, und auch bei Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung existiert eine hohe Straflosigkeit. Justizbehörden sind außerdem nicht in der Lage, die Sicherheit von inhaftierten Personen in Gefängnissen zu gewährleisten. Laut Angaben einer Kontaktperson vor Ort bietet der kamerunische Staat Angehörigen von sexuellen Minderheiten keinerlei Schutz vor Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung. Aus Angst, die Täter könnten der Polizei ihre sexuelle Identität offenbaren, verzichten Homosexuelle oftmals auch darauf, Anzeige bei Verbrechen wie Diebstahl, Raub oder Belästigung zu erstatten. Der kamerunische Soziologe Charles Gueboguo hält es für eine bewusste Strategie der kamerunischen Regierung, Homosexuellen keinen Schutz vor Übergriffen zu bieten oder sich gegen die weit verbreitete Homophobie einzusetzen, da dies von anderen wesentlichen Problemen Kameruns wie der stetig steigenden Armut ablenkt. Mit der prekären sozioökonomischen Lage Kameruns ist 'queer bashing' so zu einer legitimen Haltung avanciert, welche der Bevölkerung ein Ventil für andere Sorgen zu bieten scheint.
83 
LGBT-Aktivisten und -Organisationen. Es gibt eine Anzahl von Organisationen in Kamerun, die sich für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft einsetzen…. Die Diskriminierung von Personen, die in LGBT-Organisationen tätig sind, ist jedoch weit verbreitet, und Aktivisten setzen sich aufgrund ihres Engagements großen Risiken aus. …“.
84 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 zu den von privater Seite drohenden Gefahren und zu eventuellem Schutz durch staatliche Stellen Folgendes ausgeführt:
85 
„Die bloße, unbetätigte Veranlagung wird von der Gesellschaft in weiten Teilen toleriert. Homosexuelle können ihre Veranlagung jedoch nicht öffentlich leben. Auch die diskrete Lebensweise wird allenfalls geduldet. Oft weiß man davon, 'schaut aber weg'. Wer Homosexualität offen lebt, läuft dringend Gefahr, Opfer von Diskriminierung bis hin zu physischer Gewalt zu werden. Die großen Kirchen haben sich ausdrücklich gegen die Akzeptanz von Homosexualität ausgesprochen. Diese Haltung spiegelt die der Gesellschaft wider. In den Augen des allergrößten Teils der Gesellschaft ist Homosexualität widernatürlich und krank. Der Staat schützt nach dem Gesetz jeden Bürger gleichermaßen. In der Lebenswirklichkeit in Kamerun wird die Polizei jedoch die von privater Seite drohenden Gefahren für eine Zeitlang in Kauf nehmen und erst auf medialen Druck einschreiten.“
86 
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 ist ausgeführt (S. 12):
87 
„Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Homosexualität in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch gebracht, geächtet und verurteilt. Fast alle gesellschaftliche Gruppen, auch zahlreiche Kirchen, an prominenter Stelle auch Vertreter der katholischen Kirche, setzen sich für ein strikteres staatliches Vorgehen gegen Homosexuelle ein. Die Freiheit der sexuellen Orientierung ist nicht als Menschenrecht anerkannt.“
88 
Amnesty International hat in seiner Auskunft an den Senat vom 13.12.2012 Folgendes ausgeführt:
89 
„Züchtigung und Bestrafung durch Mitglieder der Familie, Verstoß aus der Familie, Schuldzuweisungen wie Verdächtigung der Hexerei und Magie sowie Denunzierung durch Angehörige und Bekannte sind hochwahrscheinlich… Religiöse Führer und Medien rufen immer wieder zur Ablehnung und Verfolgung von Homosexualität auf. So veröffentlichten die Zeitungen ‚L’Anecdote‘ und 'Nouvelle Afrique' 2006 eine Liste mit Namen von mutmaßlichen Homosexuellen. Im Juni 2012 schrieb der katholische Geistliche Moses Tazoh in der Zeitung ‚L’Effort camerounais‘, dass die Kirche Homosexualität als widernatürliches, abnormales Verhalten ablehne. Immer wieder wird Homosexualität auch mit Pädophilie gleichgesetzt.
90 
Im Dezember 2011 wurden vier Studenten in Kumba (Südwestregion) von einem jungen Mann beschuldigt, homosexuell zu sein, nachdem er versucht hatte, Geld von ihnen zu bekommen. Da die Studenten ihm dieses Mal kein Almosen gaben, alarmierte der Mann die Nachbarschaft. Daraufhin schlugen und traten Nachbarn die Studenten, so dass sie später medizinisch behandelt werden mussten. Einer der Studenten wurde anschließend von seinem Schwager zur Polizeiwache gebracht und als homosexuell denunziert. Polizeibeamte misshandelten ihn und versuchten, das Geständnis zu erpressen, dass er gleichgeschlechtlichen Sex mit einem seiner Freunde hatte. Die vier Studenten wurden in Polizeigewahrsam genommen und nach neun Tagen in Untersuchungshaft verlegt. Das Gerichtsverfahren ist weiter anhängig. Inzwischen wurden die Männer auf Kaution vorläufig freigelassen.
91 
Von staatlicher Seite können Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören, keinerlei Schutz erwarten. Die meisten homosexuellen Personen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, haben Angst, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Sie gehen davon aus, dass die Täter nicht bestraft werden und viele Angehörige der Polizei und der Sicherheitskräfte korrupt sind, Anzeigen nicht weiterleiten und selber gewalttätige Übergriffe an vermeintlichen Homosexuellen verüben…. Regierungsvertreter Kameruns und staatliche Sicherheitskräfte befürworten öffentlich, gezielt gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen vorzugehen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen engagieren, und sie zu attackieren…. Die allgegenwärtigen Vorurteile gegen LGBTI-Personen, die in Gesetz und Praxis zementiert werden, schaffen ein Umfeld, in dem die Bevölkerung oft zu Recht glaubt, dass sie LGBTI-Personen mit Straffreiheit diskriminieren kann. Am 27. Juni 2011 wurden beispielsweise zwei junge Frauen in der Zeitung „New Bell District Douala“ von ihren Familienangehörigen der Beteiligung an einer gleichgeschlechtlichen Beziehung bezichtigt. In der Folge gab es Übergriffe auf die Frauen. Aus Angst um das Leben der beiden Frauen riefen einige Familienmitglieder die Polizei. Jedoch wurden die Frauen verhaftet und später freigelassen. Die Behörden haben keine Maßnahmen gegen die Täter ergriffen.“
92 
(c) Zur Frage, ob in Kamerun eine Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 RL 2004/83/EG besteht, enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
93 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft an den Senat vom 06.12.2012 mitteilt:
94 
„Es gibt in Kamerun geographische und soziale Unterschiede. Im ländlichen Bereich sowie im eher muslimischen Norden werden Homosexuelle eher Schwierigkeiten haben als in urbanen Gebieten. In den Metropolen Jaounde und Douala gibt es informelle Treffpunkte, wo Homosexuelle zusammenkommen. Einblick in die Oberschicht wird in dieser Frage Außenstehenden jedoch nicht gewährt. Die Hinweise auf bestehende einschlägige Institutionen und Treffen sind jedoch allgegenwärtig und glaubwürdig.“
95 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Stellungnahme vom 07.11.2012 an den Senat ausgeführt:
96 
„Nach Angaben einer Kontaktperson vor Ort gibt es keine spezifischen sozialen Kreise oder Regionen, in denen sexuelle Minderheiten weniger stigmatisiert und marginalisiert sind. Die Konzentration von LGBT-Organisationen auf gewisse Städte führe aber dazu, dass Homosexuelle nur in diesen Regionen Zugang zu Aktivitäten zur Verteidigung der Rechte als sexuelle Minderheiten und zu juristischer Vertretung haben. Als Folge stammt die Mehrheit der dokumentierten Fälle von Inhaftierungen und Verurteilungen aus diesen urbanen Gegenden. Tatsächlich fanden die Mehrheit der seit 2005 dokumentierten Verhaftungen in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé und in der verhältnismäßig liberalen Stadt Douala im Südwesten Kameruns statt. Drei Frauen wurden außerdem im ländlichen Grenzdorf Ambam im Süden Kameruns verhaftet. Human Rights Watch berichtet weiter von einer Anzahl von Personen, die in Gefängnissen in Buea und Ebolowa inhaftiert sind, zwei Städten ebenfalls im Südwesten Kameruns.
97 
Bildungsbereich. Homophobie und Stigmatisierung beruhen auch im Bildungsbereich, wo homosexuelle Personen teilweise von Schulen und Universitäten gewiesen werden. So wurde beispielsweise ein junger Mann nach Beendigung seiner Haftstrafe von der Universität, an der er Informatik studierte, ausgeschlossen. Er war im Mai 2005 während einer Razzia in einem Nachtklub in Yaoundé festgenommen und neun Monate später unter Artikel 347bis zu Freiheitsentzug verurteilt worden.“
98 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 an den Senat Folgendes mitgeteilt:
99 
„Die Gesetze und Rechtsprechung gelten landesweit. In keiner der 17 Regionen Kameruns wird Homosexualität von Amtsträgern oder gesellschaftlich toleriert. Homosexualität kann in keinem Landesteil offen oder diskret gefahrlos gelebt werden, Homosexuelle sind an allen Orten der ständigen Gefahr der Diskriminierung und Denunziation mit entsprechenden Folgen ausgesetzt.
100 
In den Metropolen Yaoundé und Douala sind die Organisationen für die Rechte von LGBTI-Personen und HIV/AIDS-Prävention, die mit LGBTI-Personen arbeiten sowie die wenigen Anwälte für LGBTI-Rechte ansässig. Zusätzlich gibt es in diesen Städten auch einige Treffpunkte für Homosexuelle. Die Möglichkeiten der Kommunikation und der Internetvernetzung sind besser. Daher befindet sich dort die größte LGBTI-Gemeinschaft. Ebenso sind Medien in diesen Städten vertreten. Folglich gibt es in diesen Städten auch mehr Verfolgung von LGBTI-Personen und die größte Zahl an Verhaftungen.
101 
In ländlichen Regionen und kleineren Städten findet Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ebenso statt und es kommt zu Verhaftungen. Es gibt weniger Anonymität. Die Bevölkerung ist in den Familien und lokalen Gemeinschaften sowie in religiösen Gemeinden und durch die Tradition stärker eingebunden. Mutmaßliche Homosexuelle werden zusätzlich der Hexerei und Magie beschuldigt. … Homosexuelle der obersten Elite aus Politik, Wirtschaft und Kultur können aufgrund vorhandener finanzieller Möglichkeiten und Beziehungen diskreter leben als Menschen in der Mittel- und Unterschicht. Gleichwohl gab es seit 2005 auch öffentliche Anschuldigungen von Homosexualität gegen bekannte Persönlichkeiten. Bislang ist Amnesty International jedoch kein Fall bekannt, in dem eine dieser Beschuldigungen zu einer Festnahme oder Anklageerhebung geführt hätte. … Der Zugang zur Justiz ist Personen aus der Unterschicht und Mittelschicht dagegen wegen hoher Kosten und langwieriger Prozesse verwehrt. Ferner verlieren sie jeglichen gesellschaftlichen und familiären Rückhalt. Der Beispielsfall verdeutlicht auch, dass Denunzierungen genutzt werden, um Menschen zu schädigen, da Vorwürfe von Homosexualität mit Rufmord gleichzusetzen sind. Es wird versucht, politische Gegner mit diesem Mittel auszuschalten.“
102 
(d) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Kamerun im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Kamerun mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
103 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb als solche öffentlich bemerkbar sind, kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist von einem erheblichen Risiko auszugehen, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln (vgl. zusätzlich den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7) ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
104 
Außerdem ist es beachtlich wahrscheinlich, dass Homosexuelle, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar sind, auch von privater Seite Verfolgungshandlungen erleiden, wie etwa physische Gewalt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG, ohne dass staatliche Stellen in der Lage oder willens wären, hiervor Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu bieten.
105 
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
106 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
107 
Der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sind in Kamerun jedoch nur gering ausgeprägt (vgl. auch den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7 bis 9), so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Staat Kamerun homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung im Falle von strafrechtlich relevanten Handlungen gegen Homosexuelle ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
108 
Diese Aussagen gelten landesweit; auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen schon wegen (vermuteter) Homosexualität verhaftet oder unterliegen Gewalttaten von nichtstaatlicher Seite.
109 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
110 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
111 
Allerdings kann es auch in Fällen einer im Verborgenen gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte, der die Veranlagung im Verborgenen lebt, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Kamerun zu gering. Die Zahl derjenigen, die wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 347bis Code Pénal verhaftet wurden, liegt im unteren zweistelligen Bereich. Amnesty International geht in seiner Auskunft vom 13.12.2012 davon aus, dass 17 Personen im Zeitraum März 2011 bis März 2012 festgenommen wurden, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Auch die Zahl der berichteten sonstigen körperlichen Übergriffe liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
112 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: 25.02.2013) davon aus, dass in Kamerun geschätzte 20,5 Millionen Menschen leben. Legt man weiter zugrunde, dass davon 40,5 % bis 14 Jahre alt, 20,5 % zwischen 15 und 24 Jahren, 33,8 % zwischen 25 und 59 Jahren und 5,2 % 60 Jahre und älter sind (vgl. die für realistisch befundenen Angaben der Beklagten zur Gesamtbevölkerung) sowie ferner, dass 1 bis 2 % der Frauen und 2 bis 4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“), kommt man für die Bevölkerungsgruppe zwischen 15 und 59 Jahren selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern zu einer Zahl von 100.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen damit lässt die Zahl der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Fälle, die sich im unteren zweistelligen Bereich bewegt, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer körperlichen Verletzung oder einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt. Denn es ist auch zu berücksichtigen, dass nach den oben dargestellten Erkenntnismitteln Verfolgungshandlungen nicht immer nur tatsächlich homosexuell veranlagte Menschen treffen. Vielmehr wird der Vorwurf der Homosexualität auch häufig eingesetzt, um eine Person öffentlich zu diskreditieren oder zu beseitigen. Diese Möglichkeit besteht jedoch potentiell bei jedem erwachsenen Einwohner Kameruns unabhängig von seiner sexuellen Ausrichtung. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine homosexuell veranlagte Person auch ohne handfeste Beweise aufgrund bloßer Verdächtigungen oder aufgrund einer Denunzierung durch Nachbarn, Bekannte oder Kollegen einer Verfolgungshandlung ausgesetzt wird, höher als bei nicht homosexuell veranlagten Menschen. Insgesamt ist jedoch auch dann keine solche Verfolgungsdichte gegeben, dass allein aufgrund des Merkmals der Homosexualität von einer Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann.
113 
(2) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
114 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Kamerun geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
115 
cc) Jedoch ist hinsichtlich des Klägers nach einer individuellen Prüfung davon auszugehen, dass ihm von staatlicher Seite - weiterhin - Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG drohen. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass er bereits einmal derartige staatliche Verfolgungshandlungen erlitten hat. Insoweit kommt ihm die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zu Gute. Daher kann hier dahinstehen, ob dem Kläger auch unabhängig von einer Vorverfolgung nach einer bloßen Würdigung der übrigen in seiner Person vorliegenden Umstände bei einer Rückkehr nach Kamerun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde (zum Maßstab vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
116 
(1) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger wegen seiner Homosexualität bereits einer diskriminierenden Strafverfolgung unterzogen wurde (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Der Kläger war bis zu seiner Flucht für zehn Tage in einer Polizeistation inhaftiert. Er hat für den Senat glaubhaft angegeben, dass er dort verhört worden sei. Außerdem sei einer der Bewohner des Stadtviertels, in dem der Vorfall passiert sei, als Zeuge vernommen worden. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass der Kläger auf der Straße seinen Freund M... begrüßt, umarmt und geküsst habe. Nach der Begrüßung sei der Kläger mit M... in die Wohnung eines weiteren Freunds gegangen, in der eine Feier stattgefunden habe. Kurz darauf seien Nachbarn mit Schlagstöcken in die Wohnung eingedrungen und hätten gesagt, dies sei ein Haus von Homosexuellen. Die Polizei sei ebenfalls eingetroffen. Er habe aus der Wohnung fliehen können. Ein Polizist habe jedoch das Taxi, mit dem er habe wegfahren wollen, gestoppt und ihn festgenommen. Die diesbezüglichen Angaben des Klägers im Rahmen der verschiedenen Anhörungen sind im Wesentlichen konstant und detailreich, so dass der Senat davon ausgeht, dass der Kläger der Wahrheit entsprechend berichtete. Hierfür spricht auch, dass der Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung immer in der Lage war, auf die Fragen des Senats und der Beklagten-Vertreterin spontan, anschaulich und nachvollziehbar zu antworten, sodass der Senat ein plastisches Bild von den behaupteten Geschehnissen gewinnen konnte.
117 
Homosexuelle Handlungen sind nach Art. 347bis Code Pénal der Republik Kamerun mit Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren belegt (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 12). Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.). Zudem genügen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig nicht den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
118 
(2) Nach Überzeugung des Senats wurde der Kläger, der sich wegen des Vorwurfs der Homosexualität nicht festnehmen lassen wollte, außerdem von einem Polizisten verprügelt und an der Lippe verletzt. Die Verletzung an der Lippe hat der Kläger glaubhaft mit einem Foto dokumentiert. Auch war immer noch eine Narbe an der Lippe erkennbar. Er hat dazu plausibel und überzeugend ausgeführt, das Foto sei von dem behandelnden Arzt gefertigt und auf Bitten des Klägers an einen Freund per Mail geschickt worden. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger ebenfalls angegeben, den ihn behandelnden Arzt über den Vorfall informiert zu haben. Der Arzt habe ein Foto von ihm gemacht. Er habe den Arzt gebeten, einen Freund zu informieren.
119 
Mithin hat der Kläger wegen seiner Homosexualität auch physische Gewalt erlitten (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Die körperliche Verletzung des Klägers durch einen Polizisten ist dem Staat Kamerun zurechenbar. So kann es zwar bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können. Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 40, m.w.N.). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Misshandlungen und Schikane durch Gefängniswärter, Polizisten und Angehörige des Geheimdienstes in der Praxis häufig vorkommen. Übergriffe der Sicherheitskräfte werden in der Regel nicht angemessen verfolgt (vgl. auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 7 f. und 14).
120 
dd) Des Weiteren bestehen gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird. Der Senat legt seiner Beurteilung dabei folgende Erkenntnislage zugrunde:
121 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 auf die diesbezügliche Frage des Senats ausgeführt:
122 
„Eine homosexuelle Person, die bereits wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen angeklagt wurde, muss damit rechnen, nach ihrer Rückkehr nach Kamerun verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden. Dabei wirkt sich die Flucht im laufenden Verfahren erschwerend aus, insbesondere wenn die Person aus der Haft geflohen ist. Dieser Umstand wird nicht separat verhandelt, sondern wirkt sich kumulativ auf das Strafmaß aus. Entsprechend Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs kann das Strafmaß zusätzlich um drei Monate bis ein Jahr Gefängnis erhöht werden.
123 
Homosexuelle Gefangene oder solche, die dafür gehalten werden, leiden nicht nur an unmenschlichen Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen wie Überbelegung, schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder medizinischer Versorgung und unzureichender Essensausgabe. Sie sind davon in besonderem Maße betroffen, da die meisten von ihnen von ihren Familien verstoßen wurden, diese sie daher nicht mit Essen oder Geld versorgen, um z.B. ein Bett und notwendige Medikamente zu erhalten oder Arztkosten zu begleichen.“
124 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft vom 07.11.2012 ausgeführt:
125 
„Rückkehrgefährdung. Für homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit vor einer Verurteilung ins Ausland geflüchtet sind, besteht das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft bei deren Rückkehr nach Kamerun ein Strafverfahren gegen sie einleitet. Die Tatsache der Landesausreise wird dabei nicht als separates Vergehen behandelt, sondern als erschwerender Umstand gewertet. Teilweise werden Suchbefehle (avis de recherche) für Personen ausgestellt, für die ein Verdacht auf homosexuelle Handlungen vorliegt, dies ist allerdings nicht immer die übliche Praxis. Der betroffenen Person droht unter Umständen, zusätzlich zu der Strafverfolgung aufgrund ihrer sexuellen Identität, auch eine Strafe aufgrund ihrer vergangenen Flucht vor der Verurteilung. Das Strafmaß für Flucht aus Inhaftierung liegt gemäß Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs zwischen drei Monaten und bis zu einem Jahr Gefängnis.“ (Ebenso: SFH, Gutachten vom 14.03.2007, S. 7; SFH, Auskunft vom 06.10.2009, S. 6 f.).
126 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 mitgeteilt:
127 
„Eine ausstehende Strafverfolgung aus dem Jahr 2011 wird nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes weiterhin aktuell sein und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Rückkehr der Person nach Kamerun wieder aufleben.
128 
Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass derzeit in der Praxis nur die Fälle zu tatsächlichen Gefängnisstrafen führen, bei denen die Beschuldigten durch ihr Verhalten für Aufruhr in der Bevölkerung sorgen.“
129 
Auf der Grundlage dieser weitgehend übereinstimmenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, dass der Kläger damit rechnen muss, bei seiner Rückkehr verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden und eine Haftstrafe verbüßen zu müssen. Dies gilt auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes. Denn das Verhalten des Klägers, das für seine Festnahme ursächlich war, hat zu Aufruhr in der Bevölkerung geführt.
130 
Ein etwaiges Vermeidungsverhalten des Klägers wäre im Falle seiner Rückkehr im Übrigen schon mit Blick auf die festgestellte Vorverfolgung unerheblich (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2000, a.a.O., Rn. 74).
131 
ee) Der Kläger kann bei seiner Rückkehr auch nicht auf eine derzeit bestehende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden. Es ist auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnislage nicht ersichtlich, in welchem Landesteil sich der Kläger angesichts der noch ausstehenden Strafverfolgung aufhalten bzw. in welchen er überhaupt unbehelligt einreisen kann. Jedenfalls liegen insoweit keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass ihm eine solche Fluchtalternative zur Verfügung steht.
II.
132 
Das Verwaltungsgericht hat auch über die Anfechtungsklage des Klägers zutreffend entschieden und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 15.03.2012 zu Recht aufgehoben. Denn die dort enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
133 
Auf die in erster Instanz hilfsweise geltend gemachten Verpflichtungsanträge auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, die in der Berufungsinstanz anwachsen würden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 19/96 -, BVerwGE 104, 260; Kuhlmann, in: Wysk , VwGO, 2011, § 129 Rn. 2), kommt es daher nicht mehr an.
III.
134 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
135 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg.

2

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse infolge einer Erkrankung des Antragstellers zu 1 unmöglich sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass bei diesem eine Reiseunfähigkeit vorliege. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien unzureichend. Die Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. enthalte weder eine Anamnese noch eine nachvollziehbare Diagnose. Die Bescheinigungen der Psychologinnen S. und K. seien zwar ausführlicher, beruhten aber nur auf den Angaben des Antragstellers zu 1, so dass die Schlussfolgerung, eine vorgetäuschte Diagnose könne ausgeschlossen werden, nicht überzeuge. Auch werde nicht darauf eingegangen, ob die vom Antragsteller zu 1 geschilderten Symptome in Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Halluzinogenen stünden. Auffällig sei, dass die vom Antragsteller zu 1 geäußerten Kriegserlebnisse im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt nicht geschildert worden seien. Zudem falle auf, dass sich der Antragsteller zu 1 erst nach Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in psychiatrische Behandlung begeben habe, obwohl er sich bereits seit 2010 in Deutschland aufhalte. Die Bescheinigungen zögen auch keinerlei Alternativursachen in Betracht, obwohl dies angesichts der geschilderten Ängste des Antragstellers zu 1 naheliegend sei. Als Alternativursache komme ein schweres Entwurzelungssyndrom in Betracht. Dies werde weder erwähnt noch im Rahmen einer Differentialdiagnose diskutiert. Die psychologischen Stellungnahmen seien ersichtlich darauf angelegt, dem Antragsteller zu 1 zum beantragten Abschiebungsschutz zu verhelfen. Die äußerst kurzen Stellungnahmen der Amtsärztinnen S. und M. enthielten keinerlei medizinische Substanz. Es werde nicht einmal erläutert, um was für eine psychische Erkrankung es sich handeln soll, die beim Antragsteller zu 1 bestehe. Es sei auch nicht ersichtlich, dass dieser aufgrund einer akuten und schwerwiegenden Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung dringend auf ärztliche Behandlung gerade in Deutschland angewiesen sei. Ziehe man in Betracht, dass bei einer Rückkehr des Antragstellers zu 1 in seine Heimat sowohl die Sprachbarriere, die einer aussichtsreichen Heilung psychischer Probleme in Deutschland entgegenstehe, als auch die soziale Isolation entfielen, sei von zusätzlichen Erschwernissen durch die Verneinung von Abschiebungshindernissen nicht auszugehen. Aufgrund der aufgezeigten Mängel sei auch nicht davon auszugehen, dass eine akute Suizidalität mit Eigen- und Fremdgefährdung bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 bestehe. Möglichen Gefährdungen sei durch geeignete Vorkehrungen und Modalitäten bei der Abschiebung zu begegnen. Der Antragsgegner habe für sichere Abschiebemodalitäten und eine Begleitung durch Fachpersonal (Arzt/Sanitäter) Sorge zu tragen. Ebenso sei nach Eintreffen des Rücktransports in der Heimat des Antragstellers zu 1 durch vorherige Kontaktaufnahme mit den Heimatbehörden dessen nahtlose ärztliche und psychologische Begleitung und Versorgung sicherzustellen und eine Zurverfügungstellung von Medikamenten zu veranlassen. Dadurch werde der dem Antragsteller zu 1 bescheinigten Suizidgefahr im Rahmen der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen mit angemessenen Mitteln begegnet. Hinzu komme, dass eine Rückführung in die Heimat gerade zu einer Besserung der Gesamtsymptomatik führen könne: Die auch für seelisch Gesunde – zumal nach langjährigen Auslandsaufenthalt – bestehende starke Belastung einer drohenden Abschiebung entfalle nach dem Vollzug, was dafür spreche, dieses schwierige Phase nicht hinauszuzögern, sondern abzukürzen.

3

Dieser Würdigung durch das Verwaltungsgericht tritt die Beschwerde mit Erfolg entgegen.

4

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Für den Anordnungsanspruch einer Sicherungsanordnung genügt dabei die Glaubhaftmachung von Tatsachen, aus denen sich zumindest ergibt, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist; ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht, wenn eine vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten materiellen Anspruchs zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich ist (Beschl. d. Senats v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 –, Juris RdNr. 8 m.w.N.).

5

Diese Voraussetzungen für den Erlass der von den Antragstellern begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Es besteht die Gefahr, dass die vom Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebung der Antragsteller ohne eine vorherige gutachtliche Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen die Verwirklichung eines ihnen in der Hauptsache möglicherweise zustehenden Anspruchs auf weitere Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vereitelt.

6

1. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist offen, ob durch die Abschiebung eine wesentliche Verschlechterung der beim Antragsteller zu 1 nach den vorliegenden ärztlichen bzw. psychologischen Stellungnahmen vorhandenen psychischen Erkrankung eintreten und sich dadurch die auf dieser Krankheit beruhende (latente) Selbstmordgefahr in einer Weise erhöhen wird, dass eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann.

7

Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 – a.a.O. RdNr. 5) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d. h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 –, Juris RdNr. 21). Die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, lässt sich erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, Juris RdNr. 7).

8

Macht ein Ausländer eine solche Reiseunfähigkeit geltend oder ergeben sich sonst konkrete Hinweise darauf, ist die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde verpflichtet, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher oder psychologischer Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehenden Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, Juris RdNr. 9).

9

Im Fall des Antragstellers zu 1 ist ein solcher weiterer Aufklärungsbedarf gegeben. Die vorliegenden ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen gehen zwar davon aus, dass der Antragsteller zu 1 an einer psychischen Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) leidet und im Falle einer Abschiebung eine erhöhte Suizidgefahr besteht. Ob dies zutrifft, ist jedoch auch im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht erhobenen Einwände zweifelhaft. Die Problematik muss daher erst in einem ergänzenden fachärztlichen Gutachten abschließend geklärt werden.

10

Die Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. von der (…)-Praxis GmbH vom 12.03.2014 (GA Bl. 30) diagnostiziert bei dem Antragsteller zu 1 zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, lässt aber nicht erkennen, auf Grund welcher Befundtatsachen die angesprochene Diagnose gestellt wurde, und legt auch nicht dar, welche Folgen sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Damit erfüllt sie die Anforderungen nicht, die nach der Rechtsprechung des Senats an die Glaubhaftmachung einer Krankheit als rechtliches Abschiebungshindernis zu stellen sind (vgl. Beschl. v. 08.02.2012 – 2 M 29/12 –, Juris RdNr. 11).

11

Die psychologischen Stellungnahmen der Psychologin S. vom 20.03.2013 (GA Bl. 35 – 36) sowie der Psychologin K. und des Systemischen Therapeuten D. vom Psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt vom 21.05.2014 (GA Bl. 89 – 93) diagnostizieren bei dem Antragsteller zu 1 eine posttraumatische Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression. Eine vorgetäuschte Diagnose schließen sie aus. Eine Abschiebungsankündigung bzw. eine Rückkehr in den Kosovo werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar psychische Dekompensation(en) und suizidale Verhaltensweisen zur Folge haben. Auch ein erweiterter Suizid erscheine möglich. Aus psychologisch-therapeutischer Sicht wäre eine Abschiebungsandrohung bzw. eine Rückkehr mit einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Stimulation einer Selbstgefährdung des Antragstellers zu 1 verbunden. In der Stellungnahme vom 21.05.2014 wird darüber hinaus ausführlich dargestellt, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde. Mit dem Antragsteller zu 1 seien seit dem 01.02.2013 insgesamt zehn Gespräche zur Diagnostik, Stabilisierung und unmittelbaren Krisenintervention geführt worden. Befund und Spontanangaben werden ausführlich wiedergegeben. Auf dieser Grundlage wird sowohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression gestellt als auch die Behandlungsbedürftigkeit beurteilt. Diese Stellungnahmen enthalten zwar ernst zu nehmende Hinweise auf eine mögliche Suizidgefahr bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 in den Kosovo. Sie sind jedoch auch gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Zunächst enthält insbesondere die zuletzt vorgelegte psychologische Stellungnahme vom 21.05.2014 keinen überzeugenden Nachweis eines Traumas. Voraussetzung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ist jedoch der Nachweis eines traumatischen Ereignisses (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41 <42>; Gierlichs u.a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, 158 <161>). Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es insoweit der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen (VGH BW, Beschl. v. 02.05.2000 – 11 S 1963/99 –, Juris RdNr. 7; SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 –, Juris RdNr. 5; Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2005, 150 <151>). Von Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist dabei der Umstand, dass bestimmte Ereignisse, die im Rahmen der klinischen Begutachtung als traumatisierend dargestellt werden, bei der vorherigen Anhörung vor dem Bundesamt nicht angegeben wurden. Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt, die schon längere Zeit zurückliegen, ist eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 – a.a.O. RdNr. 5 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 – BVerwG 10 C 8.07 –, Juris RdNr. 15). Nach diesen Grundsätzen ist die Stellungnahme vom 21.05.2014 dem fachlichen Einwand ausgesetzt, dass nicht klar wird, worin das die posttraumatische Belastungsstörung auslösende Trauma liegen soll. Im Rahmen der Biographischen Anamnese werden Ereignisse aus dem Jahr 1999 nach Ausbruch des Kosovokrieges geschildert, aber auch zeitlich nachfolgende Bedrohungen und Misshandlungen in Serbien, Übergriffe von albanisch sprechenden Männern nach der Rückkehr der Antragsteller in das Kosovo sowie eine Bedrohung des Sohnes des Antragstellers zu 1 mit einer Pistole durch Nachbarn. Soweit die Ereignisse während des Kosovokrieges im Jahr 1999 als maßgeblich für das Trauma anzusehen sein sollten, wäre zu begründen, warum diese Umstände nicht schon während der Anhörung des Antragstellers zu 1 am 29.03.2010 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragen wurden. Begründungsbedürftig ist ferner der Umstand, dass der Antragsteller zu 1 das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erst im Jahr 2013 geltend gemacht hat, obwohl er bereits seit dem Jahr 2010 aus seiner Heimat ausgereist ist. Ein weiterer Mangel der Stellungnahme vom 21.05.2014 liegt darin, dass nicht explizit angegeben wird, nach welchen Kriterien eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde (vgl. dazu Ebert/Kindt, a.a.O. S. 42). Schließlich stellt sich noch die Frage, ob die beim Antragsteller zu 1 festgestellten Symptome nicht auch andere Ursachen als eine posttraumatische Belastungsstörung haben können, etwa die unkontrollierte Einnahme von Medikamenten und Halluzinogenen oder ein schweres Entwurzelungssyndrom.

12

Die Stellungnahmen der Amtsärztin S. vom 08.07.2013 und 10.03.2014 sowie der Amtsärztin M. vom 29.04.2014 und 20.05.2014 lassen ebenfalls keine abschließende Beurteilung der hier relevanten Fragestellung zu. In dem amtsärztlichen Gutachten zur Beurteilung der Flug- und Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 vom 08.07.2013 (GA Bl. 50) heißt es, dieser leide an einer psychischen Erkrankung, die akut exazerbiert sei. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehe die akute Gefahr eines Suizids bzw. erweiterten Suizids. In der Stellungnahme vom 10.03.2014 (GA Bl. 49) heißt es, die Reisefähigkeit im weiteren Sinne sei aufgrund der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 nicht gegeben. In der Stellungnahme vom 29.04.2014 (GA Bl. 62) wird ausgeführt, es könnten keine wesentlichen Veränderungen der gesundheitlichen Situation des Antragstellers zu 1 festgestellt werden. Er habe weiterhin eine unbändige Angst vor der Abschiebung in sein Heimatland. Er reagiere damit, im Abschiebungsfall sich und seine Familie umzubringen. Die Flug- und Reisetauglichkeit sei nach wie vor unsicher, da in keiner Weise abzuschätzen sei, ob der Antragsteller zu 1 seine Drohungen wahr mache. In der Stellungnahme vom 20.05.2014 (GA Bl. 61) wird ergänzend ausgeführt, bei der Vorstellung im Gesundheitsamt habe der Antragsteller zu 1 überzeugend den Eindruck gemacht, dass er im Falle einer Abschiebung sich und seiner Familie etwas antun werde. Es bestehe eine bedingte Flug- und Reisefähigkeit. Bedingung sei die Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung. Die sei durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und eine fachärztliche Begleitung während des Fluges zu gewährleisten. In diesen Stellungnahmen wird weder angegeben, aufgrund welcher tatsächlichen Umstände die fachliche Beurteilung erfolgt ist, noch enthalten sie eine nachvollziehbare medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes oder eine nachvollziehbare Darlegung der Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Die in der Stellungnahme vom 20.05.2014 vertretene Annahme, eine hinreichende Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung könne durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und Gewährleistung einer fachärztlichen Begleitung während des Fluges sichergestellt werden, wird nicht näher begründet und stellt sich als reine Spekulation dar. Zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen sind diese amtsärztlichen Stellungnahmen ungeeignet.

13

Vor diesem Hintergrund liegen zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller zu 1 unter einer posttraumatische Belastungsstörung leidet und eine Abschiebung zu einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt. Es verbleiben jedoch Zweifel. Bei dieser Sachlage kann über das Vorliegen des geltend gemachten Duldungsgrundes ohne fachärztliches Gutachten zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen nicht entschieden werden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist damit offen, so dass ein Anordnungsanspruch gegeben ist.

14

2. Auch die Antragstellerin zu 2 und die Antragsteller zu 3 – 6 haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa mit Blick auf Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Der Schutz des Art. 6 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Sich hieraus ergebende schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine tatsächlichen Bindungen zu berechtigterweise im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Beschl. d. Senats v. 14.08.2014 – 2 L 115/13 – m.w.N.). Derartige schutzwürdige Belange liegen im Fall der Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 3 – 6 vor. Aufgrund der oben dargestellten Umstände besteht bei dem Antragsteller zu 1 möglicherweise ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Die übrigen Familienmitglieder können daher einstweilen eine gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Heimatland nicht führen. Eine alleinige auch nur kurzfristige Rückkehr ohne Begleitung durch den Antragsteller zu 1 in das Kosovo ist ihnen ebenfalls nicht zuzumuten.

15

3. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsgegner beabsichtigt, die Antragsteller ohne vorherige Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zur Suizidgefahr abzuschieben. Die vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten Duldungsanspruchs ist daher zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich. Denn der Duldungsanspruch erlischt ebenso wie die Aussetzung selbst (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG) mit der Ausreise (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 – a.a.O. RdNr. 14). Er würde durch die Abschiebung daher vereitelt. Zudem ist eine Abschiebung ohne vorherige fachärztliche Begutachtung der damit nach den vorliegenden Erkenntnissen möglicherweise einhergehenden gesundheitlichen Risiken mit der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.

16

II. Den Antragstellern ist auch die beantragte Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und aus den vorstehend ausgeführten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen sind (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).

17

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

18

VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den halben Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG je Antragsteller festzusetzen, soweit Streitgegenstand – wie hier – die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ist.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste am 08.12.2002 in das Bundesgebiet ein. Am 09.01.2003 beantragte Sie die Gewährung von Asyl.
Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.03.2003 wurde der Asylantrag abgelehnt und festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, sowie mit einer Ausreisefrist von einem Monat die Abschiebung angedroht. Die hierauf eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 25.10.2005 - A 15 K 10904/03 - und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.04.2006 - A 12 S 1096/05 -).
Mit Schriftsatz vom 10.05.2007 stellte die Klägerin einen Asylfolgeantrag und brachte zur Begründung vor, ihr Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlimmert. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes bestehe im Falle einer Abschiebung in die Türkei eine Gefahr für Leib und Leben. In der Türkei habe sie in massiver Weise Verfolgung und menschenrechtswidrige Behandlung erlitten; hierdurch sei sie in ihrer psychischen Integrität erheblich verletzt und traumatisiert worden. Gleichzeitig legte die Klägerin ein ärztliches Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie Dr. Beier-Fügel vom 12.06.2006, ein Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 sowie ein Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 12.04.2007 vor.
Mit Bescheid vom 07.09.2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19.03.2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG seien nicht erfüllt. Die vorgelegten ärztlichen Gutachten und Atteste könnten die Feststellungen im Urteil des VG Stuttgart vom 25.10.2005 nicht erschüttern. Bei den vorgelegten ärztlichen Gutachten und Attesten handele es sich um fachpsychiatrische Aussagen über den gegenwärtigen Gesundheitszustand der Klägerin und nicht um belastbare, verlässliche Analysen der Erlebnisse der Klägerin in der Türkei. Die Aussagen der Klägerin seien von den ärztlichen Gutachtern keiner nachvollziehbaren wissenschaftlichen Bewertung unterzogen worden. Am Wahrheitsgehalt des gesteigerten Sachvortrags der Klägerin bestünden Zweifel, da sie bereits im Erstasylverfahren trotz eingehender psychiatrischer Untersuchung die erlittene Vergewaltigung nicht erwähnt habe. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor. Die Klägerin könne auf die zur Behandlung ihres Krankheitsbildes in der Türkei zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten verwiesen werden.
Am 17.09.2007 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörenden Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Gründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) In den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 und der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist eine Woche.

(2) Das Bundesamt übermittelt mit der Zustellung der Entscheidung den Beteiligten eine Kopie des Inhalts der Asylakte. Der Verwaltungsvorgang ist mit dem Nachweis der Zustellung unverzüglich dem zuständigen Verwaltungsgericht zu übermitteln.

(3) Anträge nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsandrohung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen; dem Antrag soll der Bescheid des Bundesamtes beigefügt werden. Der Ausländer ist hierauf hinzuweisen. § 58 der Verwaltungsgerichtsordnung ist entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung soll im schriftlichen Verfahren ergehen; eine mündliche Verhandlung, in der zugleich über die Klage verhandelt wird, ist unzulässig. Die Entscheidung soll innerhalb von einer Woche nach Ablauf der Frist des Absatzes 1 ergehen. Die Kammer des Verwaltungsgerichts kann die Frist nach Satz 5 um jeweils eine weitere Woche verlängern. Die zweite Verlängerung und weitere Verlängerungen sind nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe zulässig, insbesondere wenn eine außergewöhnliche Belastung des Gerichts eine frühere Entscheidung nicht möglich macht. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Die Entscheidung ist ergangen, wenn die vollständig unterschriebene Entscheidungsformel der Geschäftsstelle der Kammer vorliegt. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes und die Anordnung und Befristung nach § 11 Absatz 7 des Aufenthaltsgesetzes sind ebenso innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung bleibt hiervon unberührt.

(4) Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig. Ein Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie Tatsachen und Umstände im Sinne des § 25 Abs. 2, die der Ausländer im Verwaltungsverfahren nicht angegeben hat, kann das Gericht unberücksichtigt lassen, wenn andernfalls die Entscheidung verzögert würde.

(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will, oder
2.
von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.
Unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen kann darüber hinaus auch von einer Abschiebungsandrohung abgesehen werden, wenn
1.
der Aufenthaltstitel nach § 51 Absatz 1 Nummer 3 bis 5 erloschen ist oder
2.
der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

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1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

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2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

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Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

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3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

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Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 ist Folgendes zu berücksichtigen:

1.
der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2.
der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3.
der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4.
eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a)
die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b)
die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5.
unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.

(2) Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten Handlungen, die

1.
auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder
2.
in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.

(2) Als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 können unter anderem die folgenden Handlungen gelten:

1.
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen,
6.
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

(3) Zwischen den in § 3 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in den Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen.

Tenor

Soweit die Klägerin die Berufung zurückgenommen hat, wird das Berufungsverfahren eingestellt.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.

Die Klägerin trägt 1/3 und die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die nach ihren Angaben am ... in ... (Kreis Sangri, Bezirk Lhoka) in Tibet / Volksrepublik China geborene und zuletzt wohnhafte Klägerin ist nach ihrem Vorbringen chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit. Wie sie weiter angab, reiste sie am 27.11.2008 mit dem Flugzeug von Nepal und auf weiter ungeklärte Weise in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 15.12.2008 stellte sie einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hörte sie am 12.02.2009 zu ihrem Begehren an. Sie gab an, sie habe einen älteren Bruder gehabt, der am 16.06.2008 von chinesischen Polizisten getötet worden sei. Der Bruder habe sich an diesem Tage bei ihr versteckt, nachdem er erzählt habe, die Polizei suche ihn, weil er am 10.03.2008 in Lhasa gegen China demonstriert habe. Als sie am 18.06.2008 zu ihrem Zelt zurückgekehrt sei, sei ihr Bruder verschwunden gewesen. Am 30.06.2008 habe man seine Leiche gefunden. Am 05.07.2008 seien drei Polizisten gekommen. Sie hätten sie ins Auto gezerrt und vergewaltigt. Sie hätten gesagt, ihr Bruder sei ein Reaktionär und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“. Am 09. und 15.07.2008 sei sie wieder von den Polizisten vergewaltigt worden. Daraufhin sei sie zu ihrem Onkel gegangen, der ihr bei der Ausreise geholfen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die Anhörung verwiesen.
Mit Bescheid vom 21.04.2009 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Ferner stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Es drohte der Klägerin für den Fall der Nichtbeachtung einer einmonatigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Volksrepublik China oder einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, „insbesondere nach Nepal“, an (Nr. 4).
Mit ihrer am 07.05.2009 vor dem Verwaltungsgericht Freiburg - A 6 K 739/09 - erhobenen Klage hat die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen sowie ihr die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 25.02.2010 die Beklagte verpflichtet, zugunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot für China und Nepal gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG besteht. Die Nummern 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.04.2009 hat es aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung hat es unter anderem ausgeführt, mit Gefahren, die eine politische Verfolgung begründeten, müsse die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Aus solchen Gründen sei sie aus ihrer Heimat auch nicht ausgereist. Zwar trage die Klägerin vor, in ihrer Heimat noch immer wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders gefährdet zu sein. Auch könne ihr nicht widerlegt werden, dass sie tatsächlich aus Tibet stamme. Ihr Bruder sei jedoch schon seit geraumer Zeit tot; eine weitere Verfolgung von Familienangehörigen erscheine daher unwahrscheinlich und unglaubhaft. Dazu sei auch kein ausreichend schwerwiegendes politisches Gewicht ihres Bruders im tibetischen Widerstand dargetan worden. Die Klägerin habe ihrem Bruder auch nicht zugearbeitet oder ihn nachgeahmt. Die Vergewaltigung der Klägerin erscheine - solle ihrem Vorbringen insoweit überhaupt gefolgt werden - als Übergriff der Polizisten im Amt. Das Auffinden ihres Bruders in ihrem Zelt möge für die Polizisten lediglich eine Gelegenheit gewesen sein, die damit „angreifbar“ gewordene Klägerin gefügig zu machen. Das zeige auch die Wiederholung der Taten am 09.07. und 15.07.2008, die nach dem gleichen Muster abgelaufen seien, obwohl der unmittelbare „politische“ Anlass bereits entfallen gewesen sei. Damit erscheine die Klägerin nicht wegen der Ereignisse in ihrer Heimat aus politischen Gründen gefährdet. Gegen sie liege nichts vor. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe auch nicht wegen nachträglich eingetretener Gefahren, die ihr bei einer Rückkehr nach China drohen könnten, zu erfolgen. Die Klägerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie illegal ausgereist sei. Für eine illegale Ausreise habe kein Anlass bestanden. Sie habe über Zentralchina ausreisen können. Soweit die Klägerin sich exilpolitisch betätigt habe, könne sie sich darauf nicht berufen, weil es sich um einen selbstgeschaffenen Nachfluchtgrund handele. Abgesehen davon sei die Gefährdung wegen der exilpolitischen Betätigung dadurch wesentlich gemindert, dass ihr keine politische „Karriere“ in der Heimat vorausgegangen sei. Auch dürfte die Klägerin nicht sonderlich hervorgetreten sein. Unabhängig von der „nicht die Schwelle asylerheblicher Relevanz erreichenden“ Bedrängnis durch Polizisten bestehe zu Gunsten der Klägerin ein Abschiebungsverbot für China und Nepal im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Gericht habe den Eindruck gewonnen, dass „die dargestellten Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen wahren Kern enthalten“ hätten. Daran ändere es nichts, dass sie der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben dargestellt worden seien. Eine Abschiebung sei auch nach Nepal nicht zulässig.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat die Berufung gegen das Urteil mit Beschluss vom 07.04.2011 - A 8 S 780/10 - zugelassen. In ihrem Schriftsatz vom 27.04.2010 hat die Klägerin ihre Berufung begründet. Sie ist der Ansicht, ihr sei internationaler Schutz gemäß Art. 13 RL 2004/83/EG und § 60 Abs. 1 AufenthG zu gewähren und begründet dies mit einer Vorverfolgung in Tibet sowie mit Nachfluchtgründen, insbesondere ihrer exilpolitischen Betätigung in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 25. Februar 2010 - A 6 K 739/09 - zu ändern, soweit es die Klage abweist, und die Beklagte unter Aufhebung von Nr. 2 bis 4 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. April 2009 zu verpflichten festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich des Staats Volksrepublik China vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, eine illegale Ausreise, ein längerfristiger Auslandsverbleib und ein als exiloppositionell eingestuftes Auftreten im Bundesgebiet begründeten bei tibetischen Volkszugehörigen aus China weder allgemein noch nach den Einzelfallgegebenheiten eine relevante Verfolgungsgefahr. Die Frage einer Gefährdung in Anschluss an eine illegale Ausreise stelle sich im Übrigen schon nicht, weil eine illegale Ausreise nicht glaubhaft sei. Die exilpolitischen Bemühungen seien nicht in nötiger Weise exponiert. Eine Gefahr der politischen Verfolgung sei auch mit Blick auf die Erlebnisse, die zur Ausreise geführt haben sollten, nicht veranlasst. Es bestehe nicht die Überzeugung von der Richtigkeit der Schilderungen. Davon unabhängig werde die Bewertung des Verwaltungsgerichts geteilt, dass keine Anknüpfung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale der Klägerin feststellbar sei. Ferner müsste eine Vorschädigungswiederholung mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren sein. Daran sei zu zweifeln. Es spreche Stichhaltiges gegen die Wiederholungsträchtigkeit gerade einer solchen Verfolgung, nachdem die Lage im Vorfeld der Proteste gegen die Olympischen Spiele von Peking gerade in der Provinz Tibet angespannt und das Geschehen durch das Handeln des Bruders situationsbedingt gewesen sei.
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Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung zu ihrem Schutzbegehren angehört worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze, wegen der sonstigen Einzelheiten auf die einschlägigen Akten der Beklagten und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
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Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
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1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
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2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
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Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
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b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
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Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
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Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
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Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
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bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
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Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
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(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
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(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
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Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
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(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
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d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
15 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige - insbesondere mit ihrer Begründung den Vorgaben des § 124a Abs. 6 VwGO entsprechende - Berufung der Klägerin ist - soweit sie nicht zurückgenommen worden ist - begründet.
16 
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist (nur noch) der Anspruch der Klägerin auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und damit der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, NVwZ 2010, 974). Zugelassen hatte der Senat die Berufung auch hinsichtlich der erstinstanzlich begehrten und mit dem Berufungszulassungsantrag zunächst weiterverfolgten Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Klägerin hat dieses Begehren jedoch zurückgenommen mit der Folge, dass insoweit die Einstellung des Berufungsverfahrens auszusprechen ist (§ 126 Abs. 3 Satz 1, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO entspr.).
17 
2. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in ihrer Person hinsichtlich des Staates Volksrepublik China und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
18 
a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats eine chinesische Staatsangehörige tibetischer Volkszugehörigkeit aus Tibet.
19 
Der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG kann regelmäßig nur zuerkannt werden, wenn die Staatsangehörigkeit des Betroffenen geklärt ist (BVerwG, Urteil vom 12.07.2005 - 1 C 22.04 - NVwZ 2006, 99). Die Klägern ist ohne jegliche Personalpapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat bis heute solche auch nicht vorgewiesen. Sie spricht fließend Tibetisch, doch bietet dies allein lediglich ein Indiz für die behauptete Herkunft aus der Autonomen Region Tibet in der Volksrepublik China. Denn vor allem in Indien (mit etwa um 100.000 Tibetern), daneben aber auch in Nepal und anderen Staaten gibt es eine große tibetische Exilgemeinde, die sich dort bereits über einen langen Zeitraum zusammengefunden hat. In Indien haben viele Tibeter einen gesicherten Aufenthaltsstatus; die tibetische Exilregierung ist in Dharamsala in Indien ansässig (vgl. etwa SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 6). In Nepal, wo wohl rund 20.000 Tibeter leben, gibt es für diese Zugang zu Bildung in tibetischsprachigen Schulen (SFH, a.a.O., 22.10.2004, S. 3). Die Mehrheit der Bevölkerung der im Nordosten Indiens liegenden Staaten, zu denen etwa Arunachal Pradesh gehört, ist der tibeto-burmesisch-mongolischen Ethnie zuzuordnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 08.03.2010 an das VG Sigmaringen - A 6 K 75/09 - S. 2) Gleichwohl bestehen keine durchgreifenden Zweifel an der Herkunft der Klägerin aus Tibet / China. Eine behauptete Staatsangehörigkeit kann insbesondere nicht nur durch Vorlage entsprechender Papiere dieses Staates nachgewiesen werden. Die Überzeugung von einer Staatsangehörigkeit kann vielmehr auch auf der Grundlage von Unterlagen, Zeugenaussagen oder sonstigen Erkenntnismitteln gebildet werden, wenngleich die häufig schwierige Feststellung einer ausländischen Staatsangehörigkeit in der Regel nicht ohne Einholung von amtlichen Auskünften oder Gutachten zur einschlägigen Gesetzeslage und Rechtspraxis in dem betreffenden Staat möglich sein dürfte, wenn Ausweispapiere oder andere Belege und Urkunden aus dem betreffenden Staat fehlen (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087). Im Fall der Klägerin lassen deren Angaben mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit (vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 17.02.1970 - III ZR 139/67 - BGHZ 53, 245 ff.) den Schluss zu, dass sie aus Tibet / China stammt. Das Verwaltungsgericht hat die Klägerin angehört und ist zu der Überzeugung gekommen, sie stamme aus der Autonomen Region Tibet. Dieser Würdigung kann sich der Senat anschließen, zumal auch das Bundesamt von Anfang an die Herkunft der Klägerin nicht substantiiert in Frage gestellt und ihr selbst die Abschiebung nach China angedroht hat. Der Senat hat die Klägerin zudem persönlich zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 angehört. Hierbei machte sie umfangreiche Angaben. Der Senat hat den Eindruck gewonnen, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Ihre Herkunft aus der Autonomen Region Tibet begegnet somit keinen durchgreifenden Zweifeln. Angesichts der feststehenden Herkunft der Klägerin bedarf es keiner Ermittlungen zur Gesetzeslage und Rechtspraxis in China, weil es keinem Zweifel unterliegt, dass eine seit jeher aus der Autonomen Region Tibet stammende Tibeterin die chinesische Staatsangehörigkeit inne hat, wenn sie - wie die Klägerin mit Ausnahme des insoweit bedeutungslosen Geschehens seit ihrer Ausreise im Jahre 2008 - sonst keinerlei Bezug zu anderen Staaten hat.
20 
b) Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) - RL 2004/83/EG - ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).
21 
Nach Art. 2 lit. c) RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
22 
c) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird, Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG.
23 
aa) Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (BVerfG, Beschluss vom 02.07.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O. S. 99).
24 
Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 - InfAuslR 2011, 408; vgl. EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505 Rn. 84 ff.). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 lit. e) RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi - NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 18.04.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4 und Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192).
25 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (EuGH, Urteil vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, a.a.O., Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, a.a.O., Rn. 128). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = NVwZ 2009, 982 <985>). Die Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, a.a.O.).
26 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (lit. a)) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter lit. a) beschrieben Weise betroffen ist (lit. b)).
27 
bb) Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise war die Klägerin keiner Gruppenverfolgung aufgrund ihrer tibetischen Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Unter diesem Gesichtspunkt kann ihr die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG nicht zugutekommen.
28 
(1) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt (vgl. BVerwG, Urteile vom 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 <249> Rn. 20 ff. und vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 30, jeweils m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <204>) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 a.a.O. Rn. 20). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994, a.a.O.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, das heißt wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
29 
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a) und b) AufenthG einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15).
30 
Die dargelegten Maßstäbe für die Gruppenverfolgung beanspruchen auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG Gültigkeit. Das Konzept der Gruppenverfolgung stellt der Sache nach eine Beweiserleichterung für den Asylsuchenden dar und steht insoweit mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang. Die relevanten Verfolgungshandlungen werden in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und die asylerheblichen Merkmale als Verfolgungsgründe in Art. 10 RL 2004/83/EG definiert (BVerwG, Urteil vom 21.04.2009, a.a.O. Rn. 16; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 - juris und vom 09.11.2010 - A 4 S 703/10 - juris; Beschluss vom 04.08.2011 - A 2 S 1381/11 - juris).
31 
(2) Im Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin (zweites Halbjahr des Jahres 2008) unterlagen die Volkszugehörigen der Tibeter keiner Gruppenverfolgung.
32 
(a) Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China stellte sich zu dieser Zeit nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar:
33 
Die Autonome Region Xizang wurde von insgesamt ca. 2,8 Millionen Menschen bewohnt (Fischer-Weltalmanach 2009, S. 101; die in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 und vom 14.05.2009 fälschlich angegebene Zahl von ca. 6 Mio. Bewohnern tibetischer Volkszugehörigkeit erfasst in etwa die Zahl der ethnischen Tibeter in ganz China; so zutreffend noch der Lagebericht vom 08.11.2005 und wieder der Lagebericht vom 10.07.2010). Tibeter lebten auch in Grenzgebieten der Nachbarprovinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. Ihr Lebensstandard hatte sich zwar durch massive Finanztransfers der Zentralregierung erheblich verbessert, doch lag ihre Lebenserwartung nach wie vor unter, die Kindersterblichkeit über dem Landesdurchschnitt. Wie alle anderen nationalen Minderheiten genossen die Tibeter einige Freiheiten, wie zum Beispiel eine Ausnahme von der Ein-Kind-Politik. Echte Einflussmöglichkeiten auf die Politik wurden ihnen jedoch kaum eingeräumt. Obwohl die Tibeter in der Autonomen Region im Vergleich zu den Han-Chinesen die Mehrheit bildeten, waren Schlüsselpositionen überwiegend mit Han-Chinesen besetzt. Die individuelle Religionsausübung buddhistischer Laien war in Tibet weitgehend gewährleistet, dagegen unterlag der Lamaismus Restriktionen. Diese bestanden zum Beispiel in der Verhinderung von Klosterbeitritten vor Vollendung des 18. Lebensjahres und in der Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen auf das „für die normale religiöse Versorgung der Bevölkerung erforderliche Maß“ (laut Weißbuch Tibet 2009 waren das ca. 46.000 Mönche und Nonnen, sowie 6.000 Novizen). Mönche und Nonnen mussten regelmäßig „sozialistische Schulungskampagnen“ durchlaufen. Bilder des Dalai Lama durften öffentlich nicht gezeigt werden. Der Privatbesitz solcher Bilder war nach offiziellen Angaben erlaubt. Dennoch berichteten Menschenrechtsorganisationen von Haftstrafen. Den offiziellen Besuchern religiöser Institutionen war eine - wenngleich kontrollierte - Religionsausübung möglich. Offizielle Angaben über die genaue Zahl tibetischer politischer Gefangener lagen nicht vor. Vor allem nach den Unruhen im März 2008 waren auch Schätzungen schwer zu treffen. Einem am 21.06.2008 in der China Daily erschienenen Bericht zufolge wurden 4.434 Tibeter im Zuge der Märzproteste festgenommen, 3.027 allerdings kurze Zeit später wieder freigelassen. Einige Nichtregierungsorganisationen gingen von mehr als 6.000 Verhaftungen aus. Als Folge der Unruhen gab es nach offiziellen Angaben 21 Todesopfer (darunter ein Polizist) und 523 Verletzte (darunter 241 Polizisten). 42 Personen wurden verurteilt, 116 erwarteten noch ihren Prozess. Dem Auswärtigen Amt lagen hierzu keine gesicherten eigenen Erkenntnisse vor. Nach Berichten von Nichtregierungsorganisationen flohen weiterhin jedes Jahr mehrere tausend Tibeter aus religiösen Gründen über die Grenze nach Nepal und weiter nach Indien. Nicht alle erreichten ihr Ziel, denn die chinesischen Behörden versuchten die illegalen Grenzgänger - zum Teil mit allen Mitteln - von ihrem Vorhaben abzuhalten. Nach Informationen des Tibetischen Zentrums für Menschenrechte und Demokratie (TCHRD) wurden am 18.10.2007 drei Personen einer 46 Tibeter zählenden Flüchtlingsgruppe von chinesischen Grenzsoldaten festgenommen. Neun Tibeter wurden vermisst, nachdem die Grenzpolizei das Feuer auf die Gruppe eröffnet hatte. Dem im Exil lebenden Dalai Lama wurde von Peking weiterhin vorgehalten, unter dem Deckmantel der Verfolgung religiöser Ziele die Unabhängigkeit Tibets zu betreiben. Die Zentralregierung beanspruchte mit der „Verwaltungsmaßnahme für die Reinkarnation Lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus“ vom 01.09.2007 auch außerhalb der Autonomen Region das alleinige Recht, über die Einsetzung buddhistischer Würdenträger zu entscheiden. Von ICT (Internationale Kampagne für Tibet) wurde befürchtet, dass die chinesische Staatsführung damit gezielt eine weitere Schwächung der Autorität anerkannter Glaubensführer des tibetischen Buddhismus anstrebte. Nachdem die Beschränkungen des tibetischen Buddhismus zu Beginn des Jahres 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht hatten, kam es zu einer Reihe von Protesten in der Region. Beginnend mit einem Marsch von schätzungsweise 300 Mönchen aus dem Kloster Depung am 10.03.2008 in Lhasa, verbreiteten sich die Proteste über die gesamte Autonome Region und auch in Gegenden außerhalb. Die Demonstranten forderten Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit Tibets, die Freilassung des Panchen Lama und die Rückkehr des Dalai Lama. Die Regierung machte den Dalai Lama für die Ausschreitungen verantwortlich. Die verstärkte Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte in Tibet dauerte an (vgl. Lagebericht des AA vom 14.05.2009, Stand Februar 2009, S. 15 f.).
34 
Am 30.10.2007 erklärte das Auswärtige Amt gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach (Gz. 508-516.80/45113), tibetische Volkszugehörige müssten in China nicht mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit einzig aus dem Grund rechnen, dass sie tibetischer Volkszugehörigkeit seien, solange sie nicht gegen die einschlägigen Religionsbestimmungen verstießen und sich nicht politisch gegen die Regierung engagierten. Die Unruhen vom März 2008 führten nach der Auskunftslage insoweit zu keiner durchgreifenden Änderung. Unter dem 15.07.2008 teilte das Auswärtigen Amt dem Verwaltungsgericht Regensburg mit (Gz. 508-516.80/45438), ihm lägen keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige vor, weder eingeleitet noch kurz bevorstehend.
35 
(b) Aus diesen Erkenntnissen lässt sich für den Zeitpunkt der Ausreise der Klägerin im Juli 2008 nicht auf eine Gruppenverfolgung der Gruppe der Tibeter schließen. Ein staatliches Verfolgungsprogramm lässt sich nicht feststellen. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wurde die Volksgruppe der Tibeter nicht gezielt allein wegen eines unveränderlichen Merkmals verfolgt. Die Anzahl der festzustellenden Übergriffe lässt nicht auf die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit eines jeden Gruppenmitglieds schließen.
36 
cc) Nach den überzeugenden individuellen Einlassungen der Klägerin zu den Geschehnissen vor ihrer Ausreise war sie allerdings einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und damit einer anlassgeprägten Einzelverfolgung ausgesetzt.
37 
(1) Die Klägerin hat bei der Bundesamtsanhörung wie auch vor dem Verwaltungsgericht von Vergewaltigungen durch chinesische Polizisten am 05., 09. und 15.07.2008 berichtet. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten geäußert, ihr - besonders im März 2008 politisch aktiver und im Juni 2008 tot aufgefundener - Bruder sei ein Reaktionär, und ihr Onkel solle aufhören, den Ruf der Polizei zu zerstören. Wenn er damit nicht aufhöre, werde die Polizei dafür sorgen, dass man „ihren Leichnam nicht finde“.
38 
(2) Bei den geschilderten Erlebnissen handelt es sich um Vorgänge im Verfolgerland, hinsichtlich derer sich die Klägerin in einem sachtypischen Beweisnotstand befindet und für die daher eine „Glaubhaftmachung“ im Rahmen der - gleichwohl nach Maßgabe des § 108 Abs. 1 VwGO gebotenen - richterlichen Überzeugungsbildung genügt (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71,180). Das Verwaltungsgericht hat ausweislich der Entscheidungsgründe seines Urteils bei der Anhörung der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass die Darstellung der Vergewaltigungen durch Polizeibeamte einen „wahren Kern“ enthalten habe. Daran ändere sich nichts dadurch, dass die Übergriffe der Zahl und den Umständen nach möglicherweise übertrieben geschildert worden seien. Die Klägerin habe mit einem gewissen Ernst und einer noch spürbaren Betroffenheit von dem Vorfall berichtet. Ihr Vorbringen erscheine glaubhaft. Die Klägerin sei bei ihrer Schilderung den Tränen nahe gewesen. Diesem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweiserhebung schließt sich der Senat an. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht nur dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für die Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.11.2001 - 1 B 297.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251). Zu einer abweichenden Glaubwürdigkeitsbeurteilung sieht der Senat indes keinen Anlass. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen zu den als Grund der Ausreise genannten Vorfällen im Heimatland der Klägerin, die eine erneute Anhörung geböten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 12.06.2003 - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524, und vom 22.11.2004 - 1 BvR 1935/03 - NJW 2005, 1487; BGH, Urteil vom 09.03.2005 - VIII ZR 266/03 - NJW 2003, 1583 <1584>; jeweils zu § 529 ZPO).
39 
(3) Der Senat ordnet die Vergewaltigungen durch Polizisten jedoch insoweit rechtlich anders ein als das Verwaltungsgericht, als er sie - ohne dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen in Frage zu ziehen - dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG zuordnet. Die von der Klägerin geschilderten Vergewaltigungen stellen relevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Es handelt sich insoweit um die Anwendung physischer beziehungsweise sexueller Gewalt im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG, Art. 9 Abs. 1 lit. a) und Abs. 2 lit. a) RL 83/2004/EG. Es besteht auch die erforderliche Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 83/2004/EG genannten Gründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 83/2004/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen (vgl. Art. 9 Abs. 3 und Art. 2 lit. c) RL 83/2004/EG). Die Vergewaltigungen knüpften an die „Rasse“ der Klägerin im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. a) RL 83/2004/EG an. Der Begriff der „Rasse“ umfasst nach dieser Bestimmung insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe. Der Senat ist davon überzeugt, dass nach dem Ergebnis der vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme die Vergewaltigungen in der im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Weise mit der tibetischen Volkszugehörigkeit der Klägerin verknüpft sind. Das Verwaltungsgericht war insoweit sinngemäß der Auffassung, die Übergriffe seien als Akte amtlicher Willkür anzusehen, die durch den tibetisch-chinesischen Dauerkonflikt - gerade im Klima der allgemeinen Unruhe und Gereiztheit des Jahres 2008 - begünstigt worden seien, die Klägerin aber nicht „aus politischen Gründen“ getroffen hätten. Dies sieht der Senat anders. Es muss zwar davon ausgegangen werden, dass sexuelle Übergriffe durch chinesische Beamte als Willkürakte in ganz China vorkommen. Berichte über Folter und Misshandlung etwa in chinesischen Gefängnissen sind bezogen auf das ganze Land bekannt (vgl. etwa amnesty international, ai Report 2011, S. 134). Gerade für Tibet wird von Misshandlungen, auch sexueller Art beziehungsweise in Form von Vergewaltigungen, berichtet (TID e.V., Stellungnahme vom 28.02.2006, S. 2, und Auswärtiges Amt vom 10.03.2006, Nr. 5, an VG Bayreuth - B 5 K 05.30078 -; BAMF, Volksrepublik China - Tibeter im Konflikt mit dem Staat, März 2008, S. 8). Ausgehend von der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin jedenfalls auch deshalb Opfer der Vergewaltigungen wurde, weil sie (als Tibeterin) in den tibetisch-chinesischen Konflikt verwickelt war, knüpften die Taten aber in ihrem Fall durchaus an die Zugehörigkeit zu der ethnischen Gruppe der Tibeter an.
40 
Die Taten sind der Volksrepublik China zurechenbar. Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich zu bedenken, dass es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86, 2 BvR 1000/86, 2 BvR 961/86 - BVerfGE 80, 315 <334, 336>; Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 - BVerfGE 83, 216 <235>). Bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern kann in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, a.a.O. <352>). Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaats widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 20.05.1992 - 2 BvR 205/92 - NVwZ 1992, 1081 <1083> und vom 08.06.2000 - 2 BvR 81/00 - InfAuslR 2000, 457 <458>). Andernfalls bleibt das Handeln der Sicherheitsorgane dem Staat zurechenbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.05.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 m.w.N.). Ausgehend davon bleiben die hier in Rede stehenden Handlungen der Polizisten dem Staat Volksrepublik China zurechenbar. Verlässliche tatsächliche Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten, hat die Anhörung nicht erbracht (vgl. zu den in Betracht kommenden Verfolgungsakteuren auch § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. a)-c) AufenthG).
41 
Unter diesen Umständen sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Autonome Region Tibet erneut von solcher Verfolgung wie vor ihrer Ausreise bedroht wäre. Allein der zeitliche Abstand seit dem Tod ihres Bruders lässt einen derartigen Schluss nicht zu, zumal die erlittenen Vergewaltigungen erst nach der Tötung des Bruders einsetzten.
42 
Die Klägerin kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG) verwiesen werden. Eine solche setzt voraus, dass der Schutzsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Auf einen landesinternen Vergleich zum Ausschluss nicht verfolgungsbedingter Nachteile und Gefahren kommt es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG dabei nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 = NVwZ 2008, 1246).
43 
Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach China - abgesehen von den Nachfluchtgründen (siehe dazu unten) - im ganzen Staatsgebiet zumindest von anderen Nachteilen und Gefahren bedroht, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Nach Auskunft der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zu dem Asylverfahren B 5 K 05.30078 haben Tibeter ohne Chinesischkenntnis, zu denen die Klägerin gehört, keine Chance, sich eine Lebensgrundlage aufzubauen. Sie fielen überall auf und machten sich „verdächtig“. Auch unter gewöhnlichen chinesischen Bürgern seien die Ressentiments gegenüber den Tibetern sehr groß. Nur durch eine besonders große Anpassung an die chinesische Kultur und Ideologie könnten diese Ressentiments abgeschwächt werden, doch dazu sei die Beherrschung der chinesischen Sprache Voraussetzung. Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg (Gz. 508-516.80/45438) ist das Ausmaß von Verfolgungshandlungen gegen tibetische Volkszugehörige allgemein sehr viel höher als gegen andere Volksgruppen (mit Ausnahme von uigurischen Volkszugehörigen). Vom Anstieg der oftmals willkürlichen Kontrollmaßnahmen in jüngster Zeit seien tibetische Volksangehörige besonders betroffen. So sei am 09.07.2008 eine britische Staatsangehörige tibetischer Herkunft, die in Peking als Sprachdozentin tätig gewesen sei, morgens auf dem Weg zur Arbeit von Sicherheitskräften aufgegriffen und (ohne erkennbare Anhaltspunkte) unter dem Vorwurf separatistischer Tätigkeiten auf der Stelle und unter Polizeibegleitung ausgewiesen worden. Nach dieser Erkenntnislage scheidet eine inländische Fluchtalternative für die Klägerin mangels Zumutbarkeit aus.
44 
d) Unabhängig von einer Vorverfolgung muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nunmehr aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung bedroht wird.
45 
aa) Es besteht allerdings nach wie vor keine Situation, in der die Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr eine begründete Furcht vor Verfolgung unter dem Gesichtspunkt einer derzeit bestehenden Gruppenverfolgung von Tibetern gewärtigen müsste. Die Lage für tibetische Volkszugehörige in China - soweit sie für die Beurteilung des Schutzgesuchs der Klägerin von Bedeutung ist - stellt sich im November 2011 nach den dem Senat vorliegenden Quellen und Erkenntnissen im Hinblick auf eine mögliche Gruppenverfolgung im Wesentlichen unverändert dar. So gibt das Auswärtige Amts in seiner Auskunft vom 16.06.2010 (Gz. 508-516.80/46446) an das Verwaltungsgericht Regensburg an, hinsichtlich der mit Schreiben vom 15.07.2008 dargestellten Situation („keine Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm gegen tibetische Volkszugehörige“) hätten sich bezüglich der Gefahrdung tibetischer Volkszugehöriger keine Änderungen ergeben. Der Report 2011 von amnesty international gibt lediglich an, Tibeter seien „weiterhin Repressionen ausgesetzt“. Für eine systematische Verfolgung von Tibetern allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit gibt es danach auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte.
46 
bb) Die Klägerin ist aber wegen ihrer den chinesischen Behörden möglicherweise bekanntgewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit ihrer illegalen Ausreise aus China, der Asylantragstellung und ihrem mehrjährigen Verbleib im Ausland einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ ausgesetzt.
47 
(1) Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschluss vom 23.01.1991, a.a.O.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 20.06.1995 - 9 C 294.94 - NVwZ-RR 1996, 57 m.w.N.) als Gruppenverfolgung bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volks- oder Berufsgruppe oder zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, sondern - jedenfalls in manchen Fällen - nur nach Maßgabe weiterer individueller Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.1996 - 9 B 14.96 - DVBl 1996, 623 m.w.N.).
48 
(2) Zur Behandlung von Personen, die nach China zurückkehren, enthält der Lagebericht des Auswärtigen Amtes Angaben. Soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die zurückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Vereinzelte Nachverfolgungen von Rückführungen durch die deutsche Botschaft in Peking hätten keinen Hinweis darauf ergeben, dass abgelehnte Personen, allein weil sie einen Asylantrag gestellt hätten, politisch oder strafrechtlich verfolgt würden. Ein Asylantrag allein sei nach chinesischem Recht kein Straftatbestand. Aus Sicht der chinesischen Regierung komme es primär auf die Gefahr an, die von der einzelnen Person für Regierung und Partei ausgehen könnte. Formale Aspekte wie etwa Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation oder eine Asylantragstellung seien nicht zwangsläufig entscheidend. Personen, die China illegal, das heiße unter Verletzung der Grenzübertrittsbestimmungen verlassen hätten, könnten bestraft werden. Es handele sich um ein eher geringfügiges Vergehen, das - ohne Vorliegen eines davon unabhängigen besonderen Interesses an der Person - keine politisch begründeten, schweren Repressalien auslöse. Nach § 322 chin. StGB könne das heimliche Überschreiten der Grenze unter Verletzung der Gesetze bei Vorliegen ernster und schwerwiegender Tatumstände mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, Gewahrsam oder Überwachung und zusätzlich einer Geldstrafe bestraft werden. Es werde nach bisherigen Erkenntnissen in der Praxis aber nur gelegentlich und dann mit Geldbuße geahndet (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 36). Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes befasst sich auch mit exilpolitischen Aktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit widme die chinesische Führung führenden Mitgliedern der Studentenbewegung von 1989, soweit sie noch im Ausland aktiv seien. Dies gelte auch für bekannte Persönlichkeiten, die öffentlich gegen die chinesische Regierung oder deren Politik Stellung bezögen und eine ernst zu nehmende Medienresonanz in Deutschland oder im westlichen Ausland hervorriefen sowie für Angehörige ethnischer Minderheiten, sofern sie nach chinesischem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen seien. Eine Überwachung oder sogar Gerichtsverfahren gegen diese Personen seien bei Rückkehr in die Volksrepublik China nicht auszuschließen. Aktivitäten der uigurischen Exilorganisationen stünden unter besonderer Beobachtung der chinesischen Behörden (einschließlich der Auslandsvertretungen). Insbesondere: die Ostturkistanische Union in Europa e.V., der Ostturkistanische (Uigurische) Nationalkongress e.V. sowie das Komitee der Allianz zwischen den Völkern Tibets, der Inneren Mongolei und Ostturkistans. Aufklärung über und Bekämpfung der von extremen Vertretern der uigurischen Minderheit getragenen Ostturkistan-Bewegung zählten zu den obersten Prioritäten des Staatsschutzes. Anhänger dieser Bewegung würden mit unnachgiebiger Härte politisch und strafrechtlich verfolgt. Mitglieder uigurischer Exilorganisationen hätten bei ihrer Rückkehr nach China mit Repressionen zu rechnen. Von detaillierten Kenntnissen des Ministeriums für Staatssicherheit über Mitglieder der exilpolitischen uigurischen Organisationen sei auszugehen. Die Beteiligung an einer Demonstration für die Belange einer als staatsgefährdend bewerteten Organisation wie der Ostturkistan-Bewegung reiche aus, um sich nach chinesischem Recht strafbar zu machen. Eine Führungsfunktion in einer solchen Organisation wirke strafverschärfend. Das Strafmaß für eine solche Person richte sich dabei danach, wie schwerwiegend die von den Angeschuldigten ausgehende Gefahr für den Bestand des Staates aus Sicht der strafverfolgenden Behörden einzuschätzen sei. Auch in den aus europäischer Sicht „friedlichen Unabhängigkeitsbestrebungen“ einzelner Organisationen sehe die chinesische Führung Angriffe auf die staatliche Einheit Chinas und damit eine Gefährdung für die allgemeine Sicherheit. Gewaltfreies Eintreten für eine Sache schütze nicht vor harten Strafen. Es seien bisher keine Fälle von ehemaligen Mitgliedern oder Vorstandsmitgliedern exilpolitischer uigurischer Organisationen aus Deutschland bekannt geworden, die nach China zurückgekehrt seien. Berichtet werde jedoch über Fälle von Abschiebungen nach China aus anderen Ländern Asiens mit anschließender Folter oder Verurteilung (Lagebericht des AA vom 10.07.2010, Stand Juni 2010, S. 26). Speziell zu exilpolitischen Aktivitäten tibetischer Volkszugehöriger verhält sich der Lagebericht nicht.
49 
Im Lagebericht vom 08.11.2005 (Stand Oktober 2005, S. 22) ist allerdings noch ausgeführt, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet gewesen seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell „illegaler Grenzübertritt“ (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien inzwischen wieder frei. Nichtregierungsorganisationen berichteten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen.
50 
Laut Auskunft vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg - RN 11 K 06.30224 - sind nach Einschätzung des Auswärtiges Amtes für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Dem Auswärtigen Amt seien allerdings in jüngerer Zeit keine entsprechenden Fälle bekannt geworden. Diese Handlungen seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt, gemäß Art. 10 a.a.O. könnten Auslandstaten nach Rückkehr in China verfolgt werden.
51 
In dem Gutachten der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 18.07.2002 an das Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1254/98.A - heißt es unter anderem, es sei nicht bekannt, ob bereits asylsuchende Tibeter aus Deutschland zurückgeschickt worden seien. Tibeter, die nach ihrer Flucht und einem Aufenthalt in Indien oder Nepal „freiwillig“ nach Tibet zurückkehrten, müssten jedoch genauso heimlich, wie sie Tibet verlassen hätten, auch dorthin zurückkehren. Wenn sie beim Grenzübertritt „erwischt“ würden, verschwänden sie in Gefängnissen und Arbeitslagern, oft unauffindbar. Dass die Haftbedingungen in China, die Folter mit einschlössen, eine Lebensgefahr darstellten, sei bekannt. Selbst nach der Freilassung würden Gefangene beständig bespitzelt und drangsaliert und bei jedem wirklichen oder angeblichen Vorkommnis, wie zum Beispiel einer Demonstration, Plakatierung etc., unter dem Verdacht der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erneut verhaftet. Die gleiche Behandlung sei auch bei Tibetern zu erwarten, die versucht hätten, im Ausland Asyl zu bekommen.
52 
In der Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 wird ausgeführt, (eine Tibeterin müsse) sogar schon deshalb, weil sie in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt habe, (…) in China mit strafrechtlichen Maßnahmen rechnen. Tibeter, die das Land auf dem Fluchtweg verlassen hätten, würden nicht als Flüchtlinge, sondern als illegale Immigranten angesehen. In China drohten ihnen wegen Landesverrats schwere Strafen. Dagegen drohe ein solches Schicksal Han-Chinesen nicht. Sie würden im schlimmsten Fall mit Geldstrafen belegt. Ein Beispiel für die Folgen, die tibetischen „Rückkehrern“ blühten, sei der Fall einer Gruppe von 18 tibetischen Jugendlichen, die im Jahr 2002 in Nepal wegen fehlender Papiere inhaftiert worden seien. Nachdem sie mehrere Monate im Dili Bazar Gefängnis von Kathmandu/Nepal gesessen hätten, seien sie am 31.05.2003 von chinesischen Beamten dort abgeholt worden. Mit Einverständnis der nepalischen Behörden seien sie zur Grenze gebracht und von dort nach Tibet repatriiert worden. Ein junger Flüchtling der Gruppe, der sich habe frei kaufen können, habe erneut die Flucht riskiert und befinde sich in Indien. Sein Bericht bezeuge, wie es den jugendlichen Tibetern ergangen sei und mache deutlich, wie groß die Gefahr für alle sei, die repatriiert würden.
53 
Vom Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel liegt eine Stellungnahme an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 11.02.2007 - AN 14 K 05.31454 - vor. Darin heißt es, Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, müssten mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen (S. 2). An anderer Stelle wird ausgeführt, Personen, die aus dem Ausland zurückkehrten, stießen zumeist auf geballtes Misstrauen - und zwar sogar dann, wenn sie die Volksrepublik China mit offizieller Genehmigung verlassen hätten. Seien sie unerlaubt ausgereist, hätten sie ohnehin einen der in Kapitel 6, Abschnitt 3 (§§ 308-323 chin. StGB) aufgeführten Straftatbestände erfüllt. So werde beispielsweise gemäß § 322 chin. StGB mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft, wer unerlaubt die Staatsgrenze übertrete. Auch Personen, die mit behördlicher Erlaubnis das Land verlassen hätten (und dann wieder zurückgekehrt seien), hätten nicht selten mit Sanktionen zu rechnen. Verhaftet worden seien beispielsweise im Juni und im August 2004 mehrere aus Indien zurückkehrende Tibeter (Zahl unbekannt), ohne dass in der Öffentlichkeit dafür Gründe angegeben worden wären. Im Juni 2004 seien vier Rückkehrer festgenommen worden (genauer Grund unbekannt). Im November 2003 sei ein Rückkehrer zu vier Jahren Haft verurteilt worden, weil er Schriften des Dalai Lama mit sich geführt habe. Wer im Ausland gar an Demonstrationen oder Flugblattaktionen teilgenommen habe, sei überdies im Sinne des § 103 chin. StGB (Spaltung des Staates) schuldig. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe er dann die dort aufgeführten Gefängniskonsequenzen zu tragen (S. 2).
54 
Nach dem Gutachten des Klemens Ludwig vom 23.05.2011 an das Verwaltungsgericht Stuttgart - A 11 K 4958/10 - ist das Mindeste, womit Tibeter rechnen müssen, die nach illegalem Verlassen in das Hoheitsgebiet der Volksrepublik China zurückkehren, eine verschärfte Überwachung. Aufgrund der weit verbreiteten Willkür seien auch Maßnahmen, die den Charakter von politischer Verfolgung hätten, wie Inhaftierung und eventuelle Folter, nicht auszuschließen (S. 12 GA). Die Stellung eines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland (oder anderswo) werde von den Behörden der Volksrepublik China zwar als feindlicher Akt betrachtet, doch zeige die Praxis, dass asylsuchende Chinesen - sofern sie nicht verfolgten Gruppen wie Falun Gong oder der romtreuen katholischen Kirche angehörten - in der Regel bei einer Rückkehr unbehelligt blieben. Für asylsuchende Tibeter liege der Fall aufgrund der besonderen Willkür anders. Für sie könne ein Asylantrag auch als „separatistische Haltung“ ausgelegt werden, so dass von einer Verfolgung ausgegangen werden könne. Die Maßnahmen reichten von Verhören über Verhaftung bis hin zu Haftstrafen und Folter (ebenfalls S. 12 GA).
55 
(3) Die genannten sowie alle weiteren vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse (siehe dazu im Folgenden) rechtfertigen den Schluss, dass für die Klägerin aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr besteht.
56 
Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats illegal aus China ausgereist. Nach der persönlichen Anhörung der Klägerin durch den Senat vermittelten die Angaben zu ihrer Ausreise im Jahre 2008 den Eindruck, dass die geschilderte Art der Ausreise zumindest in ihren Grundzügen wahren Erlebnissen entspricht und auf selbst gewonnenen Ortskenntnissen beruht. Manche Einzelheiten wurden zwar bloß vage, stereotyp und wenig nachvollziehbar dargestellt. Dies trübt das gewonnene Bild aber nicht entscheidend, zumal entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nach der Erkenntnislage eine legale Ausreise aus China für tibetische Volkszugehörige keineswegs unproblematisch - und damit die Mühsal einer illegalen Grenzüberquerung auch nicht von vornherein unnötig - ist. So ist eine legale Ausreise nach der Auskunft des Tibet Information Network vom 24.07.2006 (Nr. 3) - obwohl „im Prinzip möglich“ - faktisch mit vielen Schikanen verbunden und oft schlichtweg unmöglich. Nach Auskunft der SFH vom 28.01.2009 (Situation ethnischer und religiöser Minderheiten, S. 3) können Tibeter das Land kaum noch verlassen. Nach Informationen des U.S. Department of State werden Passanträge von Tibetern häufig abgelehnt; manchmal könne dies durch Bestechung geändert werden, manchmal bleibe es bei der Ablehnung (International Religious Freedom Report July-December 2010, Tibet, sec. II). Auch nach einer weiteren Quelle ist es für Tibeter generell - unabhängig von ihrer politischen Meinung - schwierig, einen Reisepass zu erhalten (Klemens Ludwig, Gutachten vom 23.05.2011 S. 7). Der Senat wertet auch diese Erkenntnisse als Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich illegal ausgereist ist. Nach Abschluss ihres Reisewegs hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich anschließend hier für einen mehrjährigen Zeitraum - mittlerweile über drei Jahre - aufgehalten.
57 
Die Klägerin hat sich zudem nach ihren - zur Überzeugung des Senats zutreffenden, von der Beklagten auch nicht in Frage gestellten - Angaben im Bundesgebiet jedenfalls in folgender Weise für die Angelegenheiten der Tibeter öffentlich betätigt: Am 10.03.2009 nahm sie - belegt mit Fotos von dieser Veranstaltung - an einer von der Tibetinitiative Deutschland e.V. und dem Verein der Tibeter in Deutschland e.V. organisierten Mahnwache vor dem chinesischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main teil. An der Mahnwache waren nach Angaben der Klägerin ca. 70 Personen beteiligt, wobei Transparente für die Freiheit Tibets und tibetische Fahnen gezeigt wurden. Es gab Sprechchöre für die Freiheit Tibets und für den Dalai Lama. Die tibetischen Teilnehmer sangen tibetische Lieder. Aus dem Generalkonsulat heraus sollen die Teilnehmer fotografiert worden sein. Anschließend nahm die Klägerin am gleichen Tag an einer Kundgebung ab 16 Uhr auf dem Frankfurter Römerberg teil. Am 29.08.2009 beteiligte sich die Klägerin - ebenfalls belegt mit Fotos sowie mit einer Teilnahmebestätigung der Tibet Initiative Deutschland e.V., datierend vom gleichen Tag - an einer Aktion zum „Internationalen Tag der Verschwundenen“ auf dem Marienplatz in München. Am 14.10.2009 war die Klägerin Teilnehmerin einer Mahnwache für die Freiheit Tibets in Freiburg. Hierzu hat sie das Einladungsschreiben der Organisatoren vom 12.10.2009 vorgelegt. Am 10.03.2011 nahm die Klägerin - wiederum fotografisch dokumentiert - an einer Kundgebung anlässlich des Jahrestages der Niederschlagung des Volksaufstandes in Tibet vor dem Generalkonsulat Chinas teil. Die Teilnehmer der Kundgebung sollen aus dem Generalkonsulat heraus fotografiert und gefilmt worden sein.
58 
Das bei der Klägerin gegebene Nachfluchtgeschehen begründet jedenfalls in der Gesamtschau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer politischen Verfolgung in der Volksrepublik China. Die Erkenntnislage hat sich gegenüber dem Stand bei Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 19.03.2002 (A 6 S 150/01, juris m.w.N. aus der älteren Rechtsprechung auch anderer Obergerichte) in einigen wesentlichen Punkten verändert. In der genannten Entscheidung wurde noch davon ausgegangen, dass weder ein exilpolitisches Engagement (untergeordneter Art) noch eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung oder ein Zusammentreffen dieser Gesichtspunkte eine beachtliche Verfolgungsgefahr begründe. Hieran ist nicht uneingeschränkt festzuhalten. Für tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China besteht aus jetziger Sicht nach der Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland die beachtliche Gefahr einer Verfolgung durch den chinesischen Staat jedenfalls dann, wenn eine illegale Ausreise, eine Asylantragstellung und ein mehrjähriger Auslandsverbleib hinzukommen und wenn die Möglichkeit besteht, dass das exilpolitische Engagement den chinesischen Behörden bekanntgeworden ist (ähnlich VG Wiesbaden, Urteil vom 12.10.2006 - 2 E 717/05.A -; VG Stuttgart, Urteil vom 01.10.2007 - A 11 K 141/07 -; VG Bayreuth, Urteil vom 20.12.2007 - B 5 K 07.30034 - juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009 - A 6 K 3223/08 -). Hiervon ist im Fall der Klägerin auszugehen. Insbesondere erscheint es möglich, dass chinesische Behörden belastende Daten über die Klägerin gesammelt haben, nachdem sie mehrmals öffentlich in der Nähe des chinesischen Generalkonsulats für ein unabhängiges Tibet demonstriert hat (vgl. Gutachten von TibetInfoNet an VG Bayreuth vom 24.07.2006 Rn. 5, wonach Botschaftsangehörige alle wesentlichen Demonstrationen gegen das Regime beobachten). Ob bereits allein eine illegale Ausreise aus der Volksrepublik China tibetische Volkszugehörige einer beachtlichen Verfolgungsgefahr aussetzt, kann offen bleiben (verneinend: Sächs. OVG, Urteil vom 26.06.2008 - A 5 B 263/07 - juris; bejahend Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 - E-6706/2008 - S. 9 ff. <14>; ebenso Urteil vom 27.01.2010 - D-7334/2009 - S. 12; abrufbar über http://www.bvger.ch/; Foltergefahr bejahend VG Bayreuth, Urteil vom 17.12.2007 - B 5 K 07.30073 - juris; entscheidend oder zumindest auch auf einen längeren Auslandsverbleib als solchen abstellend VG Mainz, Urteil vom 13.08.2008 - 7 K 779/07.MZ - juris; VG Gießen, Urteil vom 04.11.2008 - 2 E 3926/07.A -; VG Würzburg, Urteil vom 20.11.2009 - W 6 K 08.30173 -). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes lässt sich entnehmen, dass der chinesische Staat Angehörigen ethnischer Minderheiten besondere Aufmerksamkeit widmet, sofern sie nach seinem Verständnis als „Separatisten“ einzustufen sind. Entscheidender Anknüpfungspunkt für eine Verfolgungsgefahr bei tibetischen Volkszugehörigen ist der Separatismusverdacht (siehe Gutachten Klemens Ludwig vom 23.05.2011, S. 12: drohende Verfolgung bei „separatistischer Haltung“; ebenso: Bundesverwaltungsgericht Schweiz, Urteil vom 07.10.2009 a.a.O. <14>). Ist dieser Verdacht aus Sicht chinesischer Behörden stark, droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Der schwerwiegendste Auslöser für einen Separatismusverdacht ist nach Auswertung der dem Senat vorliegenden Informationen die exilpolitische Betätigung. Dies betont insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24.01.2008 an das Verwaltungsgericht Regensburg, wonach für tibetische Volkszugehörige bei Rückkehr nach China Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit nicht auszuschließen sind, wenn sie im Ausland aktiv und öffentlich für die Unabhängigkeit Tibets von China eingetreten sind, zum Beispiel in Form von Teilnahme an Demonstrationen. Solche Handlungen - entsprechende Auslandstaten könnten nach Rückkehr in China verfolgt werden - seien gemäß Artikel 103 chin. StGB mit Strafe bis zu zehn Jahren bewehrt. Die Auskunft stellt nicht darauf ab, dass nur exponierte Vertreter der tibetischen Exilgemeinde bedroht seien. Soweit es an Referenzfällen fehlt, kann dies nicht als Beleg für das Fehlen einer beachtlichen Gefahr dienen, da Rückführungen von Tibetern nach China nicht bekannt sind und es damit auch an Beispielen für eine verfolgungsfreie Rückkehr fehlt. Auch der Gutachter Prof. Dr. Oskar Weggel hebt in seiner Stellungnahme vom 11.02.2007 (an VG Ansbach, S. 2) hervor, dass Tibeter, die sich aktiv für die Unabhängigkeit Tibets von China einsetzten, mit Maßnahmen gegen Leib, Leben oder Freiheit rechnen müssten. Ob ein exilpolitisches Engagement bei pro-tibetischen Veranstaltungen der von der Klägerin besuchten Art für sich genommen für Tibeter grundsätzlich - auch wenn keine exponierte Stellung und kein ausgeprägt „politisches Wesen“ bescheinigt werden können - bereits eine Verfolgungsgefahr hervorruft, muss nicht entschieden werden (bejahend VG Würzburg, Urteil vom 22.06.2007 - W 6 K 07.30033 - juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009 - A 1 K 2242/08 -; VG Minden, Urteil vom 20.01.2010 - 4 K 2087/07.A - juris; VG Trier, Urteil vom 01.09.2011 - 5 K 366/10.TR -; Asylgerichtshof Österreich, Entscheidung vom 04.06.2009 - C1 313330-1/2008/8E, abrufbar über http://www.ris.bka.gv.at/; für den Fall einer bereits vor Ausreise ausgeübten und im Ausland fortgesetzten politischen Betätigung auch VG Ansbach, Urteil vom 19.03.2008 - AN 14 K 05.31454 - juris). Denn zahlreiche Erkenntnisquellen besagen, dass ein Separatismusverdacht auch durch die Gesichtspunkte illegale Ausreise, Asylantragstellung und mehrjähriger Auslandsverbleib hervorgerufen beziehungsweise verstärkt werden kann (neben den an anderen Stellen bereits genannten etwa TID e.V. vom 18.07.2002; Gottwald vom 16.11.2004 an VG Mainz; Auswärtiges Amt vom 10.03.2006 an VG Bayreuth; TibetInfoNet vom 24.07.2006 an VG Bayreuth). Betrachtet man die bei der Klägerin bestehenden Gefährdungsmomente in ihrer Summe, so muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als (vermeintliche) Separatistin in China mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Dabei wird nicht verkannt, dass manche Quellen im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise nur die Gefahren schildern, die sich für Personen ergeben, die an der Grenze zu Nepal aufgegriffen oder direkt von dort zurückgeführt werden. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass manche der ausgewerteten Quellen der tibetischen Exilbewegung nahestehen und daher teils eher einseitig gehalten sind. Gleichwohl ergibt sich auch bei entsprechender Herabstufung des Beweiswerts solcher Erkenntnismittel noch das hier zugrundegelegte Gefährdungsbild. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung lässt sich auch nicht mit Verweis auf die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.07.2008 (bestätigt mit weiterer Auskunft vom 16.06.2010) verneinen. Dabei handelt es sich um die Antwort auf die Anfrage des VG Regensburg vom 02.07.2008 - RN 4 K 08.30072 -, ob tibetische Volkszugehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt haben und sich bereits längere Zeit hier aufhalten, damit rechnen müssen, dass ihnen - unabhängig von bekanntgewordener exilpolitischer Betätigung - staatsfeindliches Verhalten vorgeworfen wird mit der Folge, wegen Landesverrats mit schweren Strafen beziehungsweise Folter bedroht zu sein. In der Stellungnahme heißt es unter anderem, soweit Rückführungen aus Deutschland erfolgt seien, hätten die rückgeführten Personen die Passkontrolle unbehindert passieren und den Flughafen problemlos verlassen beziehungsweise ihre Weiterreise in China antreten können. Bei den Ausführungen in der Auskunft vom 15.07.2008 fällt auf, dass sie wörtlich mit einer Textpassage des Lageberichts übereinstimmen, die allgemein für das Herkunftsland Volksrepublik China formuliert wurde. Der Beweiswert der Auskunft bezogen auf tibetische Volkszugehörige erscheint angesichts dessen gering, dass die speziell auf Tibeter eingehenden Stellungnahmen durchgehend einen anderen Aussagegehalt haben, nämlich in mehr oder weniger starker Form auf Gefährdungen verweisen. Es erscheint angesichts der Fragestellung zwar naheliegend, dass die Auskunft sich auch auf Tibeter beziehen sollte, jedoch zeichnet sie sich durch mangelnde Differenzierung aus, zumal Referenzfälle für die Rückführung von Tibetern nach China nicht bekannt sind. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich - anders als in der Fragestellung zu der Auskunft vorgegeben - wiederholt exilpolitisch betätigt hat. Auch die vom Bundesamt zitierte Aussage (amnesty international vom 17.05.2010 an VG Regensburg), es könne als eher unwahrscheinlich angesehen werden, dass Beantragung von Asyl in Kombination mit der Volkszugehörigkeit allein Anlass sei, die Person wegen politischer Delikte strafrechtlich zu belangen, entscheidend sei, ob diese Person sich vor oder nach der Ausreise für die Interessen der ethnischen Minderheit politisch engagiert oder gar die Unabhängigkeit der von dieser Minderheit bewohnten Gebieten gegenüber den chinesischen Behörden oder in der allgemeinen Öffentlichkeit befürwortet habe, spricht nicht gegen eine Bedrohung der Klägerin. Denn sie hat sich mehrfach in der Öffentlichkeit für die Unabhängigkeit Tibets eingesetzt.
59 
(4) Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem eigenen Nachfluchtverhalten der Klägerin beruht.
60 
Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die bereits während des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit kein Filter. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss des Erstverfahrens liegt eine entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urteil vom 18.12.2008 - 10 C 27.07 - BVerwGE 133, 31 = NVwZ 2009, 730 <731>). Im flüchtlingsrechtlichen Erstverfahren - wie hier - ist die Anerkennung subjektiver Nachfluchtgründe dagegen nicht begrenzt (BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221 = NVwZ 2009, 1167 <1168 f.>; Urteil vom 24.09.2009 - 10 C 25.08 - BVerwGE 135, 49 = NVwZ 2010, 383 <385>; Mallmann, ZAR 2011, 342). Art. 5 Abs. 2 RL 2004/83/EG übernimmt nicht die Einschränkungen des deutschen Asylrechts; Kontinuität ist bloß ein Indiz für die Glaubwürdigkeit (vgl. Begründung der Kommission vom 12.09.2001, KOM <2001> 510 endgültig, S. 18; Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, § 28 Rn. 3 u. § 29 Rn. 12; anders und unklar hingegen Hailbronner, AsylVfG, § 28 Rn. 29 <ähnlich Rn. 32 u. 34>, wonach „Nachweise“ dafür vorliegen müssen, dass der Ausländer seine Überzeugung bereits im Heimatland gehabt hat; siehe ferner zu „Sur place“-Flüchtlingen Handbuch des UNHCR Nr. 94-96).
61 
e) Dem Schutzbegehren der Klägerin steht der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes nicht entgegen.
62 
aa) Die Regelung des § 27 AsylVfG ist von vornherein nicht einschlägig, weil diese in Fällen einer anderweitigen Sicherheit vor Verfolgung in einem sonstigen Drittstaat nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber den Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausschließt (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 = NVwZ 2005, 1087; Ott in GK AsylVfG, § 27 Rn. 16; zur Vorgängervorschrift: BVerwG, Urteil vom 06.04.1992 - 9 C 143.90 - BVerwGE 90, 127 = NVwZ 1992, 893 m.w.N.).
63 
bb) Auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist indes vom Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes sowohl im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit des Betroffenen als auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen (Dritt-)Staat geprägt. Er vermittelt grundsätzlich kein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes und insbesondere kein Recht auf freie Wahl eines Zweit- oder Drittzufluchtslandes (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O., m.w.N.), sondern stellt insoweit lediglich sicher, dass der Flüchtling nicht in den Verfolgerstaat abgeschoben oder der Gefahr einer solchen Abschiebung in einem Drittstaat (Kettenabschiebung) ausgesetzt werden darf (Refoulement-Verbot). Hat der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden, kann er - unbeschadet des in jedem Falle unbedingt zu beachtenden Verbots der Abschiebung in den Verfolgerstaat - darüber hinaus grundsätzlich nicht mehr seine Anerkennung als Flüchtling sowie das damit verbundene qualifizierte Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland (§ 25 Abs. 2 AufenthG) beanspruchen. Dieser Grundsatz der Subsidiarität kommt beispielsweise auch in dem Ausschlussgrund nach Art. 1 E GFK zum Ausdruck, nach dem das Abkommen nicht auf eine Person anzuwenden ist, die von den zuständigen Behörden des Landes, in dem sie ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (vgl. hierzu auch Art. 12 Abs. 1 b RL 2004/83/EG, wonach ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat, vgl. ferner Handbuch des UNHCR Nr. 144 bis 146). Abgesehen von diesem in der Genfer Flüchtlingskonvention für eine besondere Konstellation ausdrücklich geregelten Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005, a.a.O.; zustimmend Ott, a.a.O., § 27 Rn. 16).
64 
cc) Die Klägerin hat sich nach ihrer Ausreise aus China eigenen Angaben zufolge länger als drei Monate in Nepal aufgehalten. Mit Rücksicht auf den Grundsatz der Subsidiarität kommt es deshalb darauf an, ob sie in Nepal vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Nepal zurückkehren kann. Dies muss verneint werden. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe räumt die nepalesische Regierung tibetischen Flüchtlingen nicht immer das Recht ein, einen Asylantrag zu stellen oder in Nepal zu bleiben, außer für die kurze Zeit des Transits in einen Drittstaat (vgl. SFH, Nepal: Situation von TibeterInnen in Nepal, 22.10.2004, S. 5, unter Berufung auf UNHCR). Neu ankommenden tibetischen Flüchtlingen sei es verboten, im Land zu bleiben (vgl. SFH, a.a.O., S. 3). Es sollen auch Fälle bekannt sein, in denen Flüchtlinge an die chinesischen Behörden ausgeliefert wurden (vgl. SFH, a.a.O., S. 4). Nepalesische Behörden verlangten, dass tibetische Flüchtlinge innerhalb von zwei Wochen das Land verließen (vgl. SFH, a.a.O., S. 6). Diese Erkenntnisse werden bestätigt durch die Stellungnahme der Tibet Initiative Deutschland e.V. vom 28.02.2006 zum Asylverfahren B 5 K 05.30078 (S. 3). Auch dort heißt es, dass es für Tibeter, die nicht schon sehr lange in Nepal lebten, unmöglich sei, dort zu bleiben (ob dies die Möglichkeit der Weiterreise nach Indien beinhaltet, wird nicht gesagt). Von anderer Seite wird bekräftigt, tibetische Flüchtlinge seien in Nepal von Rückschiebung bedroht (Klemens Ludwig, 23.05.2011, S. 11 f.).
65 
Nichts Gegenteiliges ergibt sich aus den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes. Im Lagebericht vom 08.11.2005, Stand Oktober 2005 (S. 22 f.) heißt es, im Mai 2003 seien 18 tibetische Personen, die von Tibet nach Nepal geflüchtet seien - trotz internationaler Proteste - durch nepalesische Behörden unter Anwendung von Gewalt nach China abgeschoben worden, anstatt ihnen wie bei früheren Fällen die Ausreise nach Indien zu gestatten. Dies sei offensichtlich auf Grund massiven chinesischen Drucks geschehen. Die Personen seien in China zunächst vorübergehend in Haft gewesen. Als Grund der Verhaftung sei offiziell illegaler Grenzübertritt (ohne notwendige Papiere) genannt worden. Die Personen seien dann wieder freigelassen worden. Nichtregierungsorganisationen hätten jedoch über gravierende Repressalien und Folter während der Haft in chinesischen Gefängnissen berichtet. Seit der Abschiebung der Flüchtlinge am 31.05.2003, die auf Grund ihrer Einmaligkeit internationales Aufsehen erregt habe, seien die nepalesischen Behörden zu dem vorher üblichen Verfahren zurückgekehrt und hätten zugesichert, es auch in Zukunft anzuwenden. Dies bedeute in der Praxis, dass alle von den Behörden in Nepal aufgegriffenen tibetischen Flüchtlinge zunächst dem UNHCR-Büro in Kathmandu überstellt und von dort nach Indien weitergeleitet würden. Diese Zusicherung sei nach Kenntnis der deutschen Botschaft Kathmandu auch weitestgehend eingehalten worden, abgesehen von einigen Fällen mit kriminellem Hintergrund (Schmuggel, Drogenhandel). Danach bestätigt sich, dass es im Mai 2003 zu einer Rückführung von Tibetern von Nepal nach China gekommen ist. Zwar ist im Weiteren (noch) von „Einmaligkeit“ des Vorfalls sowie von der Praxis die Rede, aufgegriffene Tibeter dem UNHCR-Büro in Kathmandu zu überstellen und von dort nach Indien weiterzuleiten. Eine rechtliche oder auch nur tatsächliche Verfestigung dieser Praxis, die eine Sicherheit vor politischer Verfolgung gewährte, lässt sich dem aber nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, als in späteren Lageberichten des Auswärtigen Amtes die zitierten Ausführungen fehlen, eine andere Quelle aus neuerer Zeit aber die Gefahr der Rückführung nach China betont.
66 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO (zur Quotelung siehe BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 - Buchholz 310 § 155 VwGO Nr. 12). Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens folgt aus § 83b AsylVfG.
67 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14. Juni 2012 - A 6 K 737/12 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der nach seinen Angaben am ...1977 in Douala geborene Kläger ist kamerunischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Bamileke an. Er ist ledig, christlichen Glaubens und spricht Französisch, Bamileke und etwas Englisch. Vor seiner Ausreise lebte er in Yaoundé in Kamerun. Seine Mutter und vier Geschwister leben in Kamerun; sein Vater ist 1993 verstorben. Der Kläger reiste am 16.11.2011 mit dem Flugzeug nach Deutschland ein.
Am 06.12.2011 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 17.01.2012 gab er an, er sei homosexuell. Er sei am 11.02.2011 von der Polizei verhaftet, zusammengeschlagen und an der Lippe verletzt worden, so dass sie stark geblutet habe. Bei einem der nachfolgenden Krankenhausbesuche habe er vor der Polizei fliehen können und habe Kamerun verlassen. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass er seinen Freund M... bei dessen Ankunft zu einer Geburtstagsfeier in der Öffentlichkeit umarmt und geküsst habe. Nachbarn, die dies gesehen hätten, sowie die Polizei seien kurz darauf in die Wohnung eingedrungen, in der die Feier stattgefunden habe. Der Kläger übergab dem Bundesamt eine Fotografie, auf der er mit einem Pflaster an der rechten Oberlippe zu sehen ist.
Mit Bescheid vom 15.03.2012 lehnte das Bundesamt (1.) den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte (2.) fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Außerdem stellte es (3.) fest, dass die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde (4.) zur Ausreise aufgefordert, ihm wurde die Abschiebung nach Kamerun angedroht.
Am 04.04.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat seinen bisherigen Vortrag ergänzt und vertieft. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2012 ist der Kläger vom Einzelrichter persönlich angehört worden. Wegen seiner dortigen Angaben wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung in der Akte des Verwaltungsgerichts verwiesen (A 6 K 737/12). Der ursprüngliche Antrag auf Verpflichtung der Beklagten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, ist in der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt worden.
Mit Urteil vom 14.06.2012 hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist, hat den Bescheid des Bundesamtes vom 15.03.2012 hinsichtlich Ziffer 2 und 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er habe in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass er im Jahr 2000 zur Erkenntnis gekommen sei, homosexuell veranlagt zu sein, und seither sein Leben entsprechend gestaltet habe. Offen ausgelebte Homosexualität sei in Kamerun gesellschaftlich geächtet. Homosexuelle Handlungen seien in Kamerun auch dann strafbar, wenn sie unter erwachsenen Männern im Einverständnis aller Beteiligten erfolgten. Sie würden mit Gefängnis zwischen sechs Monaten und fünf Jahren sowie Geldstrafe bestraft. Auch Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Homosexualität sei möglich. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werde Art. 347bis Code Pénal, der lediglich homosexuelle Handlungen bestrafe, von den Strafverfolgungsbehörden in der Praxis falsch angewandt, indem Personen schon wegen Homosexualität verhaftet und verurteilt würden und nicht nur dann, wenn tatsächlich homosexuelle Handlungen vorlägen. Dementsprechend würden Personen allein aufgrund einer (auch nur vermuteten) homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen und der Unzucht angeklagt, bevor überhaupt nach Beweisen für die Homosexualität gesucht werde. Es komme zu willkürlichen Festnahmen aufgrund vermuteter Homosexualität. Unter diesen Umständen bestehe eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger wegen seiner gleichgeschlechtlichen Neigungen in Kamerun Freiheitsentziehung drohe. Dabei könne für die Beurteilung der Schwere der dem Kläger drohenden Gefahr auch nicht außer Acht bleiben, dass ihm schon im Falle der bloßen vorläufigen Festnahme aufgrund einer Anzeige Polizeigewalt, extralegale Exekution oder langjährige Untersuchungshaft unter erbärmlichen Bedingungen drohten. Es könne ihm auch nicht zugemutet werden, das persönlichkeitsprägende Merkmal der Homosexualität zu unterdrücken oder zu verheimlichen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 13.07.2012 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 11.09.2012 hat der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (A 9 S 1510/12).
Am 27.09.2012 hat die Beklagte die Berufung begründet. Das Verwaltungsgericht habe zunächst zu Recht dem Kläger nicht geglaubt, dass er vorverfolgt ausgereist sei. Jedoch hätte das Verwaltungsgericht auch im Übrigen aufgrund der allgemeinen Lage keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung annehmen dürfen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 14.06.2011 werde Homosexualität nur in Einzelfällen strafrechtlich verfolgt. Vielmehr gebe es in Kamerun ein homosexuelles Leben, das aber nicht öffentlich gemacht werde.
Das Urteil des EuGH vom 05.09.2012 (Rs. C-71/11 u.a.) sei auf den vorliegenden Fall nur bedingt übertragbar. Es beziehe sich auf einen anderen Verfolgungsgrund. Gleichwohl habe die Beklagte entschieden, in Übertragung dieser Grundsätze einen Schutzsuchenden wegen seiner individuellen sexuellen Prägung nicht mehr auf eine mögliche Verhaltensanpassung zur Vermeidung einer Verfolgung zu verweisen. Dazu sei die Beklagte nach Art. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304 vom 30.09.2004, S. 12, ber. ABl. L 204 vom 05.08.2005, S. 24 - im Folgenden: RL 2004/83/EG) befugt. Notwendig sei eine doppelte Prognose: Zunächst zum konkret im Einzelfall tatsächlich nach Rückkehr zu erwartenden Verhalten und sodann zu den gerade hieran anknüpfenden Reaktionen seitens der in Betracht zu ziehenden Verfolgungsakteure. Der EuGH habe eine Prüfung und Feststellung im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen gefordert, ob er aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr laufe, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Eine begründete Furcht liege vor, sobald im Hinblick auf die persönlichen Umstände vernünftigerweise anzunehmen sei, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland Betätigungen vornehmen werde, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzten. Sei nach der Einzelfallprüfung davon auszugehen, dass sich der Kläger nach Rückkehr lediglich in zurückgenommener Weise verhalten werde, und zeige sich nach der Quellenlage nicht, dass ein beachtliches Gefährdungsrisiko in Anknüpfung an dieses Verhalten bestehe, sei die Situation nicht anspruchsbegründend. Soweit die Verhaltensanpassung auf subjektive Befürchtungen für den Fall eines darüber hinausgehenden Handelns zurückzuführen sei, stelle dies zwar eine Beeinträchtigung des Einzelnen dar. Die Beeinträchtigung müsse jedoch eine Intensität im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG erreichen. Dies sei dann nicht erkennbar. Die Verhaltenseinschränkung erreiche nicht die Schwere einer Verletzung nach Art. 3 EMRK, weil die Verhaltensveränderung nicht erzwungen sei, sondern darauf zurückgehe, dass der Kläger - unabhängig von den ihn leitenden Motiven - es von sich aus für geboten halte, sein Verhalten entsprechend einzuschränken.
10 
Zu prüfen sei daher, wie sich der Kläger vor dem Verlassen seines Heimatlandes verhalten habe, wie er sich seither hier verhalte und ob sich dies bei der Gesamtbetrachtung als Konsequenz einer bestehenden Persönlichkeitsprägung zeige. Dabei könne es nicht allein auf die subjektive Sicht des Schutzsuchenden ankommen. Vielmehr sei auch nach der Rechtsprechung des EuGH zu prüfen, wie sich der Betreffende vernünftigerweise verhalten werde. Bislang sei nicht feststellbar, dass der Kläger in Kamerun kein den dortigen Verhältnissen angepasstes Leben führen werde, sondern darüber hinaus gehe. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger sich bei einer Rückkehr an der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seinem Heimatland orientieren werde.
11 
Die Beklagte beantragt,
12 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 14.06.2012 - A 6 K 737/12 - zu ändern und die Klage abzuweisen.
13 
Der Kläger beantragt,
14 
die Berufung zurückzuweisen.
15 
Zur Begründung verweist der Kläger auf seine bisherigen Angaben. Er sei in seinem Heimatland misshandelt und in Haft genommen worden.
16 
Mit Beschluss vom 31.10.2012 hat der Senat dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung des Senats persönlich angehört worden. Insoweit wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 07.03.2013 verwiesen.
17 
Der Senat hat die Erkenntnismittel, die in der den Beteiligten am 04.02.2012 übermittelten Liste sowie in dem Schreiben des Senats vom 15.02.2013 (AS 307) genannt sind, zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Des Weiteren sind die „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 „Kamerun - Todesdrohungen gegen Menschenrechtsanwälte“ und die Länderinformation von der Homepage des Auswärtigen Amtes „Kamerun, Stand Oktober 2012“ in die mündliche Verhandlung eingeführt worden. Zudem hat der Senat beim Auswärtigen Amt, bei Amnesty International und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe Auskünfte eingeholt. Sie sind den Beteiligten vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gebracht worden.
18 
Dem Senat liegt die den Kläger betreffende Akte des Bundesamts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akte, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze sowie die in das Verfahren eingeführten Auskünfte verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die Berufung hat keinen Erfolg.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) der Beklagten ist nicht begründet.
I.
21 
Der Kläger hat auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Kamerun vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG und § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung wird in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG modifiziert. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Kamerun eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen bzw. auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Kamerun gegeben. In Kamerun ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Kamerun nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen bzw. im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger - zumindest auch - homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Das Vorbringen des Klägers zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie zu seinem Sexualverhalten machte auf den Senat den Eindruck, dass er von selbst Erlebtem berichtet. Der Kläger hat angegeben, seit dem Jahr 2000 - also im Alter von 23 Jahren - gemerkt zu haben, dass er „sich mit Männern besser fühle“. Davor sei er zwar auch mit Frauen ausgegangen und habe etwas mit Frauen gehabt. Der Wechsel sei jedoch ein natürlicher Vorgang gewesen. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger dazu angegeben, dies sei keine allmähliche Entwicklung gewesen. Sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Senat hat der Kläger angegeben, M...-... sei seine erste homosexuelle Beziehung gewesen, sie habe seit dem Jahr 2000 bis zur Ausreise im Jahr 2011 angedauert. Vor seiner Verhaftung am 11.02.2011 habe er ihn nicht zum ersten Mal öffentlich geküsst. Dies sei ein Reflex, den man nicht kontrollieren könne. Allerdings habe man nicht zusammengelebt. Nach seiner Flucht habe er M... von der Elfenbeinküste aus eine E-Mail geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Er habe seit dem Vorfall keinen Kontakt mehr mit ihm. Vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, er habe mit M... keinen Kontakt mehr, weil er keine Handynummer von ihm besitze. Diese Angabe ist plausibel, weil der Kläger in seiner Anhörung in anderem Zusammenhang angegeben hat, die Polizei habe ihm sein Portemonnaie sowie sein Handy weggenommen. In Deutschland hatte der Kläger nach eigenen Angaben nur eine kurze Beziehung zu einer Person außerhalb Baden-Württembergs. Allerdings ist auch hier angesichts des ländlichen Wohnorts des Klägers und seiner Sprachschwierigkeiten nachvollziehbar, dass er es trotz der Freiheit in Deutschland schwer hat, eine neue homosexuelle Beziehung zu finden. Für den Senat glaubhaft hat der Kläger weiter angegeben, in Kamerun hätten seine Arbeitskollegen nichts von seiner Homosexualität gewusst, nur einige Freunde. Seine Familie in Douala habe zunächst nur vermutetet, dass er homosexuell sei. Nach seiner Festnahme am 11.02.2011 hätten sie es jedoch erfahren. Gleichwohl hätten sie ihn nicht verstoßen. Er sei weiterhin in der Nachfolge seines Vaters der „Chef“ der Familie bzw. des Clans. Die Blutsbande seien insoweit stärker. Probleme mit der Polizei habe er bis zum Vorfall vom 11.02.2011 nicht gehabt.
52 
Der Senat geht vor diesem Hintergrund weiter davon aus, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Kamerun wie bisher verhalten wird und dass dies für seine Identität besonders wichtig ist.
53 
b) Von diesen persönlichen Verhältnissen und einem daraus abzuleitenden wahrscheinlichen Verhalten des Klägers ausgehend droht ihm von staatlicher Seite derzeit Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG, insbesondere in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
54 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens bzw. des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellten, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
55 
Bei der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten bzw. öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
56 
bb) Dem Kläger droht eine solche Verfolgung allerdings nicht - wie das Verwaltungsgericht der Sache nach angenommen hat - schon allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Gruppe der Homosexuellen in Kamerun.
57 
(1) Denn nach derzeitiger Erkenntnislage unterliegen Homosexuelle in Kamerun wegen des Fehlens der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte keiner Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
58 
(a) In den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wird zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG durch den Staat Kamerun wegen Homosexualität Folgendes ausführt:
59 
Art. 347bis Code Pénal sieht bei gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis 5 Jahren und eine Geldstrafe zwischen 20.000 und 200.000 CFA-Francs BEAC (etwa 30 bis 300 EUR) vor (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012; Auskunft von Amnesty International - AI - an den Senat vom 13.12.2012; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - an den Senat vom 07.11.2012, S. 1). Die Regierung hat wohl angekündigt, das Strafgesetzbuch dahingehend zu verschärfen, dass gegen Personen wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren Gefängnis und eine Geldstrafe in Höhe von bis zu zwei Millionen CFA-Francs BEAC (ca. 3.050 EUR) verhängt werden kann. Allerdings hat sie das Vorhaben bisher nicht umgesetzt. Es haben nach der Ankündigung des ehemaligen Justizministers im Jahr 2011 keine weiteren Debatten dazu stattgefunden (SFH, Auskunft vom 07.11.2012, S. 1 f.; AI, Auskunft vom 06.12.2012).
60 
Soweit homosexuelle Personen diskret leben, wird dies nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012 von der Gesellschaft zumeist - zumindest in den urbanen Gebieten (Yaoundé, Douala, Bamenda) - toleriert und von den Strafverfolgungsbehörden erst verfolgt, wenn eine Anzeige erstattet wird. Wer Homosexualität dagegen öffentlich lebt, läuft dringende Gefahr, dafür seitens der Strafverfolgungsbehörden bestraft zu werden zu werden. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 wird Homosexualität in Einzelfällen verfolgt. Verurteilungen stehen oft in Verbindung mit anderen Straftaten wie etwa Bestechung oder - aus dem Bereich der „Offenses Sexuelles“ - die Verletzung des Schamgefühls Dritter im privaten Bereich, was den Tatbestand der Nötigung miteinschließt („Outrage privé à la pudeur“, Art. 295). Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen sind zwar selten, kommen jedoch vor. Zumeist führen Denunziation oder üble Nachrede zu diesen Festnahmen. Am 26.03.2010 wurden in der Lobby eines großen Hotels in Duala ein australischer Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die für Rechte von Homosexuellen eintritt, sowie zwei Kameruner von Polizisten in Zivil festgenommen. Der Vorwurf, gegen Art. 347bis des kamerunischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben, ließ sich nach Augenzeugenberichten nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz wurden die drei Männer in Haft genommen und erst drei Tage später aufgrund der Intervention der Menschenrechtsanwältin Alice Nkom wieder freigelassen. Es ist in Kamerun nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.12.2012 weiter nicht unüblich, unzutreffenden Vorwürfen ausgesetzt zu werden. Dies ist ein beliebtes Mittel, eine Person zu diffamieren und zu schwächen. Dabei wird häufig der Vorwurf der Korruption verwendet; aber auch der Homosexualität. Eine statistische Aussage über die Häufigkeit kann naturgemäß nicht getroffen werden. Sie hält sich jedoch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Bereich von weniger als zehn Fällen landesweit pro Jahr.
61 
Zur Praxis der Strafverfolgung hat Amnesty International am 13.12.2012 Folgendes mitgeteilt:
62 
„Seit 2005 werden in Kamerun Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Orientierung zunehmend Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Inhaftierungen und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen. Die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker äußerte im Mai 2005 ihre große Sorge über die wachsende Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten in Kamerun.
63 
Auch bei bloßer, unbestätigter Homosexualität droht in Kamerun Strafverfolgung, wenn Menschen nach Ansicht ihrer Umwelt zum Beispiel Kleidung tragen oder Verhaltensweisen und Eigenschaften zeigen, die nicht ihrem Geschlecht entsprechen. Dabei ist es unerheblich, welche sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität sie tatsächlich haben. Solche Menschen werden diskriminiert, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt und werden häufig von Menschen ihrer Umgebung angezeigt und von der Polizei willkürlich festgenommen. Angehörige der Polizei werden bei jedem Hinweis auf Homosexualität aus der Bevölkerung tätig.
64 
Da gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen nach dem Strafgesetzbuch von Kamerun eine Straftat darstellen, bleibt Homosexuellen in Kamerun nur die Möglichkeit, so zu leben, dass ihre sexuelle Orientierung oder Identität in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird. Sie müssen in ständiger Angst vor Denunziation oder weiterer Verfolgung leben.
65 
Es ist Homosexuellen in Kamerun de facto nicht möglich, ihre sexuelle Orientierung offen zu leben. Festnahme und gerichtliche Verfolgung sind ihnen gewiss. Ihnen drohen angesichts der sehr weitverbreiteten Homophobie in der Gesellschaft weitreichende Ausgrenzung sowie gewalttätige körperliche oder psychische Übergriffe seitens der staatlichen Behörden, der Bevölkerung, des Gefängnispersonals und der Sicherheitskräfte.
66 
Laut Strafgesetzbuch sind lediglich gleichgeschlechtliche Handlungen verboten. In der Praxis wird das Gesetz jedoch wesentlich weiter ausgelegt. So werden die meisten Betroffenen allein aufgrund ihrer vermuteten sexuellen Orientierung verfolgt, angeklagt und verurteilt. In kaum einem Fall gibt es Zeugenaussagen über mutmaßliche gleichgeschlechtliche Handlungen.
67 
Rechtsstaatliche Prinzipien werden bei den Verfahren nicht hinreichend beachtet. So erfolgt beispielsweise keine ordentliche Beweisaufnahme. Die Anklageerhebung erfolgt nicht entsprechend der Strafprozessordnung Kameruns: So befinden sich verdächtige Personen z.T. mehrere Monate oder Jahre ohne Anklageerhebung oder Anhörung in Untersuchungshaft. Verurteilte Inhaftierte werden mitunter auch nach Ende ihrer Haftstrafe weiterhin im Gefängnis festgehalten. Die Richter unterliegen politischer Einflussnahme und Korruption.
68 
In einigen Fällen werden im Gewahrsam durch psychische oder körperliche Folter und andere Formen der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung Geständnisse erpresst. Hierfür sind z.B. Schläge auf die Fußsohlen im Polizeigewahrsam üblich. Immer wieder berichten homosexuelle Männer, dass sie unter Zwang einer medizinischen Analuntersuchung unterzogen werden, die Folter und anderen Formen von grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen kann und gegen die Achtung der Privatsphäre verstößt.“…
69 
„Da der bloße Verdacht auf Homosexualität für eine Anklage reicht, macht es keinen Unterschied, ob Homosexualität diskret oder indiskret gelebt wird.“…
70 
„Amnesty International verfügt über keine vollständige Liste von Personen, die Opfer von Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Begründung ihrer mutmaßlichen sexuellen Orientierung wurden.“ … „Im Zeitraum März 2011 bis März 2012 wurden 17 Menschen festgenommen, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Die Zahl ist steigend.“
71 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 ergibt sich, dass Human Rights Watch Präsident Biya aufgefordert hat, etwas gegen die andauernden Todesdrohungen gegen zwei Menschenrechtsanwälte, Alice Nkom und Michel Togué, zu unternehmen, die Personen vertreten, die wegen angeblicher Homosexualität angeklagt sind.
72 
Aus einer weiteren „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 14.01.2013 ergibt sich, dass in einem Revisionsverfahren am 07.01.2013 in der Hauptstadt Yaoundé zwei Männer vom Vorwurf der Homosexualität freigesprochen wurden. Sie waren im Juli 2011 festgenommen und im November 2011 wegen Homosexualität zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil war 2011 u.a. damit begründet worden, dass die beiden Frauenkleider getragen hätten. Wie Human Rights Watch im Oktober 2012 berichtete, verbüßten zu diesem Zeitpunkt mindestens vier Personen Haftstrafen wegen Homosexualität. 2011 seinen 14 Personen deswegen angeklagt und 12 davon verurteilt worden.
73 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamts vom 27.02.2012 ergibt sich, dass erstmals drei Frauen wegen der Vornahme von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen angeklagt wurden.
74 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 zur Strafverfolgungspraxis Folgendes ausgeführt:
75 
„Missachtung der gesetzlichen Grundlagen. In der Praxis werden Personen willkürlich aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen. 2011 wurden laut Angaben von Amnesty International und des US Department of State zehn bis dreizehn Personen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftet. Eine Mehrheit dieser wurde nicht in flagrante delicto ertappt, wie es Art. 347bis des Strafgesetzbuchs vorschreibt, sondern lediglich aufgrund der Vermutung inhaftiert, dass sie homosexuelle Beziehungen unterhalten. Oftmals wurden die rechtlichen Vorgaben doppelt missachtet, einerseits Personen ohne ausreichende Beweislage in Bars oder ihren Häusern verhaftet, und zudem erfolgte dies ohne den benötigten Haftbefehl. Regelmäßig werden Männer festgenommen, weil sie Makeup oder feminine Kleidung tragen, die nicht den traditionellen kamerunischen Kleidern entsprechen, oder weil sie allgemein ein feminines Aussehen haben. Um eine homosexuelle Orientierung nachzuweisen, wird bei manchen Männern eine Analuntersuchung richterlich angeordnet, um Penetration vermeintlich nachweisen zu können. Sowohl Frauen als auch Männer werden in Untersuchungshaft auf verschiedenste Art und Weise, etwa durch Schläge auf die Fußsohlen, dazu gebracht, ihre Homosexualität zu gestehen.
76 
Verurteilungen gemäß Art. 347bis. Im November 2011 wurden drei Männer wegen „homosexueller Handlungen“ für schuldig befunden und erhielten eine Gefängnisstrafe von je fünf Jahren. Drei weitere Männer und eine Frau, welchen vorgeworfen wurde, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu führen, waren im August 2011 verhaftet worden und warteten am Jahresende noch immer in Haft auf die Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Amnesty International nennt weitere Personen, die wegen vermeintlichen homosexuellen Handlungen festgenommen und daraufhin vorläufig frei gelassen wurden. Zum Teil wurden diese Personen in die Falle gelockt von Spitzeln und Angehörigen der Sicherheitskräfte, die mit ihnen Kontakt aufnahmen und vortäuschten, homosexuell zu sein. Ein prominenter Fall ist der von Jean-Claude Mbede, der am 28. April 2011 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, nachdem er eine als verdächtig erachtete SMS an einen Bekannten geschickt hatte. Der Bekannte gab vor, sich mit Mbede verabreden zu wollen, zeigte die SMS aber der Polizei, welche Mbede daraufhin bei der vermeintlichen Verabredung auflauerte und festnahm. Im August und September 2011 gab sich ein Hochstapler auf von Homosexuellen rege benutzten sozialen Netzwerken als schwul aus, verabredete sich mit mindestens drei Männern und übergab sie dann umgehend der Polizei. Die verhafteten Männer wurde gezwungen, Schmiergelder zu bezahlen, welche sich der Betrüger und die Polizisten unter einander aufteilten.
77 
Gefängnisbedingungen. Die Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen als inhuman und sogar lebensbedrohlich beschrieben. Zellen sind chronisch überbelegt und verdreckt, Betten und sanitäre Anlagen sind ungenügend vorhanden, Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte und Folter sind weit verbreitet. Inhaftierte homosexuelle Personen werden in den Gefängnissen oft Opfer von Diskriminierung, Schlägen, verbaler und sexueller Gewalt durch andere Häftlinge oder Gefängniswärter. Jugendliche, die angeklagt sind, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, erhalten in Hafteinrichtungen nicht den für Minderjährige verlangten Schutz. Einem jungen homosexuellen Mann, der 2005 inhaftiert und im Gefängnis vergewaltigt wurde, wurde zudem der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung verwehrt. Er starb wenige Tage nach seiner Entlassung an den Folgen einer unbehandelten AIDS-Erkrankung.“
78 
(b) Zu von Seiten nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG drohenden Verfolgungshandlungen enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
79 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 ausgeführt:
80 
„Zugehörige der LGBT-Gemeinschaft (erg.: Abkürzung für Lesbian, Gays, Bisexual, Transgender) werden in Kamerun regelmäßig zu Opfern von Belästigung und Erpressung, sowohl von Seiten der Zivilbevölkerung als auch Polizeibeamten und anderen Gesetzeshütern. In Folge dessen sind sie gezwungen, sich unauffällig zu verhalten und ihre sexuelle Identität zu verstecken, indem sie zumeist in heterosexuellen Beziehungen leben. Oftmals sind es Personen im unmittelbaren Umfeld der Opfer, wie zum Beispiel Nachbarn, Vermieter oder Bekannte, welche sie anzeigen und ihnen Homosexualität vorwerfen.
81 
Seit einer homophoben Predigt des Erzbischofs von Yaoundé, Victor Tonyé Bakot, im Dezember 2005, hat sich die Situation für homosexuelle Menschen in Kamerun weiter verschlechter. Als Folgen von Tonyé Bakots Predigt starteten 2006 drei kamerunische Zeitungen eine Hetzkampagne und publizierten Listen mit Namen und Fotos von 'verdächtigen Homosexuellen', viele davon namhafte Politiker und Geschäftsführer. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, weitere Homosexuelle anzuzeigen. Am 1. Januar 2010 hat der Erzbischof von Yaoundé erneut in einer öffentlichen Rede homosexuelle Kameruner angeprangert, deren 'unmoralische' Aktivitäten 'gegen christliche Sitten verstoßen' und die deshalb in katholischen Kirchen nicht willkommen seien. Homosexualität wird im öffentlichen Diskurs als 'unafrikanisch' und allgemeines Grundübel der Gesellschaft bezeichnet. Die damit verbundenen Assoziationen sind mannigfaltig, sie reichen von sozialen Problemen wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenkonsum zu Infektionen und gesundheitlichen Beschwerden, Hämorrhoiden und Inkontinenz. Regelmäßig werden sowohl von Privatpersonen als auch Regierungsangehörigen Vorwürfe von vermuteter Homosexualität benutzt, um Rufmordkampagnen gegen politische Gegner durchzuführen oder Geld zu erpressen.“…
82 
„Fehlender staatlicher Schutz vor Übergriffen. Kameruns Justizsystem ist politisch beeinflussbar, ineffizient und chronisch korrupt. Nur begrenzt wird gegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte, der Polizei und der Gendarmerie vorgegangen, und auch bei Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung existiert eine hohe Straflosigkeit. Justizbehörden sind außerdem nicht in der Lage, die Sicherheit von inhaftierten Personen in Gefängnissen zu gewährleisten. Laut Angaben einer Kontaktperson vor Ort bietet der kamerunische Staat Angehörigen von sexuellen Minderheiten keinerlei Schutz vor Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung. Aus Angst, die Täter könnten der Polizei ihre sexuelle Identität offenbaren, verzichten Homosexuelle oftmals auch darauf, Anzeige bei Verbrechen wie Diebstahl, Raub oder Belästigung zu erstatten. Der kamerunische Soziologe Charles Gueboguo hält es für eine bewusste Strategie der kamerunischen Regierung, Homosexuellen keinen Schutz vor Übergriffen zu bieten oder sich gegen die weit verbreitete Homophobie einzusetzen, da dies von anderen wesentlichen Problemen Kameruns wie der stetig steigenden Armut ablenkt. Mit der prekären sozioökonomischen Lage Kameruns ist 'queer bashing' so zu einer legitimen Haltung avanciert, welche der Bevölkerung ein Ventil für andere Sorgen zu bieten scheint.
83 
LGBT-Aktivisten und -Organisationen. Es gibt eine Anzahl von Organisationen in Kamerun, die sich für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft einsetzen…. Die Diskriminierung von Personen, die in LGBT-Organisationen tätig sind, ist jedoch weit verbreitet, und Aktivisten setzen sich aufgrund ihres Engagements großen Risiken aus. …“.
84 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 zu den von privater Seite drohenden Gefahren und zu eventuellem Schutz durch staatliche Stellen Folgendes ausgeführt:
85 
„Die bloße, unbetätigte Veranlagung wird von der Gesellschaft in weiten Teilen toleriert. Homosexuelle können ihre Veranlagung jedoch nicht öffentlich leben. Auch die diskrete Lebensweise wird allenfalls geduldet. Oft weiß man davon, 'schaut aber weg'. Wer Homosexualität offen lebt, läuft dringend Gefahr, Opfer von Diskriminierung bis hin zu physischer Gewalt zu werden. Die großen Kirchen haben sich ausdrücklich gegen die Akzeptanz von Homosexualität ausgesprochen. Diese Haltung spiegelt die der Gesellschaft wider. In den Augen des allergrößten Teils der Gesellschaft ist Homosexualität widernatürlich und krank. Der Staat schützt nach dem Gesetz jeden Bürger gleichermaßen. In der Lebenswirklichkeit in Kamerun wird die Polizei jedoch die von privater Seite drohenden Gefahren für eine Zeitlang in Kauf nehmen und erst auf medialen Druck einschreiten.“
86 
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 ist ausgeführt (S. 12):
87 
„Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Homosexualität in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch gebracht, geächtet und verurteilt. Fast alle gesellschaftliche Gruppen, auch zahlreiche Kirchen, an prominenter Stelle auch Vertreter der katholischen Kirche, setzen sich für ein strikteres staatliches Vorgehen gegen Homosexuelle ein. Die Freiheit der sexuellen Orientierung ist nicht als Menschenrecht anerkannt.“
88 
Amnesty International hat in seiner Auskunft an den Senat vom 13.12.2012 Folgendes ausgeführt:
89 
„Züchtigung und Bestrafung durch Mitglieder der Familie, Verstoß aus der Familie, Schuldzuweisungen wie Verdächtigung der Hexerei und Magie sowie Denunzierung durch Angehörige und Bekannte sind hochwahrscheinlich… Religiöse Führer und Medien rufen immer wieder zur Ablehnung und Verfolgung von Homosexualität auf. So veröffentlichten die Zeitungen ‚L’Anecdote‘ und 'Nouvelle Afrique' 2006 eine Liste mit Namen von mutmaßlichen Homosexuellen. Im Juni 2012 schrieb der katholische Geistliche Moses Tazoh in der Zeitung ‚L’Effort camerounais‘, dass die Kirche Homosexualität als widernatürliches, abnormales Verhalten ablehne. Immer wieder wird Homosexualität auch mit Pädophilie gleichgesetzt.
90 
Im Dezember 2011 wurden vier Studenten in Kumba (Südwestregion) von einem jungen Mann beschuldigt, homosexuell zu sein, nachdem er versucht hatte, Geld von ihnen zu bekommen. Da die Studenten ihm dieses Mal kein Almosen gaben, alarmierte der Mann die Nachbarschaft. Daraufhin schlugen und traten Nachbarn die Studenten, so dass sie später medizinisch behandelt werden mussten. Einer der Studenten wurde anschließend von seinem Schwager zur Polizeiwache gebracht und als homosexuell denunziert. Polizeibeamte misshandelten ihn und versuchten, das Geständnis zu erpressen, dass er gleichgeschlechtlichen Sex mit einem seiner Freunde hatte. Die vier Studenten wurden in Polizeigewahrsam genommen und nach neun Tagen in Untersuchungshaft verlegt. Das Gerichtsverfahren ist weiter anhängig. Inzwischen wurden die Männer auf Kaution vorläufig freigelassen.
91 
Von staatlicher Seite können Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören, keinerlei Schutz erwarten. Die meisten homosexuellen Personen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, haben Angst, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Sie gehen davon aus, dass die Täter nicht bestraft werden und viele Angehörige der Polizei und der Sicherheitskräfte korrupt sind, Anzeigen nicht weiterleiten und selber gewalttätige Übergriffe an vermeintlichen Homosexuellen verüben…. Regierungsvertreter Kameruns und staatliche Sicherheitskräfte befürworten öffentlich, gezielt gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen vorzugehen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen engagieren, und sie zu attackieren…. Die allgegenwärtigen Vorurteile gegen LGBTI-Personen, die in Gesetz und Praxis zementiert werden, schaffen ein Umfeld, in dem die Bevölkerung oft zu Recht glaubt, dass sie LGBTI-Personen mit Straffreiheit diskriminieren kann. Am 27. Juni 2011 wurden beispielsweise zwei junge Frauen in der Zeitung „New Bell District Douala“ von ihren Familienangehörigen der Beteiligung an einer gleichgeschlechtlichen Beziehung bezichtigt. In der Folge gab es Übergriffe auf die Frauen. Aus Angst um das Leben der beiden Frauen riefen einige Familienmitglieder die Polizei. Jedoch wurden die Frauen verhaftet und später freigelassen. Die Behörden haben keine Maßnahmen gegen die Täter ergriffen.“
92 
(c) Zur Frage, ob in Kamerun eine Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 RL 2004/83/EG besteht, enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
93 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft an den Senat vom 06.12.2012 mitteilt:
94 
„Es gibt in Kamerun geographische und soziale Unterschiede. Im ländlichen Bereich sowie im eher muslimischen Norden werden Homosexuelle eher Schwierigkeiten haben als in urbanen Gebieten. In den Metropolen Jaounde und Douala gibt es informelle Treffpunkte, wo Homosexuelle zusammenkommen. Einblick in die Oberschicht wird in dieser Frage Außenstehenden jedoch nicht gewährt. Die Hinweise auf bestehende einschlägige Institutionen und Treffen sind jedoch allgegenwärtig und glaubwürdig.“
95 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Stellungnahme vom 07.11.2012 an den Senat ausgeführt:
96 
„Nach Angaben einer Kontaktperson vor Ort gibt es keine spezifischen sozialen Kreise oder Regionen, in denen sexuelle Minderheiten weniger stigmatisiert und marginalisiert sind. Die Konzentration von LGBT-Organisationen auf gewisse Städte führe aber dazu, dass Homosexuelle nur in diesen Regionen Zugang zu Aktivitäten zur Verteidigung der Rechte als sexuelle Minderheiten und zu juristischer Vertretung haben. Als Folge stammt die Mehrheit der dokumentierten Fälle von Inhaftierungen und Verurteilungen aus diesen urbanen Gegenden. Tatsächlich fanden die Mehrheit der seit 2005 dokumentierten Verhaftungen in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé und in der verhältnismäßig liberalen Stadt Douala im Südwesten Kameruns statt. Drei Frauen wurden außerdem im ländlichen Grenzdorf Ambam im Süden Kameruns verhaftet. Human Rights Watch berichtet weiter von einer Anzahl von Personen, die in Gefängnissen in Buea und Ebolowa inhaftiert sind, zwei Städten ebenfalls im Südwesten Kameruns.
97 
Bildungsbereich. Homophobie und Stigmatisierung beruhen auch im Bildungsbereich, wo homosexuelle Personen teilweise von Schulen und Universitäten gewiesen werden. So wurde beispielsweise ein junger Mann nach Beendigung seiner Haftstrafe von der Universität, an der er Informatik studierte, ausgeschlossen. Er war im Mai 2005 während einer Razzia in einem Nachtklub in Yaoundé festgenommen und neun Monate später unter Artikel 347bis zu Freiheitsentzug verurteilt worden.“
98 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 an den Senat Folgendes mitgeteilt:
99 
„Die Gesetze und Rechtsprechung gelten landesweit. In keiner der 17 Regionen Kameruns wird Homosexualität von Amtsträgern oder gesellschaftlich toleriert. Homosexualität kann in keinem Landesteil offen oder diskret gefahrlos gelebt werden, Homosexuelle sind an allen Orten der ständigen Gefahr der Diskriminierung und Denunziation mit entsprechenden Folgen ausgesetzt.
100 
In den Metropolen Yaoundé und Douala sind die Organisationen für die Rechte von LGBTI-Personen und HIV/AIDS-Prävention, die mit LGBTI-Personen arbeiten sowie die wenigen Anwälte für LGBTI-Rechte ansässig. Zusätzlich gibt es in diesen Städten auch einige Treffpunkte für Homosexuelle. Die Möglichkeiten der Kommunikation und der Internetvernetzung sind besser. Daher befindet sich dort die größte LGBTI-Gemeinschaft. Ebenso sind Medien in diesen Städten vertreten. Folglich gibt es in diesen Städten auch mehr Verfolgung von LGBTI-Personen und die größte Zahl an Verhaftungen.
101 
In ländlichen Regionen und kleineren Städten findet Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ebenso statt und es kommt zu Verhaftungen. Es gibt weniger Anonymität. Die Bevölkerung ist in den Familien und lokalen Gemeinschaften sowie in religiösen Gemeinden und durch die Tradition stärker eingebunden. Mutmaßliche Homosexuelle werden zusätzlich der Hexerei und Magie beschuldigt. … Homosexuelle der obersten Elite aus Politik, Wirtschaft und Kultur können aufgrund vorhandener finanzieller Möglichkeiten und Beziehungen diskreter leben als Menschen in der Mittel- und Unterschicht. Gleichwohl gab es seit 2005 auch öffentliche Anschuldigungen von Homosexualität gegen bekannte Persönlichkeiten. Bislang ist Amnesty International jedoch kein Fall bekannt, in dem eine dieser Beschuldigungen zu einer Festnahme oder Anklageerhebung geführt hätte. … Der Zugang zur Justiz ist Personen aus der Unterschicht und Mittelschicht dagegen wegen hoher Kosten und langwieriger Prozesse verwehrt. Ferner verlieren sie jeglichen gesellschaftlichen und familiären Rückhalt. Der Beispielsfall verdeutlicht auch, dass Denunzierungen genutzt werden, um Menschen zu schädigen, da Vorwürfe von Homosexualität mit Rufmord gleichzusetzen sind. Es wird versucht, politische Gegner mit diesem Mittel auszuschalten.“
102 
(d) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Kamerun im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Kamerun mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
103 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb als solche öffentlich bemerkbar sind, kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist von einem erheblichen Risiko auszugehen, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln (vgl. zusätzlich den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7) ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
104 
Außerdem ist es beachtlich wahrscheinlich, dass Homosexuelle, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar sind, auch von privater Seite Verfolgungshandlungen erleiden, wie etwa physische Gewalt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG, ohne dass staatliche Stellen in der Lage oder willens wären, hiervor Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu bieten.
105 
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
106 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
107 
Der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sind in Kamerun jedoch nur gering ausgeprägt (vgl. auch den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7 bis 9), so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Staat Kamerun homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung im Falle von strafrechtlich relevanten Handlungen gegen Homosexuelle ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
108 
Diese Aussagen gelten landesweit; auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen schon wegen (vermuteter) Homosexualität verhaftet oder unterliegen Gewalttaten von nichtstaatlicher Seite.
109 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
110 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
111 
Allerdings kann es auch in Fällen einer im Verborgenen gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte, der die Veranlagung im Verborgenen lebt, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Kamerun zu gering. Die Zahl derjenigen, die wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 347bis Code Pénal verhaftet wurden, liegt im unteren zweistelligen Bereich. Amnesty International geht in seiner Auskunft vom 13.12.2012 davon aus, dass 17 Personen im Zeitraum März 2011 bis März 2012 festgenommen wurden, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Auch die Zahl der berichteten sonstigen körperlichen Übergriffe liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
112 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: 25.02.2013) davon aus, dass in Kamerun geschätzte 20,5 Millionen Menschen leben. Legt man weiter zugrunde, dass davon 40,5 % bis 14 Jahre alt, 20,5 % zwischen 15 und 24 Jahren, 33,8 % zwischen 25 und 59 Jahren und 5,2 % 60 Jahre und älter sind (vgl. die für realistisch befundenen Angaben der Beklagten zur Gesamtbevölkerung) sowie ferner, dass 1 bis 2 % der Frauen und 2 bis 4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“), kommt man für die Bevölkerungsgruppe zwischen 15 und 59 Jahren selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern zu einer Zahl von 100.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen damit lässt die Zahl der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Fälle, die sich im unteren zweistelligen Bereich bewegt, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer körperlichen Verletzung oder einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt. Denn es ist auch zu berücksichtigen, dass nach den oben dargestellten Erkenntnismitteln Verfolgungshandlungen nicht immer nur tatsächlich homosexuell veranlagte Menschen treffen. Vielmehr wird der Vorwurf der Homosexualität auch häufig eingesetzt, um eine Person öffentlich zu diskreditieren oder zu beseitigen. Diese Möglichkeit besteht jedoch potentiell bei jedem erwachsenen Einwohner Kameruns unabhängig von seiner sexuellen Ausrichtung. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine homosexuell veranlagte Person auch ohne handfeste Beweise aufgrund bloßer Verdächtigungen oder aufgrund einer Denunzierung durch Nachbarn, Bekannte oder Kollegen einer Verfolgungshandlung ausgesetzt wird, höher als bei nicht homosexuell veranlagten Menschen. Insgesamt ist jedoch auch dann keine solche Verfolgungsdichte gegeben, dass allein aufgrund des Merkmals der Homosexualität von einer Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann.
113 
(2) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
114 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Kamerun geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
115 
cc) Jedoch ist hinsichtlich des Klägers nach einer individuellen Prüfung davon auszugehen, dass ihm von staatlicher Seite - weiterhin - Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG drohen. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass er bereits einmal derartige staatliche Verfolgungshandlungen erlitten hat. Insoweit kommt ihm die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zu Gute. Daher kann hier dahinstehen, ob dem Kläger auch unabhängig von einer Vorverfolgung nach einer bloßen Würdigung der übrigen in seiner Person vorliegenden Umstände bei einer Rückkehr nach Kamerun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde (zum Maßstab vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
116 
(1) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger wegen seiner Homosexualität bereits einer diskriminierenden Strafverfolgung unterzogen wurde (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Der Kläger war bis zu seiner Flucht für zehn Tage in einer Polizeistation inhaftiert. Er hat für den Senat glaubhaft angegeben, dass er dort verhört worden sei. Außerdem sei einer der Bewohner des Stadtviertels, in dem der Vorfall passiert sei, als Zeuge vernommen worden. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass der Kläger auf der Straße seinen Freund M... begrüßt, umarmt und geküsst habe. Nach der Begrüßung sei der Kläger mit M... in die Wohnung eines weiteren Freunds gegangen, in der eine Feier stattgefunden habe. Kurz darauf seien Nachbarn mit Schlagstöcken in die Wohnung eingedrungen und hätten gesagt, dies sei ein Haus von Homosexuellen. Die Polizei sei ebenfalls eingetroffen. Er habe aus der Wohnung fliehen können. Ein Polizist habe jedoch das Taxi, mit dem er habe wegfahren wollen, gestoppt und ihn festgenommen. Die diesbezüglichen Angaben des Klägers im Rahmen der verschiedenen Anhörungen sind im Wesentlichen konstant und detailreich, so dass der Senat davon ausgeht, dass der Kläger der Wahrheit entsprechend berichtete. Hierfür spricht auch, dass der Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung immer in der Lage war, auf die Fragen des Senats und der Beklagten-Vertreterin spontan, anschaulich und nachvollziehbar zu antworten, sodass der Senat ein plastisches Bild von den behaupteten Geschehnissen gewinnen konnte.
117 
Homosexuelle Handlungen sind nach Art. 347bis Code Pénal der Republik Kamerun mit Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren belegt (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 12). Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.). Zudem genügen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig nicht den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
118 
(2) Nach Überzeugung des Senats wurde der Kläger, der sich wegen des Vorwurfs der Homosexualität nicht festnehmen lassen wollte, außerdem von einem Polizisten verprügelt und an der Lippe verletzt. Die Verletzung an der Lippe hat der Kläger glaubhaft mit einem Foto dokumentiert. Auch war immer noch eine Narbe an der Lippe erkennbar. Er hat dazu plausibel und überzeugend ausgeführt, das Foto sei von dem behandelnden Arzt gefertigt und auf Bitten des Klägers an einen Freund per Mail geschickt worden. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger ebenfalls angegeben, den ihn behandelnden Arzt über den Vorfall informiert zu haben. Der Arzt habe ein Foto von ihm gemacht. Er habe den Arzt gebeten, einen Freund zu informieren.
119 
Mithin hat der Kläger wegen seiner Homosexualität auch physische Gewalt erlitten (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Die körperliche Verletzung des Klägers durch einen Polizisten ist dem Staat Kamerun zurechenbar. So kann es zwar bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können. Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 40, m.w.N.). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Misshandlungen und Schikane durch Gefängniswärter, Polizisten und Angehörige des Geheimdienstes in der Praxis häufig vorkommen. Übergriffe der Sicherheitskräfte werden in der Regel nicht angemessen verfolgt (vgl. auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 7 f. und 14).
120 
dd) Des Weiteren bestehen gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird. Der Senat legt seiner Beurteilung dabei folgende Erkenntnislage zugrunde:
121 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 auf die diesbezügliche Frage des Senats ausgeführt:
122 
„Eine homosexuelle Person, die bereits wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen angeklagt wurde, muss damit rechnen, nach ihrer Rückkehr nach Kamerun verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden. Dabei wirkt sich die Flucht im laufenden Verfahren erschwerend aus, insbesondere wenn die Person aus der Haft geflohen ist. Dieser Umstand wird nicht separat verhandelt, sondern wirkt sich kumulativ auf das Strafmaß aus. Entsprechend Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs kann das Strafmaß zusätzlich um drei Monate bis ein Jahr Gefängnis erhöht werden.
123 
Homosexuelle Gefangene oder solche, die dafür gehalten werden, leiden nicht nur an unmenschlichen Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen wie Überbelegung, schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder medizinischer Versorgung und unzureichender Essensausgabe. Sie sind davon in besonderem Maße betroffen, da die meisten von ihnen von ihren Familien verstoßen wurden, diese sie daher nicht mit Essen oder Geld versorgen, um z.B. ein Bett und notwendige Medikamente zu erhalten oder Arztkosten zu begleichen.“
124 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft vom 07.11.2012 ausgeführt:
125 
„Rückkehrgefährdung. Für homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit vor einer Verurteilung ins Ausland geflüchtet sind, besteht das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft bei deren Rückkehr nach Kamerun ein Strafverfahren gegen sie einleitet. Die Tatsache der Landesausreise wird dabei nicht als separates Vergehen behandelt, sondern als erschwerender Umstand gewertet. Teilweise werden Suchbefehle (avis de recherche) für Personen ausgestellt, für die ein Verdacht auf homosexuelle Handlungen vorliegt, dies ist allerdings nicht immer die übliche Praxis. Der betroffenen Person droht unter Umständen, zusätzlich zu der Strafverfolgung aufgrund ihrer sexuellen Identität, auch eine Strafe aufgrund ihrer vergangenen Flucht vor der Verurteilung. Das Strafmaß für Flucht aus Inhaftierung liegt gemäß Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs zwischen drei Monaten und bis zu einem Jahr Gefängnis.“ (Ebenso: SFH, Gutachten vom 14.03.2007, S. 7; SFH, Auskunft vom 06.10.2009, S. 6 f.).
126 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 mitgeteilt:
127 
„Eine ausstehende Strafverfolgung aus dem Jahr 2011 wird nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes weiterhin aktuell sein und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Rückkehr der Person nach Kamerun wieder aufleben.
128 
Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass derzeit in der Praxis nur die Fälle zu tatsächlichen Gefängnisstrafen führen, bei denen die Beschuldigten durch ihr Verhalten für Aufruhr in der Bevölkerung sorgen.“
129 
Auf der Grundlage dieser weitgehend übereinstimmenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, dass der Kläger damit rechnen muss, bei seiner Rückkehr verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden und eine Haftstrafe verbüßen zu müssen. Dies gilt auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes. Denn das Verhalten des Klägers, das für seine Festnahme ursächlich war, hat zu Aufruhr in der Bevölkerung geführt.
130 
Ein etwaiges Vermeidungsverhalten des Klägers wäre im Falle seiner Rückkehr im Übrigen schon mit Blick auf die festgestellte Vorverfolgung unerheblich (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2000, a.a.O., Rn. 74).
131 
ee) Der Kläger kann bei seiner Rückkehr auch nicht auf eine derzeit bestehende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden. Es ist auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnislage nicht ersichtlich, in welchem Landesteil sich der Kläger angesichts der noch ausstehenden Strafverfolgung aufhalten bzw. in welchen er überhaupt unbehelligt einreisen kann. Jedenfalls liegen insoweit keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass ihm eine solche Fluchtalternative zur Verfügung steht.
II.
132 
Das Verwaltungsgericht hat auch über die Anfechtungsklage des Klägers zutreffend entschieden und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 15.03.2012 zu Recht aufgehoben. Denn die dort enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
133 
Auf die in erster Instanz hilfsweise geltend gemachten Verpflichtungsanträge auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, die in der Berufungsinstanz anwachsen würden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 19/96 -, BVerwGE 104, 260; Kuhlmann, in: Wysk , VwGO, 2011, § 129 Rn. 2), kommt es daher nicht mehr an.
III.
134 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
135 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Gründe

 
19 
Die Berufung hat keinen Erfolg.
20 
Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung (vgl. § 124a Abs. 6 VwGO) der Beklagten ist nicht begründet.
I.
21 
Der Kläger hat auch zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Republik Kamerun vorliegen, und auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG und § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22 
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 559), wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung dieses Abkommens ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 RL 2004/83/EG ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Die RL 2004/83/EG ist vorliegend auch noch maßgeblich, weil nach Art. 40 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 - Neufassung der RL 2004/83/EG) diese Richtlinie erst mit Wirkung vom 21.12.2013 aufgehoben wird.
23 
Nach Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist Flüchtling unter anderem derjenige Drittstaatsangehörige, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
24 
Die Voraussetzungen für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung entsprechen den Voraussetzungen, die von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für das Vorliegen einer „Verfolgungsgefahr“ verlangt wurden (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7/11 -, Juris Rn. 12). Sie liegen vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Schutzsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 -, BVerwGE 89, 162).
25 
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist beziehungsweise dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG). Unter einer eine Vorverfolgung begründenden unmittelbar drohenden Verfolgung ist eine bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.12.1993 - 9 C 45/92 -, DVBl. 1994, 524).
26 
Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 02.07.1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urteil vom 31.03.1981 - 9 C 237/80 -, Juris Rn. 13). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 - 9 C 9/96 -, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.1982 - 9 C 308/81 -, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.1997, a.a.O., 99).
27 
Diese - asylrechtliche - Nachweiserleichterung wird in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG modifiziert. Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab bleibt unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 RL 2004/83/EG erlitten hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377, und vom 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, InfAuslR 2011, 408; vgl. auch EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010 - Rs. C-175/08 u.a. - Abdulla -, NVwZ 2010, 505). Der in dem Tatbestandsmerkmal „... tatsächlich Gefahr liefe ...“ des Art. 2 Buchst. c und e RL 2004/83/EG enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“, zu diesem Begriff: EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 28.02.2008 - Nr. 37201/06 - Saadi -, NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.03.2012, a.a.O, Rn. 12, und vom 18.04.1996 - 9 C 77/95 -, Juris Rn. 6; Beschluss vom 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, ZAR 2008, 192). Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten beziehungsweise Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung beziehungsweise einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O.). Dadurch wird der Vorverfolgte beziehungsweise Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden beziehungsweise schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Demjenigen, der im Herkunftsstaat Verfolgung erlitten hat oder dort unmittelbar von Verfolgung bedroht war, kommt die Beweiserleichterung unabhängig davon zugute, ob er zum Zeitpunkt der Ausreise in einem anderen Teil seines Heimatlandes hätte Zuflucht finden können; der Verweis auf eine inländische Fluchtalternative vor der Ausreise ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52/07 -, BVerwGE 133, 55).
28 
Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung beziehungsweise des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, a.a.O.). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG bezieht sich insoweit nur auf eine zukünftig drohende Verfolgung. Maßgeblich ist danach, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011 - 10 B 32/11 -, Juris Rn. 7).
29 
Als Verfolgung im Sinne des Art. 1 A GFK gelten nach Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Buchst. a) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a beschriebenen Weise betroffen ist (Buchst. b). Beim Flüchtlingsschutz bedeutet allein die Gefahr krimineller Übergriffe ohne Anknüpfung an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund keine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.11.2011, a.a.O., Rn. 7). Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 RL 2004/83/EG genannten Verfolgungsgründen und den in Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
30 
Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 18.07.2006 - 1 C 15/05 -, BVerwGE 126, 243; Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24/06 -, Juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, BVerwGE 96, 200) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.07.2006, a.a.O.). Das Konzept der Gruppenverfolgung steht mit den Grundgedanken sowohl der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Richtlinie 2004/83/EG in Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237; vgl. zur Gruppenverfolgung zuletzt auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27.09.2010 - A 10 S 689/08 -, Juris; Urteil vom 03.11.2011 - A 8 S 1116/11 -, Juris Rn. 27 ff.).
31 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von der den Mitgliedstaaten in Art. 8 RL 2004/83/EG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, internen Schutz im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung zu berücksichtigen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG können die Mitgliedstaaten bei der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststellen, dass ein Antragsteller keinen internationalen Schutz benötigt, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Art. 8 Abs. 2 RL 2004/83/EG verlangt von den Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag. Gemäß Absatz 3 kann Absatz 1 auch angewandt werden, wenn praktische Hindernisse für eine Rückkehr in das Herkunftsland bestehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 20/08 -, Juris Rn. 14; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.02.2012 - A 3 S 1876/09 -, Juris Rn. 27 ff.).
32 
2. Bei Anwendung dieser Vorgaben hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach 3 Abs. 1 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG, weil er die Voraussetzungen hierfür erfüllt.
33 
a) Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und deshalb zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG gehört.
34 
aa) Homosexuelle bilden in Kamerun eine „soziale Gruppe“ im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und Art. 2 Buchst. c sowie Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG.
35 
(1) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine soziale Gruppe in diesem Sinne, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten.
36 
(a) Nach der vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht stellte nur die irreversible Homosexualität ein Persönlichkeitsmerkmal dar, an das Verfolgungsmaßnahmen ebenso wenig geknüpft werden durften wie beispielsweise an die in Art. 1 A Nr. 2 GK genannten Merkmale der Rasse, Nationalität, Religion oder politischen Überzeugung. In diesem Sinne asylrelevant war allerdings nicht bereits die bloße, auf gleichgeschlechtliche Betätigung gerichtete Neigung, der nachzugeben mehr oder weniger im Belieben des Betreffenden steht, sondern nur die unumkehrbare Festlegung auf homosexuelle Triebbefriedigung. Nur eine homosexuelle Veranlagung, bei welcher der Betreffende außerstande ist, eine gleichgeschlechtliche Betätigung zu unterlassen, war den schicksalhaft zufallenden persönlichen Eigenschaften wie Rasse oder Nationalität vergleichbar. Hingegen war es nicht - auch - Merkmal der Irreversibilität der homosexuellen Veranlagung, dass der Umgang mit Sexualpartnern des gleichen Geschlechts die einzige Form ist, in der die betreffende Person sich sexuell zu betätigen vermag. Auch eine neben einer heterosexuellen Orientierung vorhandene homosexuelle Triebrichtung, welcher der Betreffende aus eigener Kraft auf Dauer und immer erneut nicht zu widerstehen bzw. auszuweichen vermag und die deshalb immer wieder zur Vornahme homosexueller Handlungen führt, war irreversibel. Auch für eine gleichgeschlechtliche Veranlagung dieser Art trafen die Gründe zu, welche die irreversible Homosexualität zu einem asylrelevanten Persönlichkeitsmerkmal machten (vgl. BVerwG, Urteile vom 15.03.1988 - 9 C 278/86 -,BVerwGE 79, 143, und vom 17.10.1989 - 9 C 25/78 -, NVwZ-RR 1990, 375; Beschluss vom 15.09.2005 - 1 B 12/05 -, Juris).
37 
Die EU-Kommission hat in der Begründung ihres Vorschlags für die RL 2004/83/EG die sexuelle Ausrichtung dagegen nicht zu den angeborenen oder unveränderlichen, sondern zu identitätsprägenden Merkmalen gezählt, deren Verzicht nicht verlangt werden soll. Zugleich hat sie ausgeführt, dass der Verweis auf das Geschlecht oder die sexuelle Ausrichtung nicht implizierten, dass Frauen und Homosexuelle diesen Verfolgungsgrund in jedem Fall geltend machen könnten. Ob er Anwendung finden könne, hänge von den jeweiligen Umständen und der Situation im Herkunftsland sowie den Merkmalen der Verfolgung und des Verfolgten ab (KOM <2001> 510 endg., S. 24).
38 
Auch nach der nach Inkrafttreten der RL 2004/83/EG herrschenden Meinung werden die sexuelle Ausrichtung und mithin auch die Homosexualität zu den Merkmalen gerechnet, die für die Identität so bedeutsam sind, dass die Betreffenden nicht gezwungen werden sollten, auf sie zu verzichten (vgl. UNHCR, Guidelines on International Protection No. 9, 23.10.2012, Rn. 44 ff., siehe zur Bedeutung der UNHCR Guidelines: Art. 35 Abs. 1 GFK und BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12.03.2008 - 2 BvR 378/05 -, Juris Rn. 38; ferner: Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, 205, 210; Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 25 Rn. 2; Titze, ZAR 2012, 93, 95; Markard, Asylmagazin 2013, S. 74, 80; Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber AufenthG, 2010, § 60 Rn. 83; auch: VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 -, Juris Rn. 25; VG Frankfurt , Urteil vom 11.11.2010 - VG 4 K 772/10.A -; VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; VG Regensburg, Urteil vom 07.10.2011 - RN 5 K 11.30261 -; VG Stuttgart, Urteil vom 15.08.2012 - A 8 K 344/11 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.09.2012 - 23 K 3686/10.A -, Juris Rn. 51 ff.). Darauf, ob der Betroffene auf Homosexualität „unentrinnbar schicksalhaft festgelegt“ ist und er insoweit „irreversibel geprägt“ ist, kommt es nach der herrschenden Meinung nicht mehr an.
39 
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hatte Zweifel, ob Homosexualität als sexuelle Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 2 RL 2004/83/EG anzusehen ist und ein hinreichender Verfolgungsgrund sein kann oder ob es einer ergänzenden Präzisierung bedarf, und hat diese Frage dem EuGH vorgelegt (vgl. Beschluss vom 23.11.2010 - 13 A 1013/09.A -, Juris Rn. 40 ff.). Die Vorlage hat sich später erledigt, nachdem der EuGH den Namen des Klägers auf seiner Website öffentlich gemacht und das Bundesamt daraufhin dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2011 - 13 A 1013/09.A -, Juris). Derzeit sind beim EuGH mehrere, miteinander verbundene Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Raad von State vom 27.04.2012 anhängig (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12).
40 
(b) Eine solche Vorlage nach Art. 267 AEUV hält der Senat nicht für erforderlich, weil er keine Zweifel hinsichtlich der Auslegung der RL 2004/83/EG hat. Entscheidend für die Einordnung von Homosexualität und des Merkmals der „sexuellen Ausrichtung“ als identitätsprägendes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist, dass der EGMR Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und des Geschlechtslebens unter den von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Begriff des „Privatlebens“ subsumiert (vgl. EGMR, Urteil vom 27.09.1999 - 33985/96 u.a. - „Smith u. Grady“ -, NJW 2000, 2089 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 19 ff.). Sie fallen daher auch in den Schutzbereich von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU, die nach ihrem Art. 51 Abs. 1 Satz 1 bei der Auslegung und der Durchführung der RL 2004/83/EG zu beachten ist (vgl. Jarass, Charta der EU-Grundrechte, 2010, Art. 7 Rn. 8). Daher ist nicht eine unentrinnbare Neigung maßgebend, sondern die frei gewählte sexuelle Bestimmung (vgl. Marx, a.a.O., § 25 Rn. 4 ff.; Titze, a.a.O., S. 95). Die oben dargestellte einschränkende Bezugnahme der Kommission in der Begründung des Richtlinienentwurfs auf die Umstände des Herkunftslandes hat ihre Grundlage in der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannten Voraussetzung, die selbständig zu prüfen ist.
41 
(2) Diese in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 2 RL 2004/83/EG genannte Voraussetzung für das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ist hinsichtlich Kamerun gegeben. In Kamerun ist davon auszugehen, dass Homosexuelle eine deutlich abgegrenzte Identität besitzen, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ergibt sich aus allen vorliegenden Quellen unzweifelhaft, dass Homosexualität in Kamerun nicht für „normal“ gehalten wird.
42 
(3) Auch öffentlich bemerkbare homosexuelle Verhaltensweisen sind nicht grundsätzlich vom Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ausgenommen.
43 
(a) Darauf könnte zwar hindeuten, dass von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 1 Spiegelstrich 1 RL 2004/83/EG nur solche identitätsprägenden Merkmale geschützt sind, die so bedeutsam sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zudem findet sich - anders als in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG mit Blick auf den Begriff „Religion“ - nicht der Hinweis, dass neben dem privaten Bereich auch die Praxis im öffentlichen Bereich geschützt sei. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass das Ausleben der sexuellen Ausrichtung nur hinsichtlich des Lebens im Verborgenen bzw. im privaten Bereich geschützt sei. Dem Betreffenden sei es daher zumutbar, seine Veranlagung nur im nichtöffentlichen Bereich seines Heimatlandes auszuleben (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 17.02.2011 - 4 A 265/10 -; vgl. zu entsprechenden Zweifeln: OVG NRW, Beschluss vom 23.11.2010, a.a.O.; auch: BVerwG, Beschluss vom 09.12.2010 - 10 C 19/09 -, Juris Rn. 34 und 52). So hatte das Bundesverwaltungsgericht noch im Jahr 1988 entschieden, dass der strafrechtliche Zwang, sich entsprechend den im Herkunftsland geltenden herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hierdurch nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. darstelle. Das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 149 f.).
44 
(b) Ausgehend von der jüngsten Rechtsprechung des EuGH ist dieser Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG jedoch nicht zu folgen.
45 
Zwar gibt es auch Grenzen für den Schutzbereich des Merkmals „sexuelle Ausrichtung“. Dies folgt schon daraus, dass nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG darunter keine Handlungen fallen, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten. Diese Einschränkung gilt freilich nur insoweit, als die betreffenden nationalen Regelungen vor Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU Bestand haben. Die einvernehmliche Betätigung unter Erwachsenen im Privatbereich ist danach grundsätzlich geschützt und darf strafrechtlich nicht geahndet werden (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981 „Dudgeon“ -, NJW 1984, 541). Gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU kann allerdings die Ausübung sexueller Praktiken in der Öffentlichkeit - und zwar homo- und heterosexueller Art gleichermaßen (vgl. Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU) - weiterhin wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses (vgl. etwa § 183a StGB) untersagt werden (vgl. Marx, a.a.O., Rn. 30).
46 
Für den Verfolgungsgrund der Religion hat der EuGH am 05.09.2012 entschieden, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten können, auf einen bestimmten Aspekt der Ausübung der Religionsfreiheit - etwa die öffentliche Ausübung - zu verzichten (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 „Y. und Z. ./. Deutschland“ -, Rn. 73 ff.). Die Unterscheidung, ob der Eingriff in einen Kernbereich („forum internum“) oder in die religiöse Betätigung in der Öffentlichkeit („forum externum“) erfolgt, wurde vom EuGH für nicht vereinbar mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/83/EG befunden (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 63 ff.). Bei der Prüfung der Verfolgungshandlung darf nicht darauf abgestellt werden, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird. Maßgeblich ist allein die Art und Schwere der Repression. Bei der Prüfung einer Gefahr muss die Behörde objektive und subjektive Gesichtspunkte berücksichtigen. Der subjektive Umstand, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis in der Öffentlichkeit, die Gegenstand der beanstandeten Einschränkung ist, zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, ist ein relevanter Gesichtspunkt für die Größe der Gefahr, der der Antragsteller in seinem Herkunftsland wegen seiner Religion ausgesetzt wäre. Der EuGH hat weiter hervorgehoben, dass sich die Frage, ob eine Verfolgung durch Verzicht auf eine bestimmte Handlung vermieden werden kann, dann nicht stellt, wenn der Betroffene bereits verfolgt war oder unmittelbar mit Verfolgung bedroht worden ist (vgl. Urteil vom 05.09.2010, a.a.O., Rn. 74).
47 
Diesem Urteil ist das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 20.02.2013 gefolgt (10 C 20/12 u.a.). In der diesbezüglichen Pressemitteilung vom 20.02.2013 (die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor) heißt es: Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird. Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen. Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung. Doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung zur Flüchtlingsanerkennung führen. Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Andernfalls bliebe der Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
48 
Vor diesem Hintergrund können nach Auffassung des Senats auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG - abgesehen von den auch in den Mitgliedstaaten der EU strafbaren Handlungen (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Satz 3 RL 2004/83/EG) - nicht bestimmte Verhaltensweisen von vornherein für verzichtbar angesehen werden (vgl. Titze, a.a.O.; Markard, a.a.O., 76 ff.; UNHCR, a.a.O., Rn. 30 ff.). Der Wortlaut der Richtlinie differenziert nicht zwischen heimlichen und nicht verheimlichten Verhaltensweisen. Maßgebend ist allein das identitätsprägende Merkmal als solches. Die betreffende Verhaltensweise muss für die Identität des Betroffenen bedeutend und besonders wichtig sein. Bei einer anderen Auslegung würden die Ziele, die mit der RL 2004/83/EG sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht werden sollen, von vornherein in Frage gestellt. Eine Verfolgung bleibt nämlich auch dann eine Verfolgung, wenn der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland die Möglichkeit hat, sich bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten diskret zu verhalten, indem er seine Sexualität und seine politischen Ansichten sowie seine Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft verheimlicht oder davon Abstand nimmt, nach seiner sexuellen Ausrichtung zu leben (vgl. Schlussantrag von Generalanwalt Bot vom 19.04.2012 - Verb. Rs. C-71/11 und C-99/11 -, Rn. 103 ff.).
49 
(c) Zu prüfen ist daher, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. Bei der auf einer Gesamtwürdigung der Person des Schutzsuchenden beruhenden Prognose des Verhaltens in seinem Herkunftsland ist nicht beachtlich, ob er mit Rücksicht auf drohende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG - etwa einer zu erwartenden Strafverfolgung - auf das behauptete Verhalten verzichten würde. Denn hierbei handelt es sich um ein Vermeidungsverhalten, das vom Schutzsuchenden angesichts der Ziele der RL 2004/83/EG nicht verlangt werden kann, weil es kausal im Sinne von Art. 9 Abs. 3 RL 2004/83/EG auf einer drohenden Verfolgung beruht. Daher darf - entgegen der Auffassung des Bundesamtes - erst recht nicht angenommen werden, dass ein Schutzsuchender nur dann tatsächlich von einer Verfolgung bedroht ist, wenn er sich trotz der drohenden Verfolgungshandlung in dieser Weise verhalten würde und praktisch bereit wäre, für seine sexuelle Orientierung Verfolgung auf sich zu nehmen. Würde er jedoch aus nicht unter Art. 9 RL 2004/83/EG fallenden Gründen - etwa aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen - ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausüben, ist ein solcher Verhaltensverzicht bei der Beurteilung, ob der schutzsuchende Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG ist, zu berücksichtigen (so auch für das Vereinigte Königreich: Supreme Court, Judgement vom 07.07.2010 <2010> UKSC 31, Lord Hope, Rn. 22 und Lord Rodger, Rn. 82; ebenso: Markard, a.a.O., 789; krit.: Titze, a.a.O., 98 f., und Weßels, International Journal of Refugee Law, Vol. 24 (2013), Nr. 4, S. 815; siehe zu möglichen Prüfkriterien bei der Gesamtwürdigung: UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63). Dabei darf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sexuelles Verhalten tendenziell im Privaten stattfindet, nicht ausgeblendet werden. Denn das Ziel des europäischen Asylsystems und der Genfer Flüchtlingskonvention besteht nicht darin, einem Einzelnen immer dann Schutz zu gewähren, wenn er in seinem Herkunftsland die in der Charta der Grundrechte der EU oder in der EMRK eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang tatsächlich ausüben kann, sondern darin, die Anerkennung als Flüchtling auf Personen zu beschränken, die der Gefahr einer schwerwiegenden oder systematischen Verletzung ihrer wichtigsten Rechte ausgesetzt sind und deren Leben in ihrem Herkunftsland unerträglich geworden ist (so EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 58 ff.; Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 28).
50 
bb) In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich die Homosexualität des Klägers und damit seine Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG aus Folgendem:
51 
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger - zumindest auch - homosexuell ist (vgl. auch die vom UNHCR, a.a.O., Rn. 49 und 63, für bedeutsam gehaltenen Prüfelemente). Das Vorbringen des Klägers zu seinen persönlichen Verhältnissen sowie zu seinem Sexualverhalten machte auf den Senat den Eindruck, dass er von selbst Erlebtem berichtet. Der Kläger hat angegeben, seit dem Jahr 2000 - also im Alter von 23 Jahren - gemerkt zu haben, dass er „sich mit Männern besser fühle“. Davor sei er zwar auch mit Frauen ausgegangen und habe etwas mit Frauen gehabt. Der Wechsel sei jedoch ein natürlicher Vorgang gewesen. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger dazu angegeben, dies sei keine allmähliche Entwicklung gewesen. Sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Senat hat der Kläger angegeben, M...-... sei seine erste homosexuelle Beziehung gewesen, sie habe seit dem Jahr 2000 bis zur Ausreise im Jahr 2011 angedauert. Vor seiner Verhaftung am 11.02.2011 habe er ihn nicht zum ersten Mal öffentlich geküsst. Dies sei ein Reflex, den man nicht kontrollieren könne. Allerdings habe man nicht zusammengelebt. Nach seiner Flucht habe er M... von der Elfenbeinküste aus eine E-Mail geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Er habe seit dem Vorfall keinen Kontakt mehr mit ihm. Vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger angegeben, er habe mit M... keinen Kontakt mehr, weil er keine Handynummer von ihm besitze. Diese Angabe ist plausibel, weil der Kläger in seiner Anhörung in anderem Zusammenhang angegeben hat, die Polizei habe ihm sein Portemonnaie sowie sein Handy weggenommen. In Deutschland hatte der Kläger nach eigenen Angaben nur eine kurze Beziehung zu einer Person außerhalb Baden-Württembergs. Allerdings ist auch hier angesichts des ländlichen Wohnorts des Klägers und seiner Sprachschwierigkeiten nachvollziehbar, dass er es trotz der Freiheit in Deutschland schwer hat, eine neue homosexuelle Beziehung zu finden. Für den Senat glaubhaft hat der Kläger weiter angegeben, in Kamerun hätten seine Arbeitskollegen nichts von seiner Homosexualität gewusst, nur einige Freunde. Seine Familie in Douala habe zunächst nur vermutetet, dass er homosexuell sei. Nach seiner Festnahme am 11.02.2011 hätten sie es jedoch erfahren. Gleichwohl hätten sie ihn nicht verstoßen. Er sei weiterhin in der Nachfolge seines Vaters der „Chef“ der Familie bzw. des Clans. Die Blutsbande seien insoweit stärker. Probleme mit der Polizei habe er bis zum Vorfall vom 11.02.2011 nicht gehabt.
52 
Der Senat geht vor diesem Hintergrund weiter davon aus, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Kamerun wie bisher verhalten wird und dass dies für seine Identität besonders wichtig ist.
53 
b) Von diesen persönlichen Verhältnissen und einem daraus abzuleitenden wahrscheinlichen Verhalten des Klägers ausgehend droht ihm von staatlicher Seite derzeit Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. a sowie Art. 6 Buchst. a und Art. 9 RL 2004/83/EG, insbesondere in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Strafverfolgung (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG).
54 
aa) Auf der Grundlage des festgestellten homosexuellen Verhaltens bzw. des Verfolgungsgrunds im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/843/EG ist im Rahmen der Verfolgungsprognose zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG droht. Dabei ist es unerlässlich, den Begriff der Verfolgungshandlung von allen anderen Arten diskriminierender Maßnahmen abzugrenzen. Es ist somit zu unterscheiden zwischen dem Fall, dass eine Person bei der Ausübung eines ihrer Grundrechte einer Beschränkung oder einer Diskriminierung ausgesetzt ist und aus persönlichen Gründen oder zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen oder ihres sozialen Status auswandert, und dem Fall, dass die Person einer so schwerwiegenden Beschränkung unterliegt, dass sie Gefahr läuft, dadurch ihrer wichtigsten Rechte beraubt zu werden, ohne den Schutz ihres Herkunftslands erlangen zu können (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, a.a.O., Rn. 29). Handlungen, die gesetzlich vorgesehene Einschränkungen des Rechts auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK darstellten, ohne deswegen dieses Recht zu verletzten, sind von vornherein ausgeschlossen, weil sie durch Art. 52 Abs. 1 der Charta gedeckt sind. Zudem können Handlungen, die zwar gegen Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU und Art. 8 EMRK verstoßen, aber nicht so gravierend sind, dass sie einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, nicht als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2004/83/EG und Art. 1 A GFK gelten (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012, a.a.O., Rn. 60 f.).
55 
Bei der Verfolgungsprognose kann allerdings eine scharfe Trennung zwischen einem in die Öffentlichkeit gerichteten bzw. öffentlich bemerkbaren Verhalten, das geeignet ist, Verfolgungshandlungen (wie etwa Strafverfolgung) hervorzurufen, und einem diskreten Leben in der Praxis nicht leicht gezogen werden (vgl. auch Weßels, a.a.O.). Denn kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen.
56 
bb) Dem Kläger droht eine solche Verfolgung allerdings nicht - wie das Verwaltungsgericht der Sache nach angenommen hat - schon allein wegen seiner bloßen Zugehörigkeit zur Gruppe der Homosexuellen in Kamerun.
57 
(1) Denn nach derzeitiger Erkenntnislage unterliegen Homosexuelle in Kamerun wegen des Fehlens der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte keiner Gruppenverfolgung. Der Begriff der Zugehörigkeit zu einer „sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2004/83/EG ist von der „Gruppe“ im Sinne des Konzepts der Gruppenverfolgung zu unterscheiden. Eine soziale Gruppe kann unabhängig davon vorliegen, ob alle Mitglieder verfolgt werden. Von der Verfolgungsdichte für alle Gruppenmitglieder würde jedoch die widerlegliche Verfolgungsvermutung für den einzelnen Schutzsuchenden abgeleitet (vgl. Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., Rn. 82).
58 
(a) In den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wird zur Gefahr einer Strafverfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG durch den Staat Kamerun wegen Homosexualität Folgendes ausführt:
59 
Art. 347bis Code Pénal sieht bei gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis 5 Jahren und eine Geldstrafe zwischen 20.000 und 200.000 CFA-Francs BEAC (etwa 30 bis 300 EUR) vor (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012; Auskunft von Amnesty International - AI - an den Senat vom 13.12.2012; Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - an den Senat vom 07.11.2012, S. 1). Die Regierung hat wohl angekündigt, das Strafgesetzbuch dahingehend zu verschärfen, dass gegen Personen wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen ein Strafmaß von bis zu 15 Jahren Gefängnis und eine Geldstrafe in Höhe von bis zu zwei Millionen CFA-Francs BEAC (ca. 3.050 EUR) verhängt werden kann. Allerdings hat sie das Vorhaben bisher nicht umgesetzt. Es haben nach der Ankündigung des ehemaligen Justizministers im Jahr 2011 keine weiteren Debatten dazu stattgefunden (SFH, Auskunft vom 07.11.2012, S. 1 f.; AI, Auskunft vom 06.12.2012).
60 
Soweit homosexuelle Personen diskret leben, wird dies nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Senat vom 06.12.2012 von der Gesellschaft zumeist - zumindest in den urbanen Gebieten (Yaoundé, Douala, Bamenda) - toleriert und von den Strafverfolgungsbehörden erst verfolgt, wenn eine Anzeige erstattet wird. Wer Homosexualität dagegen öffentlich lebt, läuft dringende Gefahr, dafür seitens der Strafverfolgungsbehörden bestraft zu werden zu werden. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 wird Homosexualität in Einzelfällen verfolgt. Verurteilungen stehen oft in Verbindung mit anderen Straftaten wie etwa Bestechung oder - aus dem Bereich der „Offenses Sexuelles“ - die Verletzung des Schamgefühls Dritter im privaten Bereich, was den Tatbestand der Nötigung miteinschließt („Outrage privé à la pudeur“, Art. 295). Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen sind zwar selten, kommen jedoch vor. Zumeist führen Denunziation oder üble Nachrede zu diesen Festnahmen. Am 26.03.2010 wurden in der Lobby eines großen Hotels in Duala ein australischer Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, die für Rechte von Homosexuellen eintritt, sowie zwei Kameruner von Polizisten in Zivil festgenommen. Der Vorwurf, gegen Art. 347bis des kamerunischen Strafgesetzbuchs verstoßen zu haben, ließ sich nach Augenzeugenberichten nicht nachvollziehen. Nichtsdestotrotz wurden die drei Männer in Haft genommen und erst drei Tage später aufgrund der Intervention der Menschenrechtsanwältin Alice Nkom wieder freigelassen. Es ist in Kamerun nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 06.12.2012 weiter nicht unüblich, unzutreffenden Vorwürfen ausgesetzt zu werden. Dies ist ein beliebtes Mittel, eine Person zu diffamieren und zu schwächen. Dabei wird häufig der Vorwurf der Korruption verwendet; aber auch der Homosexualität. Eine statistische Aussage über die Häufigkeit kann naturgemäß nicht getroffen werden. Sie hält sich jedoch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Bereich von weniger als zehn Fällen landesweit pro Jahr.
61 
Zur Praxis der Strafverfolgung hat Amnesty International am 13.12.2012 Folgendes mitgeteilt:
62 
„Seit 2005 werden in Kamerun Personen aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen sexuellen Orientierung zunehmend Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Inhaftierungen und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen. Die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker äußerte im Mai 2005 ihre große Sorge über die wachsende Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten in Kamerun.
63 
Auch bei bloßer, unbestätigter Homosexualität droht in Kamerun Strafverfolgung, wenn Menschen nach Ansicht ihrer Umwelt zum Beispiel Kleidung tragen oder Verhaltensweisen und Eigenschaften zeigen, die nicht ihrem Geschlecht entsprechen. Dabei ist es unerheblich, welche sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität sie tatsächlich haben. Solche Menschen werden diskriminiert, sind gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt und werden häufig von Menschen ihrer Umgebung angezeigt und von der Polizei willkürlich festgenommen. Angehörige der Polizei werden bei jedem Hinweis auf Homosexualität aus der Bevölkerung tätig.
64 
Da gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen nach dem Strafgesetzbuch von Kamerun eine Straftat darstellen, bleibt Homosexuellen in Kamerun nur die Möglichkeit, so zu leben, dass ihre sexuelle Orientierung oder Identität in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird. Sie müssen in ständiger Angst vor Denunziation oder weiterer Verfolgung leben.
65 
Es ist Homosexuellen in Kamerun de facto nicht möglich, ihre sexuelle Orientierung offen zu leben. Festnahme und gerichtliche Verfolgung sind ihnen gewiss. Ihnen drohen angesichts der sehr weitverbreiteten Homophobie in der Gesellschaft weitreichende Ausgrenzung sowie gewalttätige körperliche oder psychische Übergriffe seitens der staatlichen Behörden, der Bevölkerung, des Gefängnispersonals und der Sicherheitskräfte.
66 
Laut Strafgesetzbuch sind lediglich gleichgeschlechtliche Handlungen verboten. In der Praxis wird das Gesetz jedoch wesentlich weiter ausgelegt. So werden die meisten Betroffenen allein aufgrund ihrer vermuteten sexuellen Orientierung verfolgt, angeklagt und verurteilt. In kaum einem Fall gibt es Zeugenaussagen über mutmaßliche gleichgeschlechtliche Handlungen.
67 
Rechtsstaatliche Prinzipien werden bei den Verfahren nicht hinreichend beachtet. So erfolgt beispielsweise keine ordentliche Beweisaufnahme. Die Anklageerhebung erfolgt nicht entsprechend der Strafprozessordnung Kameruns: So befinden sich verdächtige Personen z.T. mehrere Monate oder Jahre ohne Anklageerhebung oder Anhörung in Untersuchungshaft. Verurteilte Inhaftierte werden mitunter auch nach Ende ihrer Haftstrafe weiterhin im Gefängnis festgehalten. Die Richter unterliegen politischer Einflussnahme und Korruption.
68 
In einigen Fällen werden im Gewahrsam durch psychische oder körperliche Folter und andere Formen der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung Geständnisse erpresst. Hierfür sind z.B. Schläge auf die Fußsohlen im Polizeigewahrsam üblich. Immer wieder berichten homosexuelle Männer, dass sie unter Zwang einer medizinischen Analuntersuchung unterzogen werden, die Folter und anderen Formen von grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen kann und gegen die Achtung der Privatsphäre verstößt.“…
69 
„Da der bloße Verdacht auf Homosexualität für eine Anklage reicht, macht es keinen Unterschied, ob Homosexualität diskret oder indiskret gelebt wird.“…
70 
„Amnesty International verfügt über keine vollständige Liste von Personen, die Opfer von Strafverfolgungsmaßnahmen mit der Begründung ihrer mutmaßlichen sexuellen Orientierung wurden.“ … „Im Zeitraum März 2011 bis März 2012 wurden 17 Menschen festgenommen, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Die Zahl ist steigend.“
71 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 18.02.2013 ergibt sich, dass Human Rights Watch Präsident Biya aufgefordert hat, etwas gegen die andauernden Todesdrohungen gegen zwei Menschenrechtsanwälte, Alice Nkom und Michel Togué, zu unternehmen, die Personen vertreten, die wegen angeblicher Homosexualität angeklagt sind.
72 
Aus einer weiteren „Briefing Note“ des Bundesamtes vom 14.01.2013 ergibt sich, dass in einem Revisionsverfahren am 07.01.2013 in der Hauptstadt Yaoundé zwei Männer vom Vorwurf der Homosexualität freigesprochen wurden. Sie waren im Juli 2011 festgenommen und im November 2011 wegen Homosexualität zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil war 2011 u.a. damit begründet worden, dass die beiden Frauenkleider getragen hätten. Wie Human Rights Watch im Oktober 2012 berichtete, verbüßten zu diesem Zeitpunkt mindestens vier Personen Haftstrafen wegen Homosexualität. 2011 seinen 14 Personen deswegen angeklagt und 12 davon verurteilt worden.
73 
Aus einer „Briefing Note“ des Bundesamts vom 27.02.2012 ergibt sich, dass erstmals drei Frauen wegen der Vornahme von gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen angeklagt wurden.
74 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 zur Strafverfolgungspraxis Folgendes ausgeführt:
75 
„Missachtung der gesetzlichen Grundlagen. In der Praxis werden Personen willkürlich aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten homosexuellen Orientierung ohne Anklage in Untersuchungshaft genommen. 2011 wurden laut Angaben von Amnesty International und des US Department of State zehn bis dreizehn Personen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verhaftet. Eine Mehrheit dieser wurde nicht in flagrante delicto ertappt, wie es Art. 347bis des Strafgesetzbuchs vorschreibt, sondern lediglich aufgrund der Vermutung inhaftiert, dass sie homosexuelle Beziehungen unterhalten. Oftmals wurden die rechtlichen Vorgaben doppelt missachtet, einerseits Personen ohne ausreichende Beweislage in Bars oder ihren Häusern verhaftet, und zudem erfolgte dies ohne den benötigten Haftbefehl. Regelmäßig werden Männer festgenommen, weil sie Makeup oder feminine Kleidung tragen, die nicht den traditionellen kamerunischen Kleidern entsprechen, oder weil sie allgemein ein feminines Aussehen haben. Um eine homosexuelle Orientierung nachzuweisen, wird bei manchen Männern eine Analuntersuchung richterlich angeordnet, um Penetration vermeintlich nachweisen zu können. Sowohl Frauen als auch Männer werden in Untersuchungshaft auf verschiedenste Art und Weise, etwa durch Schläge auf die Fußsohlen, dazu gebracht, ihre Homosexualität zu gestehen.
76 
Verurteilungen gemäß Art. 347bis. Im November 2011 wurden drei Männer wegen „homosexueller Handlungen“ für schuldig befunden und erhielten eine Gefängnisstrafe von je fünf Jahren. Drei weitere Männer und eine Frau, welchen vorgeworfen wurde, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu führen, waren im August 2011 verhaftet worden und warteten am Jahresende noch immer in Haft auf die Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Amnesty International nennt weitere Personen, die wegen vermeintlichen homosexuellen Handlungen festgenommen und daraufhin vorläufig frei gelassen wurden. Zum Teil wurden diese Personen in die Falle gelockt von Spitzeln und Angehörigen der Sicherheitskräfte, die mit ihnen Kontakt aufnahmen und vortäuschten, homosexuell zu sein. Ein prominenter Fall ist der von Jean-Claude Mbede, der am 28. April 2011 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, nachdem er eine als verdächtig erachtete SMS an einen Bekannten geschickt hatte. Der Bekannte gab vor, sich mit Mbede verabreden zu wollen, zeigte die SMS aber der Polizei, welche Mbede daraufhin bei der vermeintlichen Verabredung auflauerte und festnahm. Im August und September 2011 gab sich ein Hochstapler auf von Homosexuellen rege benutzten sozialen Netzwerken als schwul aus, verabredete sich mit mindestens drei Männern und übergab sie dann umgehend der Polizei. Die verhafteten Männer wurde gezwungen, Schmiergelder zu bezahlen, welche sich der Betrüger und die Polizisten unter einander aufteilten.
77 
Gefängnisbedingungen. Die Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen als inhuman und sogar lebensbedrohlich beschrieben. Zellen sind chronisch überbelegt und verdreckt, Betten und sanitäre Anlagen sind ungenügend vorhanden, Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte und Folter sind weit verbreitet. Inhaftierte homosexuelle Personen werden in den Gefängnissen oft Opfer von Diskriminierung, Schlägen, verbaler und sexueller Gewalt durch andere Häftlinge oder Gefängniswärter. Jugendliche, die angeklagt sind, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, erhalten in Hafteinrichtungen nicht den für Minderjährige verlangten Schutz. Einem jungen homosexuellen Mann, der 2005 inhaftiert und im Gefängnis vergewaltigt wurde, wurde zudem der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung verwehrt. Er starb wenige Tage nach seiner Entlassung an den Folgen einer unbehandelten AIDS-Erkrankung.“
78 
(b) Zu von Seiten nichtstaatlicher Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG drohenden Verfolgungshandlungen enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
79 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft an den Senat vom 07.11.2012 ausgeführt:
80 
„Zugehörige der LGBT-Gemeinschaft (erg.: Abkürzung für Lesbian, Gays, Bisexual, Transgender) werden in Kamerun regelmäßig zu Opfern von Belästigung und Erpressung, sowohl von Seiten der Zivilbevölkerung als auch Polizeibeamten und anderen Gesetzeshütern. In Folge dessen sind sie gezwungen, sich unauffällig zu verhalten und ihre sexuelle Identität zu verstecken, indem sie zumeist in heterosexuellen Beziehungen leben. Oftmals sind es Personen im unmittelbaren Umfeld der Opfer, wie zum Beispiel Nachbarn, Vermieter oder Bekannte, welche sie anzeigen und ihnen Homosexualität vorwerfen.
81 
Seit einer homophoben Predigt des Erzbischofs von Yaoundé, Victor Tonyé Bakot, im Dezember 2005, hat sich die Situation für homosexuelle Menschen in Kamerun weiter verschlechter. Als Folgen von Tonyé Bakots Predigt starteten 2006 drei kamerunische Zeitungen eine Hetzkampagne und publizierten Listen mit Namen und Fotos von 'verdächtigen Homosexuellen', viele davon namhafte Politiker und Geschäftsführer. Die Bevölkerung wurde dazu aufgerufen, weitere Homosexuelle anzuzeigen. Am 1. Januar 2010 hat der Erzbischof von Yaoundé erneut in einer öffentlichen Rede homosexuelle Kameruner angeprangert, deren 'unmoralische' Aktivitäten 'gegen christliche Sitten verstoßen' und die deshalb in katholischen Kirchen nicht willkommen seien. Homosexualität wird im öffentlichen Diskurs als 'unafrikanisch' und allgemeines Grundübel der Gesellschaft bezeichnet. Die damit verbundenen Assoziationen sind mannigfaltig, sie reichen von sozialen Problemen wie Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenkonsum zu Infektionen und gesundheitlichen Beschwerden, Hämorrhoiden und Inkontinenz. Regelmäßig werden sowohl von Privatpersonen als auch Regierungsangehörigen Vorwürfe von vermuteter Homosexualität benutzt, um Rufmordkampagnen gegen politische Gegner durchzuführen oder Geld zu erpressen.“…
82 
„Fehlender staatlicher Schutz vor Übergriffen. Kameruns Justizsystem ist politisch beeinflussbar, ineffizient und chronisch korrupt. Nur begrenzt wird gegen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte, der Polizei und der Gendarmerie vorgegangen, und auch bei Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung existiert eine hohe Straflosigkeit. Justizbehörden sind außerdem nicht in der Lage, die Sicherheit von inhaftierten Personen in Gefängnissen zu gewährleisten. Laut Angaben einer Kontaktperson vor Ort bietet der kamerunische Staat Angehörigen von sexuellen Minderheiten keinerlei Schutz vor Übergriffen seitens der Zivilbevölkerung. Aus Angst, die Täter könnten der Polizei ihre sexuelle Identität offenbaren, verzichten Homosexuelle oftmals auch darauf, Anzeige bei Verbrechen wie Diebstahl, Raub oder Belästigung zu erstatten. Der kamerunische Soziologe Charles Gueboguo hält es für eine bewusste Strategie der kamerunischen Regierung, Homosexuellen keinen Schutz vor Übergriffen zu bieten oder sich gegen die weit verbreitete Homophobie einzusetzen, da dies von anderen wesentlichen Problemen Kameruns wie der stetig steigenden Armut ablenkt. Mit der prekären sozioökonomischen Lage Kameruns ist 'queer bashing' so zu einer legitimen Haltung avanciert, welche der Bevölkerung ein Ventil für andere Sorgen zu bieten scheint.
83 
LGBT-Aktivisten und -Organisationen. Es gibt eine Anzahl von Organisationen in Kamerun, die sich für die Rechte der LGBT-Gemeinschaft einsetzen…. Die Diskriminierung von Personen, die in LGBT-Organisationen tätig sind, ist jedoch weit verbreitet, und Aktivisten setzen sich aufgrund ihres Engagements großen Risiken aus. …“.
84 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 zu den von privater Seite drohenden Gefahren und zu eventuellem Schutz durch staatliche Stellen Folgendes ausgeführt:
85 
„Die bloße, unbetätigte Veranlagung wird von der Gesellschaft in weiten Teilen toleriert. Homosexuelle können ihre Veranlagung jedoch nicht öffentlich leben. Auch die diskrete Lebensweise wird allenfalls geduldet. Oft weiß man davon, 'schaut aber weg'. Wer Homosexualität offen lebt, läuft dringend Gefahr, Opfer von Diskriminierung bis hin zu physischer Gewalt zu werden. Die großen Kirchen haben sich ausdrücklich gegen die Akzeptanz von Homosexualität ausgesprochen. Diese Haltung spiegelt die der Gesellschaft wider. In den Augen des allergrößten Teils der Gesellschaft ist Homosexualität widernatürlich und krank. Der Staat schützt nach dem Gesetz jeden Bürger gleichermaßen. In der Lebenswirklichkeit in Kamerun wird die Polizei jedoch die von privater Seite drohenden Gefahren für eine Zeitlang in Kauf nehmen und erst auf medialen Druck einschreiten.“
86 
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2011 ist ausgeführt (S. 12):
87 
„Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Homosexualität in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch gebracht, geächtet und verurteilt. Fast alle gesellschaftliche Gruppen, auch zahlreiche Kirchen, an prominenter Stelle auch Vertreter der katholischen Kirche, setzen sich für ein strikteres staatliches Vorgehen gegen Homosexuelle ein. Die Freiheit der sexuellen Orientierung ist nicht als Menschenrecht anerkannt.“
88 
Amnesty International hat in seiner Auskunft an den Senat vom 13.12.2012 Folgendes ausgeführt:
89 
„Züchtigung und Bestrafung durch Mitglieder der Familie, Verstoß aus der Familie, Schuldzuweisungen wie Verdächtigung der Hexerei und Magie sowie Denunzierung durch Angehörige und Bekannte sind hochwahrscheinlich… Religiöse Führer und Medien rufen immer wieder zur Ablehnung und Verfolgung von Homosexualität auf. So veröffentlichten die Zeitungen ‚L’Anecdote‘ und 'Nouvelle Afrique' 2006 eine Liste mit Namen von mutmaßlichen Homosexuellen. Im Juni 2012 schrieb der katholische Geistliche Moses Tazoh in der Zeitung ‚L’Effort camerounais‘, dass die Kirche Homosexualität als widernatürliches, abnormales Verhalten ablehne. Immer wieder wird Homosexualität auch mit Pädophilie gleichgesetzt.
90 
Im Dezember 2011 wurden vier Studenten in Kumba (Südwestregion) von einem jungen Mann beschuldigt, homosexuell zu sein, nachdem er versucht hatte, Geld von ihnen zu bekommen. Da die Studenten ihm dieses Mal kein Almosen gaben, alarmierte der Mann die Nachbarschaft. Daraufhin schlugen und traten Nachbarn die Studenten, so dass sie später medizinisch behandelt werden mussten. Einer der Studenten wurde anschließend von seinem Schwager zur Polizeiwache gebracht und als homosexuell denunziert. Polizeibeamte misshandelten ihn und versuchten, das Geständnis zu erpressen, dass er gleichgeschlechtlichen Sex mit einem seiner Freunde hatte. Die vier Studenten wurden in Polizeigewahrsam genommen und nach neun Tagen in Untersuchungshaft verlegt. Das Gerichtsverfahren ist weiter anhängig. Inzwischen wurden die Männer auf Kaution vorläufig freigelassen.
91 
Von staatlicher Seite können Menschen, die sexuellen Minderheiten angehören, keinerlei Schutz erwarten. Die meisten homosexuellen Personen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, haben Angst, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Sie gehen davon aus, dass die Täter nicht bestraft werden und viele Angehörige der Polizei und der Sicherheitskräfte korrupt sind, Anzeigen nicht weiterleiten und selber gewalttätige Übergriffe an vermeintlichen Homosexuellen verüben…. Regierungsvertreter Kameruns und staatliche Sicherheitskräfte befürworten öffentlich, gezielt gegen Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen vorzugehen, die sich für die Rechte von LGBTI-Personen engagieren, und sie zu attackieren…. Die allgegenwärtigen Vorurteile gegen LGBTI-Personen, die in Gesetz und Praxis zementiert werden, schaffen ein Umfeld, in dem die Bevölkerung oft zu Recht glaubt, dass sie LGBTI-Personen mit Straffreiheit diskriminieren kann. Am 27. Juni 2011 wurden beispielsweise zwei junge Frauen in der Zeitung „New Bell District Douala“ von ihren Familienangehörigen der Beteiligung an einer gleichgeschlechtlichen Beziehung bezichtigt. In der Folge gab es Übergriffe auf die Frauen. Aus Angst um das Leben der beiden Frauen riefen einige Familienmitglieder die Polizei. Jedoch wurden die Frauen verhaftet und später freigelassen. Die Behörden haben keine Maßnahmen gegen die Täter ergriffen.“
92 
(c) Zur Frage, ob in Kamerun eine Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 RL 2004/83/EG besteht, enthalten die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel folgende Aussagen:
93 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft an den Senat vom 06.12.2012 mitteilt:
94 
„Es gibt in Kamerun geographische und soziale Unterschiede. Im ländlichen Bereich sowie im eher muslimischen Norden werden Homosexuelle eher Schwierigkeiten haben als in urbanen Gebieten. In den Metropolen Jaounde und Douala gibt es informelle Treffpunkte, wo Homosexuelle zusammenkommen. Einblick in die Oberschicht wird in dieser Frage Außenstehenden jedoch nicht gewährt. Die Hinweise auf bestehende einschlägige Institutionen und Treffen sind jedoch allgegenwärtig und glaubwürdig.“
95 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Stellungnahme vom 07.11.2012 an den Senat ausgeführt:
96 
„Nach Angaben einer Kontaktperson vor Ort gibt es keine spezifischen sozialen Kreise oder Regionen, in denen sexuelle Minderheiten weniger stigmatisiert und marginalisiert sind. Die Konzentration von LGBT-Organisationen auf gewisse Städte führe aber dazu, dass Homosexuelle nur in diesen Regionen Zugang zu Aktivitäten zur Verteidigung der Rechte als sexuelle Minderheiten und zu juristischer Vertretung haben. Als Folge stammt die Mehrheit der dokumentierten Fälle von Inhaftierungen und Verurteilungen aus diesen urbanen Gegenden. Tatsächlich fanden die Mehrheit der seit 2005 dokumentierten Verhaftungen in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé und in der verhältnismäßig liberalen Stadt Douala im Südwesten Kameruns statt. Drei Frauen wurden außerdem im ländlichen Grenzdorf Ambam im Süden Kameruns verhaftet. Human Rights Watch berichtet weiter von einer Anzahl von Personen, die in Gefängnissen in Buea und Ebolowa inhaftiert sind, zwei Städten ebenfalls im Südwesten Kameruns.
97 
Bildungsbereich. Homophobie und Stigmatisierung beruhen auch im Bildungsbereich, wo homosexuelle Personen teilweise von Schulen und Universitäten gewiesen werden. So wurde beispielsweise ein junger Mann nach Beendigung seiner Haftstrafe von der Universität, an der er Informatik studierte, ausgeschlossen. Er war im Mai 2005 während einer Razzia in einem Nachtklub in Yaoundé festgenommen und neun Monate später unter Artikel 347bis zu Freiheitsentzug verurteilt worden.“
98 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 an den Senat Folgendes mitgeteilt:
99 
„Die Gesetze und Rechtsprechung gelten landesweit. In keiner der 17 Regionen Kameruns wird Homosexualität von Amtsträgern oder gesellschaftlich toleriert. Homosexualität kann in keinem Landesteil offen oder diskret gefahrlos gelebt werden, Homosexuelle sind an allen Orten der ständigen Gefahr der Diskriminierung und Denunziation mit entsprechenden Folgen ausgesetzt.
100 
In den Metropolen Yaoundé und Douala sind die Organisationen für die Rechte von LGBTI-Personen und HIV/AIDS-Prävention, die mit LGBTI-Personen arbeiten sowie die wenigen Anwälte für LGBTI-Rechte ansässig. Zusätzlich gibt es in diesen Städten auch einige Treffpunkte für Homosexuelle. Die Möglichkeiten der Kommunikation und der Internetvernetzung sind besser. Daher befindet sich dort die größte LGBTI-Gemeinschaft. Ebenso sind Medien in diesen Städten vertreten. Folglich gibt es in diesen Städten auch mehr Verfolgung von LGBTI-Personen und die größte Zahl an Verhaftungen.
101 
In ländlichen Regionen und kleineren Städten findet Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ebenso statt und es kommt zu Verhaftungen. Es gibt weniger Anonymität. Die Bevölkerung ist in den Familien und lokalen Gemeinschaften sowie in religiösen Gemeinden und durch die Tradition stärker eingebunden. Mutmaßliche Homosexuelle werden zusätzlich der Hexerei und Magie beschuldigt. … Homosexuelle der obersten Elite aus Politik, Wirtschaft und Kultur können aufgrund vorhandener finanzieller Möglichkeiten und Beziehungen diskreter leben als Menschen in der Mittel- und Unterschicht. Gleichwohl gab es seit 2005 auch öffentliche Anschuldigungen von Homosexualität gegen bekannte Persönlichkeiten. Bislang ist Amnesty International jedoch kein Fall bekannt, in dem eine dieser Beschuldigungen zu einer Festnahme oder Anklageerhebung geführt hätte. … Der Zugang zur Justiz ist Personen aus der Unterschicht und Mittelschicht dagegen wegen hoher Kosten und langwieriger Prozesse verwehrt. Ferner verlieren sie jeglichen gesellschaftlichen und familiären Rückhalt. Der Beispielsfall verdeutlicht auch, dass Denunzierungen genutzt werden, um Menschen zu schädigen, da Vorwürfe von Homosexualität mit Rufmord gleichzusetzen sind. Es wird versucht, politische Gegner mit diesem Mittel auszuschalten.“
102 
(d) Da diese Erkenntnismittel die Lage Homosexueller in Kamerun im Kern übereinstimmend wiedergeben und auch die Beteiligten insoweit keine Einwendungen erhoben haben, legt der Senat die dargestellte Erkenntnislage seiner tatsächlichen und rechtlichen Prüfung zugrunde. Danach kann eine Gruppenverfolgung der Homosexuellen in Kamerun mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht festgestellt werden. Vielmehr ergibt sich hinsichtlich der drohenden Verfolgungsgefahr ein differenziertes Bild.
103 
(aa) Bei Homosexuellen, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb als solche öffentlich bemerkbar sind, kann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sie deswegen verfolgt werden. In diesem Fall ist von einem erheblichen Risiko auszugehen, dass sie durch den Staat strafrechtlich verfolgt und in Haft genommen sowie verurteilt werden, was eine Verfolgungsmaßnahme nach Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. c RL 2004/83/EG darstellt. Zudem widersprechen die sich aus den Erkenntnismitteln (vgl. zusätzlich den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7) ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
104 
Außerdem ist es beachtlich wahrscheinlich, dass Homosexuelle, die in Kamerun offen ihre Veranlagung leben und dort deshalb öffentlich bemerkbar sind, auch von privater Seite Verfolgungshandlungen erleiden, wie etwa physische Gewalt im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. a RL 2004/83/EG, ohne dass staatliche Stellen in der Lage oder willens wären, hiervor Schutz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG zu bieten.
105 
Nach Art. 7 Abs. 2 RL 2004/83/EG ist generell Schutz gewährleistet, wenn u.a. der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Antragsteller Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. Nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG, der sich auf die Prüfung der Ereignisse und Umstände bezieht, können die zuständigen Behörden insbesondere die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und die Weise, in der sie angewandt werden, sowie den Umfang, in dem in diesem Land die Achtung der grundlegenden Menschenrechte gewährleistet ist, berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70 f.).
106 
Soweit ersichtlich ist vom Bundesverwaltungsgericht noch nicht geklärt, ob damit das vor Inkrafttreten der RL 2004/83/EG von der Rechtsprechung vertretene Zurechnungsprinzip fortgilt oder ob nun auf die sog. „Schutzlehre“ abzustellen ist (so: VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, NVwZ 2005, 725; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 17, 26 ff.; Göbel-Zimmermann/Masuch, a.a.O., § 60 AufenthG Rn. 44; Treiber, in: GK-AufenthG, § 60 Rn. 135 ). Fraglich ist damit, wie mit Schutzlücken umzugehen ist, obwohl der Staat an sich schutzwillig ist. Nach der RL 2004/83/EG muss der Einzelne jedenfalls wirksamen Zugang zum nationalen Schutzsystem haben, unabhängig davon, ob der Staat im Übrigen generell Schutz gewährleistet (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 02.03.2010, a.a.O., Rn. 70; Marx, a.a.O., § 18 Rn. 28). Dies impliziert wohl, dass das Fortbestehen vereinzelter Verfolgungshandlungen die Wirksamkeit des Schutzes nicht ausschließt, soweit diese effektiv geahndet werden (vgl. Wittkopp, ZAR 2010, 170, 173).
107 
Der Schutz der Grundrechte und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sind in Kamerun jedoch nur gering ausgeprägt (vgl. auch den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Stand Mai 2011, S. 7 bis 9), so dass effektiver Schutz gegen gewalttätige Übergriffe von Privatpersonen - insbesondere eine effektive Strafverfolgung der Täter - nicht allgemein gewährleistet ist. Dies gilt jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Staat Kamerun homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt. Der Wille zur Strafverfolgung im Falle von strafrechtlich relevanten Handlungen gegen Homosexuelle ist daher nicht hinreichend gegeben, zumal nach den vorliegenden Erkenntnismitteln gewaltsame Übergriffe nicht nur vereinzelt auch von staatlichen Sicherheitskräften ausgeübt werden.
108 
Diese Aussagen gelten landesweit; auch in großen Städten bestehen diese Gefahren. Denn auch dort werden Personen schon wegen (vermuteter) Homosexualität verhaftet oder unterliegen Gewalttaten von nichtstaatlicher Seite.
109 
(bb) Wird Homosexualität dagegen nicht öffentlich bemerkbar oder gar heimlich gelebt, ist nicht ohne Weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer drohenden Verfolgung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG auszugehen.
110 
Zwar dürften homophobe Äußerungen von Regierungsvertretern, soziale Ächtung und staatliche Diskriminierung das Recht auf Privatleben im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der EU sowie Art. 8 EMRK tangieren. Allerdings sind solche Grundrechtsbeeinträchtigungen noch nicht so gravierend, dass sie zugleich einen Eingriff in die Rechte darstellen, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf. Hierzu zählt insbesondere Art. 3 EMRK, das Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Als unmenschliche Behandlung hat der EGMR eine Behandlung angesehen, wenn sie vorsätzlich war, ohne Unterbrechung länger andauerte und entweder eine Körperverletzung oder intensives physisches oder psychisches Leiden verursachte. Als erniedrigend kann eine Behandlung angesehen werden, wenn mit ihr die Absicht verbunden war, den Betroffenen zu demütigen oder zu erniedrigen und die Behandlung ihn in einer Art. 3 EMRK widersprechenden Weise in seiner Persönlichkeit getroffen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Art. 3 Rn. 22).
111 
Allerdings kann es auch in Fällen einer im Verborgenen gelebten homosexuellen Veranlagung vereinzelt zu Verfolgungshandlungen kommen. Insoweit besteht jedoch noch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass jeder homosexuell Veranlagte, der die Veranlagung im Verborgenen lebt, eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG erleiden wird. Insoweit ist die Zahl der Referenzfälle, die sich aus den oben dargestellten Erkenntnismitteln ergibt, im Verhältnis zur vermuteten Gesamtzahl an Homosexuellen in Kamerun zu gering. Die Zahl derjenigen, die wegen des Verdachts einer Straftat im Sinne von Art. 347bis Code Pénal verhaftet wurden, liegt im unteren zweistelligen Bereich. Amnesty International geht in seiner Auskunft vom 13.12.2012 davon aus, dass 17 Personen im Zeitraum März 2011 bis März 2012 festgenommen wurden, weil sie homosexuelle Beziehungen gehabt haben sollen. Auch die Zahl der berichteten sonstigen körperlichen Übergriffe liegt jedenfalls nicht wesentlich höher.
112 
Das Auswärtige Amt geht in seinen Länderinformationen (Stand: 25.02.2013) davon aus, dass in Kamerun geschätzte 20,5 Millionen Menschen leben. Legt man weiter zugrunde, dass davon 40,5 % bis 14 Jahre alt, 20,5 % zwischen 15 und 24 Jahren, 33,8 % zwischen 25 und 59 Jahren und 5,2 % 60 Jahre und älter sind (vgl. die für realistisch befundenen Angaben der Beklagten zur Gesamtbevölkerung) sowie ferner, dass 1 bis 2 % der Frauen und 2 bis 4 % der Männer ausschließlich auf homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Stichwort „Homosexualität“), kommt man für die Bevölkerungsgruppe zwischen 15 und 59 Jahren selbst bei der Annahme von nur 1 % an homosexuellen Frauen und Männern zu einer Zahl von 100.000 ausschließlich homosexuell veranlagten und potentiell Homosexualität praktizierenden Menschen. Verglichen damit lässt die Zahl der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Fälle, die sich im unteren zweistelligen Bereich bewegt, nicht darauf schließen, dass sich die dort geschilderten Verfolgungshandlungen so wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden homosexuell Veranlagten nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Dies gilt auch, wenn man die Schwere der drohenden Gefahr einer körperlichen Verletzung oder einer Inhaftierung, die häufig mit weiteren schweren Menschenrechtverletzungen einhergeht, würdigt. Denn es ist auch zu berücksichtigen, dass nach den oben dargestellten Erkenntnismitteln Verfolgungshandlungen nicht immer nur tatsächlich homosexuell veranlagte Menschen treffen. Vielmehr wird der Vorwurf der Homosexualität auch häufig eingesetzt, um eine Person öffentlich zu diskreditieren oder zu beseitigen. Diese Möglichkeit besteht jedoch potentiell bei jedem erwachsenen Einwohner Kameruns unabhängig von seiner sexuellen Ausrichtung. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine homosexuell veranlagte Person auch ohne handfeste Beweise aufgrund bloßer Verdächtigungen oder aufgrund einer Denunzierung durch Nachbarn, Bekannte oder Kollegen einer Verfolgungshandlung ausgesetzt wird, höher als bei nicht homosexuell veranlagten Menschen. Insgesamt ist jedoch auch dann keine solche Verfolgungsdichte gegeben, dass allein aufgrund des Merkmals der Homosexualität von einer Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann.
113 
(2) Die Anwendung des Konzepts der Gruppenverfolgung liegt im Übrigen hier auch deshalb nicht nahe, weil hinsichtlich der Frage, ob eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegt, die durch das Merkmal der sexuellen Ausrichtung gebildet wird, immer das jeweils von dem betreffenden Schutzsuchenden zu erwartende Verhalten entsprechend der oben dargestellten Maßstäbe der Prüfung des Schutzbegehrens zugrunde zu legen ist. Dies entspricht auch dem Ansatz der RL 2004/83/EG, nach der Anträge auf internationalen Schutz nach Art. 4 Abs. 3 RL 2004/83/EG grundsätzlich individuell zu prüfen sind. Die Richtlinie differenziert nicht danach, ob dem Betroffenen eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder aus individuellen Gründen droht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 06.07.2012 - 10 B 19/12 u.a. -, Juris Rn. 4).
114 
Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Antragsteller aus Kamerun geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose (vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
115 
cc) Jedoch ist hinsichtlich des Klägers nach einer individuellen Prüfung davon auszugehen, dass ihm von staatlicher Seite - weiterhin - Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 RL 2004/83/EG drohen. Denn es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass er bereits einmal derartige staatliche Verfolgungshandlungen erlitten hat. Insoweit kommt ihm die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG zu Gute. Daher kann hier dahinstehen, ob dem Kläger auch unabhängig von einer Vorverfolgung nach einer bloßen Würdigung der übrigen in seiner Person vorliegenden Umstände bei einer Rückkehr nach Kamerun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen würde (zum Maßstab vgl. oben unter 2 a aa <3> sowie b aa).
116 
(1) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger wegen seiner Homosexualität bereits einer diskriminierenden Strafverfolgung unterzogen wurde (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Der Kläger war bis zu seiner Flucht für zehn Tage in einer Polizeistation inhaftiert. Er hat für den Senat glaubhaft angegeben, dass er dort verhört worden sei. Außerdem sei einer der Bewohner des Stadtviertels, in dem der Vorfall passiert sei, als Zeuge vernommen worden. Grund für die Verhaftung sei gewesen, dass der Kläger auf der Straße seinen Freund M... begrüßt, umarmt und geküsst habe. Nach der Begrüßung sei der Kläger mit M... in die Wohnung eines weiteren Freunds gegangen, in der eine Feier stattgefunden habe. Kurz darauf seien Nachbarn mit Schlagstöcken in die Wohnung eingedrungen und hätten gesagt, dies sei ein Haus von Homosexuellen. Die Polizei sei ebenfalls eingetroffen. Er habe aus der Wohnung fliehen können. Ein Polizist habe jedoch das Taxi, mit dem er habe wegfahren wollen, gestoppt und ihn festgenommen. Die diesbezüglichen Angaben des Klägers im Rahmen der verschiedenen Anhörungen sind im Wesentlichen konstant und detailreich, so dass der Senat davon ausgeht, dass der Kläger der Wahrheit entsprechend berichtete. Hierfür spricht auch, dass der Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung immer in der Lage war, auf die Fragen des Senats und der Beklagten-Vertreterin spontan, anschaulich und nachvollziehbar zu antworten, sodass der Senat ein plastisches Bild von den behaupteten Geschehnissen gewinnen konnte.
117 
Homosexuelle Handlungen sind nach Art. 347bis Code Pénal der Republik Kamerun mit Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren belegt (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 12). Da die Strafverfolgung an einen Verfolgungsgrund nach Art. 10 RL 2004/83/EG anknüpft (dazu: Marx, a.a.O., § 14 Rn. 105) und zudem nur für homosexuelle Handlungen gilt (vgl. dazu: Art. 14 EMRK und Art. 21 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU), ist sie diskriminierend im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. c RL 2004/83/EG. Die Strafvorschrift geht jedenfalls über dasjenige hinaus, was nach Art. 8 EMRK in den Mitgliedstaaten der EU strafrechtlich verfolgt werden dürfte (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, a.a.O., 543; implizit zur heutigen Rechtslage nach dem GG vgl. jüngst: BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19.02.2013 - 1 BvR 3247/09 -; teilweise anders: BVerwG, Urteil vom 15.03.1988, a.a.O., 148 f.). Zudem genügen die sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Haftbedingungen gerade für Personen, die als homosexuell angesehen werden, sehr häufig nicht den Anforderungen aus Art. 3 EMRK.
118 
(2) Nach Überzeugung des Senats wurde der Kläger, der sich wegen des Vorwurfs der Homosexualität nicht festnehmen lassen wollte, außerdem von einem Polizisten verprügelt und an der Lippe verletzt. Die Verletzung an der Lippe hat der Kläger glaubhaft mit einem Foto dokumentiert. Auch war immer noch eine Narbe an der Lippe erkennbar. Er hat dazu plausibel und überzeugend ausgeführt, das Foto sei von dem behandelnden Arzt gefertigt und auf Bitten des Klägers an einen Freund per Mail geschickt worden. Vor dem Verwaltungsgericht hatte der Kläger ebenfalls angegeben, den ihn behandelnden Arzt über den Vorfall informiert zu haben. Der Arzt habe ein Foto von ihm gemacht. Er habe den Arzt gebeten, einen Freund zu informieren.
119 
Mithin hat der Kläger wegen seiner Homosexualität auch physische Gewalt erlitten (vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 RL 2004/83/EG). Die körperliche Verletzung des Klägers durch einen Polizisten ist dem Staat Kamerun zurechenbar. So kann es zwar bei vereinzelten Exzesstaten von Amtswaltern in Betracht kommen, dass diese dem Staat nicht zugerechnet werden können. Der bloße Umstand, dass bestimmte Maßnahmen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates widersprechen, berechtigt aber noch nicht dazu, sie als Amtswalterexzesse einzustufen. Vielmehr bedarf es entsprechender verlässlicher tatsächlicher Feststellungen, die auf bloße Einzelexzesse hindeuten (vgl. dazu: VGH Bad.-Württ., Urteil vom 03.11.2011, a.a.O., Rn. 40, m.w.N.). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Misshandlungen und Schikane durch Gefängniswärter, Polizisten und Angehörige des Geheimdienstes in der Praxis häufig vorkommen. Übergriffe der Sicherheitskräfte werden in der Regel nicht angemessen verfolgt (vgl. auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Kamerun, Mai 2011, S. 7 f. und 14).
120 
dd) Des Weiteren bestehen gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird. Der Senat legt seiner Beurteilung dabei folgende Erkenntnislage zugrunde:
121 
Amnesty International hat in seiner Auskunft vom 13.12.2012 auf die diesbezügliche Frage des Senats ausgeführt:
122 
„Eine homosexuelle Person, die bereits wegen gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen angeklagt wurde, muss damit rechnen, nach ihrer Rückkehr nach Kamerun verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden. Dabei wirkt sich die Flucht im laufenden Verfahren erschwerend aus, insbesondere wenn die Person aus der Haft geflohen ist. Dieser Umstand wird nicht separat verhandelt, sondern wirkt sich kumulativ auf das Strafmaß aus. Entsprechend Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs kann das Strafmaß zusätzlich um drei Monate bis ein Jahr Gefängnis erhöht werden.
123 
Homosexuelle Gefangene oder solche, die dafür gehalten werden, leiden nicht nur an unmenschlichen Haftbedingungen in kamerunischen Gefängnissen wie Überbelegung, schlechten sanitären Verhältnissen, mangelnder medizinischer Versorgung und unzureichender Essensausgabe. Sie sind davon in besonderem Maße betroffen, da die meisten von ihnen von ihren Familien verstoßen wurden, diese sie daher nicht mit Essen oder Geld versorgen, um z.B. ein Bett und notwendige Medikamente zu erhalten oder Arztkosten zu begleichen.“
124 
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat in ihrer Auskunft vom 07.11.2012 ausgeführt:
125 
„Rückkehrgefährdung. Für homosexuelle Personen, die in der Vergangenheit vor einer Verurteilung ins Ausland geflüchtet sind, besteht das Risiko, dass die Staatsanwaltschaft bei deren Rückkehr nach Kamerun ein Strafverfahren gegen sie einleitet. Die Tatsache der Landesausreise wird dabei nicht als separates Vergehen behandelt, sondern als erschwerender Umstand gewertet. Teilweise werden Suchbefehle (avis de recherche) für Personen ausgestellt, für die ein Verdacht auf homosexuelle Handlungen vorliegt, dies ist allerdings nicht immer die übliche Praxis. Der betroffenen Person droht unter Umständen, zusätzlich zu der Strafverfolgung aufgrund ihrer sexuellen Identität, auch eine Strafe aufgrund ihrer vergangenen Flucht vor der Verurteilung. Das Strafmaß für Flucht aus Inhaftierung liegt gemäß Art. 193 des kamerunischen Strafgesetzbuchs zwischen drei Monaten und bis zu einem Jahr Gefängnis.“ (Ebenso: SFH, Gutachten vom 14.03.2007, S. 7; SFH, Auskunft vom 06.10.2009, S. 6 f.).
126 
Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 06.12.2012 mitgeteilt:
127 
„Eine ausstehende Strafverfolgung aus dem Jahr 2011 wird nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes weiterhin aktuell sein und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Rückkehr der Person nach Kamerun wieder aufleben.
128 
Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass derzeit in der Praxis nur die Fälle zu tatsächlichen Gefängnisstrafen führen, bei denen die Beschuldigten durch ihr Verhalten für Aufruhr in der Bevölkerung sorgen.“
129 
Auf der Grundlage dieser weitgehend übereinstimmenden Erkenntnisse geht der Senat davon aus, dass der Kläger damit rechnen muss, bei seiner Rückkehr verhaftet, angeklagt und verurteilt zu werden und eine Haftstrafe verbüßen zu müssen. Dies gilt auch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes. Denn das Verhalten des Klägers, das für seine Festnahme ursächlich war, hat zu Aufruhr in der Bevölkerung geführt.
130 
Ein etwaiges Vermeidungsverhalten des Klägers wäre im Falle seiner Rückkehr im Übrigen schon mit Blick auf die festgestellte Vorverfolgung unerheblich (vgl. EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 05.09.2000, a.a.O., Rn. 74).
131 
ee) Der Kläger kann bei seiner Rückkehr auch nicht auf eine derzeit bestehende inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 a.E. AufenthG) verwiesen werden. Es ist auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnislage nicht ersichtlich, in welchem Landesteil sich der Kläger angesichts der noch ausstehenden Strafverfolgung aufhalten bzw. in welchen er überhaupt unbehelligt einreisen kann. Jedenfalls liegen insoweit keine stichhaltigen Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG vor, dass ihm eine solche Fluchtalternative zur Verfügung steht.
II.
132 
Das Verwaltungsgericht hat auch über die Anfechtungsklage des Klägers zutreffend entschieden und Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 15.03.2012 zu Recht aufgehoben. Denn die dort enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG hätte die Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden dürfen. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
133 
Auf die in erster Instanz hilfsweise geltend gemachten Verpflichtungsanträge auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, die in der Berufungsinstanz anwachsen würden (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 19/96 -, BVerwGE 104, 260; Kuhlmann, in: Wysk , VwGO, 2011, § 129 Rn. 2), kommt es daher nicht mehr an.
III.
134 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
IV.
135 
Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

Gründe

1

I. Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg.

2

Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aufgrund inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse infolge einer Erkrankung des Antragstellers zu 1 unmöglich sei. Es sei nicht davon auszugehen, dass bei diesem eine Reiseunfähigkeit vorliege. Die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien unzureichend. Die Bescheinigung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. enthalte weder eine Anamnese noch eine nachvollziehbare Diagnose. Die Bescheinigungen der Psychologinnen S. und K. seien zwar ausführlicher, beruhten aber nur auf den Angaben des Antragstellers zu 1, so dass die Schlussfolgerung, eine vorgetäuschte Diagnose könne ausgeschlossen werden, nicht überzeuge. Auch werde nicht darauf eingegangen, ob die vom Antragsteller zu 1 geschilderten Symptome in Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten oder Halluzinogenen stünden. Auffällig sei, dass die vom Antragsteller zu 1 geäußerten Kriegserlebnisse im Rahmen der Anhörungen vor dem Bundesamt nicht geschildert worden seien. Zudem falle auf, dass sich der Antragsteller zu 1 erst nach Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in psychiatrische Behandlung begeben habe, obwohl er sich bereits seit 2010 in Deutschland aufhalte. Die Bescheinigungen zögen auch keinerlei Alternativursachen in Betracht, obwohl dies angesichts der geschilderten Ängste des Antragstellers zu 1 naheliegend sei. Als Alternativursache komme ein schweres Entwurzelungssyndrom in Betracht. Dies werde weder erwähnt noch im Rahmen einer Differentialdiagnose diskutiert. Die psychologischen Stellungnahmen seien ersichtlich darauf angelegt, dem Antragsteller zu 1 zum beantragten Abschiebungsschutz zu verhelfen. Die äußerst kurzen Stellungnahmen der Amtsärztinnen S. und M. enthielten keinerlei medizinische Substanz. Es werde nicht einmal erläutert, um was für eine psychische Erkrankung es sich handeln soll, die beim Antragsteller zu 1 bestehe. Es sei auch nicht ersichtlich, dass dieser aufgrund einer akuten und schwerwiegenden Erkrankung an posttraumatischer Belastungsstörung dringend auf ärztliche Behandlung gerade in Deutschland angewiesen sei. Ziehe man in Betracht, dass bei einer Rückkehr des Antragstellers zu 1 in seine Heimat sowohl die Sprachbarriere, die einer aussichtsreichen Heilung psychischer Probleme in Deutschland entgegenstehe, als auch die soziale Isolation entfielen, sei von zusätzlichen Erschwernissen durch die Verneinung von Abschiebungshindernissen nicht auszugehen. Aufgrund der aufgezeigten Mängel sei auch nicht davon auszugehen, dass eine akute Suizidalität mit Eigen- und Fremdgefährdung bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 bestehe. Möglichen Gefährdungen sei durch geeignete Vorkehrungen und Modalitäten bei der Abschiebung zu begegnen. Der Antragsgegner habe für sichere Abschiebemodalitäten und eine Begleitung durch Fachpersonal (Arzt/Sanitäter) Sorge zu tragen. Ebenso sei nach Eintreffen des Rücktransports in der Heimat des Antragstellers zu 1 durch vorherige Kontaktaufnahme mit den Heimatbehörden dessen nahtlose ärztliche und psychologische Begleitung und Versorgung sicherzustellen und eine Zurverfügungstellung von Medikamenten zu veranlassen. Dadurch werde der dem Antragsteller zu 1 bescheinigten Suizidgefahr im Rahmen der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen mit angemessenen Mitteln begegnet. Hinzu komme, dass eine Rückführung in die Heimat gerade zu einer Besserung der Gesamtsymptomatik führen könne: Die auch für seelisch Gesunde – zumal nach langjährigen Auslandsaufenthalt – bestehende starke Belastung einer drohenden Abschiebung entfalle nach dem Vollzug, was dafür spreche, dieses schwierige Phase nicht hinauszuzögern, sondern abzukürzen.

3

Dieser Würdigung durch das Verwaltungsgericht tritt die Beschwerde mit Erfolg entgegen.

4

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Anordnungsanspruch und -grund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Für den Anordnungsanspruch einer Sicherungsanordnung genügt dabei die Glaubhaftmachung von Tatsachen, aus denen sich zumindest ergibt, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist; ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht, wenn eine vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten materiellen Anspruchs zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich ist (Beschl. d. Senats v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 –, Juris RdNr. 8 m.w.N.).

5

Diese Voraussetzungen für den Erlass der von den Antragstellern begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Es besteht die Gefahr, dass die vom Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebung der Antragsteller ohne eine vorherige gutachtliche Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen die Verwirklichung eines ihnen in der Hauptsache möglicherweise zustehenden Anspruchs auf weitere Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vereitelt.

6

1. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist offen, ob durch die Abschiebung eine wesentliche Verschlechterung der beim Antragsteller zu 1 nach den vorliegenden ärztlichen bzw. psychologischen Stellungnahmen vorhandenen psychischen Erkrankung eintreten und sich dadurch die auf dieser Krankheit beruhende (latente) Selbstmordgefahr in einer Weise erhöhen wird, dass eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann.

7

Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 20.06.2011 – 2 M 38/11 – a.a.O. RdNr. 5) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d. h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 –, Juris RdNr. 21). Die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, lässt sich erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (OVG NW, Beschl. v. 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, Juris RdNr. 7).

8

Macht ein Ausländer eine solche Reiseunfähigkeit geltend oder ergeben sich sonst konkrete Hinweise darauf, ist die für die Aussetzung der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde verpflichtet, den aufgeworfenen Tatsachenfragen, zu deren Beantwortung im Regelfall medizinische Sachkunde erforderlich ist, im Rahmen ihrer Amtsaufklärungspflicht nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA nachzugehen, wobei der Ausländer zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 82 AufenthG). Kann die Reiseunfähigkeit trotz Vorliegens ärztlicher oder psychologischer Fachberichte nicht als erwiesen angesehen werden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für die Ausländerbehörde kein weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Sie bleibt nach § 24 VwVfG i.V.m. § 1 VwVfG LSA verpflichtet, den Sachverhalt selbst weiter aufzuklären, wenn und soweit sich aus den ärztlichen oder psychologischen Äußerungen, dem Vortrag des Ausländers oder aus sonstigen Erkenntnisquellen ausreichende Indizien für eine Reiseunfähigkeit ergeben. Ist das der Fall, wird regelmäßig eine amtsärztliche Untersuchung oder die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein, da der Ausländerbehörde und auch den Verwaltungsgerichten die erforderliche medizinische Sachkunde zur Beurteilung einer mit der Abschiebung einhergehenden Gesundheitsgefahr und auch der Frage fehlen dürfte, mit welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden könnte (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, Juris RdNr. 9).

9

Im Fall des Antragstellers zu 1 ist ein solcher weiterer Aufklärungsbedarf gegeben. Die vorliegenden ärztlichen und psychologischen Stellungnahmen gehen zwar davon aus, dass der Antragsteller zu 1 an einer psychischen Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSB) leidet und im Falle einer Abschiebung eine erhöhte Suizidgefahr besteht. Ob dies zutrifft, ist jedoch auch im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht erhobenen Einwände zweifelhaft. Die Problematik muss daher erst in einem ergänzenden fachärztlichen Gutachten abschließend geklärt werden.

10

Die Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie D. von der (…)-Praxis GmbH vom 12.03.2014 (GA Bl. 30) diagnostiziert bei dem Antragsteller zu 1 zwar eine posttraumatische Belastungsstörung, lässt aber nicht erkennen, auf Grund welcher Befundtatsachen die angesprochene Diagnose gestellt wurde, und legt auch nicht dar, welche Folgen sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Damit erfüllt sie die Anforderungen nicht, die nach der Rechtsprechung des Senats an die Glaubhaftmachung einer Krankheit als rechtliches Abschiebungshindernis zu stellen sind (vgl. Beschl. v. 08.02.2012 – 2 M 29/12 –, Juris RdNr. 11).

11

Die psychologischen Stellungnahmen der Psychologin S. vom 20.03.2013 (GA Bl. 35 – 36) sowie der Psychologin K. und des Systemischen Therapeuten D. vom Psychosozialen Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt vom 21.05.2014 (GA Bl. 89 – 93) diagnostizieren bei dem Antragsteller zu 1 eine posttraumatische Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression. Eine vorgetäuschte Diagnose schließen sie aus. Eine Abschiebungsankündigung bzw. eine Rückkehr in den Kosovo werde mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar psychische Dekompensation(en) und suizidale Verhaltensweisen zur Folge haben. Auch ein erweiterter Suizid erscheine möglich. Aus psychologisch-therapeutischer Sicht wäre eine Abschiebungsandrohung bzw. eine Rückkehr mit einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Stimulation einer Selbstgefährdung des Antragstellers zu 1 verbunden. In der Stellungnahme vom 21.05.2014 wird darüber hinaus ausführlich dargestellt, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde. Mit dem Antragsteller zu 1 seien seit dem 01.02.2013 insgesamt zehn Gespräche zur Diagnostik, Stabilisierung und unmittelbaren Krisenintervention geführt worden. Befund und Spontanangaben werden ausführlich wiedergegeben. Auf dieser Grundlage wird sowohl die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in Komorbidität mit einer mittelschweren Depression gestellt als auch die Behandlungsbedürftigkeit beurteilt. Diese Stellungnahmen enthalten zwar ernst zu nehmende Hinweise auf eine mögliche Suizidgefahr bei einer Abschiebung des Antragstellers zu 1 in den Kosovo. Sie sind jedoch auch gewichtigen Einwänden ausgesetzt. Zunächst enthält insbesondere die zuletzt vorgelegte psychologische Stellungnahme vom 21.05.2014 keinen überzeugenden Nachweis eines Traumas. Voraussetzung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung ist jedoch der Nachweis eines traumatischen Ereignisses (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, 41 <42>; Gierlichs u.a., Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht, ZAR 2005, 158 <161>). Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es insoweit der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen (VGH BW, Beschl. v. 02.05.2000 – 11 S 1963/99 –, Juris RdNr. 7; SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 –, Juris RdNr. 5; Middeke, Posttraumatisierte Flüchtlinge im Asyl- und Abschiebungsprozess, DVBl. 2005, 150 <151>). Von Bedeutung für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist dabei der Umstand, dass bestimmte Ereignisse, die im Rahmen der klinischen Begutachtung als traumatisierend dargestellt werden, bei der vorherigen Anhörung vor dem Bundesamt nicht angegeben wurden. Wird das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt, die schon längere Zeit zurückliegen, ist eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (SächsOVG, Beschl. v. 21.01.2014 – 3 B 476/13 – a.a.O. RdNr. 5 unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 11.09.2007 – BVerwG 10 C 8.07 –, Juris RdNr. 15). Nach diesen Grundsätzen ist die Stellungnahme vom 21.05.2014 dem fachlichen Einwand ausgesetzt, dass nicht klar wird, worin das die posttraumatische Belastungsstörung auslösende Trauma liegen soll. Im Rahmen der Biographischen Anamnese werden Ereignisse aus dem Jahr 1999 nach Ausbruch des Kosovokrieges geschildert, aber auch zeitlich nachfolgende Bedrohungen und Misshandlungen in Serbien, Übergriffe von albanisch sprechenden Männern nach der Rückkehr der Antragsteller in das Kosovo sowie eine Bedrohung des Sohnes des Antragstellers zu 1 mit einer Pistole durch Nachbarn. Soweit die Ereignisse während des Kosovokrieges im Jahr 1999 als maßgeblich für das Trauma anzusehen sein sollten, wäre zu begründen, warum diese Umstände nicht schon während der Anhörung des Antragstellers zu 1 am 29.03.2010 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgetragen wurden. Begründungsbedürftig ist ferner der Umstand, dass der Antragsteller zu 1 das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung erst im Jahr 2013 geltend gemacht hat, obwohl er bereits seit dem Jahr 2010 aus seiner Heimat ausgereist ist. Ein weiterer Mangel der Stellungnahme vom 21.05.2014 liegt darin, dass nicht explizit angegeben wird, nach welchen Kriterien eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde (vgl. dazu Ebert/Kindt, a.a.O. S. 42). Schließlich stellt sich noch die Frage, ob die beim Antragsteller zu 1 festgestellten Symptome nicht auch andere Ursachen als eine posttraumatische Belastungsstörung haben können, etwa die unkontrollierte Einnahme von Medikamenten und Halluzinogenen oder ein schweres Entwurzelungssyndrom.

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Die Stellungnahmen der Amtsärztin S. vom 08.07.2013 und 10.03.2014 sowie der Amtsärztin M. vom 29.04.2014 und 20.05.2014 lassen ebenfalls keine abschließende Beurteilung der hier relevanten Fragestellung zu. In dem amtsärztlichen Gutachten zur Beurteilung der Flug- und Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1 vom 08.07.2013 (GA Bl. 50) heißt es, dieser leide an einer psychischen Erkrankung, die akut exazerbiert sei. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehe die akute Gefahr eines Suizids bzw. erweiterten Suizids. In der Stellungnahme vom 10.03.2014 (GA Bl. 49) heißt es, die Reisefähigkeit im weiteren Sinne sei aufgrund der psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1 nicht gegeben. In der Stellungnahme vom 29.04.2014 (GA Bl. 62) wird ausgeführt, es könnten keine wesentlichen Veränderungen der gesundheitlichen Situation des Antragstellers zu 1 festgestellt werden. Er habe weiterhin eine unbändige Angst vor der Abschiebung in sein Heimatland. Er reagiere damit, im Abschiebungsfall sich und seine Familie umzubringen. Die Flug- und Reisetauglichkeit sei nach wie vor unsicher, da in keiner Weise abzuschätzen sei, ob der Antragsteller zu 1 seine Drohungen wahr mache. In der Stellungnahme vom 20.05.2014 (GA Bl. 61) wird ergänzend ausgeführt, bei der Vorstellung im Gesundheitsamt habe der Antragsteller zu 1 überzeugend den Eindruck gemacht, dass er im Falle einer Abschiebung sich und seiner Familie etwas antun werde. Es bestehe eine bedingte Flug- und Reisefähigkeit. Bedingung sei die Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung. Die sei durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und eine fachärztliche Begleitung während des Fluges zu gewährleisten. In diesen Stellungnahmen wird weder angegeben, aufgrund welcher tatsächlichen Umstände die fachliche Beurteilung erfolgt ist, noch enthalten sie eine nachvollziehbare medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes oder eine nachvollziehbare Darlegung der Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Die in der Stellungnahme vom 20.05.2014 vertretene Annahme, eine hinreichende Minderung der Eigen- und Fremdgefährdung könne durch Verzicht auf eine vorherige Ankündigung des Abschiebetages und Gewährleistung einer fachärztlichen Begleitung während des Fluges sichergestellt werden, wird nicht näher begründet und stellt sich als reine Spekulation dar. Zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen sind diese amtsärztlichen Stellungnahmen ungeeignet.

13

Vor diesem Hintergrund liegen zwar Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller zu 1 unter einer posttraumatische Belastungsstörung leidet und eine Abschiebung zu einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt. Es verbleiben jedoch Zweifel. Bei dieser Sachlage kann über das Vorliegen des geltend gemachten Duldungsgrundes ohne fachärztliches Gutachten zur Klärung der im Tenor bezeichneten Fragen nicht entschieden werden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist damit offen, so dass ein Anordnungsanspruch gegeben ist.

14

2. Auch die Antragstellerin zu 2 und die Antragsteller zu 3 – 6 haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kann sich aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa mit Blick auf Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind. Der Schutz des Art. 6 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben. Sich hieraus ergebende schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers dann entgegen stehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine tatsächlichen Bindungen zu berechtigterweise im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Beschl. d. Senats v. 14.08.2014 – 2 L 115/13 – m.w.N.). Derartige schutzwürdige Belange liegen im Fall der Antragstellerin zu 2 und der Antragsteller zu 3 – 6 vor. Aufgrund der oben dargestellten Umstände besteht bei dem Antragsteller zu 1 möglicherweise ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Die übrigen Familienmitglieder können daher einstweilen eine gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft im gemeinsamen Heimatland nicht führen. Eine alleinige auch nur kurzfristige Rückkehr ohne Begleitung durch den Antragsteller zu 1 in das Kosovo ist ihnen ebenfalls nicht zuzumuten.

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3. Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsgegner beabsichtigt, die Antragsteller ohne vorherige Einholung eines fachärztlichen Gutachtens zur Suizidgefahr abzuschieben. Die vorläufige Sicherung des in der Hauptsache verfolgten Duldungsanspruchs ist daher zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes dringlich. Denn der Duldungsanspruch erlischt ebenso wie die Aussetzung selbst (vgl. § 60a Abs. 5 Satz 1 AufenthG) mit der Ausreise (vgl. VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 – a.a.O. RdNr. 14). Er würde durch die Abschiebung daher vereitelt. Zudem ist eine Abschiebung ohne vorherige fachärztliche Begutachtung der damit nach den vorliegenden Erkenntnissen möglicherweise einhergehenden gesundheitlichen Risiken mit der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.

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II. Den Antragstellern ist auch die beantragte Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage sind, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und aus den vorstehend ausgeführten Gründen hinreichende Erfolgsaussichten zu bejahen sind (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).

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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

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VI. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des beschließenden Senats, im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den halben Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG je Antragsteller festzusetzen, soweit Streitgegenstand – wie hier – die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ist.


Tenor

Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste am 08.12.2002 in das Bundesgebiet ein. Am 09.01.2003 beantragte Sie die Gewährung von Asyl.
Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19.03.2003 wurde der Asylantrag abgelehnt und festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen, sowie mit einer Ausreisefrist von einem Monat die Abschiebung angedroht. Die hierauf eingelegten Rechtsmittel blieben ohne Erfolg (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 25.10.2005 - A 15 K 10904/03 - und VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.04.2006 - A 12 S 1096/05 -).
Mit Schriftsatz vom 10.05.2007 stellte die Klägerin einen Asylfolgeantrag und brachte zur Begründung vor, ihr Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlimmert. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes bestehe im Falle einer Abschiebung in die Türkei eine Gefahr für Leib und Leben. In der Türkei habe sie in massiver Weise Verfolgung und menschenrechtswidrige Behandlung erlitten; hierdurch sei sie in ihrer psychischen Integrität erheblich verletzt und traumatisiert worden. Gleichzeitig legte die Klägerin ein ärztliches Attest der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie Dr. Beier-Fügel vom 12.06.2006, ein Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 sowie ein Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 12.04.2007 vor.
Mit Bescheid vom 07.09.2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19.03.2003 bezüglich der Feststellung zu § 53 Abs. 1 bis 6 AuslG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1-3 VwVfG seien nicht erfüllt. Die vorgelegten ärztlichen Gutachten und Atteste könnten die Feststellungen im Urteil des VG Stuttgart vom 25.10.2005 nicht erschüttern. Bei den vorgelegten ärztlichen Gutachten und Attesten handele es sich um fachpsychiatrische Aussagen über den gegenwärtigen Gesundheitszustand der Klägerin und nicht um belastbare, verlässliche Analysen der Erlebnisse der Klägerin in der Türkei. Die Aussagen der Klägerin seien von den ärztlichen Gutachtern keiner nachvollziehbaren wissenschaftlichen Bewertung unterzogen worden. Am Wahrheitsgehalt des gesteigerten Sachvortrags der Klägerin bestünden Zweifel, da sie bereits im Erstasylverfahren trotz eingehender psychiatrischer Untersuchung die erlittene Vergewaltigung nicht erwähnt habe. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor. Die Klägerin könne auf die zur Behandlung ihres Krankheitsbildes in der Türkei zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten verwiesen werden.
Am 17.09.2007 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10 
Sie verweist auf die angefochtene Entscheidung.
11 
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die zur Sache gehörenden Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Gründe

 
12 
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit er dem entgegensteht.
13 
Allerdings ist das Bundesamt aufgrund des gestellten Asylfolgeantrags nicht gemäß § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG verpflichtet gewesen, das Verfahren im Hinblick auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wieder aufzugreifen. Insoweit steht dem Begehren der Klägerin ersichtlich § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, da das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bereits am 16.01.2007 vorgelegen hat und in diesem Gutachten aufgrund umfassender Anamnese eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund erlittener Vergewaltigung der Klägerin diagnostiziert wurde. In diesem Gutachten wurde auch dargelegt, dass Belastungen jeglicher Art (und damit auch eine Rückkehr/Abschiebung der Klägerin in die Türkei) zu einer Gefährdung der Klägerin mit Dekompensation im Sinne einer Symptomverstärkung und Suizidalität führen werden. Spätestens mit Zugang dieses Gutachtens hatten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Sinne des § 51 Abs. 3 Satz 2 VwVfG Kenntnis von dem nunmehr in Anspruch genommenen Wiederaufgreifensgrund. Sie hätten ihn demnach binnen drei Monaten geltend machen müssen. Tatsächlich ist der Asylfolgeantrag erst am 11.05.2007 beim Bundesamt eingegangen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Asylfolgeantrag ein weiteres Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychologie Reutlingen vom 23.04.2007 beigefügt war. Denn dieses Gutachten vertieft nur das Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007, beinhaltet jedoch keine darüber hinausgehenden, substantiell neuen Tatsachen.
14 
Die Klägerin hat aber unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt eine positive Feststellung zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG trifft. Denn jenseits des § 71 AsylVfG, der nur den Asylantrag im Sinne von § 13 AsylVfG betrifft, kann sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG und einer in deren Rahmen i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gebotenen Ermessensreduzierung auf Null das Wiederaufgreifen des abgeschlossenen früheren Verwaltungsverfahrens, die Aufhebung des unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakts und eine neue Sachentscheidung zu § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG dann ergeben, wenn tatsächlich Abschiebungsverbote vorliegen; auf die Frage, wann diese geltend gemacht worden sind, kommt es wegen des materiellen Schutzgehalts der Grundrechte nicht an (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.06.2000, DVBl. 2000, 179; BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, InfAuslR 2000, 16 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940; VGH Baden-Württ., Beschluss vom 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Einer Feststellung des geltend gemachten Abschiebungsverbots durch das Bundesamt steht auch nicht die Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die negative Feststellung des Bundesamts im Asylerstverfahren entgegen. Das Bundesamt ist nicht gehindert, einen rechtskräftig abgesprochenen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten zu erfüllen, wenn es erkennt, dass der Anspruch tatsächlich besteht und das rechtskräftige Urteil unzutreffend ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.12.1992, BVerwGE 91, 256; Urteil vom 27.01.1994, BVerwGE 95, 86 und Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Ob eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegt, ist somit ohne Rücksicht auf die Versagung asylrechtlichen Verfolgungsschutzes und ohne Bindung an etwa vorliegende rechtskräftige Gerichtsentscheidungen zu beurteilen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 284 und Urteil vom 30.03.1999, DVBl. 1999, 1213).
15 
Die Beklagte ist für den Anspruch der Klägerin auch passiv legitimiert. Das Bundesamt ist zur Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch bei solchen Folgeanträgen zuständig, die nach § 71 Abs. 1 AsylVfG nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204; Beschluss vom 23.11.1999, NVwZ 2000, 941 und Urteil vom 21.03.2000, NVwZ 2000, 940). Schließlich ist das Verwaltungsgericht im Hinblick auf § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG auch befugt und verpflichtet, in der Sache durch zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.02.1998, NVwZ 1998, 861).
16 
Bei der Klägerin liegt ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung dieses Abschiebungsverbots ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 04.01.2000, NVwZ-RR 2000, 261). Selbst wenn eine Ermessensreduzierung auf Null eine extreme individuelle Gefahr voraussetzen sollte (vgl. BVerwG, Urt. vom 20.10.2004, BVerwGE 122, 103), ist die Beklagte vorliegend zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt, da sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in die Türkei in einer extremen individuellen Gefahrensituation befinden würde.
17 
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Bestimmung fragt nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie hervorgerufen wird; die Regelung stellt vielmehr lediglich auf das Bestehen einer konkreten Gefahr ab ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995, NVwZ 1996, 199). Eine Aussetzung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt jedoch nicht in Betracht, wenn die geltend gemachten Gefahren nicht landesweit drohen und der Ausländer sich ihnen durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO.). Ein Ausländer kann schon dann auf einen alternativen Landesteil verwiesen werden, wenn ihm dort konkrete Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen; sonstige Mindestanforderungen an die Qualität und Verfolgungssicherheit des Aufenthalts in der Ausweichregion bestehen nicht (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. vom 22.07.1998 - A 6 S 3421/96 - juris -). Die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehen. Die besondere Schwere eines drohenden Eingriffs ist im Rahmen der gebotenen qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung, Abwägung und zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts vermittels des Kriteriums, ob die Wahrscheinlichkeit der Rechtsgutverletzung beachtlich ist, zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. vom 17.10.1995 aaO. und Urt. vom 05.07.1994, InfAuslR 1995, 24). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 18.07.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 46).
18 
Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998, NVwZ 1998, 973 und Urt. vom 21.09.1999, NVwZ 2000, 206). Von einer Verschlimmerung ist auszugehen, wenn eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands droht; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat eintreten würde (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 aaO und Urt. vom 29.07.1999 - 9 C 2/99 - Juris -). Ob die Gefahr der Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, ist unerheblich (vgl. BVerwG, Urt. vom 29.07.1999 aaO). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beilage I 2003, 53 = DVBl 2003, 463 und Beschluss vom 29.04.2003, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; VGH Kassel, Urteil vom 24.06.2003, AuAS 2004, 20). Die mögliche Unterstützung durch Angehörige im In- oder Ausland ist in die gerichtliche Prognose, ob bei Rückkehr eine Gefahr für Leib oder Leben besteht, mit einzubeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. vom 01.10.2001, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 51).
19 
Nach diesen Kriterien steht der Klägerin ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Klägerin leidet ausweislich der von ihr vorgelegten Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) und (so die Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) an einer schweren Depression ohne psychotische Symptome (ICD-10: F 32.2).
20 
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Die posttraumatische Belastungsstörung entsteht als eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und mit starker Furcht und Hilflosigkeit einhergeht. Typische Merkmale der PTBS sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (sog. Intrusionen), die so weit gehen können, dass der Körper das schlimme Ereignis noch einmal wie in der Ursprungssituation nacherlebt (flashbacks). Weitere Merkmale sind das andauernde Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber und Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Hinzu tritt gewöhnlich ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung und eine übermäßige Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit. Angst und Depressionen sind häufig mit den vorstehend genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Die PTBS kann zu einer Beeinträchtigung des Erinnerungs- und Wiedergabevermögens und zu Konzentrationsschwierigkeiten führen, zu Schweigsamkeit aus Scham, Angst vor Erinnerung, Apathie (vgl. zum Vorstehenden Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 750 ff.; Loesel/Bender, Asylpraxis Band 7 S. 175 ff.; Koch, Asylpraxis Band 9 S. 61 ff.; Haenel, Asylpraxis Band 9, S. 111 ff., Marx, InfAuslR 2000, 357 ff; Treiber, ZAR 2002, 282 ff.; Middeke, DVBl. 2004, 150 ff.). Die posttraumatische Belastungsstörung ist in der Auflistung aller Krankheiten durch die Weltgesundheitsorganisation unter F 43.1 der ICD 10 enthalten (vgl. Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 3. Auflage, S. 121).
21 
In der internationalen Klassifikation sind Traumata definiert als kurz oder lang anhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem Betroffenen tiefgreifende Verzweiflung auslösen werden (vgl. Koch in: Asylpraxis, Band 9, Seite 61, 69ff). Man unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen in Folge von Unfällen oder Katastrophen und willentlich durch Menschen verursachten Traumata (z. B. Folter, Misshandlung, Vergewaltigung und Kriegserlebnisse). Da es sich bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis handelt, das sich einer Erhebung äußerlich objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht, kommt es in besonderem Maße auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebnisses und der zugrunde liegende faktischen äußeren Erlebnistatsachen an, was wiederum angesichts der Komplexität und Schwierigkeit des Krankheitsbildes eine eingehende Befassung des Arztes mit dem Patienten erfordert. Regelmäßig sind tragfähige Aussagen zur Traumatisierung erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Auch bedarf es unter anderem einer gründlichen Anamnese sowie einer schlüssigen und nachvollziehbaren Herleitung des im Übrigen genau zu definierenden Krankheitsbildes (vgl. Treiber a.a.O.; Loesel/Bender a.a.O.). Es gibt keine PTBS ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Steller in Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.; a.A. Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321).
22 
Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. K (Michael-Balint-Klinik) und Dr. N (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen) erbrachten ihre eigenen Untersuchungen der Klägerin die sichere Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die für diese Krankheit nach ICD-10: F 43.1 erforderlichen diagnostischen Kriterien seien erfüllt. An der Richtigkeit dieser Ausführungen hegt das Gericht keine Zweifel. Die Feststellungen in dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und im Gutachten der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 sind eindeutig, in sich widerspruchsfrei und nachvollziehbar. Die Gutachter haben andere differentialdiagnostische Erwägungen angestellt, diese jedoch verworfen. Aus beiden Gutachten geht eindeutig hervor, auf welcher Grundlage die Sachverständigen ihre Diagnose gestellt haben und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Die Gutachten geben auch Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf. Für diese psychotraumatologischen Fachfragen gibt es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345 und Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8/07 - juris -). Soweit das Bundesamt das Vorliegen der fachärztlich diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung verneint, weil es das Vorhandensein eines traumatisierenden Ereignisses als nicht hinreichend belegt ansieht, fehlt ihm für diese Aussage ohne Einholung eines eigenen medizinischen Sachverständigengutachtens die notwendige Sachkunde.
23 
Das Bundesamt ist erkennbar auch der Auffassung, bei den medizinischen Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 fehle die inhaltliche Analyse der erhobenen Aussagen der Klägerin in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen (Konstanz- und Motivationsanalyse, Fehlerquellen- und Kompetenzanalyse). Dieses Vorbringen deutet darauf hin, dass das Bundesamt den Unterschied zwischen aussagepsychologischen und klinischen Gutachten nicht kennt. Aussagepsychologische Gutachten äußern sich zu Aussagen über ein Geschehen. Die aussagepsychologische Begutachtung wurde entwickelt, um mit Hilfe der Inhaltsanalyse einer Aussage und unter Berücksichtigung der Entstehungsgenese, der Kompetenz und der Motivation des Untersuchten sowie mit Hilfe des Vergleichs verschiedener Aussagen einer Person zu unterschiedlichen Zeiten (Konstanzanalyse) die Frage zu klären, inwieweit die Schilderungen glaubhaft und zuverlässig sind. Klinische Gutachten äußern sich hingegen zu der Frage, ob jemand gesund oder krank ist und dazu, welche Erkrankungen gegebenenfalls vorliegen. Forensische aussagepsychologische Gutachten liegen aber außerhalb des Kompetenzbereichs eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Klinische Gutachten oder Stellungnahmen zu Fragen nach bestehenden psychischen Traumafolgen analysieren Aussagen nicht anhand der Kriterien der Aussagepsychologie. Diese Kriterien (Konstanzanalyse, Aussageentstehung und Aussageentwicklung oder Motivationsanalyse) gehören deshalb nicht in den Rahmen eines klinischen Gutachtens. Klinische Gutachten können allenfalls wesentliche Anhaltspunkte enthalten, die für oder gegen den Erlebnisbezug von Aussagen zur traumatischen Vorgeschichte sprechen (vgl. zum Ganzen Venzlaff/Foerster a.a.O. S. 752; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158 ff; Wenk-Ansohn u.a., Anforderungen an Gutachten, Einzelentscheiderbrief 8 und 9/2002, 3; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322). Unabhängig hiervon haben sich die Gutachter Dr. K und Dr. N mit der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin nachhaltig beschäftigt. Eine Simulation und Aggravation wurde von beiden Gutachtern überzeugend ausgeschlossen.
24 
Da nach dem Vorgenannten weder mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln noch mit Hilfe der Psychopathologie sicher erschlossen werden kann, ob tatsächlich ein traumatisches Ereignis stattgefunden hat und wie dieses geartet war, muss das behauptete traumatisierende Ereignis zur Überzeugung des Gerichts stattgefunden haben (ebenso VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.10.2006, VBlBW 2007, 116; vgl. aber auch BVerwG, Beschl. v. 18.07.2001, DVBl 2002, 53: Glaubhaftigkeitsprüfung unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen bei Traumatisierung). Dies ist vorliegend der Fall. Aufgrund der Einvernahme der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der ausführlich wiedergegebenen Anamnesen in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin tatsächlich im März 2002 von einem Angehörigen türkischer Sicherheitskräfte vergewaltigt wurde. Sie hat dieses Ereignis mit hinreichenden Realkennzeichen bei der Anamneseerhebung durch die Michael-Balint-Klinik geschildert. Außerdem hatte sie bereits im Erstasylverfahren vorgetragen, seit März 2002 Probleme in der Türkei gehabt zu haben; dieses Datum korrespondiert mit den Angaben der Klägerin im Asylfolgeverfahren, wonach sie im März 2002 die Vergewaltigung durch einen türkischen Polizisten erlitten habe. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Klägerin die Vergewaltigung erst nach dem Erstasylverfahren benannt hat. Aus der psychotraumatologischen Forschung ist bekannt, dass traumatische Erinnerungen eher fragmentarischen Charakter haben und dass gerade bei traumatisierten Personen charakteristische Gedächtnisstörungen krankheitsbedingt die Regel sind. Hinzu kommt, dass traumatisierte Menschen oft jene Ereignisse verschweigen, die als besonders schmerzhaft erlebt wurden oder die stark schambesetzt sind. Dieses Vermeidungsverhalten ist Teil des Krankheitsbildes und nur bedingt willentlich beeinflussbar (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Auflage, Seite 752; Hinckeldey/Fischer, Psychotraumatologie der Gedächtnisleistung; Birck, Traumatisierte Flüchtlinge sowie in ZAR 2002, 28 ff.; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 322; Mehari, Koch, Bittenbinder, Wirtgen, Haenel, Hüther in: Asylpraxis, Band 9 Seite 17 ff.; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -). Bei traumatisierten Personen können somit die bei der Glaubhaftigkeitsprüfung relevanten Kriterien wie Detailreichtum, Farbigkeit der Darstellung, logische Kohärenz, Homogenität, innere Widerspruchsfreiheit und Konstanz der Aussage nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden (vgl. Treiber, ZAR 2002, 282; Middeke, DVBl. 2004, 150, 151; Marx, InfAuslR 2003, 21, 23; Koch in: Asylpraxis Band 9, Seite 61ff, 88). Deshalb wird im Hinblick auf die Schilderung des Traumageschehens bei einem traumatisierten Asylbewerber ein qualifizierter Beweisnotstand angenommen, der zu einer Herabsetzung der Anforderungen an die Schlüssigkeit des tatsächlichen Vorbringens und damit auch an den Nachweis eines Verfolgungsgeschehens führt (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 10.05.2002 - 10 A 11457/01 -; OVG Münster, Beschl. v. 07.01.1998, AuAS 1998, 105; OVG Weimar, Urt. v. 25.09.2003, NVwZ-RR 2004, 455 und Urt. v. 18.03.2005, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 13.04.2000, AuAS 2000, 221).
25 
Wegen der Eigentümlichkeit, dass die Traumatisierten oft erst im Rahmen einer bereits greifenden therapeutischen Bemühung in der Lage sind, über das Geschehene Auskunft zu geben, kann in der äußerlichen Widersprüchlichkeit von Angaben kein ausschlaggebendes Moment ausgemacht werden, das der Annahme des der Feststellung der posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegenden Traumas entgegensteht (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33). Der Glaubhaftigkeit der von der Klägerin im Asylfolgeverfahren dargelegten erlittenen Vergewaltigung im März 2002 steht deshalb nicht entgegen, dass sie sich weder bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 14.01.2003 noch bei den Begutachtungen durch das Klinikum Weissenhof und durch die psychologische Beratungsstelle Stuttgart in der Lage gesehen hat, die in der Türkei erlebte Erniedrigung zu berichten. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin glaubhaft dargelegt, dass sie aus Angst, ihr vor der Tür wartender Ehemann könne ihre Angaben mithören, keine Aussagen im Klinikum Weissenhof und in der psychologischen Beratungsstelle Stuttgart zu der erlittenen Vergewaltigung gemacht hat. Auch in der mündlichen Verhandlung war die tief sitzende Furcht der Klägerin mit Händen greifbar, ihre Angaben im Sitzungssaal könnten von dem im Wartebereich aufhältigen Ehemann mitgehört werden. Bei der Anamneseerhebung durch Dr. N in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen hinderte ein intrusives, flashback-artiges Wiedererleben der Vergewaltigung die Klägerin daran, über das konkrete Vergewaltigungsgeschehen zu sprechen; die Klägerin war über mehr als 15 Minuten nicht zu beruhigen und verbal nicht mehr zu erreichen. Eine notfallmäßige Klinikaufnahme zur Krisenintervention wurde vom Gutachter in Erwägung gezogen. Auch der persönliche Eindruck, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, hat bestätigt, dass sie nur unter Aufbietung aller ihrer Kräfte und unter Tränen und Weinanfällen zu Andeutungen über den erlittenen sexuellen Missbrauch in der Lage ist.
26 
Im Übrigen müsste auch dem Bundesamt bekannt sein, dass das Selbstbild der von sexualisierter Gewalt betroffenen Frauen aus der Türkei (gleiches gilt aber auch für Frauen aus dem Irak, aus Bosnien und aus dem Kosovo) geprägt ist vom Gedanken des Entehrtseins und deren Gefühlswelt von Scham, Wertlosigkeit, Selbstverurteilung und Schuld erfüllt ist. Um in der sozialen Gemeinschaft weiter existieren zu können und aus Angst davor, vom Ehemann verstoßen zu werden, entschließen sich die meisten dieser Frauen, über die erlebten sexuellen Übergriffe durch Sicherheitskräfte nicht zu sprechen. Angaben über sexualisierte Gewalt stellen vor dem Hintergrund islamisch geprägter Traditionen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für deren Ehemann und die gesamte Familie eine neuerliche Entehrung dar. Deshalb kommen Aussagen zu sexualisierten Gewalterfahrungen bei muslimischen Frauen erst unter größtem Druck, wenn beispielsweise die Abschiebung unmittelbar droht, zustande (vgl. zum Ganzen Haenel/Wenk-Ansohn, Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren, S. 160 ff.; Birck, ZAR 2002, 28, 31; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 321, 323).
27 
Gegen die Richtigkeit der in den Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 gestellten Diagnose posttraumatische Belastungsstörung spricht auch nicht das späte Auftreten der von der Klägerin geschilderten Krankheitssymptome. Entgegen der vom Bundesamt häufig vertretenen Auffassung tritt die posttraumatische Belastungsstörung nicht regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach dem traumatischen Ereignis auf. Diese Zeitspanne wird in der ICD-10 für F 43.1 nur als häufigste Latenz angegeben. In der (ausführlicheren) DSM-IV wird ausdrücklich auf eine PTBS mit verzögertem Beginn hingewiesen. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen können traumabedingte Störungen einschließlich posttraumatischer Belastungsstörungen auch mit jahrelanger bis zum Teil jahrzehntelanger Latenz auftreten (vgl. Gierlichs, Asylmagazin 7-8/2003, 53 sowie in ANA-ZAR 5/2007, 33 m.w.N.). In der ergänzenden Stellungnahme an das Gericht vom 11.01.2008 hat auch Dr. N, der anerkanntermaßen ein ausgewiesener Fachmann auf dem Gebiet der Psychotraumatologie ist, dargelegt, dass der Ausbruch der Symptome der PTBS von vielfältigen Umgebungsfaktoren abhängen kann, die beispielsweise eine Kompensation ermöglichen oder Verdrängung/Verleugnung des Traumas erforderlich machen können.
28 
Nach dem Gutachten der Michael-Balint-Klinik vom 12.01.2007 und der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen vom 23.04.2007 ist bei einer erzwungenen Rückkehr der Klägerin in die Türkei aufgrund der Retraumatisierung mit Dekompensation mit massivster Verschlechterung der psychischen Erkrankung mit akuter Lebensgefährdung zu rechnen. Den ärztlichen Feststellungen zufolge leidet die Klägerin an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, unter Gedankenkreisen und Grübeln und unter einem kompletten Libidoverlust; weiter traten bei den Explorationen Hitzewallungen, Kopfschmerzen, Schwindel und brennende Hände „wie Feuer“ auf. Schließlich wird in den Gutachten über massive Lebensunlust, Todessehnsucht und über vier Suizidversuche berichtet. Diese ärztlichen Feststellungen sind klar, eindeutig und überzeugend. Im Übrigen handelt es sich bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen wiederum um medizinische Fachfragen, für die es keine eigene Sachkunde der Behörde oder des Gerichts gibt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, NVwZ 2007, 345).
29 
Unter dem Begriff der „Retraumatisierung“ wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (vgl. Marx, InfAuslR 2000, 357, 360 m.w.N.). Die Folge davon kann eine akute Dekompensation wie z. B. schwere depressive Reaktion, psychotische Dekompensation, suizidale Handlung und anderes sein und zu einer dauerhaften Verschlimmerung oder Chronifizierung des posttraumatischen Krankheitsprozesses führen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
30 
Bereits diese konkrete Gefahr der Retraumatisierung begründet ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (ebenso VGH München, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524; VGH Kassel, Urt. v. 26.02.2007 - 4 UE 1125/05.A - juris -; OVG Koblenz, Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG - ; OVG Schleswig, Beschl. v. 28.09.2006 - 4 LB/06 -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris - und Urt. v. 12.09.2007 - 8 LB 210/05 - juris -). Die Gefahr der Retraumatisierung lässt sich nicht auf den eigentlichen Ort eingrenzen, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, denn auch andere Orte und Personen im Heimatland, die dem zugrundeliegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln oder auch nur Anklänge daran haben, führen zu einer Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.02.2005 - 11 LB 121/04 und Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/ 05 - juris -), so dass im Falle der Klägerin die Gefahr der Retraumatisierung konkret und landesweit gegeben ist.
31 
Diese konkrete und landesweite Gefahr im Falle einer Abschiebung in die Türkei ist durch eine mögliche medikamentöse Behandlung im Zielstaat der Abschiebung nicht zu verhindern (vgl. Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs u.a., ZAR 2005, 158, 163). Der erheblichen Gesundheits- und Lebensgefahr für die Klägerin kann auch nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass sie sich unverzüglich nach der Rückkehr in ihr Heimatland in psychologische oder psychiatrische Behandlung begibt. Denn Menschen mit traumatogenen Störungen können in einer Umgebung, die Intrusionen stimuliert und kein Vermeidungsverhalten erlaubt, nicht behandelt werden (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 753). Nach fachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine erfolgreiche Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen nur in einer sicheren Umgebung und bei Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung möglich (vgl. Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften, veröffentlicht in: http://www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp ? typ=PDF&id=1166 ; Koch in: Asylpraxis Band 9 S. 61, 78; Gierlichs/Wenk-Ansohn, ZAR 2005, 405, 408; Gierlichs, ZAR 2006, 277, 279; Bittenbinder in: Asylpraxis Band 9, S. 35, 54 ff.; Graessner u.a., Die Spuren von Folter, S. 77 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33; OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2007 - 11 LB 398/05 - juris -).
32 
Unabhängig hiervon wird die Klägerin vor dem Hintergrund der bei ihr bestehenden schweren Erkrankung und der schon heute gezeigten extremen Destabilisierung nicht in der Lage sein, in der Türkei im Anschluss an ihre Abschiebung und die damit für sie zwangsläufig verbundene Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes die für sie alsdann noch umso dringlicher gebotene medizinische Hilfe zu erfahren, zumal die hier vorliegende Traumatisierung durch Vergewaltigung einen Fall mit einer besonders ungünstigen Prognose, nämlich den Fall des sog. „man made disaster“ (vgl. Koch in: Asylpraxis Band 9 Seite 71) darstellt. Denn unabhängig von der Frage, ob posttraumatische Belastungsstörungen in der Türkei behandelbar sind und ob die Klägerin eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, gilt im vorliegenden Fall, dass die Klägerin nach ihrer Rückkehr aufgrund ihres Rückzugsverhaltens, ihrer Depressivität und ihrer Ängste nicht in der Lage sein wird, eine solche Behandlung aus eigener Kraft oder durch entsprechende Einwirkungen durch Verwandte mittels deren Hilfestellung anzutreten. Für die Klägerin besteht somit bei einer Rückkehr in die Türkei ungeachtet der vom Bundesamt behaupteten Behandlungsmöglichkeiten die ganz konkrete Gefahr eines psychischen Zusammenbruchs, wenn nicht gar des Suizids, und damit eine extreme individuelle Gefahrensituation.
33 
Steht danach zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der Krankheitszustand der Klägerin im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich bzw. angesichts ihrer erheblichen Suizidalität sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, so steht ihr ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei zu. Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG gesperrt. Angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht angenommen werden, dass diesbezüglich ein Bedürfnis nach einer ausländerpolitischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG besteht (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 - 1 C 16/05 - Juris -). Im Übrigen ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankten Personen, deren Erkrankung auf willentlich durch Menschen verursachte Traumata beruht, nicht Teil einer Bevölkerungsgruppe sind (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 16.02.2004, Asylmagazin 6/2004, 30; OVG Koblenz, Urt. v. 23.09.2003, Asylmagazin 4/2004, 33 und Urt. v. 09.02.2007 - 10 A 10952/06.OVG- ; VGH Kassel, Beschl. v. 09.01.2006 - 7 ZU 1831/05.A -).
34 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 83 b AsylVfG.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

(1) Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn

1.
der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird,
2.
dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird,
2a.
dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird,
3.
die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und
4.
der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt.
Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig.

(2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. Wurde kein Bevollmächtigter für das Verfahren bestellt, sind die Entscheidungsformel der Abschiebungsandrohung und die Rechtsbehelfsbelehrung dem Ausländer in eine Sprache zu übersetzen, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann.

(1) In den Fällen der Unzulässigkeit nach § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 und der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages beträgt die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist eine Woche.

(2) Das Bundesamt übermittelt mit der Zustellung der Entscheidung den Beteiligten eine Kopie des Inhalts der Asylakte. Der Verwaltungsvorgang ist mit dem Nachweis der Zustellung unverzüglich dem zuständigen Verwaltungsgericht zu übermitteln.

(3) Anträge nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsandrohung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen; dem Antrag soll der Bescheid des Bundesamtes beigefügt werden. Der Ausländer ist hierauf hinzuweisen. § 58 der Verwaltungsgerichtsordnung ist entsprechend anzuwenden. Die Entscheidung soll im schriftlichen Verfahren ergehen; eine mündliche Verhandlung, in der zugleich über die Klage verhandelt wird, ist unzulässig. Die Entscheidung soll innerhalb von einer Woche nach Ablauf der Frist des Absatzes 1 ergehen. Die Kammer des Verwaltungsgerichts kann die Frist nach Satz 5 um jeweils eine weitere Woche verlängern. Die zweite Verlängerung und weitere Verlängerungen sind nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe zulässig, insbesondere wenn eine außergewöhnliche Belastung des Gerichts eine frühere Entscheidung nicht möglich macht. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Die Entscheidung ist ergangen, wenn die vollständig unterschriebene Entscheidungsformel der Geschäftsstelle der Kammer vorliegt. Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt nach § 11 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes und die Anordnung und Befristung nach § 11 Absatz 7 des Aufenthaltsgesetzes sind ebenso innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung bleibt hiervon unberührt.

(4) Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig. Ein Vorbringen, das nach § 25 Abs. 3 im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie Tatsachen und Umstände im Sinne des § 25 Abs. 2, die der Ausländer im Verwaltungsverfahren nicht angegeben hat, kann das Gericht unberücksichtigt lassen, wenn andernfalls die Entscheidung verzögert würde.

(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will, oder
2.
von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.
Unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen kann darüber hinaus auch von einer Abschiebungsandrohung abgesehen werden, wenn
1.
der Aufenthaltstitel nach § 51 Absatz 1 Nummer 3 bis 5 erloschen ist oder
2.
der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.