Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht Urteil, 01. Dez. 2016 - 1 A 181/14

ECLI:ECLI:DE:VGSH:2016:1201.1A181.14.0A
01.12.2016

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilichen Handelns.

2

Die 1981 geborene Klägerin stürzte bei einer Reitstunde am Abend des 06.07.2012 vom Pferd und wurde wegen auftretender Gedächtnislücken sowie Schmerzen im Becken-, Hüft- und Nierenbereich von ihrem Lebensgefährten und Prozessbevollmächtigten in diesem Verfahren in das … in A-Stadt gebracht. Von dort wurde sie am selben Abend mit einem Krankentransport in das Universitätsklinikum A-Stadt (UK...) gebracht und dort zunächst auf der neurochirurgischen Station aufgenommen. Es erfolgte noch am selben Tag eine Verlegung auf die Intensivstation der Anästhesiologie.

3

Es wurden bei der Klägerin ein Schädel-Hirn-Trauma sowie Prellungen des Beckens und der Nieren diagnostiziert. Mittels Computertomographie (CT) wurde der Kopf der Klägerin mehrmals auf Hirnverletzungen untersucht. Laut Angaben des Prozessbevollmächtigten der Klägerin habe das erste CT kleine schwarze Linien gezeigt, welche nach Äußerung des aufnehmenden Arztes Ungenauigkeiten in der Bildgebung oder leichte Einblutungen sein könnten. Ein weiteres CT um 3.00 Uhr habe ergeben, dass die Einblutungen, soweit sie beim ersten CT vorhanden gewesen seien, sich vollständig zurückgebildet hätten. Es habe festgestanden, dass die Klägerin am Folgemorgen entlassen werden könne oder im Falle einer Verschlechterung der Situation auf eine andere Station verlegt werden solle.

4

Nach Angaben des Stationsarztes gegenüber der Richterin am Amtsgericht … im Unterbringungsverfahren – 300 XIV 1457 L – bestehe in Fällen eines Schädel-Hirn-Traumas eine Überwachungspflicht von 24 Stunden. Sofern die Klägerin innerhalb dieser Frist das Krankenhaus verlasse, um auf eine andere Station oder in ein anderes Krankenhaus zu kommen, bestehe Lebensgefahr, weil die Klägerin, sofern unterwegs etwas passiere, nicht sofort notfallmäßig und operativ versorgt werden könne. Bei der Klägerin habe eine Amnesie vorgelegen, so dass sie sich an den Reitunfall und auch einige aktuelle Dinge nicht erinnere.

5

Am Morgen des 07.07.2012 wollte die Klägerin nach einer Auseinandersetzung mit dem Pflegepersonal ihrer Station sowie mit dem Stationsarzt zusammen mit ihrem Lebensgefährten eine Entlassung auf eigenen Wunsch herbeiführen. Als ihr dies verwehrt wurde, versuchte sie, sich bei einem Vorgesetzten des Stationspersonals zu beschweren und einen Wechsel des Krankenhauses oder zumindest der Station herbeizuführen. Nachdem sie niemanden angetroffen hatte, der ihre Beschwerde entgegennehmen und einen Stationswechsel veranlassen wollte, verließ die lediglich mit einem Krankenhausnachthemd bekleidete Klägerin mit ihrem Lebensgefährten das Klinikgebäude. Vor dem Gebäude trafen die Klägerin und ihr Lebensgefährte auf die beiden vom Stationspersonal herbeigerufenen Polizeibeamten … und …. Diese überredeten die Klägerin, zu einer Klärung der Angelegenheit noch einmal auf die Station zurückzukehren. Die Polizeibeamten erklärten der Klägerin, dass sie auf die Station zurückkehren müsse, da ihnen vom Stationspersonal mitgeteilt worden sei, dass für die Klägerin Lebensgefahr bestehe, wenn sie die Station verlasse.

6

Der Stationsarzt informierte den Amtsarzt der Stadt A-Stadt telefonisch über den medizinischen Zustand der Klägerin und deren Wunsch, gegen den ärztlichen Rat die Klinik verlassen zu wollen. Er teilte dem Amtsarzt mit, dass die Klägerin verhaltensauffällig und sehr unruhig sei. Der Amtsarzt riet dem Stationsarzt, die Klägerin gegebenenfalls zu fixieren, wenn dies in der Gesamtsituation notwendig werde.

7

Als die Klägerin mit den Polizeibeamten auf die Station zurückkehrte, waren an ihrem Bett bereits Fixiergurte angebracht. Die Klägerin lehnte eine Fesselung energisch ab, weigerte sich, in das Bett zu gehen und wehrte sich gegen den Versuch, sie gewaltsam in das Bett zu legen. Sie wurde schließlich unter Zusammenwirken des Stationsarztes, eines Pflegers und der beiden Polizeibeamten unter Anwendung körperlicher Gewalt in das Bett gelegt und an den Armen, den Beinen sowie im Hüftbereich fixiert.

8

Die Klägerin hat am 29.09.2014 die vorliegende Klage erhoben.

9

Die Klägerin trägt zur Begründung der Klage vor, die Polizeibeamten hätten sie, nachdem sie vom Stationsarzt mit einem Riechanästhetikum betäubt worden sei, gewaltsam zum Bett geschleppt und sie auf dieses geworfen, wo sie ihr Bewusstsein wiedererlangt habe. Die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig, da jedenfalls eine Wiederholungsgefahr gegeben sei. Das Polizeihandeln sei rechtswidrig. Es bedürfe Ermächtigungsgrundlagen, die die Anwendung von Gewalt, die Fesselung sowie das zwangsweise Verabreichen von Medikamenten deckten. Die Gabe von Medikamenten sei zwar nicht unmittelbar durch die Polizeibeamten erfolgt. Diese Handlung der Klinikmitarbeiter sei aber als Teil eines einheitlichen Lebensvorgangs dem beklagten Land wegen der Beteiligung der Polizeibeamten an dem Gesamtvorgang zuzurechnen. Für eine rechtmäßige Anwendung von Gewalt gegen sie fehle es bereits an einem zu vollziehenden Verwaltungsakt. Da die Gewaltanwendung nur erfolgte, um sie dem Gewahrsam des Stationsarztes zuzuführen, handele es sich faktisch um eine gewaltsame Unterbringung in einem Krankenhaus. Für eine solche Unterbringungshandlung durch die Polizei bestehe keine Ermächtigungsgrundlage. Die Gewaltanwendung als Vollstreckungshandlung komme ebenfalls nicht in Betracht, da es keine vollziehbare Anordnung gebe. Auch für eine Zwangsmedikation bestehe keine Ermächtigungsgrundlage. Die Fesselung sei weder durch § 16 PsychKG-SH noch durch § 255 LVwG gedeckt. Denn es fehle zum einen an einer Unterbringung nach dem PsychKG-SH, zum anderen für die Anwendbarkeit des § 255 LVwG an einem Festhalten durch die Polizeibeamten nach dem LVwG. Zudem fehle es den Handlungen an der Verhältnismäßigkeit. Sie sei bereit gewesen, auf das Eintreffen des Amtsarztes zu warten, wenn das von ihr verlangt worden wäre. Eine entsprechende Aufforderung sei von den Polizeibeamten jedoch nicht erfolgt.

10

Die Klägerin beantragt,

11

festzustellen, dass die von den Polizeibeamten … und … angewendete Gewalt, die Fesselung sowie die durchgeführte Zwangsmedikation am 07.07.2012 rechtswidrig gewesen sind.

12

Die Beklagte beantragt,

13

die Klage abzuweisen.

14

Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass es der Klage bereits am Fortsetzungsfeststellungsinteresse fehle. Dass die Klägerin Schadensersatzansprüche verfolgen wolle, reiche nicht aus, da dies ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nur bei einer Erledigung nach Klageerhebung begründe. Auch eine Wiederholungsgefahr sei nicht gegeben, da bereits nicht vorgetragen sei, wie sich ein vergleichbarer Sachverhalt erneut ereignen solle. Das Handeln der Polizeibeamten sei rechtmäßig, da es sich um einen formell und materiell rechtmäßigen sofortigen Vollzug handele. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs sei auch ohne vorangegangenen Grundverwaltungsakt zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit zulässig gewesen. Eine gegenwärtige Gefahr sei aus Ex-ante-Sicht der Polizeibeamten durch die nach Auskunft des Stationsarztes für die Klägerin bestehende Lebensgefahr bei Verlassen des Krankenbettes gegeben gewesen. Da den Polizeibeamten darüber hinaus mitgeteilt worden sei, dass eine Unterbringung der Klägerin nach § 11 PsychKG-SH im Raume stehe, weil sie nicht in der Lage sei, die Entscheidung über ihre Entlassung selbst zu treffen, sei es für die Beamten unumgänglich gewesen, für einen Verbleib der Klägerin im Krankenhaus und in ihrem Bett bis zum Eintreffen des Amtsarztes zu sorgen. Das Handeln der Polizeibeamten sei rechtmäßig gewesen als Vollzug eines hypothetischen Grundverwaltungsakts in Gestalt der Aufforderung, das Krankenhaus bis zum Eintreffen des Amtsarztes nicht zu verlassen. Wegen der akuten Lebensgefahr sei die Einschränkung der Fortbewegungsfreiheit für eine Stunde auch verhältnismäßig gewesen. Die Fesselung sei als Zwangsmittel nach § 255 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a LVwG gerechtfertigt gewesen, da die Klägerin aus Sicht der Beamten im Begriff gewesen sei, sich durch das Verlassen der Klinik selbst in die Gefahr des Todes zu bringen.

Entscheidungsgründe

15

Der Rechtsweg zu dem angerufenen Verwaltungsgericht ist nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet. Gegenstand des Rechtsstreits ist ausschließlich das hoheitliche Handeln von Polizeivollzugsbeamten. Es ist keine abdrängende Sonderzuweisung einschlägig. § 428 Abs. 2 FamFG findet keine Anwendung, da es sich bei der streitgegenständlichen Maßnahme nicht um eine Freiheitsentziehung aufgrund von Bundesrecht (vgl. § 415 Abs. 1 FamFG) handelt. Es kommen ausschließlich landesrechtliche Vorschriften als Ermächtigungsgrundlagen in Betracht.

16

Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.

17

Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO statthaft. Gemäß § 43 Abs. 1 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.

18

Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO ist gegeben. Unter einem solchen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht. Rechtliche Beziehungen haben sich nur dann zu einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (BVerwG, Urt. v. 30.11.2011 – 6 C 20/10 –, Rn. 12 m.w.N.). Im vorliegenden Fall geht es um die Feststellung, ob die Polizeibeamten des Beklagten von Rechts wegen daran gehindert waren, Gewalt gegen die Klägerin anzuwenden, an einer Fesselung der Klägerin mitzuwirken und einer medikamentösen Zwangsbehandlung durch das UK... zu überlassen. Die Statthaftigkeit der Feststellungsklage scheitert hier auch nicht an der Subsidiarität nach § 43 Abs. 2 VwGO, denn bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Fesselung der Klägerin handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt, sondern lediglich um einen Realakt (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 18.11.2015 – 5 K 1265/14 –, juris Rn. 21).

19

Das notwendige Feststellungsinteresse ist ebenfalls gegeben. Als ein solches Interesse kommt grundsätzlich jedes nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art in Betracht (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 – 8 C 14/12 –, juris Rn. 20 m.w.N.).

20

Ein Feststellungsinteresse ergibt sich hier nicht bereits aus der Wiederholungsgefahr. Eine Wiederholungsgefahr ist nur gegeben, wenn die hinreichend bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen erneut eine gleichartige Maßnahme ergehen wird (vgl. VGH München, Beschl. v. 10.06.2015 – 10 C 15.880 –, juris Rn. 12 m.w.N.). Die Wiederholung der gleichen Maßnahme muss konkret und in absehbarer Zeit zu erwarten sein (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 16.09.2015, 4 O 37/15). Nach diesen Maßstäben ist eine konkrete Wiederholungsgefahr nicht ersichtlich. Ausgangspunkt für das Vorgehen der Polizeibeamten gegen die Klägerin war deren Sturz vom Pferd und das dadurch erlittene Schädel-Hirn-Trauma, das zur stationären Aufnahme in das UK... führte. Es ist nicht absehbar, dass sich eine ähnliche Situation in nächster Zeit erneut einstellt.

21

Jedoch ist ein Feststellungsinteresse aufgrund der kurzfristigen Natur des polizeilichen Handelns und der Fesselung wegen der regelmäßigen Erledigung vor Abschluss eines gerichtlichen Verfahrens gegeben. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG erfordert eine wenigstens nachträgliche Kontrolle bei typischerweise kurzfristigen, aber tiefgreifenden Grundrechtseingriffen, in denen die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann (insbesondere bei Eingriffen in Grundrechte mit Richtervorbehalt: siehe BVerfG, Kammerbeschl. v. 10.05.1998 – 2 BvR 978/97 –, juris Rn. 10; BVerfG, Beschl. v. 30.04.1997 – 2 BvR 817/90 –, juris Rn. 49; BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 – 1 BvR 461/03 –, juris Rn. 28; BVerwG, Urt. v. 16.05.2013 – 8 C 14/12 –, juris Rn. 29; Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 22. Aufl. 2016, § 43 Rn. 25, § 113 Rn. 145; Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 113 VwGO, Rn. 109 m.w.N.). So liegt es hier. Bei der Anwendung von Gewalt durch Polizeibeamte, um eine Person zu fesseln, handelt es sich um eine zwangsläufig kurzfristige Maßnahme, die mit dem Ende der Gewaltanwendung ihre Erledigung findet. Eine "Anfechtung" dieser Maßnahme im gerichtlichen Verfahren ist deshalb kaum möglich. Andererseits stellt das polizeiliche Handeln hier als freiheitsentziehende Maßnahme einen schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 2 GG geschützte persönliche Freiheit dar, für den nach § 104 Abs. 2 GG der Richtervorbehalt besteht. Denn das Handeln der Polizeivollzugsbeamten war darauf gerichtet, die Klägerin zu fesseln.

22

Die zwischen der streitgegenständlichen Maßnahme und der Klageerhebung verstrichene Zeit beseitigt nicht das Feststellungsinteresse. Denn anders als für die Fallgruppe von Feststellungsklagen, bei denen das Feststellungsinteresse auf einem Rehabilitationsinteresse des Klägers wegen einer Fortwirkung einer Grundrechtsbeeinträchtigung beruht, bedarf es einer solchen Fortwirkung im Falle eines sich kurzfristig erledigenden tiefgreifenden Grundrechtseingriffs gerade nicht (für schwerwiegende Eingriffe in die Versammlungsfreiheit: vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.03.2004 – 1 BvR 461/03 –, juris Rn. 37)

23

Ob darüber hinaus die Feststellung von Bedeutung für ein Amtshaftungsverfahren ist, muss nicht entschieden werden.

24

Die Klage ist unbegründet.

25

Die Anwendung von Gewalt gegen die Klägerin und die Mitwirkung an der Fesselung der Klägerin durch die Polizeibeamten waren rechtmäßig. Bei der Zwangsbehandlung und der Zwangsmedikation der Klägerin handelt es sich schon nicht um Eingriffshandlungen der Polizeibeamten, so dass diesbezüglich eine Feststellung der Rechtswidrigkeit ausscheidet.

26

Die Einsatzkräfte der Beklagten sind bei der streitgegenständlichen Mitwirkung an der Fesselung der Klägerin im Wege der Amtshilfe für den Amtsarzt und nicht zur Erfüllung einer eigenen polizeilichen Aufgabe tätig geworden. Demnach war die Beklagte hier nur für die Art und Weise der Durchführung der Amtshilfe verantwortlich. Diese ist nicht zu beanstanden.

27

Die Anwendung von Gewalt gegen die Klägerin und die Mithilfe bei der Fesselung der Klägerin sind gerechtfertigt als unmittelbarer Zwang nach § 250 LVwG im Rahmen einer Amtshilfe gemäß der §§ 32 ff. LVwG zur Vornahme einer durch den Amtsarzt Dr. … angeratenen Fesselung.

28

Die Beamten haben ihre Hinzuziehung zutreffend als Amtshilfeersuchen zu einer Maßnahme des Amtsarztes auf der Grundlage des PsychKG-SH bewertet.

29

Nach den schriftlichen Angaben der Beteiligten ist von einer Maßnahme des Amtsarztes auszugehen, die sich nicht als ein Handeln auf zivilrechtlicher, sondern auf öffentlich-rechtlicher Grundlage darstellt. Zu dieser haben die Beamten Hilfe geleistet.

30

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des polizeilichen Handelns ist die Zielrichtung bzw. das äußere Erscheinungsbild der Maßnahme, zu der die polizeiliche Hilfe erbeten wurde. Dabei war hier darauf abzustellen, wie sich die Sachlage im Zeitpunkt des Einsatzes aus Sicht der Beamten darstellte. Amtshilfe besteht in dem ergänzenden Beistand, den eine Behörde einer anderen leistet, um dieser die Durchführung ihrer öffentlichen Aufgaben zu ermöglichen oder zu erleichtern (BVerfG, Beschl. v. 13.07.2011 – 2 BvR 742/10 –, juris Rn. 23). Nach diesem Maßstab diente die Anwendung körperlicher Gewalt gegen die Klägerin zur Herbeiführung der Fesselung nicht dem Vollzug einer eigenen polizeilichen Anordnung, sondern war nur Hilfeleistung, um die durch den Stationsarzt angeordnete Fesselung durchzuführen, die wiederum der bevorstehenden Begutachtung und Unterbringungsanordnung durch den Amtsarzt diente.

31

Der Amtsarzt beabsichtigte laut seinem Gedächtnisprotokoll vom 08.08.2012, ein Verfahren zur Unterbringung der Klägerin nach § 7 Abs. 1 PsychKG-SH in Gang zu setzen, die dann zulässig ist, wenn psychisch kranke Menschen infolge ihrer Krankheit ihr Leben, ihre Gesundheit oder Rechtsgüter anderer erheblich gefährden und die Gefahr nicht anders abgewendet werden kann. Zur vorläufigen Sicherung der Klägerin sollte verhindert werden, dass diese die Klinik verlässt. Notfalls sollte die Klägerin fixiert werden.

32

Die Initiative für die Maßnahme, die Klägerin durch die Fesselung am Verlassen der Klinik zu hindern, ging nach übereinstimmendem Vortrag der Beteiligten vom Klinikpersonal aus, das dem Anraten des Amtsarztes folgte.

33

Auch wenn es für dieses Tätigwerden im Rahmen der Amtshilfe an einem direkten Kontakt zwischen dem Amtsarzt als ersuchender Behörde und den Polizeivollzugskräften und auch an einem unmittelbaren Amtshilfeersuchen fehlt, finden die Vorschriften der Amtshilfe nach § 32 ff. LVwG hier Anwendung. Es lag keine „Spontanhilfe“ der Beamten vor, bei der vollständig ohne ein entsprechendes Amtshilfeersuchen gehandelt wird und die daher nicht den Regeln der Amtshilfe unterfällt (siehe Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, § 4 VwVfG, Rn. 26 m.w.N.). Denn aus Sicht der Polizeivollzugskräfte lag ein Amtshilfeersuchen vor. Die Polizeibeamten wurden von Seiten der Klinik herbeigerufen und erhielten den Hinweis, dass der Amtsarzt informiert sei und eine Unterbringung der Klägerin bevorstehe. Diese Anforderung von Unterstützung konnte aus Sicht der Polizeibeamten dem Amtsarzt zugerechnet werden, der gegenüber dem Stationsarzt eine Fesselung der Klägerin selbst vorgeschlagen hatte. Denn die Beamten konnten aufgrund der Information zu einer bevorstehenden Unterbringungsanordnung und aufgrund der Gesamtsituation – eine Patientin, die in Lebensgefahr schwebt, will unbedingt nach Hause und befindet sich, lediglich mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet, schon vor dem Klinikgebäude – davon ausgehen, dass eine Anordnung zur Fesselung der Klägerin als vorläufige Maßnahme auf Anweisung des Amtsarztes geschah.

34

Der Amtsarzt selbst war nach den §§ 17 Abs. 1 Satz 1 PsychKG-SH, 252 LVwG nicht selbst zur Anwendung unmittelbaren Zwangs ermächtigt.

35

Stellt sich die Anwendung von körperlicher Gewalt gegen die Klägerin, um diese der Fesselung zuzuführen nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als vorläufige Sicherungsmaßnahme des Amtsarztes dar, zu der die Polizeibeamten im Rahmen der Amtshilfe nach §§ 32 ff. LVwG herangezogen wurden, so waren die Vollzugskräfte der Beklagten hier nur für die Durchführung der Amtshilfe verantwortlich.

36

Die Art und Weise der Durchführung ist nicht zu beanstanden.

37

Die Polizeivollzugsbeamten der Beklagten waren zur Anwendung unmittelbaren Zwangs im Wege der Amtshilfe befugt. Die Fesselung einer untergebrachten Person kann nach § 16 Abs. 4 PsychKG-SH von den behandelnden Ärzten angeordnet werden. Gemäß § 17 PsychKG-SH kann die Durchsetzung einer Fesselungsanordnung durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 und 2 LVwG von Vollzugskräften nach § 252 LVwG erfolgen.

38

Nicht relevant ist, ob zum Zeitpunkt der Maßnahme eine Unterbringung der Klägerin und die weiteren Voraussetzungen für eine Fesselung nach § 16 Abs. 1 PsychKG-SH gegeben waren. Ob die Fesselung als solche rechtmäßig war, mussten die Polizeibeamten gemäß § 34 Abs. 2 Satz 1 LVwG nicht prüfen. Im Rahmen einer Amtshilfe muss die Beklagte als ersuchte Behörde gemäß § 34 Abs. 2 LVwG nur die Verantwortung für die Durchführung der Maßnahme tragen. Die Prüfung ihres eigenen Handelns konnte sich darauf beschränken, ob die Mitwirkung an der Fesselung durch Anwendung körperlicher Gewalt ihren polizeirechtlichen Befugnissen entsprach. Es bestanden auch keine Anhaltspunkte aus denen sich die Rechtswidrigkeit der Fesselungsanordnung den Polizeibeamten hätte aufdrängen müssen.

39

Die Polizeibeamten haben auch ohne Ankündigung des unmittelbaren Zwangs gegenüber der Klägerin die Vorschriften über das Verfahren bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs nach § 17 Abs. 1 Satz 2 PsychKG und § 259 Abs. 1 Sätze 1 und 2 LVwG eingehalten. Gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 PsychKG ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs anzukündigen. Gemäß § 259 Abs. 1 Satz 1 LVwG ist zu warnen, bevor unmittelbarer Zwang gegen Personen angewendet wird. Die Warnung kann nach § 259 Abs. 1 Satz 2 LVwG unterbleiben, wenn die Umstände sie nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer im einzelnen Falle bevorstehenden Gefahr notwendig ist. Dies war hier gegeben. Nach der unstreitigen Darstellung der Situation durch die Beteiligten versuchte die Klägerin sich der Fesselung durch Entweichen zu entziehen. Angesichts der nach Information durch den Stationsarzt gegenüber den Polizeibeamten bestehenden Lebensgefahr für die Klägerin bei Verlassen der Klinik und der Notwendigkeit kurzfristigen Handelns war eine Warnung der Klägerin nicht mehr möglich. Sie musste vielmehr durch unmittelbares Festhalten an der Flucht gehindert werden.

40

Die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Polizeibeamten als Unterstützungshandlung erweist sich als ermessensfehlerfrei, insbesondere als verhältnismäßig.

41

Die Maßnahme diente einem legitimen Zweck. Der unmittelbare Zwang wurde angewendet, um eine Unterbringung durch den Amtsarzt vorzubereiten, an deren Rechtmäßigkeit es für die Beamten keinen Grund zu zweifeln gab. Denn aus Ex-ante-Sicht der Polizeibeamten bestand für die Klägerin Lebensgefahr, die durch den Verbleib der Klägerin in der Klinik – auch gegen ihren Willen – abzuwenden war. Die Klägerin ließ keinen Zweifel daran, dass sie die Klinik verlassen wollte und nicht in das Bett zurückkehren wollte. Die Beamten durften aufgrund der Äußerungen des Stationsarztes davon ausgehen, dass für die Klägerin aufgrund ihrer Kopfverletzung erhebliche Lebensgefahr beim Verlassen der Station bestand. Es kommt hierfür nicht darauf an, ob die vom Stationsarzt vorgenommene Beurteilung des Gesundheitszustands der Klägerin aus medizinischer Sicht bei einer nachträglichen Beurteilung objektiv richtig war. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Polizeibeamten an der geschilderten medizinischen Situation Zweifel hatten oder dass sich Zweifel einem besonnenen Amtswalter hätten aufdrängen müssen. Der Stationsarzt hatte geschildert, dass durch das festgestellte Schertrauma im Stammganglienbereich Nachblutungen eintreten könnten, die ein schnelles ärztliches Handeln erforderlich machen würden. Bei dieser Sachlage hatten die Beamten weder Anlass noch Berechtigung, ihren Maßnahmen nicht die Diagnose und Prognose des über eine medizinische Ausbildung verfügenden Stationsarztes zugrunde zu legen. Insbesondere durften sie sich nicht auf die Selbsteinschätzung der Klägerin verlassen, da diese ein medizinischer Laie war.

42

Es bestand für die Polizeibeamten auch Anlass zur Annahme, dass der Entschluss der Klägerin, die Klinik zu verlassen, nicht durch eine freie Willensausübung getroffen wurde. Es gab Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, dass die Klägerin nicht fähig war, eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu treffen. Die Polizeibeamten trafen die Klägerin bereits vor dem Klinikgebäude, mit dem Krankenhausnachthemd bekleidet an. Zudem habe sie sich spätestens kurz vor der Fesselung, als sie von dem Pfleger aufgefordert wurde, in ihr Bett zu gehen, als sehr erregt und ungehalten beschrieben.

43

Die Abwendung der Gefahr für das Leben der Klägerin war auch nicht anders möglich als durch die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Eine Anordnung gegenüber der Klägerin, das Bett bis zum Eintreffen des Amtsarztes nicht zu verlassen, konnte nicht mehr rechtzeitig ergehen, da die Klägerin sich bereits den Bemühungen des Klinikpersonals, sie in ihr Bett zu verbringen, widersetzte.

44

Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Beamten den Rahmen des rechtlich Möglichen überschritten hätten. Nach § 251 Abs. 2 LVwG ist unmittelbarer Zwang jede unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen. Nach den Schilderungen der Klägerin und der Beklagten, sei die Klägerin von dem Pfleger, dem Stationsarzt und den beiden Polizeibeamten festgehalten, in das Bett verbracht und gefesselt worden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Polizeibeamten Gewalt angewendet haben, die über das Ziel, die Klägerin im Bett zu fixieren, hinausging. Angesichts der im Raum stehenden Lebensgefahr für die Klägerin erscheint das gewaltsame Festhalten und Verbringen in das Krankenbett auch nicht als unangemessen.

45

Eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der Zwangsmedikation bzw. Zwangsbehandlung kann im Rahmen dieses Verfahrens nicht erfolgen. Streitgegenstand sind im vorliegenden Verfahren gegen das Land Schleswig-Holstein Handlungen der Polizeibeamten. Aus dem klägerischen Vortrag ergibt sich nicht, dass die Polizeibeamten an einer Zwangsmedikation oder einer Zwangsbehandlung der Klägerin über die oben dargelegte Anwendung unmittelbaren Zwanges hinausgehend beteiligt gewesen seien. Dafür ist auch nichts ersichtlich. Die vorgenommenen Behandlungsmaßnahmen können den Polizeibeamten auch nicht zugerechnet werden, da sie nicht auf deren Entschluss zurückzuführen sind, sondern in eigener Verantwortung des Klinikpersonals erfolgten. Selbst wenn sich die Amtshilfe der Polizeivollzugsbeamten über die Unterstützung zur Fesselung der Klägerin auch auf die Zwangsmedikation und die Zwangsbehandlung erstreckte, so geht die dafür geleistete Unterstützung nicht über die Anwendung des unmittelbaren Zwangs durch das Festhalten der Klägerin hinaus. Wie oben dargelegt, war die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Polizeibeamten gegenüber der KIägerin im Rahmen der Amtshilfe rechtmäßig. Ob die Zwangsmedikation und die Zwangsbehandlung für sich in dieser Situation zulässig waren, muss nicht geklärt werden, da die Beklagte nach § 34 Abs. 2 LVwG hierfür keine Verantwortung trägt.

46

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 S. 1, 711 ZPO.


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Bundesverwaltungsgericht Urteil, 30. Nov. 2011 - 6 C 20/10

bei uns veröffentlicht am 30.11.2011

Tatbestand 1 Der Kläger, ein Schüler, begehrt die Feststellung, dass er berechtigt ist, in der von ihm besuchten Schule außerhalb der Unterrichtszeit ein islamisches Geb

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 13. Juli 2011 - 2 BvR 742/10

bei uns veröffentlicht am 13.07.2011

Tenor 1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 14. August 2009 - 219j XIV 41031/09 -, des Landgerichts Hamburg vom 22. September 2009 - 329 T 52/09 - und des Hanseatischen Oberlandesgerichts

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(1) Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.

(2) Für vermögensrechtliche Ansprüche aus Aufopferung für das gemeine Wohl und aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung sowie für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, die nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Vertrag beruhen, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben; dies gilt nicht für Streitigkeiten über das Bestehen und die Höhe eines Ausgleichsanspruchs im Rahmen des Artikels 14 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die besonderen Vorschriften des Beamtenrechts sowie über den Rechtsweg bei Ausgleich von Vermögensnachteilen wegen Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte bleiben unberührt.

(1) Bei jeder Verwaltungsmaßnahme, die eine Freiheitsentziehung darstellt und nicht auf richterlicher Anordnung beruht, hat die zuständige Verwaltungsbehörde die richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen. Ist die Freiheitsentziehung nicht bis zum Ablauf des ihr folgenden Tages durch richterliche Entscheidung angeordnet, ist der Betroffene freizulassen.

(2) Wird eine Maßnahme der Verwaltungsbehörde nach Absatz 1 Satz 1 angefochten, ist auch hierüber im gerichtlichen Verfahren nach den Vorschriften dieses Buches zu entscheiden.

(1) Freiheitsentziehungssachen sind Verfahren, die die auf Grund von Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehung betreffen, soweit das Verfahren bundesrechtlich nicht abweichend geregelt ist.

(2) Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen wird.

(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).

(2) Die Feststellung kann nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein Schüler, begehrt die Feststellung, dass er berechtigt ist, in der von ihm besuchten Schule außerhalb der Unterrichtszeit ein islamisches Gebet zu verrichten.

2

Der am 17. August 1993 geborene Kläger ist muslimischen Glaubens. Er besucht das D.-Gymnasium in Berlin Wedding. Im November 2007 verrichtete er in der Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden zusammen mit Mitschülern auf einem Flur des Schulgebäudes das Gebet nach islamischem Ritus. Die Schüler knieten dabei auf ihren Jacken, vollzogen die nach islamischem Ritus erforderlichen Körperbewegungen und deklamierten den vorgegebenen Text. Das Gebet dauerte etwa zehn Minuten. Andere Schüler sahen zu.

3

Am folgenden Tag wies die Leiterin der Schule die Schüler, die an dem Gebet beteiligt waren, darauf hin, die Verrichtung eines Gebets werde auf dem Schulgelände nicht geduldet. Mit Schreiben vom selben Tag teilte sie den Eltern des Klägers mit, an der Schule seien religiöse Bekundungen nicht erlaubt; zu ihnen gehörten insbesondere Gebete.

4

Der Kläger hat daraufhin Klage erhoben und beantragt, festzustellen, dass er berechtigt sei, während des Besuchs des D.-Gymnasiums außerhalb der Unterrichtszeit einmal täglich sein islamisches Gebet zu verrichten.

5

Das Verwaltungsgericht hat die beantragte Feststellung getroffen: Der Kläger könne sich für sein Anliegen auf das Grundrecht der Glaubensfreiheit berufen. Andere Verfassungsrechte schränkten dieses Recht nicht ein.

6

Auf die Berufung des beklagten Landes hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen: Das Anliegen des Klägers werde zwar vom Schutzbereich der verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheit der Religionsausübung erfasst. Dieses Grundrecht sei hier jedoch zum Schutz von Grundrechten Dritter und von Gemeinschaftswerten mit Verfassungsrang eingeschränkt. Die Verrichtung des Gebets im Schulgebäude beeinträchtige die negative Glaubensfreiheit der Mitschüler. Sie hätten grundsätzlich einen Anspruch darauf, von Äußerungen eines Glaubens verschont zu bleiben, den sie nicht teilten. Das vom Grundgesetz gewährleistete Elternrecht verleihe zudem den Eltern die Befugnis, ihre Kinder von Glaubensäußerungen fernzuhalten, die sie als falsch oder schädlich ansähen. Die deshalb erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Glaubensfreiheit des Klägers und den betroffenen Grundrechten Dritter falle zu Lasten des Klägers aus. An der von ihm besuchten Schule sei unter den Schülern eine Vielzahl von Religionen und Glaubensrichtungen vertreten. Dort würden bereits religiös motivierte Konflikte ausgetragen. Das führe zu einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens. Diese Konfliktlage würde sich noch verschärfen, wenn dem Anliegen des Klägers Rechnung getragen würde.

7

Der Kläger hat die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt, mit der er sein erstinstanzlich erfolgreiches Begehren weiterverfolgt: Ihm stehe aufgrund der verfassungsrechtlich gewährleisteten Glaubensfreiheit das Recht zu, im Schulgebäude das islamische Ritualgebet zu verrichten. Die Glaubensfreiheit sei weder durch Grundrechte Dritter noch durch andere mit Verfassungsrang versehene Rechtsgüter eingeschränkt. Insbesondere könne eine Einschränkung nicht aus der negativen Religionsfreiheit anderer Schüler, dem Gebot der religiösen Neutralität des Staates und der Verpflichtung zur Wahrung des Schulfriedens hergeleitet werden. In der Sache unzutreffend sei die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, aufgrund religiöser Konflikte zwischen Schülern bestehe bereits jetzt eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden, die durch die Verrichtung des Gebets verschärft werde.

8

Das beklagte Land tritt der Revision entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

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Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage ohne Verstoß gegen Bundesrecht abgewiesen (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

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1. Das Oberverwaltungsgericht hat in Einklang mit Bundesrecht die Klage als zulässig angesehen.

11

a) Das Begehren des Klägers ist als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO zulässig. Danach kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.

12

Unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis sind die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben, kraft deren eine der beteiligten Personen etwas Bestimmtes tun muss, kann oder darf oder nicht zu tun braucht. Rechtliche Beziehungen haben sich nur dann zu einem Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO verdichtet, wenn die Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits übersehbaren Sachverhalt streitig ist (Urteil vom 26. Januar 1996 - BVerwG 8 C 19.94 - BVerwGE 100, 262 <264 f.> = Buchholz 454.9 Mietpreisrecht Nr. 15 S. 3). Der Streit der Beteiligten betrifft die Bedeutung und Tragweite des Art. 4 Abs. 1 GG, einer Vorschrift des öffentlichen Rechts, und dessen Anwendung auf einen konkreten Sachverhalt, nämlich den Vorgang aus dem November 2007, als der Kläger zusammen mit Mitschülern auf dem Flur des Schulgebäudes in einer Pause das rituelle islamische Gebet verrichtete. Der Kläger berühmt sich des Rechts, in dieser Weise auch künftig vorgehen zu dürfen. Die Schulverwaltung bestreitet das Bestehen eines solchen Rechts.

13

Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der erstrebten Feststellung. Nachdem die Schulleiterin ihn und seine Eltern darauf hingewiesen hat, religiöse Bekundungen wie Gebete seien in der Schule nicht erlaubt, muss er mit Sanktionen in der Gestalt von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen rechnen, wenn er das von ihm als erlaubt angesehene Verhalten fortsetzt. Ihm ist nicht zuzumuten, solche Sanktionen abzuwarten und erst im Zusammenhang mit ihnen die streitige Rechtsfrage gerichtlich klären zu lassen.

14

Der Feststellungsklage steht nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen (§ 43 Abs. 2 VwGO). Namentlich konnte der Kläger seine Rechte nicht durch eine Anfechtungsklage verfolgen. Wie das Verwaltungsgericht festgestellt hat, enthielten sowohl der mündliche Hinweis der Schulleiterin an den Kläger, die Verrichtung eines Gebets auf dem Schulgelände werde nicht geduldet, als auch das nachfolgende Schreiben an seine Eltern lediglich Hinweise auf die Rechtslage, wie sie nach Ansicht der Schulleiterin besteht, aber keine Regelungen. Sie waren mithin keine Verwaltungsakte. Das Oberverwaltungsgericht hat sich diese tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts zu eigen gemacht. Der Senat hat keinen Anlass zu einer abweichenden Würdigung.

15

b) Der Kläger hat die Klage wirksam erhoben. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und deshalb nach bürgerlichem Recht in seiner Geschäftsfähigkeit noch beschränkt war, war er dennoch prozessfähig. Er war im Sinne des § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO durch Vorschriften des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts für den Gegenstand seines Verfahrens als geschäftsfähig anerkannt. Nach § 5 Satz 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 (RGBl S. 939, BGBl III 404-9) steht dem Kind nach Vollendung des 14. Lebensjahres die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Die Bestimmung legt das Alter fest, bei dem angenommen wird, dass der Einzelne weitgehend selbst über sein Recht auf Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG zu verfügen vermag (Religionsmündigkeit). Die Religionsmündigkeit erstreckt sich auf alle mit der religiösen Selbstbestimmung im Zusammenhang stehenden Fragen einschließlich der Verrichtung religiöser Handlungen (Huber in MünchKommBGB, 5. Aufl. 2008, Anhang zu § 1631 § 5 RelKErzG Rn. 2). Mithin wird der Gegenstand des vorliegenden Verfahrens von der Religionsmündigkeit erfasst.

16

2. Ebenfalls mit Bundesrecht vereinbar ist die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Kläger könne die von ihm begehrte Feststellung nicht beanspruchen und seine Klage sei deshalb unbegründet. Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus der verfassungsrechtlich verbürgten Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG. Auf der Grundlage des Sachverhalts, den das Oberverwaltungsgericht bindend festgestellt hat (§ 137 Abs. 2 VwGO), berechtigt diese Verfassungsbestimmung den Kläger nicht, in der von ihm besuchten Schule außerhalb der Unterrichtszeit einmal täglich sein rituelles islamisches Gebet zu verrichten.

17

a) Das Anliegen des Klägers wird allerdings durch den Schutzbereich der verfassungsrechtlich garantierten Glaubensfreiheit erfasst.

18

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein Grundrecht der Glaubensfreiheit, das umfassend zu verstehen ist (BVerfG, Urteil vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 - BVerfGE 125, 39 <79>). Dieses Grundrecht bezieht sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <297>). Das von der Glaubensfreiheit umfasste Recht der Religionsausübung ist extensiv auszulegen und erstreckt sich auf kultische Handlungen, die ein Glauben vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet, wie z.B. Gebete (BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1 <15 f.>). Zwar kann nicht jedes Verhalten einer Person nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck einer besonders geschützten Glaubensfreiheit angesehen werden. Beansprucht der Einzelne ein Verhalten als Ausdruck seiner Glaubensfreiheit für sich, darf vielmehr bei der Würdigung das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben. Es kommt darauf an, ob sich das Verhalten nach Gehalt und Erscheinung als Glaubensregel der jeweiligen Religionsgemeinschaft dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen lässt (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <298 f.>).

19

Daran gemessen unterfällt die streitige Verrichtung des Gebets durch den Kläger dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts geht es dem Kläger um das rituelle Pflichtgebet ("as-salat"), das nach den Regeln des islamischen Glaubens fünfmal täglich zu festgelegten Zeiten zu verrichten ist. Dieses Pflichtgebet zeichnet sich dadurch aus, dass der Betende auf einem rituell sauberen Platz mit dem Gesicht gen Mekka in einer vorgegebenen Abfolge von Körperhaltungen bestimmte Gebetstexte deklamiert. Ein solches Pflichtgebet ist unter anderem zur Mittagszeit zu verrichten. Der Kläger möchte diese rituelle Handlung in der Schule außerhalb der Unterrichtszeit vornehmen, wenn die Zeitspanne, die für das Gebet vorgeschrieben ist, in die Zeit des Schulbesuchs fällt. Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts lässt sich ein Gebot, das rituelle Pflichtgebet zu den dafür festgesetzten Zeiten zu verrichten, als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich der Glaubensfreiheit hinreichend plausibel zuordnen. In dem angefochtenen Urteil wird festgestellt, dass der Kläger die Einhaltung dieser Glaubensregel als für sich verbindlich ansieht. Deshalb vermag er sich grundsätzlich auf den Schutz der Glaubensfreiheit zu berufen.

20

Der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfasst hier auch die freie Wahl des Ortes, an dem der Kläger das Gebet verrichten möchte.

21

Um sein rituelles Gebet zu verrichten, benötigt der Kläger Raum, konkret einen Bereich des Schulflurs, dessen Nutzung nicht seinem Bestimmungsrecht, sondern dem Bestimmungsrecht der Schulverwaltung unterliegt und der als Verkehrsfläche, nämlich als Zugang zu Klassenräumen, Fachräumen, Lehrerzimmern, Toiletten und Ausgängen zur Verfügung gestellt ist.

22

Für das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG hat das Bundesverwaltungsgericht angenommen, es begründe kein Benutzungsrecht, das nicht schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen besteht. Die Entscheidung über Ort und Zeit der Versammlung ist zwar frei, setzt aber die rechtliche Verfügungsbefugnis über den Versammlungsort voraus. Das Recht der freien Ortswahl umfasst nicht das Recht, fremdes Eigentum nach Belieben in Anspruch zu nehmen. Dies gilt auch für ein Grundstück, das nach dem Willen des Trägers nur im Rahmen einer eingeschränkten Zweckbestimmung zur Verfügung steht (Urteil vom 29. Oktober 1992 - BVerwG 7 C 34.91 - BVerwGE 91, 135 <138 f.> = Buchholz 11 Art. 8 GG Nr. 6 S. 15; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 - NJW 2011, 1201 <1204>).

23

Hiervon unterscheidet sich jedoch die Ausübung der Glaubensfreiheit. Zwar verschafft auch sie dem Einzelnen keinen Anspruch auf Zutritt zu ihm sonst nicht zugänglichen Räumen. Die Glaubensfreiheit ist dem Bürger nur dort gewährleistet, wo er tatsächlich Zugang findet. Anders als die kollektiv ausgeübte Versammlungsfreiheit schließt die Ausübung der Glaubensfreiheit als Recht des Einzelnen in der Regel keinen besonderen Raumbedarf ein, der typischerweise mit Belästigungen verbunden ist. Als Individualgrundrecht steht sie dem Bürger vom Grundsatz her überall dort zu, wo er sich jeweils befindet (vgl. zu der in dieser Hinsicht vergleichbaren Freiheit der Meinungsäußerung: BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 - NJW 2011, 1201 <1208>).

24

Das gilt jedenfalls für einen Schüler, der in der Schule ein ihm von seiner Religion vorgeschriebenes Gebet verrichten will. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 1975 - 1 BvR 63/68 - BVerfGE 41, 29 <49>). Dies gilt insbesondere für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Schule (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <300>). Der Schüler bringt seine Persönlichkeitsrechte in die Schule ein. Gleichzeitig ist er in die Schule und den Unterrichtsablauf eingebunden. Er kann die Schule auch während der Pausen zwischen den Unterrichtsstunden nicht ohne Weiteres verlassen. Darauf könnte er auch nicht verwiesen werden. Er hält sich auch während der Pausen bestimmungsgemäß in der Schule auf und kann - vorbehaltlich noch zu erörternder Schranken - sich dort seinen persönlichen Neigungen und Bedürfnissen entsprechend betätigen. Jedenfalls aufgrund dieser Eingebundenheit in die Schule kann ihm die Wahl von Zeit und Ort des Gebets nicht unter Hinweis darauf von vornherein verwehrt werden, die Schulverwaltung habe die überhaupt in Betracht kommenden Räume ausschließlich für eine andere Nutzung vorgesehen. Der Schutzbereich der Glaubensfreiheit umfasst in dieser Lage den Zugriff auf einen Raum, der hierfür tatsächlich zur Verfügung steht.

25

b) Insoweit besteht das Grundrecht der Glaubensfreiheit aber nicht uneingeschränkt. Die Glaubensfreiheit verleiht dem Kläger hier nicht das Recht, das Gebet auf dem Schulflur zu verrichten.

26

Die in Art. 4 Abs. 1 und 2 verbürgte Glaubensfreiheit ist vorbehaltlos gewährleistet. Einschränkungen müssen sich daher aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang. Die Einschränkung der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit bedarf überdies einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <297>).

27

Zwar ist das Recht des Klägers, seinen Glauben zu bekunden, nicht durch die negative Glaubensfreiheit anderer Schüler und der Lehrer eingeschränkt. Ebenso wenig findet sein Grundrecht eine Schranke in dem elterlichen Erziehungsrecht. Eine solche Schranke kann ferner nicht aus dem Gebot religiöser Neutralität hergeleitet werden, das den Staat verpflichtet. Das Grundrecht des Klägers auf Glaubensfreiheit ist aber zum Schutze des Schulfriedens eingeschränkt, der zu den Gemeinschaftswerten mit Verfassungsrang gehört.

28

aa) Die in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubensfreiheit umfasst neben der Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben sowie sich zu diesen Überzeugungen zu bekennen und sie zu verbreiten, auch die negative Glaubensfreiheit, also die Freiheit, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben oder eine solche abzulehnen (BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2008 - 1 BvR 462/06 - BVerfGE 122, 89 <119>). Insoweit ist auch die Freiheit gewährleistet, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben; das bezieht sich auch auf Kulte und Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <301 f.>).

29

Indes wird in die negative Glaubensfreiheit der Mitschüler nicht eingegriffen, wenn sie auf dem Flur des Schulgebäudes dem betenden Kläger begegnen.

30

Die negative Glaubensfreiheit ist ein Abwehrrecht, das sich gegen den Staat richtet. Der Staat darf keine Lage schaffen, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist. Insofern entfaltet Art. 4 Abs. 1 und 2 GG seine Freiheit sichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen sind, wie dies auf die Schule zutrifft (BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1 <16>). Auch insoweit wendet sich die negative Glaubensfreiheit aber gegen den Staat. Ihm ist es verwehrt, den Einzelnen gegen seinen Willen zwangsweise mit fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen zu konfrontieren, etwa indem er Klassenräume mit solchen Symbolen ausstattet oder den Schülern in der Gestalt von Lehrkräften entgegentritt, die durch ihr Auftreten ihre religiösen Überzeugungen in den Unterricht hineintragen. Machen hingegen Schüler in der Schule von ihrer Glaubensfreiheit durch das Tragen religiöser Symbole oder durch kultische Handlungen Gebrauch, ist allenfalls eine Schutzpflicht des Staates gegenüber den Mitschülern betroffen. In dem von ihm in Vorsorge genommenen Bereich der Schule muss der Staat auch garantieren, dass der Einzelne nicht mit Verantwortung des Staates einer religiösen Äußerung eines privaten Dritten ausgesetzt ist, die seine negative Religionsfreiheit zu verletzen geeignet ist. Glaubensäußerungen von Schülern hat der Staat nicht veranlasst. Sie sind ihm nicht zuzurechnen. Seine Verantwortung besteht darin, dass er Schüler unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Glaubenshaltungen in einer Schule zusammenführt. Seine Schutzpflicht für deren negative Glaubensfreiheit fällt weithin mit seiner Aufgabe zusammen, den Schulfrieden zu wahren, also keine auch religiösen Konflikte zuzulassen, die der Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und dem ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf entgegenstehen. Die Schutzpflicht des Staates geht jedenfalls nicht soweit, dass er Schüler oder auch Lehrkräfte vor jeder Begegnung mit Äußerungen eines ihnen fremden, von ihnen nicht geteilten Glaubens bewahren müsste. Mitschüler und Lehrkräfte werden mit dem betenden Kläger nicht unausweichlich konfrontiert. Sie haben es zwar nicht selbst in der Hand, ob sie auf einem Weg durch die Schule auf den Kläger bei der Verrichtung seines Gebets treffen. Es bleibt ihnen aber unbenommen, bei einer Begegnung mit dem betenden Kläger einen anderen Weg zu nehmen. Das Oberverwaltungsgericht hat zwar festgestellt, dass in der Schule die Möglichkeiten des Ausweichens beschränkt seien, hat damit aber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass solche Möglichkeiten tatsächlich, wenn auch in eingeschränktem Umfang, bestehen. Diese tatsächliche Feststellung bindet den Senat (§ 137 Abs. 2 VwGO). Eine Begegnung mit dem betenden Kläger beschränkt sich mithin auf ein eher flüchtiges Zusammentreffen. Mitschüler und Lehrkräfte werden dadurch nicht dem Einfluss eines anderen, von ihnen abgelehnten Glaubens in einer Weise ausgesetzt, die ihnen nicht zumutbar ist. Der Einzelne hat in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen gänzlich verschont zu bleiben (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <302>). Dies gilt auch für den Lebensbereich der Schule.

31

bb) Die Glaubensfreiheit des Klägers kann nicht mit der Erwägung eingeschränkt werden, dies diene dem Schutz des Erziehungsrechts der Eltern seiner Mitschüler.

32

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als natürliches Recht. Dieses Grundrecht umfasst zusammen mit Art. 4 Abs. 1 GG das Recht zur Kindererziehung in weltanschaulicher und religiöser Hinsicht. Daher ist es zuvörderst Sache der Eltern, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten (BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1 <17>). Dem entspricht das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern als falsch oder schädlich erscheinen (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <301>).

33

Was die Begegnung von Kindern mit religiösen Handlungen Dritter angeht, reicht das elterliche Erziehungsrecht aber nicht weiter als die negative Glaubensfreiheit der Kinder. Dementsprechend verleiht das Erziehungsrecht den Eltern nicht die Befugnis, ihre Kinder vor jeglicher Begegnung mit religiösen Handlungen Dritter zu schützen. Das Erziehungsrecht als ebenfalls gegen den Staat gerichtetes Grundrecht kann nur dann betroffen sein, wenn das Kind mit Verantwortung des Staates solchen Handlungen unausweichlich ausgesetzt ist. Dies ist hier mit Blick auf die Mitschüler des Klägers - wie aufgezeigt - nicht der Fall.

34

cc) Die Glaubensfreiheit des Klägers ist nicht durch das verfassungsrechtliche Gebot religiöser Neutralität des Staates beschränkt. Die Schulverwaltung wäre nicht berechtigt, unter Hinweis auf dieses Gebot die Verrichtung des Gebets im Schulgebäude zu unterbinden.

35

Das Grundgesetz begründet für den Staat als Heimstatt aller Staatsbürger die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Es verbietet, staatskirchliche Rechtsformen einzuführen, und untersagt, bestimmte Bekenntnisse zu privilegieren und Andersgläubige auszugrenzen. Der Staat hat auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten. Er darf sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft identifizieren. Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende Haltung im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende Haltung, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert. Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <299 f.>).

36

Dies gilt nach dem bisherigen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Religion, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seinen Niederschlag gefunden hat, insbesondere für den vom Staat in Vorsorge genommenen Bereich der Schule, für den seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren. Danach muss die Schule für unterschiedliche weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität. Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidlich sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde nach einem Ausgleich gesucht werden (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <300 f.>). Die Neutralitätspflicht des Staates verlangt danach keine Schule, die von jeglichen religiösen Bezügen frei gehalten wird. Die Schule ist vielmehr gehalten, die weltanschaulichen und religiösen Zusammenhänge unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Realitäten zu vermitteln, ohne sie in die eine oder andere Richtung einseitig zu bewerten (Urteil vom 26. Juni 2008 - BVerwG 2 C 22.07 - BVerwGE 131, 242 = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 265).

37

Daran gemessen ist eine Verletzung des Gebots staatlicher Neutralität nicht zu besorgen, wenn die Schulverwaltung zulässt, dass der Kläger sein Gebet auf dem Flur des Schulgebäudes verrichtet. Darin läge keine einseitige Bevorzugung des islamischen Glaubens oder eine Beeinflussung im Sinne dieses Glaubens. Eine ausdrückliche oder konkludente Identifikation mit diesem Glauben wäre ebenfalls nicht zu verzeichnen. Das Gebet als kultische Handlung ist nicht von der Schulbehörde veranlasst, sondern beruht auf einer eigenen Entscheidung des Gläubigen. Duldet der Staat in der Schule die Verrichtung des islamischen Gebets durch den Kläger, macht er sich dessen Bekenntnis zum islamischen Glauben, das in dem Gebet zum Ausdruck kommt, nicht zu eigen. Er muss es sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.

38

Allerdings könnte der gesellschaftliche Wandel, der mit einer zunehmenden religiösen Pluralität verbunden ist, Anlass sein, das Ausmaß abweichend zu bestimmen, in dem religiöse Bezüge in der Schule zulässig sein sollen. Es lassen sich einerseits Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits ist die zunehmende religiöse Vielfalt mit einem größeren Potenzial möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß religiöse Bezüge, die von Schülern in die Schule hineingetragen werden, aus der Schule grundsätzlich fernzuhalten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <310>).

39

Wie auf die gewandelten Verhältnisse zu antworten ist, insbesondere, welche Verhaltensregeln für Schüler zur Wahrung des religiösen Friedens in der Schule aufgestellt werden sollen, hat aber nicht die Exekutive zu entscheiden. Vielmehr bedarf es hierfür einer Regelung durch den demokratisch legitimierten parlamentarischen Landesgesetzgeber. Es hängt von einer Beurteilung der tatsächlichen Entwicklungen ab, ob gegenläufige Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern oder andere Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die kultische Handlungen und die Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug weitgehend aus der Schule verbannen. Für diese Beurteilung verfügt nur der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative, die Behörden und Gerichte nicht für sich in Anspruch nehmen können. Er hat zu beurteilen, ob von der Verrichtung kultischer Handlungen in der Schule oder der Verwendung von religiösen Symbolen bereits eine abstrakte Gefährdung des Schulfriedens ausgeht, und muss gegebenenfalls zu deren Abwehr eine darauf zugeschnittene Rechtsgrundlage schaffen (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <307>).

40

Eine solche durch den parlamentarischen Gesetzgeber geschaffene Rechtsgrundlage fehlt im Landesrecht von Berlin. Zwar regelt die Schulordnung des D.-Gymnasiums in ihrer Nr. II 16 unter Hinweis auf das Gebot weltanschaulicher und religiöser Neutralität des Staates, dass die Ausübung religiöser Riten im Religionsunterricht erfolgt. Die Schulordnung lässt sich ihrerseits auf eine parlamentarische Ermächtigung zurückführen. Nach § 76 Abs. 2 Nr. 8 des Schulgesetzes für das Land Berlin (Schulgesetz - SchulG) vom 26. Januar 2004 (GVBl 2004, 26) entscheidet die Schulkonferenz über Verhaltensregeln für den geordneten Ablauf des äußeren Schulbetriebs (Hausordnung), an die die Schüler nach § 46 Abs. 2 Satz 3 SchulG in der Auslegung des Oberverwaltungsgerichts gebunden sind. Die allgemeine Ermächtigung, auch für die Schüler verbindliche Verhaltensregeln zu erlassen, stellt nicht die erforderliche hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage dar, um Glaubensäußerungen der Schüler, wie der Vornahme religiöser Riten, bereits wegen der bloßen Möglichkeit einer Gefährdung oder eines Konflikts zu beschränken (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <303>). Deshalb ist es der Schulverwaltung derzeit verwehrt, ohne Rücksicht auf eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens im Einzelfall vorbeugend die Verrichtung von Gebeten und die Vornahme vergleichbarer kultischer Handlungen in der Schule wegen deren abstrakter Eignung, den Schulfrieden zu gefährden, zu unterbinden.

41

dd) Die Glaubensfreiheit des Klägers und seine daraus herleitbare Berechtigung, auch in der Schule sein Gebet zu verrichten, finden ihre Schranke aber in dem Gebot, den Schulfrieden zu wahren.

42

Die Erfüllung des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG setzt voraus, dass der Schulfrieden gewahrt ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <303>). Damit ist ein Zustand der Konfliktfreiheit und -bewältigung gemeint, der den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf ermöglicht, damit der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag verwirklicht werden kann (vgl. Zimmermann, LKV 2010, 394 <398> m.w.N.). Der Schulfrieden kann auch durch religiös motiviertes Verhalten beeinträchtigt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <303 und 307>). Der religiöse Schulfrieden ist ein Schutzzweck von herausragender Bedeutung (Urteil vom 24. Juni 2004 - BVerwG 2 C 45.03 - BVerwGE 121, 140 <152> = Buchholz 237.0 § 9 BaWüLBG Nr. 1 S. 10). Die Vermeidung religiös-weltanschaulicher Konflikte in öffentlichen Schulen stellt ein gewichtiges Gemeinschaftsgut dar (Urteil vom 26. Juni 2008 - BVerwG 2 C 22.07 - BVerwGE 131, 242 = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 265).

43

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts würde die Verrichtung des Gebets auf dem Schulflur durch den Kläger eine ohnehin bereits bestehende konkrete Gefahr für den Schulfrieden weiter verschärfen.

44

Nach diesen Feststellungen ist an dem D.-Gymnasium unter den Schülern eine Vielzahl von Religionen und Glaubensrichtungen vertreten. Aufgrund dieser heterogenen Zusammensetzung der Schülerschaft sind unter den Schülern teilweise sehr heftige Konflikte ausgetragen worden, die von Vorwürfen gegen Mitschüler ausgingen, diese seien nicht den Verhaltensregeln gefolgt, die sich aus einer bestimmten Auslegung des Korans ergäben, wie beispielsweise dem Gebot, ein Kopftuch zu tragen, Fastenvorschriften einzuhalten, Gebete abzuhalten, kein Schweinefleisch zu verzehren, "unsittliches Verhalten" und "unsittliche Kleidung" sowie persönliche Kontakte zu "unreinen" Mitschülern zu vermeiden. Aus derartigen Anlässen sei es etwa zu Mobbing, Beleidigung, insbesondere mit antisemitischer Zielrichtung, Bedrohung und sexistischen Diskriminierungen gekommen. Hierauf aufbauend hat das Oberverwaltungsgericht den Schluss gezogen, die ohnehin bestehende Konfliktlage würde sich verschärfen, wenn die Ausübung religiöser Riten auf dem Schulgelände gestattet wäre und deutlich an Präsenz gewönne.

45

An diese tatsächlichen Feststellungen und die darauf aufbauende Beweiswürdigung ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. Der Kläger hat dagegen keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe vorgebracht.

46

Der Kläger beanstandet im Kern, das Oberverwaltungsgericht habe jedenfalls auf der Grundlage einer zu schmalen Tatsachenbasis angenommen, an der von ihm besuchten Schule sei bereits jetzt der Schulfrieden konkret gefährdet. Der Kläger rügt damit der Sache nach, das Oberverwaltungsgericht habe den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz liegt jedoch nicht vor.

47

Der Überzeugungsgrundsatz ist verletzt, wenn der Vorgang der Überzeugungsbildung an einem Fehler leidet, weil das Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, insbesondere Umstände übergangen hat, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen (Urteil vom 21. Juni 2006 - BVerwG 6 C 19.06 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 264 Rn. 28), oder weil seine Beweiswürdigung aktenwidrig oder objektiv willkürlich ist, gegen Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet (Beschluss vom 14. Juli 2010 - BVerwG 10 B 7.10 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 66 Rn. 4). Das Revisionsgericht kann die Beweiswürdigung nicht daraufhin überprüfen, ob sie überzeugend ist, ob festgestellte Einzelumstände mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die abschließende Sachverhaltswürdigung eingegangen sind und ob solche Umstände die Würdigung zu tragen vermögen (Urteil vom 25. Mai 1984 - BVerwG 8 C 108.82 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 35 S. 16 f.).

48

Der Revisionsbegründung lässt sich nicht entnehmen, dass das Oberverwaltungsgericht in dieser Hinsicht das Gebot der freien Beweiswürdigung verletzt hat. Es hat seine Feststellung, der Schulfrieden sei bereits jetzt konkret gefährdet, auf eine Reihe von Beispielen gestützt, die das beklagte Land nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts substantiiert vorgetragen hatte und die in dem Urteil beispielhaft wiedergegeben werden. Das Oberverwaltungsgericht ist dabei zwar nicht ausdrücklich auf den Hinweis des Klägers eingegangen, die geschilderten Konflikte mit religiösem Hintergrund wiesen keinen Bezug zu dem von ihm geübten Gebet auf, er - der Kläger - sei an diesen Konflikten nicht beteiligt gewesen, habe im Gegenteil auf der Schule viele christliche Freunde, die seine streng religiöse Haltung sogar gut fänden. Indes kam es auf diese Umstände nicht entscheidungserheblich an. Das Oberverwaltungsgericht hat der Sache nach festgestellt, dass an dem D.-Gymnasium aufgrund der heterogenen religiösen Zusammensetzung der Schülerschaft ein Klima herrscht, in dem sich an religiösem Verhalten ebenso wie an offener Distanz zu religiösen Geboten aus durchaus geringem Anlass Konflikte entzünden. Von daher kam es nicht darauf an, ob schon bisher die Verrichtung ritueller Gebete in der Schule zu solchen Konflikten geführt hatte. Denn die offene Verrichtung eines rituellen Gebets konnte nach der Würdigung des Oberverwaltungsgerichts in diesem Klima wiederum die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Einstellungen zum Glauben und ihren Geboten aufbrechen lassen, weil es zum Mitmachen auffordert und geeignet ist, zwischen strengen und weniger strengen Anhängern einer Religion zu scheiden. Ob der Kläger in einer solchen Absicht gehandelt hat oder gar Auseinandersetzungen schüren wollte, war für das Oberverwaltungsgericht unerheblich, weil es aus seiner Sicht nur darauf ankam, dass in dem herrschenden Klima an der Schule die Verrichtung eines rituellen Gebets objektiv geeignet war, weiteren Unfrieden zu stiften. Ein Schuldvorwurf an den Kläger war damit nicht verbunden, so dass das Oberverwaltungsgericht auch nicht ausdrücklich auf seine Beteuerung eingehen musste, er sei an religiös motivierten Auseinandersetzungen nicht beteiligt; es konnte diesen Vortrag vielmehr ohne weiteres Eingehen darauf als wahr unterstellen. Ebenso musste das Oberverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung nicht eigens auf die Aussage des Klägers eingehen, ihm - dem Kläger - seien die Vorfälle nicht bekannt, die das beklagte Land zur Stützung seines Vortrags heranziehe, an dem D.-Gymnasium sei bereits jetzt durch religiös motivierte Konflikte der Schulfriede gefährdet. Das Oberverwaltungsgericht durfte ohne Weiteres davon ausgehen, dass die Schulverwaltung den vollständigen Überblick über das Geschehen an dieser Schule hat, der dem Kläger nicht notwendig in derselben Weise zugänglich ist.

49

Sollte der Kläger die Revisionsbegründung insoweit auch als Rüge verstanden wissen wollen, das Oberverwaltungsgericht habe sein rechtliches Gehör verletzt, wäre die Rüge aus denselben Gründen unbegründet. Es lässt sich nicht feststellen, dass das Oberverwaltungsgericht entscheidungserheblichen Tatsachenvortrag des Klägers übergangen hat.

50

ee) Die Einschränkung des Grundrechts des Klägers auf Glaubensfreiheit steht im Einklang mit dem Gebot eines schonenden Ausgleichs der widerstreitenden Verfassungsgüter. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt.

51

Die Einschränkung der Möglichkeit, in der Schule das rituelle islamische Mittagsgebet zu verrichten, ist geeignet, den damit verfolgten legitimen Zweck zu erreichen, der zutreffend prognostizierten Verschärfung der ohnehin bereits bestehenden konkreten Gefahr für den Schulfrieden zu begegnen.

52

An diesem Zweck ausgerichtet erweist sich die Beschränkung der Glaubensfreiheit als erforderlich. Der vorhersehbaren Gefährdung des Schulfriedens kann nicht durch eine andere gleich wirksame Maßnahme begegnet werden, die die Glaubensfreiheit des Klägers nicht oder weniger einschränkt.

53

Allerdings ist die Schule zunächst gehalten, konkreten religiös motivierten Konflikten mit erzieherischen Mitteln gegenzusteuern. Die gewachsene religiöse Vielfalt in der Gesellschaft spiegelt sich besonders deutlich in der Schule wider. Sie ist der Ort, an dem unterschiedliche religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinander treffen und an dem sich dieses Nebeneinander in besonders empfindlicher Weise auswirkt. Ein tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten kann hier am nachhaltigsten durch Erziehung geübt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <310>). Hieran anknüpfend hat das Oberverwaltungsgericht in Auslegung des irrevisiblen Landesrechts festgestellt, dem Schulgesetz liege das Konzept zugrunde, dem beschriebenen Konfliktpotential mit erzieherischen Mitteln zu begegnen. Es ist gerade Aufgabe der Schule, ein tolerantes Miteinander mit Andersgesinnten durch Erziehung zu üben. Nach § 1 Abs. 3 SchulG gehört es zum Auftrag der Schule, Persönlichkeiten heranzubilden, deren Haltung von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung bestimmt wird. Schulische Bildung und Erziehung sollen die Schüler insbesondere befähigen, ihre eigene Kultur sowie andere Kulturen kennen zu lernen und zu verstehen, Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen und für das Lebensrecht und die Würde aller Menschen einzutreten (§ 3 Abs. 3 SchulG). Dem liegt die Vorstellung des Landesgesetzgebers zugrunde, dass die Integrationsaufgabe des Staates in einer pluralistischen Gesellschaft einen eigenständigen und umfassenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag erfordert, der über die Anforderungen an die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen hinausgeht und dessen Ziele einen ethischen, weltanschaulichen und politischen Mindestkonsens darstellen, der gleichzeitig die Offenheit für die in der Gesellschaft vorhandenen Wertauffassungen gewährleisten muss (Begründung der Regierungsvorlage zum Schulgesetz, Abghs-Drs 15/1842, S. 7).

54

Die Schule kann danach nicht stets sogleich gegen religiös geprägtes Verhalten eines Schülers vorgehen, wenn es Gegenreaktionen und Unruhe bei anderen Schülern auslöst. Von Fällen bewusster und gewollter Provokation abgesehen, stört nicht der Schüler den Schulfrieden, der nur von der ihm im Grundgesetz verheißenen Glaubensfreiheit Gebrauch macht, sondern derjenige, der daran in einer Weise Anstoß nimmt, die mit den Geboten der Toleranz nicht vereinbar ist. Hierdurch ausgelöste Störungen geben Anlass, sich damit etwa im Unterricht mit dem Ziel, wechselseitiges Verständnis zu wecken, auseinanderzusetzen. Anderenfalls hätten es einzelne oder wenige Schüler in der Hand auch bei einem an sich offenen Klima in der Schule durch unduldsames Anstoßnehmen Störungen herbeizuführen, die dann zum Anlass einseitigen Einschreitens genommen werden.

55

Andererseits sind den Möglichkeiten der Schule Grenzen gesetzt, konkreten religiös motivierten Konflikten mit erzieherischen Mitteln zu begegnen. Das gilt namentlich in Fällen, in denen religiös geprägtes und umgekehrt betont religionsfernes Verhalten wechselseitig zu Auseinandersetzungen geführt und ein allgemeines Klima geschaffen haben, in dem das Aufgreifen einzelner Vorgänge angesichts des damit verbundenen Aufwands keinen Sinn mehr verspricht. Jedenfalls in einem solchen Fall setzt sich der übergeordnete Zweck der staatlichen Veranstaltung Schule durch, im Interesse des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule für alle Schüler einen geordneten Unterrichtsablauf sicherzustellen. Diesem eigentlichen Zweck der Schule sind alle Schüler verpflichtet. Der Einzelne muss um dieses Zweckes willen in einer solchen Lage auf ein an sich erlaubtes Verhalten verzichten, ohne dass es darauf ankommt, ob ihm der Vorwurf gemacht werden kann, gerade er störe schuldhaft den Schulfrieden.

56

Derartige Verhältnisse hat das Oberverwaltungsgericht für das D.-Gymnasium festgestellt und darauf aufbauend, den Sachverhalt dahin gewürdigt, angesichts der konkreten Verhältnisse an dieser Schule genügten erzieherische Mittel allein nicht, den erheblichen Konflikten ausreichend zu begegnen, die zu erwarten wären, wenn die streitige Verrichtung des Gebets zugelassen würde. Das Oberverwaltungsgericht hat insbesondere darauf hingewiesen, soweit die Schule überhaupt in der Lage gewesen sei, an Konflikten beteiligte Schüler zu einem Gespräch zusammenzubringen, seien diese Gespräche fruchtlos geblieben. An diese tatsächlichen Feststellungen ist der Senat wiederum gebunden.

57

Als ein milderes Mittel kommt grundsätzlich auch in Betracht, betwilligen Schülern einen Raum zuzuweisen, wo sie ihre Gebete unbeobachtet von anderen Schülern verrichten können. Zwar verleiht Art. 4 GG keinen Anspruch darauf, der Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen (BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 - 1 BvR 1087/91 - BVerfGE 93, 1 <16>). Darum geht es in diesem Zusammenhang aber auch nicht. Der Kläger begehrt keine Leistung der Schule, auf die er keinen Anspruch hätte. Es geht nur darum, ob die Schule, bevor sie die Verrichtung des Gebets gänzlich unterbindet, im Rahmen des verhältnismäßigen Ausgleichs aus dem ohnehin Vorhandenen einen Raum anbieten kann, der für die Verrichtung des Gebets zur Verfügung steht. Sie muss hingegen nicht erst Räume für diesen Zweck schaffen. Der Kläger muss die Schule so hinnehmen, wie sie ist.

58

Jedoch hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die Einrichtung eines speziellen Raums zur Verrichtung des Gebets die organisatorischen Möglichkeiten der Schule sprengen würde. An diese Feststellung ist der Senat gebunden. Danach liegen bereits fünf Anträge vor, am D.-Gymnasium Gebetsräume einzurichten. Das Oberverwaltungsgericht hat darauf hingewiesen, die Schule habe in der Vergangenheit schon einmal einen gemeinsamen Gebetsraum eingerichtet, der wieder habe geschlossen werden müssen, nachdem es zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen Schülerinnen, die ein Kopftuch getragen hätten, und anderen, die dies nicht getan hätten, gekommen sei, und nachdem die Jungen es abgelehnt hätten, gemeinsam mit Mädchen zu beten. Hieran anknüpfend hat das Oberverwaltungsgericht den Sachverhalt dahin gewürdigt, es müssten umfangreiche Vorkehrungen für eine differenzierte räumliche Aufteilung getroffen und deren ungestörte Benutzung durch Aufsichtspersonal gewährleistet werden.

59

Die Einschränkung der Glaubensfreiheit erweist sich als angemessen. Sie steht nicht außer Verhältnis zu dem sie rechtfertigenden legitimen Zweck.

60

Allerdings wiegt die Einschränkung der Glaubensfreiheit des Klägers nicht leicht. Er unterliegt zwar nicht mehr der Schulpflicht. Um den angestrebten Schulabschluss zu erreichen, ist er jedoch gehalten, sich zu den Zeiten im Schulgebäude aufzuhalten, die von der Schule vorgegeben sind. Die Einschränkung des Grundrechts wiegt nicht deshalb leichter, weil das hier inmitten stehende Mittagsgebet nach Ablauf des dafür vorgesehenen Zeitraums nachgeholt werden könnte. Hierauf kann der Kläger nicht verwiesen werden. Er sieht die Einhaltung der vorgegebenen Zeitspanne als für sich verbindlich an. Dies lässt sich - wie dargelegt - dem Schutzbereich der Glaubensfreiheit hinreichend plausibel zuordnen.

61

Der mit der Einschränkung des Grundrechts verfolgte Zweck ist aber höher zu gewichten als die Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit des Klägers. Der Wahrung des Schulfriedens kommt besonderes Gewicht zu. Dies gilt hier in besonderem Maße, weil durch die Verrichtung des Gebets eine bereits bestehende hinreichende Wahrscheinlichkeit der Störung des Schulfriedens aufgrund religiöser Konflikte erhöht würde und deshalb eine besonders intensive Gefahrenlage für den Schulfrieden zu besorgen wäre. Bei einer solchen Fallgestaltung muss die Religionsausübung des Klägers hinter die Wahrung des ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Schulfriedens zurücktreten.

62

ff) Die Einschränkung der Glaubensfreiheit des Klägers kann auf eine ausreichende gesetzliche Grundlage zurückgeführt werden. Wie bereits dargelegt, ist nach der Auslegung des irrevisiblen Landesrechts durch das Oberverwaltungsgericht die Verrichtung des Gebets auf dem Flur des Schulgebäudes nach § 46 Abs. 2 Satz 3 SchulG in Verbindung mit Nr. II. 16 der Schulordnung des D.-Gymnasiums nicht zulässig. Obwohl § 46 Abs. 2 Satz 3 SchulG als Generalklausel die Einschränkung der Religionsausübung nicht speziell anspricht und Nr. II. 16 der Schulordnung nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber verantwortet ist, reichen diese Bestimmungen als Grundlage für eine Einschränkung der Glaubensfreiheit aus, soweit es nicht um die Konkretisierung des Gebots staatlicher Neutralität mit Blick auf abstrakt mögliche Gefährdungen des Schulfriedens, sondern - wie hier - um die Abwehr konkreter Gefahren für dieses Schutzgut geht (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <303>).

(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).

(2) Die Feststellung kann nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird.

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass der am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten dem Kläger gegenüber angeordnete Platzverweis und die Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes rechtswidrig waren.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen am so genannten „Schwarzen Donnerstag“.
Am 30. September 2010 fand im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart ein Polizeieinsatz statt mit dem Ziel, für den 1. Oktober 2010 vorgesehene Baumfällarbeiten zu ermöglichen. Die Baumfällarbeiten sollten zur Realisierung des Projekts „Stuttgart 21“ erfolgen. Im Rahmen dieses Projekts soll der Bahnknoten Stuttgart umgebaut werden. Vorhabenträgerin ist die DB Projekt Bau GmbH. Das Projekt war und ist in der Öffentlichkeit umstritten. Der Polizeivollzugsdienst setzte am 30. September 2010 zur Durchsetzung der von ihm ausgesprochenen Aufforderungen, bestimmte Bereiche des Schlossgartens zu verlassen, nicht zuletzt Schlagstöcke, Pfefferspray und Wasserwerfer gegen die Projektgegner ein.
Der im Jahr 1944 geborene Kläger wurde am 30. September 2010 ungefähr zwischen 13:30 Uhr und 13:50 Uhr von dem Strahl eines Wasserwerfers mehrmals, insbesondere auch im Gesicht getroffen. Das Bild des aus den Augen blutenden Klägers ging durch zahlreiche Medien. Er hat infolge des Treffers den weit überwiegenden Teil seiner Sehkraft eingebüßt.
Der Kläger hat am 28. Oktober 2010 Klage erhoben, gerichtet auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der am 30. September 2010 erfolgten polizeilichen Maßnahmen (Platzverweis sowie Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs).
Der Kläger trägt zur Begründung der Klage im Wesentlichen vor: Er habe am 30. September 2010 in einer Gruppe demonstrierender Schüler gestanden. Er habe gesehen, wie Polizeibeamte Gitter von Lastwagen heruntergehoben hätten, um Teile des Mittleren Schlossgartens abzusperren. Die Jugendlichen seien von den Polizisten mit körperlicher Gewalt und Stößen beiseite gedrängt worden. Zwischenzeitlich hätten die Polizeibeamten auch Wasserwerfer gegen die Schülergruppe eingesetzt, in der er sich befunden habe. Zunächst hätten die Polizeibeamten den Strahl der Wasserwerfer über die Jugendlichen hinweg gerichtet, schräg nach oben. Anschließend sei der Wasserstrahl abgesenkt worden und habe nun in Richtung der Demonstranten gezielt. Die Wasserwerferfahrzeuge seien langsam vorwärts gefahren. Auf diese Art seien die Jugendlichen zurückgedrängt worden. Viele von ihnen seien über Bänke und herumstehende Biertische gestürzt, etliche seien am Boden gelegen. Er habe wild in Richtung der Wasserwerfer gestikuliert. Er habe vergeblich gehofft, die Polizeibeamten würden ihm wegen seines Alters mehr Respekt entgegenbringen als den Jugendlichen. Er habe geirrt. Als er dies eingesehen habe, sei er zurück in Richtung Biergarten gewichen. Dies sei allerdings nicht gelungen, da er von allen Seiten von Versammlungsteilnehmern bedrängt worden sei. Nun seien die Wasserwerfer auf die Gruppe um ihn direkt ausgerichtet worden. Dabei sei er gewahr geworden, dass sich die Intensität des Wasserstrahls erheblich verstärkt gehabt hätte. Er habe sich kaum auf den Beinen halten können. Um ihn herum seien Jugendliche wild übereinander gestürzt. Als er wieder vergeblich versucht habe, durch Gestikulieren die Beamten zum Einhalten zu bewegen, habe ihn ein Wasserstrahl direkt ins Gesicht getroffen. Er sei gestürzt und habe das Bewusstsein verloren. Dritte hätten ihn aus der Gefahrenzone herausgeholt. Es sei richtig, dass er es gewesen sei, welcher die aus Presseberichten und Videomitschnitten bekannte Kastanie in Richtung Wasserwerfer geworfen habe. Dies sei allerdings nicht der Auslöser der Eskalation gewesen, sondern eine Reaktion aus Verzweiflung. Er habe auf diese Art und Weise - allerdings erfolglos - versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Er sei davon ausgegangen, er könne die Beamten zum Einhalten bewegen.
Der Kläger führt weiterhin aus, die angegriffenen polizeilichen Maßnahmen müssten sich am Versammlungsrecht messen. Die Zusammenkunft der protestierenden Menschen im Schlossgarten sei zumindest als Spontanversammlung einzuordnen. Der Platzverweis sei rechtswidrig, da keine wirksame Anordnung der Auflösung der Versammlung vorgelegen habe. Die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung führe zur Unzulässigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen. Der Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray sei darüber hinaus unverhältnismäßig. Er sei nicht erforderlich gewesen; es sei nicht nachvollziehbar, dass die Räumung des Schlossgartens nicht auch durch das Wegtragen der Demonstranten hätte erledigt werden können. Der Einsatz sei dem Verhalten der Versammlungsteilnehmer auch nicht angemessen gewesen. Das gezielte Ausrichten des Wasserstrahls auf einzelne Personen sei angesichts der fehlenden Gefahrenlage völlig überzogen gewesen.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass der am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten ihm gegenüber angeordnete Platzverweis und die Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes rechtswidrig waren.
Das beklagte Land beantragt,
10 
die Klage abzuweisen.
11 
Das beklagte Land trägt unter anderem vor, der Kläger sei mehrfach von Polizeibeamten persönlich angesprochen worden, die ihn wiederholt aufgefordert hätten, sich zu entfernen. Der Kläger habe mehrfach unbedrängt gestanden und hätte die Möglichkeit gehabt, sich zu entfernen. Er habe den Einwirkungsbereich des Wasserwerfers regelrecht aufgesucht.
12 
Das beklagte Land führt weiterhin aus, die Ansammlung im Mittleren Schlossgarten sei keine Versammlung gewesen. Es habe zwar Elemente der Meinungsäußerung und kollektiven Meinungskundgebung gegeben. Diese Elemente träten allerdings hinter den eigentlichen Zweck der Ansammlung zurück, die Vorbereitung und Durchführung der Baumfällarbeiten im Schlossgarten zu verhindern. Die Ansammlung sei weiterhin nicht friedlich gewesen. Die Behinderung der Arbeit der Polizei reiche als Grund für einen Platzverweis aus. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs hätten vorgelegen. Der Einsatz der Hilfsmittel der körperlichen Gewalt sei erforderlich gewesen. Einfache körperliche Gewalt, also bloßes Abdrängen oder Wegtragen, sei angesichts der Vielzahl der Blockierer, die den Platzverweisen nicht nachgekommen seien, nicht gleich geeignet gewesen, den Einsatzzweck zu erfüllen. Der Einsatz der Wasserwerfer sei in ein insgesamt verhältnismäßiges und abgestuftes Konzept eingebunden gewesen. Auch die konkrete Führung des Wasserstrahls sei verhältnismäßig gewesen. Bei der Steuerung werde selbstverständlich versucht, Personen nicht im Bereich des Kopfes zu treffen, im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Zieleinrichtung und die Breite des Wasserstrahls könnten in Ausnahmefällen auch Treffer im Bereich des Kopfes vorkommen. Sie seien ein unvermeidbares, mit dem Einsatz eines Wasserwerfers verbundenes Verletzungsrisiko. Die Verletzungen des Klägers seien eine bedauerliche und nicht bezweckte Folge des Polizeieinsatzes. Sie wären aber durch rechtstreues Verhalten vermeidbar gewesen.
13 
Mit Beschluss vom 10. Januar 2012 wurde das Verfahren ausgesetzt. Die Aufhebung der Aussetzung erfolgte mit Beschluss vom 13. Juni 2014.
14 
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die gewechselten Schriftsätze und die von der Kammer beigezogenen Akten verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
15 
Die Klage ist zulässig (I.) und begründet (II.).
16 
I. Die Klage ist zulässig.
17 
1. a) Die Klage ist, soweit sie sich gegen den Platzverweis und die Androhung unmittelbaren Zwangs richtet, als Fortsetzungsfeststellungsklage in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft.
18 
Dem Kläger gegenüber wurde sowohl ein Platzverweis ausgesprochen als auch unmittelbarer Zwang angedroht. Denn der Kläger wurde mehrfach, nicht zuletzt auch persönlich aufgefordert, den Bereich vor dem Wasserwerfer zu räumen; zum maßgeblichen Zeitpunkt kündigten die Polizeivollzugsbeamten aus dem Wasserwerfer heraus auch wiederholt den Einsatz von Wasser gegenüber den Blockierenden an.
19 
Sowohl bei dem Platzverweis als auch bei der Androhung unmittelbaren Zwangs handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 42 Abs. 1, § 113 Abs. 1 VwGO, § 35 VwVfG, der sich - infolge Zeitablaufs - vorprozessual erledigt hat. Im Fall vorprozessualer Erledigung eines Verwaltungsakts geht das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung, der sich die Kammer angeschlossen hat (Urteil vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 20), von der Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - BVerwG 6 C 7.98 -, BVerwGE 109, 203 [207] = juris Rn. 20; ferner VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Juni 2011 - 1 S 2901/10 -, juris Rn. 27).
20 
b) Soweit sich die Klage gegen die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes gegen den Kläger richtet, ist sie als Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft.
21 
Nach Auffassung der Kammer ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes kein Verwaltungsakt im Sinne von § 42 Abs. 1, § 113 Abs. 1 VwGO, § 35 VwVfG (vgl. Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 767; Belz/Mussmann/Kahlert/Sander, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 8. Aufl. 2015, § 49 Rn. 60; a.A. Schoch, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap. Rn. 392). Denn bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes ergeht gegenüber den Betroffenen keine Regelung. „Hilfskonstruktionen“ dergestalt, in der Anwendung zugleich eine Duldungsanordnung zu sehen (vgl. dazu Stuhlfauth, in: Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 4. Aufl. 2014, § 35 Rn. 49), mögen angezeigt gewesen sein zu Zeiten, in denen das Vorliegen eines Verwaltungsakts rechtswegeröffnend war. Unter Geltung der Verwaltungsgerichtsordnung bedarf es ihrer nicht mehr.
22 
Die Berechtigung des Polizeivollzugsdienstes zur Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes dem Kläger gegenüber im Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 stellt vielmehr ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO dar.
23 
2. Der Kläger hat auch das erforderliche Fortsetzungsfeststellungs- bzw. Feststellungsinteresse.
24 
Die Zulässigkeit sowohl der Fortsetzungsfeststellungsklage als auch der Feststellungsklage setzt voraus, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung hat (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 bzw. § 43 Abs. 1 VwGO). Die diesbezüglichen Anforderungen stimmen weitestgehend überein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Juni 2011 - 1 S 2901/10 -, juris Rn. 27).
25 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet nicht jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse (Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77 [89] = juris Rn. 36). Ein solches Interesse besteht allerdings dann, wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn die Gefahr einer Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit angenommen werden kann.
26 
Das erforderliche Fortsetzungsfeststellungs- und Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich bereits aus dem Gesichtspunkt einer - möglicherweise - schweren Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit.
27 
Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie gebietet stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist; derartige Eingriffe sind die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit (BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77 [89] = juris Rn. 37).
28 
Nach Auffassung der Kammer steht den vorgenannten Fällen gleich, wenn der Staat - vorliegend der Polizeivollzugsdienst - einer Menschenansammlung von vornherein den Schutz des Art. 8 GG abspricht und gegen sie mit dem Instrumentarium des allgemeinen Polizeirechts vorgeht. In diesem Fall wird die Versammlungsfreiheit, sollte sich die Einschätzung als fehlerhaft erweisen, ebenso schwer, wenn nicht gar noch schwerer beeinträchtigt als im Fall eines Versammlungsverbots oder einer Versammlungsauflösung.
29 
Dass die Menschenansammlung im Stuttgarter Schlossgarten, in der sich der Kläger befand, als verfassungsrechtlich geschützte Versammlung einzuordnen ist, ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Der Polizeivollzugsdienst ist gegen diese Ansammlung unter Anordnung eines Platzverweises und sodann unter Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs vorgegangen. Auf eine Versammlungsauflösung oder sonstige auf Versammlungsrecht gestützte Maßnahmen hat er ausweislich des Vorbringens des beklagten Landes bewusst verzichtet.
30 
Der Kläger hat darüber hinaus als Person, die durch den Einsatz des Wasserwerfers erhebliche Verletzungen erlitten hat, auch ein aus Gründen der Rehabilitierung rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit der Gegenstand des Verfahrens bildenden polizeilichen Maßnahmen.
31 
3. Die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO setzt im - vorliegend gegebenen - Fall der Erledigung vor Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsakts weder die Erhebung eines Widerspruchs noch die Einhaltung einer Frist voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - BVerwG 6 C 7.98 -, BVerwGE 109, 203 [206 und 209] = juris Rn. 19 und 22). Eine Verwirkung des Klagerechts steht außer Frage.
32 
II. Die Klage ist auch begründet.
33 
1. Der gegenüber dem Kläger angeordnete Platzverweis war rechtswidrig und verletzte ihn in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog).
34 
a) Als Rechtsgrundlage für den dem Kläger gegenüber angeordneten Platzverweis kommt allein § 27a Abs. 1 PolG in Betracht. Nach dieser Vorschrift, die mit Wirkung vom 22. November 2008 in das Polizeigesetz eingefügt wurde (vgl. GBl BW 2008, S. 390), kann die Polizei (vgl. zur Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes § 60 Abs. 3 PolG) zur Abwehr einer Gefahr oder zur Beseitigung einer Störung eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.
35 
b) Der Anwendbarkeit des § 27a Abs. 1 PolG steht die so genannte Sperrwirkung des Versammlungsrechts entgegen.
36 
aa) Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich nach dem Versammlungsgesetz (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschlüsse vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, BVerfGK 4, 154 [158] = juris Rn. 18, und vom 30. April 2007 - 1 BvR 1090/06 -, BVerfGK 11, 102 [115] = juris Rn. 43). Dieses Gesetz geht in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen für einen polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer. Eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt wird, scheidet aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen aus. Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme stehen der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote, für die im Interesse des wirksamen Grundrechtsschutzes strengere Anforderungen bestehen als für ein polizeirechtliches Einschreiten allgemein. Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden - wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme - sind rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 30. April 2007 - 1 BvR 1090/06 -, BVerfGK 11, 102 [114] = juris Rn. 40).
37 
bb) Das beklagte Land geht nach Auffassung der Kammer zu Unrecht davon aus, dass die Ansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 keine verfassungsrechtlich geschützte Versammlung war.
38 
(1) Art. 8 GG und das Versammlungsgesetz definieren den Begriff der Versammlung nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. - auch zum Folgenden - BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 32 m.w.N.). Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.
39 
Art. 8 GG schützt allerdings nicht die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001
 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [105] = juris Rn. 44; vgl. auch BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [374] = juris Rn. 35).
40 
Zu differenzieren ist also zwischen so genannten Verhinderungsblockaden und so genannten demonstrativen Blockaden (vgl. Urteil der Kammer vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 25; auch Rusteberg, NJW 2011, 2999).
41 
Für die rechtliche Einordnung der Menschenansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 ist insbesondere darauf abzustellen, ob die beabsichtigte Verhinderung der anstehenden Baumfällarbeiten Selbstzweck war oder ein einem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/06 -, BVerfGE 104, 92 [105] = juris Rn. 42).
42 
(2) Ausgehend von diesen Grundsätzen handelte es sich bei der Menschenansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 entgegen der Auffassung des beklagten Landes um keine so genannte Verhinderungsblockade.
43 
Allerdings zielte das Verhalten der anwesenden Personen darauf, das Absperren der Fläche zur Ermöglichung von Baumfällarbeiten und der Errichtung des so genannten Grundwassermanagements zu verhindern. Bei der Verhinderung der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements handelte es sich indes nach Auffassung der Kammer lediglich um ein Nahziel zur Erreichung des Fernziels der Verhinderung des von der Deutschen Bahn geplanten und seitens staatlicher Ebenen unterstützten Umbaus des Bahnknotens Stuttgart (vgl. das Urteil der Kammer vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 26). Dementsprechend war aus dem Kreis der anwesenden Personen vielfach die Formulierung „Oben bleiben“ und damit einer der wesentlichen Slogans der Projektgegner zu hören. Häufig zeigten die Personen eines der wesentlichen Symbole der Projektgegner, das einem Ortsausfahrtsschild nachempfundene Schild mit den durchgestrichenen Worten „Stuttgart 21“. Zahlreiche der Zusammengekommenen stammten auch aus dem Kreis der Teilnehmer der für den 30. September 2010 angemeldeten „Schülerdemonstration“, die unter das Motto „Lieber mehr Bildungsausgaben statt Prestigebahnhof“ gestellt worden war. Die Erwartung, allein durch die Verhinderung der Baumfällarbeiten am 1. Oktober 2010 das Projekt „Stuttgart 21“ zu Fall zu bringen, kann den Blockierern sowie den weiter Anwesenden nicht unterstellt werden. Sie wäre allenfalls ein „symbolischer Sieg“ gewesen. Ziel der Projektgegner war allerdings und ist es auch heute noch, dass die am Projekt Beteiligten dieses dauerhaft aufgeben oder dass jedenfalls einzelne Beteiligte sich aus ihm zurückziehen. Ein derartiger „Erfolg“ wäre nur zu erzielen gewesen, wenn die Aktion - zumindest im Zusammenspiel mit den anderen Aktionen gegen das Projekt - in einer Weise auf die öffentliche Meinungsbildung einwirkt, die letztlich zu einem Umdenken der am Projekt Beteiligten oder zu einem Austausch der politisch Verantwortlichen führt. Nicht zuletzt infolge der Ereignisse am 30. September 2010 kam es sodann auch zu dem - allerdings letztlich erfolglos gebliebenen - Schlichtungsverfahren. Insgesamt war die beabsichtigte Verhinderung der Baumfällarbeiten nicht Selbstzweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen dienendes Mittel. Der Versammlungscharakter entfällt im Übrigen auch nicht aus dem Grund, dass der Anfahrtsweg der Polizeifahrzeuge im Schlossgarten auch durch vor Ort vorgefundenes Baumaterial sowie durch aus dem Biergarten entwendete Bierbänke blockiert wurde. Das Entfernen der Gegenstände stellte den Polizeivollzugsdienst vor keine nennenswerte Herausforderung.
44 
(3) Der Schutz des Versammlungsgrundrechts entfiel auch nicht wegen Unfriedlichkeit.
45 
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE104, 92 [105 f.] = juris Rn. 47; [Kammer-] Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Unfriedlich ist eine Versammlung erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt oder in Kauf genommen.
46 
Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 war nicht unfriedlich; eine kollektive Unfriedlichkeit lässt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht feststellen.
47 
Jedenfalls eine nennenswerte Anzahl von aggressiven Ausschreitungen aus der Versammlung heraus gegen Polizeibeamte lässt sich nicht feststellen. Insoweit ohne Bedeutung ist, ob das Verhalten der Blockierer strafrechtlich als Gewalt im Sinne von § 240 StGB einzuordnen ist. Denn für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 8 GG ist allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [106] = juris Rn. 49). Ebenfalls nicht abgestellt werden kann darauf, dass sich Versammelte gegen die Anwendung unmittelbaren Zwangs wehrten und dabei eventuell Polizeibeamte verletzten; denn hierbei handelt es sich um keine Unfriedlichkeit aus der Versammlung heraus. Vorfälle, die zur Annahme der Unfriedlichkeit führen könnten, blieben - ausweislich des der Kammer zur Verfügung stehenden Videomaterials - vereinzelt, wie das Abdrängen von Polizeibeamten, das Auslassen von Luft aus einem Reifen, der Einsatz von Pyrotechnik, das Besprühen von Polizeibeamten mit Pfefferspray oder auch das Werfen von Kastanien und Wasserflaschen. Angesichts der Vielzahl der Teilnehmer an der Versammlung und deren Dauer hätte eine weitaus größere Zahl derartiger Vorfälle stattfinden müssen, um die Annahme der Unfriedlichkeit zu rechtfertigen. Dass solche Vorfälle auch nicht im Sinne der Versammelten waren, lässt sich schon anhand des in der mündlichen Verhandlung vorgeführten Filmausschnitts illustrieren, in dem zu sehen ist, dass Blockierende der Person, die den geworfenen Feuerwerkskörper austrat, Beifall spendeten.
48 
(4) Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Dennoch merkt die Kammer an, dass sie davon ausgeht, dass die Versammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 eine so genannte Spontanversammlung und nicht die Fortsetzung der für diesen Tag angemeldeten Schülerdemonstration war.
49 
Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden (§ 14 Abs. 1 VersG). In der Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung der Versammlung oder des Aufzuges verantwortlich sein soll (§ 14 Abs. 2 VersG). Wer als Veranstalter oder Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung nach § 14 VersG durchführt, wird nach § 26 Nr. 2 VersG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Die versammlungsrechtlichen Vorschriften über die Anmeldepflicht nach § 14 VersG sind allerdings auf so genannte Spontanversammlungen nicht anwendbar, soweit der mit ihnen verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, BVerfGK 4, 154 [158] = juris Rn. 16 m.w.N.).
50 
Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 bildete sich nicht zuletzt infolge der Auslösung des so genannten Parkschützeralarms im Zeitraum zwischen 10:15 Uhr und 10:30 Uhr. Infolge der Auslösung des Parkschützeralarms löste sich nach Einschätzung der Kammer die angemeldete Schülerdemonstration, die zu diesem Zeitpunkt in der Lautenschlagerstraße stattfand, faktisch selbst auf. Es bestand jedenfalls keine Identität zwischen der angemeldeten Schülerdemonstration und der Versammlung im Mittleren Schlossgarten. Ausweislich der Anmeldung sollte die Schülerdemonstration nach der Auftaktkundgebung in der Lautenschlagerstraße ab ungefähr 10 Uhr durch die Stuttgarter Innenstadt bis auf die Höhe der Eberhardstraße ziehen und erst gegen ungefähr 12 Uhr im Mittleren Schlossgarten ankommen. Freilich verließen große Teile der Teilnehmer die Kundgebung in der Lautenschlagerstraße in Richtung Schlossgarten. Zu einem Aufzug kam es deshalb gar nicht mehr.
51 
(5) Der Schutz des Art. 8 GG endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Eine - ausschließlich aufgrund ausdrücklicher Erklärung mögliche - Auflösung der Versammlung im Mittleren Schlossgarten erfolgte weder durch den Polizeivollzugsdienst noch durch die - grundsätzlich sachlich und örtlich zuständige - Landeshauptstadt Stuttgart (vgl. § 1 Abs. 1 und § 2 Satz 1 VersGZuVO in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 3 PolG, § 15 Abs. 1 Nr. 2, § 12 Abs. 1 LVG, § 131 Abs. 1 GemO).
52 
c) Die Fragen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Platzverweis vorlagen und ob das durch § 27a Abs. 1 PolG der Polizei eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde, braucht die Kammer nach Vorstehendem nicht zu beantworten.
53 
2. Die Androhung und die Anwendung unmittelbaren Zwangs gegenüber dem Kläger waren ebenfalls rechtswidrig und verletzten ihn in seinen Rechten.
54 
a) Die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Vollstreckungsmaßnahmen ergibt sich bereits aus der Feststellung der Rechtswidrigkeit des gegenüber dem Kläger angeordneten Platzverweises als der zu vollstreckenden Verfügung.
55 
Die Rechtmäßigkeit der Androhung unmittelbaren Zwangs (vgl. § 52 Abs. 2 PolG) und dessen Anwendung setzt jedenfalls in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation voraus, dass die zu vollstreckende Grundverfügung rechtmäßig war.
56 
Erledigt sich ein Verwaltungsakt - wie hier der gegenüber dem Kläger angeordnete Platzverweis - vor der gerichtlichen Entscheidung, lässt § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anstelle der Aufhebung durch Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Feststellung durch Urteil genügen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, um dem Bürger funktionsgleichen effektiven Rechtsschutz (vgl. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gegenüber einer Inanspruchnahme aus einem rechtswidrigen Verwaltungsakt zu gewähren, wie er ihn mit einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erreichen könnte (BVerwG, Urteil vom 20. November 1997 - BVerwG 5 C 1.96 -, BVerwGE 105, 370 [373] = juris Rn. 11, vgl. auch Urteil vom 31. Januar 2002 - BVerwG 2 C 7.01 -, BVerwGE 116, 1 [4] = juris Rn. 17). Kraft der gerichtlichen Entscheidung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist nicht mehr der Regelungsgehalt des Verwaltungsakts rechtlich maßgeblich, sondern die Rechtslage, die ohne Geltung des gerichtlich als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsaktes besteht (BVerwG, Urteil vom 20. November 1997, a.a.O.).
57 
Legt man im vorliegenden Zusammenhang die Rechtslage zugrunde, die ohne Geltung des rechtswidrigen Platzverweises bestand, so fehlte es bereits an einer zu vollstreckenden Verfügung.
58 
Die Vorschrift des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO fordert in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation nicht, dass die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit auf sie aufbauender Vollstreckungsmaßnahmen außer Betracht zu bleiben hat. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO bestimmt, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten entfällt. Die Adressaten des Platzverweises hätten diesem also aus Rechtsgründen Folge leisten müssen. Zu dem Fall der gleichzeitigen Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes gegen die Grundverfügung und gegen Vollstreckungsmaßnahmen verhält sich die Vorschrift hingegen nicht. Dementsprechend wird § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO im Fall des gerichtlichen Vorgehens gegen einen Kostenbescheid wegen der Vollstreckung einer zwischenzeitlich erledigten Grundverfügung auch nicht so verstanden, dass die Rechtmäßigkeit der zu vollstreckenden Verfügung außer Betracht bleibt (vgl. bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 1986 - 1 S 2654/85 -, VBlBW 1986, 299 [303]; Urteil der Kammer vom 21. Juli 2015 - 5 K 5066/14 -, noch nicht veröffentlicht).
59 
Darüber hinaus verbietet nach Auffassung der Kammer auch die Sperrwirkung des Versammlungsrechts die Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs als auf allgemeines Polizeirecht gestützte Vollstreckungsmaßnahmen. Zu den vor Auflösung einer Versammlung bzw. vor Ausschluss eines Teilnehmers unzulässigen Maßnahmen (s. oben 1. b) gehören neben Platzverweisen insbesondere auch zu deren Vollstreckung getroffene Maßnahmen. Denn mit der Vollstreckung wird eigenständig in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingegriffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93, 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [107] = juris Rn. 51). Im vorliegenden Fall wurde eine Versammlung „faktisch“ durch Einsatz einer auf das Polizeigesetz gestützten Maßnahme, nämlich des unmittelbaren Zwangs in Form eines Wasserwerfereinsatzes „aufgelöst“.
60 
b) Die Kammer hat im Übrigen ganz erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs dem Kläger gegenüber. Mangels Erheblichkeit sieht sie allerdings von einer abschließenden Festlegung ab.
61 
Eine gesetzliche Regelung zur Verhältnismäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs findet sich in § 52 Abs. 1 PolG. Danach darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (Satz 1). Gegen Personen darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck durch unmittelbaren Zwang gegen Sachen nicht erreichbar erscheint (Satz 2). Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand der Betroffenen angemessen sein (Satz 3). Gegenüber einer Menschenansammlung darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn seine Anwendung gegen einzelne Teilnehmer der Menschenansammlung offensichtlich keinen Erfolg verspricht (Satz 4).
62 
Ob die Anwendung verhältnismäßig war, ist aus der so genannten ex-ante-Sicht zu beurteilen (vgl. Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 523, 528). Es ist dementsprechend nicht darauf abzustellen, welche Folgen tatsächlich eingetreten sind, sondern darauf, mit welchen Folgen bei Anwendung unmittelbaren Zwangs in der gewählten Form zu rechnen war.
63 
Nach Auffassung der Kammer ist insbesondere zweifelhaft, ob die Wasserstöße, nicht zuletzt derjenige, der dem Kläger seine Augenverletzung zugefügt hat, angemessen waren. Nach Auskunft des beklagten Landes, die durch das Betrachten des vorhandenen Videomaterials bestätigt wird, verfügten die am 30. September 2010 eingesetzten Wasserwerfer über keine Zielvorrichtung. Bei Abgabe der Wasserstöße in die dicht stehende Menschenansammlung war es dementsprechend sehr wahrscheinlich, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden. Nach dem Eindruck, den die Kammer aus dem vorhandenen Material gewonnen hat, wäre es eher Zufall gewesen, wenn bei dem teilweise sehr massiven Einsatz der Wasserwerfer niemand im Gesicht getroffen worden wäre. Dementsprechend sieht die Polizeidienstvorschrift 122 „Einsatz von Wasserwerfern und Wasserarmaturen“ (Ausgabe 2003), an die die Kammer zwar nicht gebunden ist, die sie jedoch als Auslegungshilfe heranzieht, vor, dass Wasserstöße als intensivste Form des Wasserwerfereinsatzes die Begehung oder Fortsetzung von Straftaten verhindern, das Vordringen von Störern verhindern oder Gewalttäter zum Zurückweichen zwingen sollen; bei Wasserstößen ist darauf zu achten, dass Köpfe nicht getroffen werden (Nr. 5.1.3). Keiner der genannten, restriktiv auszulegenden Fälle dürfte am 30. September 2010 vorgelegen haben. Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden, hätten wohl jedenfalls die Wasserstöße zur Vermeidung der Unangemessenheit der Anwendung unmittelbaren Zwangs unterbleiben müssen.
64 
c) Ob den Kläger ein Mitverschulden an seinen Verletzungen trifft, wie es das Landgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2014 (18 KLs 5 Js 94858/10) angenommen hat (vgl. den dem Verwaltungsgericht zur Verfügung gestellten Abdruck, S. 9), ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes ohne Bedeutung.
65 
III. Die Verpflichtung des beklagten Landes, die Kosten des Verfahrens zu tragen, folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO nicht vorliegen, ist die Berufung gegen dieses Urteil nicht durch das Verwaltungsgericht zuzulassen.

Gründe

 
15 
Die Klage ist zulässig (I.) und begründet (II.).
16 
I. Die Klage ist zulässig.
17 
1. a) Die Klage ist, soweit sie sich gegen den Platzverweis und die Androhung unmittelbaren Zwangs richtet, als Fortsetzungsfeststellungsklage in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft.
18 
Dem Kläger gegenüber wurde sowohl ein Platzverweis ausgesprochen als auch unmittelbarer Zwang angedroht. Denn der Kläger wurde mehrfach, nicht zuletzt auch persönlich aufgefordert, den Bereich vor dem Wasserwerfer zu räumen; zum maßgeblichen Zeitpunkt kündigten die Polizeivollzugsbeamten aus dem Wasserwerfer heraus auch wiederholt den Einsatz von Wasser gegenüber den Blockierenden an.
19 
Sowohl bei dem Platzverweis als auch bei der Androhung unmittelbaren Zwangs handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 42 Abs. 1, § 113 Abs. 1 VwGO, § 35 VwVfG, der sich - infolge Zeitablaufs - vorprozessual erledigt hat. Im Fall vorprozessualer Erledigung eines Verwaltungsakts geht das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung, der sich die Kammer angeschlossen hat (Urteil vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 20), von der Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - BVerwG 6 C 7.98 -, BVerwGE 109, 203 [207] = juris Rn. 20; ferner VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Juni 2011 - 1 S 2901/10 -, juris Rn. 27).
20 
b) Soweit sich die Klage gegen die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes gegen den Kläger richtet, ist sie als Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO statthaft.
21 
Nach Auffassung der Kammer ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes kein Verwaltungsakt im Sinne von § 42 Abs. 1, § 113 Abs. 1 VwGO, § 35 VwVfG (vgl. Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 767; Belz/Mussmann/Kahlert/Sander, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 8. Aufl. 2015, § 49 Rn. 60; a.A. Schoch, in: ders., Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap. Rn. 392). Denn bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes ergeht gegenüber den Betroffenen keine Regelung. „Hilfskonstruktionen“ dergestalt, in der Anwendung zugleich eine Duldungsanordnung zu sehen (vgl. dazu Stuhlfauth, in: Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 4. Aufl. 2014, § 35 Rn. 49), mögen angezeigt gewesen sein zu Zeiten, in denen das Vorliegen eines Verwaltungsakts rechtswegeröffnend war. Unter Geltung der Verwaltungsgerichtsordnung bedarf es ihrer nicht mehr.
22 
Die Berechtigung des Polizeivollzugsdienstes zur Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes dem Kläger gegenüber im Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 stellt vielmehr ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO dar.
23 
2. Der Kläger hat auch das erforderliche Fortsetzungsfeststellungs- bzw. Feststellungsinteresse.
24 
Die Zulässigkeit sowohl der Fortsetzungsfeststellungsklage als auch der Feststellungsklage setzt voraus, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung hat (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 bzw. § 43 Abs. 1 VwGO). Die diesbezüglichen Anforderungen stimmen weitestgehend überein (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Juni 2011 - 1 S 2901/10 -, juris Rn. 27).
25 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet nicht jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse (Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77 [89] = juris Rn. 36). Ein solches Interesse besteht allerdings dann, wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn die Gefahr einer Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit angenommen werden kann.
26 
Das erforderliche Fortsetzungsfeststellungs- und Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich bereits aus dem Gesichtspunkt einer - möglicherweise - schweren Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit.
27 
Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie gebietet stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist; derartige Eingriffe sind die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit (BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 -, BVerfGE 110, 77 [89] = juris Rn. 37).
28 
Nach Auffassung der Kammer steht den vorgenannten Fällen gleich, wenn der Staat - vorliegend der Polizeivollzugsdienst - einer Menschenansammlung von vornherein den Schutz des Art. 8 GG abspricht und gegen sie mit dem Instrumentarium des allgemeinen Polizeirechts vorgeht. In diesem Fall wird die Versammlungsfreiheit, sollte sich die Einschätzung als fehlerhaft erweisen, ebenso schwer, wenn nicht gar noch schwerer beeinträchtigt als im Fall eines Versammlungsverbots oder einer Versammlungsauflösung.
29 
Dass die Menschenansammlung im Stuttgarter Schlossgarten, in der sich der Kläger befand, als verfassungsrechtlich geschützte Versammlung einzuordnen ist, ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Der Polizeivollzugsdienst ist gegen diese Ansammlung unter Anordnung eines Platzverweises und sodann unter Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs vorgegangen. Auf eine Versammlungsauflösung oder sonstige auf Versammlungsrecht gestützte Maßnahmen hat er ausweislich des Vorbringens des beklagten Landes bewusst verzichtet.
30 
Der Kläger hat darüber hinaus als Person, die durch den Einsatz des Wasserwerfers erhebliche Verletzungen erlitten hat, auch ein aus Gründen der Rehabilitierung rechtlich anerkennenswertes Interesse an der Klärung der Rechtmäßigkeit der Gegenstand des Verfahrens bildenden polizeilichen Maßnahmen.
31 
3. Die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO setzt im - vorliegend gegebenen - Fall der Erledigung vor Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsakts weder die Erhebung eines Widerspruchs noch die Einhaltung einer Frist voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - BVerwG 6 C 7.98 -, BVerwGE 109, 203 [206 und 209] = juris Rn. 19 und 22). Eine Verwirkung des Klagerechts steht außer Frage.
32 
II. Die Klage ist auch begründet.
33 
1. Der gegenüber dem Kläger angeordnete Platzverweis war rechtswidrig und verletzte ihn in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog).
34 
a) Als Rechtsgrundlage für den dem Kläger gegenüber angeordneten Platzverweis kommt allein § 27a Abs. 1 PolG in Betracht. Nach dieser Vorschrift, die mit Wirkung vom 22. November 2008 in das Polizeigesetz eingefügt wurde (vgl. GBl BW 2008, S. 390), kann die Polizei (vgl. zur Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes § 60 Abs. 3 PolG) zur Abwehr einer Gefahr oder zur Beseitigung einer Störung eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten.
35 
b) Der Anwendbarkeit des § 27a Abs. 1 PolG steht die so genannte Sperrwirkung des Versammlungsrechts entgegen.
36 
aa) Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich nach dem Versammlungsgesetz (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschlüsse vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, BVerfGK 4, 154 [158] = juris Rn. 18, und vom 30. April 2007 - 1 BvR 1090/06 -, BVerfGK 11, 102 [115] = juris Rn. 43). Dieses Gesetz geht in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen für einen polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer. Eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt wird, scheidet aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen aus. Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme stehen der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote, für die im Interesse des wirksamen Grundrechtsschutzes strengere Anforderungen bestehen als für ein polizeirechtliches Einschreiten allgemein. Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden - wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme - sind rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde (vgl. BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 30. April 2007 - 1 BvR 1090/06 -, BVerfGK 11, 102 [114] = juris Rn. 40).
37 
bb) Das beklagte Land geht nach Auffassung der Kammer zu Unrecht davon aus, dass die Ansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 keine verfassungsrechtlich geschützte Versammlung war.
38 
(1) Art. 8 GG und das Versammlungsgesetz definieren den Begriff der Versammlung nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. - auch zum Folgenden - BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 32 m.w.N.). Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.
39 
Art. 8 GG schützt allerdings nicht die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001
 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [105] = juris Rn. 44; vgl. auch BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [374] = juris Rn. 35).
40 
Zu differenzieren ist also zwischen so genannten Verhinderungsblockaden und so genannten demonstrativen Blockaden (vgl. Urteil der Kammer vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 25; auch Rusteberg, NJW 2011, 2999).
41 
Für die rechtliche Einordnung der Menschenansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 ist insbesondere darauf abzustellen, ob die beabsichtigte Verhinderung der anstehenden Baumfällarbeiten Selbstzweck war oder ein einem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/06 -, BVerfGE 104, 92 [105] = juris Rn. 42).
42 
(2) Ausgehend von diesen Grundsätzen handelte es sich bei der Menschenansammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 entgegen der Auffassung des beklagten Landes um keine so genannte Verhinderungsblockade.
43 
Allerdings zielte das Verhalten der anwesenden Personen darauf, das Absperren der Fläche zur Ermöglichung von Baumfällarbeiten und der Errichtung des so genannten Grundwassermanagements zu verhindern. Bei der Verhinderung der Baumfällarbeiten und der Errichtung des Grundwassermanagements handelte es sich indes nach Auffassung der Kammer lediglich um ein Nahziel zur Erreichung des Fernziels der Verhinderung des von der Deutschen Bahn geplanten und seitens staatlicher Ebenen unterstützten Umbaus des Bahnknotens Stuttgart (vgl. das Urteil der Kammer vom 12. Juni 2014 - 5 K 808/11 -, juris Rn. 26). Dementsprechend war aus dem Kreis der anwesenden Personen vielfach die Formulierung „Oben bleiben“ und damit einer der wesentlichen Slogans der Projektgegner zu hören. Häufig zeigten die Personen eines der wesentlichen Symbole der Projektgegner, das einem Ortsausfahrtsschild nachempfundene Schild mit den durchgestrichenen Worten „Stuttgart 21“. Zahlreiche der Zusammengekommenen stammten auch aus dem Kreis der Teilnehmer der für den 30. September 2010 angemeldeten „Schülerdemonstration“, die unter das Motto „Lieber mehr Bildungsausgaben statt Prestigebahnhof“ gestellt worden war. Die Erwartung, allein durch die Verhinderung der Baumfällarbeiten am 1. Oktober 2010 das Projekt „Stuttgart 21“ zu Fall zu bringen, kann den Blockierern sowie den weiter Anwesenden nicht unterstellt werden. Sie wäre allenfalls ein „symbolischer Sieg“ gewesen. Ziel der Projektgegner war allerdings und ist es auch heute noch, dass die am Projekt Beteiligten dieses dauerhaft aufgeben oder dass jedenfalls einzelne Beteiligte sich aus ihm zurückziehen. Ein derartiger „Erfolg“ wäre nur zu erzielen gewesen, wenn die Aktion - zumindest im Zusammenspiel mit den anderen Aktionen gegen das Projekt - in einer Weise auf die öffentliche Meinungsbildung einwirkt, die letztlich zu einem Umdenken der am Projekt Beteiligten oder zu einem Austausch der politisch Verantwortlichen führt. Nicht zuletzt infolge der Ereignisse am 30. September 2010 kam es sodann auch zu dem - allerdings letztlich erfolglos gebliebenen - Schlichtungsverfahren. Insgesamt war die beabsichtigte Verhinderung der Baumfällarbeiten nicht Selbstzweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen dienendes Mittel. Der Versammlungscharakter entfällt im Übrigen auch nicht aus dem Grund, dass der Anfahrtsweg der Polizeifahrzeuge im Schlossgarten auch durch vor Ort vorgefundenes Baumaterial sowie durch aus dem Biergarten entwendete Bierbänke blockiert wurde. Das Entfernen der Gegenstände stellte den Polizeivollzugsdienst vor keine nennenswerte Herausforderung.
44 
(3) Der Schutz des Versammlungsgrundrechts entfiel auch nicht wegen Unfriedlichkeit.
45 
Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE104, 92 [105 f.] = juris Rn. 47; [Kammer-] Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Unfriedlich ist eine Versammlung erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt oder in Kauf genommen.
46 
Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 war nicht unfriedlich; eine kollektive Unfriedlichkeit lässt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht feststellen.
47 
Jedenfalls eine nennenswerte Anzahl von aggressiven Ausschreitungen aus der Versammlung heraus gegen Polizeibeamte lässt sich nicht feststellen. Insoweit ohne Bedeutung ist, ob das Verhalten der Blockierer strafrechtlich als Gewalt im Sinne von § 240 StGB einzuordnen ist. Denn für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 8 GG ist allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93 und 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [106] = juris Rn. 49). Ebenfalls nicht abgestellt werden kann darauf, dass sich Versammelte gegen die Anwendung unmittelbaren Zwangs wehrten und dabei eventuell Polizeibeamte verletzten; denn hierbei handelt es sich um keine Unfriedlichkeit aus der Versammlung heraus. Vorfälle, die zur Annahme der Unfriedlichkeit führen könnten, blieben - ausweislich des der Kammer zur Verfügung stehenden Videomaterials - vereinzelt, wie das Abdrängen von Polizeibeamten, das Auslassen von Luft aus einem Reifen, der Einsatz von Pyrotechnik, das Besprühen von Polizeibeamten mit Pfefferspray oder auch das Werfen von Kastanien und Wasserflaschen. Angesichts der Vielzahl der Teilnehmer an der Versammlung und deren Dauer hätte eine weitaus größere Zahl derartiger Vorfälle stattfinden müssen, um die Annahme der Unfriedlichkeit zu rechtfertigen. Dass solche Vorfälle auch nicht im Sinne der Versammelten waren, lässt sich schon anhand des in der mündlichen Verhandlung vorgeführten Filmausschnitts illustrieren, in dem zu sehen ist, dass Blockierende der Person, die den geworfenen Feuerwerkskörper austrat, Beifall spendeten.
48 
(4) Der Schutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, ob eine Versammlung anmeldepflichtig und dementsprechend angemeldet ist (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Dennoch merkt die Kammer an, dass sie davon ausgeht, dass die Versammlung im Mittleren Schlossgarten am 30. September 2010 eine so genannte Spontanversammlung und nicht die Fortsetzung der für diesen Tag angemeldeten Schülerdemonstration war.
49 
Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden (§ 14 Abs. 1 VersG). In der Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung der Versammlung oder des Aufzuges verantwortlich sein soll (§ 14 Abs. 2 VersG). Wer als Veranstalter oder Leiter eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung nach § 14 VersG durchführt, wird nach § 26 Nr. 2 VersG mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Die versammlungsrechtlichen Vorschriften über die Anmeldepflicht nach § 14 VersG sind allerdings auf so genannte Spontanversammlungen nicht anwendbar, soweit der mit ihnen verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, BVerfGK 4, 154 [158] = juris Rn. 16 m.w.N.).
50 
Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 bildete sich nicht zuletzt infolge der Auslösung des so genannten Parkschützeralarms im Zeitraum zwischen 10:15 Uhr und 10:30 Uhr. Infolge der Auslösung des Parkschützeralarms löste sich nach Einschätzung der Kammer die angemeldete Schülerdemonstration, die zu diesem Zeitpunkt in der Lautenschlagerstraße stattfand, faktisch selbst auf. Es bestand jedenfalls keine Identität zwischen der angemeldeten Schülerdemonstration und der Versammlung im Mittleren Schlossgarten. Ausweislich der Anmeldung sollte die Schülerdemonstration nach der Auftaktkundgebung in der Lautenschlagerstraße ab ungefähr 10 Uhr durch die Stuttgarter Innenstadt bis auf die Höhe der Eberhardstraße ziehen und erst gegen ungefähr 12 Uhr im Mittleren Schlossgarten ankommen. Freilich verließen große Teile der Teilnehmer die Kundgebung in der Lautenschlagerstraße in Richtung Schlossgarten. Zu einem Aufzug kam es deshalb gar nicht mehr.
51 
(5) Der Schutz des Art. 8 GG endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (BVerfG, [Kammer-]Beschluss vom 7. März 2011 - 1 BvR 388/05 -, BVerfGK 18, 365 [373] = juris Rn. 33 m.w.W.). Eine - ausschließlich aufgrund ausdrücklicher Erklärung mögliche - Auflösung der Versammlung im Mittleren Schlossgarten erfolgte weder durch den Polizeivollzugsdienst noch durch die - grundsätzlich sachlich und örtlich zuständige - Landeshauptstadt Stuttgart (vgl. § 1 Abs. 1 und § 2 Satz 1 VersGZuVO in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Nr. 3, § 62 Abs. 3 PolG, § 15 Abs. 1 Nr. 2, § 12 Abs. 1 LVG, § 131 Abs. 1 GemO).
52 
c) Die Fragen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Platzverweis vorlagen und ob das durch § 27a Abs. 1 PolG der Polizei eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde, braucht die Kammer nach Vorstehendem nicht zu beantworten.
53 
2. Die Androhung und die Anwendung unmittelbaren Zwangs gegenüber dem Kläger waren ebenfalls rechtswidrig und verletzten ihn in seinen Rechten.
54 
a) Die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Vollstreckungsmaßnahmen ergibt sich bereits aus der Feststellung der Rechtswidrigkeit des gegenüber dem Kläger angeordneten Platzverweises als der zu vollstreckenden Verfügung.
55 
Die Rechtmäßigkeit der Androhung unmittelbaren Zwangs (vgl. § 52 Abs. 2 PolG) und dessen Anwendung setzt jedenfalls in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation voraus, dass die zu vollstreckende Grundverfügung rechtmäßig war.
56 
Erledigt sich ein Verwaltungsakt - wie hier der gegenüber dem Kläger angeordnete Platzverweis - vor der gerichtlichen Entscheidung, lässt § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anstelle der Aufhebung durch Urteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO die Feststellung durch Urteil genügen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, um dem Bürger funktionsgleichen effektiven Rechtsschutz (vgl. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gegenüber einer Inanspruchnahme aus einem rechtswidrigen Verwaltungsakt zu gewähren, wie er ihn mit einem Aufhebungsurteil nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO erreichen könnte (BVerwG, Urteil vom 20. November 1997 - BVerwG 5 C 1.96 -, BVerwGE 105, 370 [373] = juris Rn. 11, vgl. auch Urteil vom 31. Januar 2002 - BVerwG 2 C 7.01 -, BVerwGE 116, 1 [4] = juris Rn. 17). Kraft der gerichtlichen Entscheidung nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist nicht mehr der Regelungsgehalt des Verwaltungsakts rechtlich maßgeblich, sondern die Rechtslage, die ohne Geltung des gerichtlich als rechtswidrig festgestellten Verwaltungsaktes besteht (BVerwG, Urteil vom 20. November 1997, a.a.O.).
57 
Legt man im vorliegenden Zusammenhang die Rechtslage zugrunde, die ohne Geltung des rechtswidrigen Platzverweises bestand, so fehlte es bereits an einer zu vollstreckenden Verfügung.
58 
Die Vorschrift des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO fordert in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation nicht, dass die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit auf sie aufbauender Vollstreckungsmaßnahmen außer Betracht zu bleiben hat. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO bestimmt, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten entfällt. Die Adressaten des Platzverweises hätten diesem also aus Rechtsgründen Folge leisten müssen. Zu dem Fall der gleichzeitigen Inanspruchnahme nachträglichen Rechtsschutzes gegen die Grundverfügung und gegen Vollstreckungsmaßnahmen verhält sich die Vorschrift hingegen nicht. Dementsprechend wird § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO im Fall des gerichtlichen Vorgehens gegen einen Kostenbescheid wegen der Vollstreckung einer zwischenzeitlich erledigten Grundverfügung auch nicht so verstanden, dass die Rechtmäßigkeit der zu vollstreckenden Verfügung außer Betracht bleibt (vgl. bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 1986 - 1 S 2654/85 -, VBlBW 1986, 299 [303]; Urteil der Kammer vom 21. Juli 2015 - 5 K 5066/14 -, noch nicht veröffentlicht).
59 
Darüber hinaus verbietet nach Auffassung der Kammer auch die Sperrwirkung des Versammlungsrechts die Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs als auf allgemeines Polizeirecht gestützte Vollstreckungsmaßnahmen. Zu den vor Auflösung einer Versammlung bzw. vor Ausschluss eines Teilnehmers unzulässigen Maßnahmen (s. oben 1. b) gehören neben Platzverweisen insbesondere auch zu deren Vollstreckung getroffene Maßnahmen. Denn mit der Vollstreckung wird eigenständig in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingegriffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 1 BvR 2173/93, 1 BvR 433/96 -, BVerfGE 104, 92 [107] = juris Rn. 51). Im vorliegenden Fall wurde eine Versammlung „faktisch“ durch Einsatz einer auf das Polizeigesetz gestützten Maßnahme, nämlich des unmittelbaren Zwangs in Form eines Wasserwerfereinsatzes „aufgelöst“.
60 
b) Die Kammer hat im Übrigen ganz erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs dem Kläger gegenüber. Mangels Erheblichkeit sieht sie allerdings von einer abschließenden Festlegung ab.
61 
Eine gesetzliche Regelung zur Verhältnismäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs findet sich in § 52 Abs. 1 PolG. Danach darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint (Satz 1). Gegen Personen darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck durch unmittelbaren Zwang gegen Sachen nicht erreichbar erscheint (Satz 2). Das angewandte Mittel muss nach Art und Maß dem Verhalten, dem Alter und dem Zustand der Betroffenen angemessen sein (Satz 3). Gegenüber einer Menschenansammlung darf unmittelbarer Zwang nur angewandt werden, wenn seine Anwendung gegen einzelne Teilnehmer der Menschenansammlung offensichtlich keinen Erfolg verspricht (Satz 4).
62 
Ob die Anwendung verhältnismäßig war, ist aus der so genannten ex-ante-Sicht zu beurteilen (vgl. Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 523, 528). Es ist dementsprechend nicht darauf abzustellen, welche Folgen tatsächlich eingetreten sind, sondern darauf, mit welchen Folgen bei Anwendung unmittelbaren Zwangs in der gewählten Form zu rechnen war.
63 
Nach Auffassung der Kammer ist insbesondere zweifelhaft, ob die Wasserstöße, nicht zuletzt derjenige, der dem Kläger seine Augenverletzung zugefügt hat, angemessen waren. Nach Auskunft des beklagten Landes, die durch das Betrachten des vorhandenen Videomaterials bestätigt wird, verfügten die am 30. September 2010 eingesetzten Wasserwerfer über keine Zielvorrichtung. Bei Abgabe der Wasserstöße in die dicht stehende Menschenansammlung war es dementsprechend sehr wahrscheinlich, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden. Nach dem Eindruck, den die Kammer aus dem vorhandenen Material gewonnen hat, wäre es eher Zufall gewesen, wenn bei dem teilweise sehr massiven Einsatz der Wasserwerfer niemand im Gesicht getroffen worden wäre. Dementsprechend sieht die Polizeidienstvorschrift 122 „Einsatz von Wasserwerfern und Wasserarmaturen“ (Ausgabe 2003), an die die Kammer zwar nicht gebunden ist, die sie jedoch als Auslegungshilfe heranzieht, vor, dass Wasserstöße als intensivste Form des Wasserwerfereinsatzes die Begehung oder Fortsetzung von Straftaten verhindern, das Vordringen von Störern verhindern oder Gewalttäter zum Zurückweichen zwingen sollen; bei Wasserstößen ist darauf zu achten, dass Köpfe nicht getroffen werden (Nr. 5.1.3). Keiner der genannten, restriktiv auszulegenden Fälle dürfte am 30. September 2010 vorgelegen haben. Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden, hätten wohl jedenfalls die Wasserstöße zur Vermeidung der Unangemessenheit der Anwendung unmittelbaren Zwangs unterbleiben müssen.
64 
c) Ob den Kläger ein Mitverschulden an seinen Verletzungen trifft, wie es das Landgericht Stuttgart in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2014 (18 KLs 5 Js 94858/10) angenommen hat (vgl. den dem Verwaltungsgericht zur Verfügung gestellten Abdruck, S. 9), ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs in Form des Wasserwerfereinsatzes ohne Bedeutung.
65 
III. Die Verpflichtung des beklagten Landes, die Kosten des Verfahrens zu tragen, folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO nicht vorliegen, ist die Berufung gegen dieses Urteil nicht durch das Verwaltungsgericht zuzulassen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untersagungsverfügung, mit der ihr die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung von Sportwetten verboten wurde.

2

In der G.straße ... in M. und in drei weiteren Betriebsstätten im Stadtgebiet der Beklagten vermittelte die Klägerin Sportwetten an die I. in G., die über eine dort erteilte Lizenz zur Veranstaltung von Sportwetten verfügte. Die Beklagte untersagte der Klägerin nach vorheriger Anhörung mit Verfügung vom 18. Juni 2008 die Veranstaltung, Vermittlung und Durchführung von Sportwetten sowie die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten im Internet für jede Betriebsstätte in M. Sie gab der Klägerin auf, den Betrieb mit Ablauf des 19. Juni 2008 einzustellen, und drohte ihr ein Zwangsgeld in Höhe von 25 000 € an. Die Untersagung stützte sie auf § 9 Abs. 1 Satz 2 und 3 i.V.m. § 4 Abs. 1, 2 und 4 des Glücksspielstaatsvertrages in der seinerzeit geltenden Fassung (GlüStV). Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, das Wettangebot der Klägerin erfülle den Straftatbestand unerlaubten Glücksspiels gemäß § 284 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB). Eine Erlaubnis könne wegen des staatlichen Wettmonopols nach § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV nicht erteilt werden. Bei sachgerechter Ermessensausübung komme keine andere Entscheidung als eine Untersagung in Betracht. Diese sei auch verhältnismäßig.

3

Am 23. Juni 2008 hat die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht München Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Wenige Tage später wurde bei einer Polizeikontrolle in der G.straße ... die Vermittlung von Sportwetten der I. festgestellt. Daraufhin stellte die Beklagte das Zwangsgeld fällig und verfügte die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Am 26. Juni 2008 wurde das Wettbüro der Klägerin polizeilich geschlossen und versiegelt. Dagegen erhob die Klägerin - in einem anderen Verfahren - ebenfalls Klage und bat um vorläufigen Rechtsschutz.

4

Das Verwaltungsgericht München lehnte mit Beschluss vom 3. Juli 2008 den Eilantrag betreffend die Untersagungsverfügung und die Zwangsgeldandrohung ab. Mit weiterem Beschluss vom 7. Juli 2008 ordnete es die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung unmittelbaren Zwangs unter der Auflage an, dass in der G.straße ... keine unerlaubte Sportwettenvermittlung mehr durchgeführt werde. Die Beklagte setzte das fällig gestellte Zwangsgeld vom Soll ab und hob die Versiegelung auf. Das Eilverfahren wurde nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen eingestellt; der Klage gegen die Anordnung unmittelbaren Zwangs wurde im Januar 2009 stattgegeben.

5

Die Klage gegen die Untersagungsverfügung und die Zwangsgeldandrohung hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 27. Januar 2009 abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihr Klagebegehren für die Zeit bis zur Berufungsentscheidung auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt und an der Anfechtung nur für den anschließenden Zeitraum festgehalten. Sie meint, ihr Feststellungsinteresse für die Vergangenheit ergebe sich aus der Versiegelung ihrer Betriebsstätte in der Zeit vom 26. Juni bis zum 8. Juli 2008 sowie aus der Absicht, unionsrechtliche Staatshaftungsansprüche geltend zu machen. Darüber hinaus bestehe eine Wiederholungsgefahr und - wegen des Vorwurfes strafrechtswidrigen Verhaltens - ein Rehabilitierungsinteresse. Die Beklagte hat in ihrer Berufungserwiderung die Auffassung vertreten, die formelle Illegalität der Vermittlung rechtfertige die Untersagung auch unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Monopols. Mit Bezug darauf hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2010 die Ermessenserwägungen des angegriffenen Bescheides ausdrücklich um Ausführungen zur - nach ihrer Ansicht fehlenden - materiellen Erlaubnisfähigkeit der Veranstaltung und Vermittlung der Sportwetten ergänzt.

6

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 12. Januar 2012 das erstinstanzliche Urteil geändert, den angefochtenen Bescheid vom 18. Juni 2008 aufgehoben und dessen Rechtswidrigkeit im Zeitraum bis zur Berufungsentscheidung festgestellt. Die in die Zukunft gerichtete, zulässige Anfechtungsklage sei begründet, weil die Untersagungsverfügung ermessensfehlerhaft sei. Sie stütze sich maßgeblich auf das staatliche Sportwettenmonopol, das seinerseits gegen Unionsrecht verstoße. Es schränke die Dienstleistungsfreiheit unverhältnismäßig ein, da es nicht den Anforderungen der Geeignetheit und dem daraus abzuleitenden Erfordernis der Kohärenz entspreche. Dass es irgendeinen Beitrag zur Verwirklichung der mit dem Monopol verfolgten Ziele leiste, reiche nicht aus. Zu fordern sei vielmehr ein glücksspielsektorenübergreifender, konzeptionell und inhaltlich aufeinander bezogener, systematischer Regelungszusammenhang, mit dem diese Ziele konsequent verfolgt würden. Daran fehle es im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung schon wegen der gegenläufigen Regelung des gewerblichen Automatenspiels. Die Expansionspolitik in diesem Bereich führe dazu, dass die Monopolziele der Suchtbekämpfung und des Spielerschutzes nicht mehr wirksam verfolgt werden könnten. Auf Interdependenzen zwischen den beiden Glücksspielsektoren komme es dabei nicht an. Bei einem derartig widersprüchlichen Regelungs- und Schutzkonzept sei nicht nur die Geeignetheit der Beschränkung in einem Teilsegment, sondern ihre Verhältnismäßigkeit insgesamt in den Blick zu nehmen.

7

Die Untersagungsverfügung könne auch nicht mit dem Hinweis auf die formelle Illegalität und die fehlende materielle Erlaubnisfähigkeit der Wettvermittlung aufrechterhalten werden. Eine vollständige Untersagung sei nur bei fehlender Erlaubnisfähigkeit gerechtfertigt. Außerdem stehe § 114 Satz 2 VwGO einer Berücksichtigung der nachgeschobenen Ermessenserwägungen entgegen. Diesen sei auch kein Neuerlass der Untersagungsverfügung unter konkludenter Rücknahme des Ausgangsbescheides zu entnehmen. Wegen der Rechtswidrigkeit der Untersagung könne die Zwangsgeldandrohung ebenfalls keinen Bestand haben.

8

Der Antrag, die Rechtswidrigkeit der Untersagung für die Vergangenheit festzustellen, sei zulässig und begründet. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an dieser Feststellung bestehe jedenfalls in Gestalt eines Rehabilitierungsinteresses. Dieses ergebe sich schon aus dem Vorwurf objektiv strafbaren Verhaltens. Im Übrigen sei ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse auch wegen des tiefgreifenden Eingriffs in die Berufsfreiheit zu bejahen, da andernfalls effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet sei. Auf das Vorliegen eines Präjudizinteresses komme es danach nicht an. Die Begründetheit des Fortsetzungsfeststellungsantrags ergebe sich aus den Urteilserwägungen zur Anfechtungsklage.

9

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision macht die Beteiligte geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht ein berechtigtes Feststellungsinteresse der Klägerin bejaht. Ein Rehabilitierungsinteresse scheide aus, da die Klägerin sich als juristische Person nicht strafbar machen könne. Die Untersagungsverfügung bewirke auch keinen tiefgreifenden Grundrechtseingriff, sondern erschöpfe sich in einer Berufsausübungsregelung. Materiell-rechtlich wende das Berufungsgericht das unionsrechtliche Kohärenzerfordernis unzutreffend an. Unabhängig davon werde die Untersagung auch von den nachgeschobenen Gründen getragen. Außerdem macht die Beteiligte Verfahrensmängel geltend.

10

Mit Schriftsatz vom 15. November 2012 hat die Beklagte erklärt, aus der angefochtenen Untersagungsverfügung ab dem 1. Juli 2012 keine Rechte mehr herzuleiten. Daraufhin haben die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt.

11

Die Beteiligte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Januar 2012 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 27. Januar 2009 zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit noch nicht - in Bezug auf die Zeit seit dem 1. Juli 2012 - in der Hauptsache erledigt ist, sowie der Klägerin die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens insgesamt aufzuerlegen.

12

Die Beklagte schließt sich dem Revisionsvorbringen der Beteiligten an, ohne einen eigenen Antrag zu stellen.

13

Die Klägerin beantragt,

die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass anstelle der Aufhebung der Untersagungsverfügung deren Rechtswidrigkeit - auch - in der Zeit von der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs bis zum 30. Juni 2012 festgestellt wird, sowie die Kosten des Revisionsverfahrens insgesamt dem Freistaat Bayern aufzuerlegen.

14

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und meint, ein ideelles Feststellungsinteresse ergebe sich auch aus dem tiefgreifenden Eingriff in unionsrechtliche Grundfreiheiten in Verbindung mit der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs nach Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC). Dazu regt die Klägerin eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union an. Für die von ihr formulierte Vorlagefrage wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift verwiesen. Ferner macht die Klägerin ein Präjudizinteresse wegen unionsrechtlicher Staatshaftungsansprüche geltend. Die formelle Illegalität ihrer Tätigkeit könne ihr nicht entgegengehalten werden, weil ihr die Erlaubnis zur Vermittlung an private Wettanbieter unionsrechtswidrig vorenthalten worden sei. Ein Verneinen des Feststellungsinteresses entwerte ihren prozessualen Aufwand und bringe sie um die Früchte des mehr als vierjährigen Verfahrens. Materiell-rechtlich hält die Klägerin den Erlaubnisvorbehalt nach § 4 Abs. 1 GlüStV für unionsrechtswidrig und die Monopolregelung für inkohärent.

Entscheidungsgründe

15

Soweit die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit mit Schriftsätzen vom 15. und 23. November 2012 übereinstimmend - bezüglich der Zeit seit dem 1. Juli 2012 - für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Einer Zustimmung des am Verfahren beteiligten Vertreters des öffentlichen Interesses bedurfte es nicht. Im Umfang der Teilerledigung sind das erstinstanzliche und das Berufungsurteil wirkungslos geworden.

16

Im Übrigen - soweit die Klägerin begehrt, die Rechtswidrigkeit der Untersagung bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts und darüber hinaus bis zum 30. Juni 2012 festzustellen - ist die zulässige Revision begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs verletzt revisibles Recht, weil es unzutreffend annimmt, die Klägerin habe gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit für den bereits abgelaufenen Zeitraum. Das Urteil beruht auch auf dieser Rechtsverletzung und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). Bei zutreffender Rechtsanwendung hätte es die Fortsetzungsfeststellungsklage für unzulässig halten müssen. Dies führt zur Änderung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen - klagabweisenden - Urteils. Dem steht nicht entgegen, dass der Klagantrag umgestellt wurde.

17

1. In Bezug auf den noch verfahrensgegenständlichen, bereits abgelaufenen Zeitraum bis zum 30. Juni 2012 kann die Untersagungsverfügung nur mit der Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO angegriffen werden.

18

a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof den entsprechenden Antrag der Klägerin für die Zeit bis zur Berufungsentscheidung für statthaft gehalten, da die Untersagung sich als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung grundsätzlich fortlaufend für den jeweils abgelaufenen Zeitraum erledigt. Ein Verbot wird durch Zeitablauf gegenstandslos, weil es nicht rückwirkend befolgt oder durchgesetzt werden kann. Maßnahmen zur Vollstreckung der Untersagung schließen eine Erledigung nur aus, wenn sie bei Aufhebung der Grundverfügung noch rückgängig zu machen sind. Das ist bei der Schließung der Betriebsstätte durch unmittelbaren Zwang vom 26. Juni bis zum 8. Juli 2008 nicht der Fall.

19

b) Für den Zeitraum von der Berufungsentscheidung bis zum Ablauf der Wirkung der Untersagung infolge ihrer nachträglichen Befristung zum 30. Juni 2012 hat die Klägerin ihr Anfechtungsbegehren im Revisionsverfahren zulässig auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt. Das Verbot der Klageänderung gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht nur einer Änderung des Streitgegenstandes entgegen. Es schließt jedoch nicht aus, von der Anfechtung eines Verwaltungsakts zu einem Fortsetzungsfeststellungsantrag überzugehen. Dieser Antrag ist für die Zeit bis zum 30. Juni 2012 auch statthaft, da sich die angegriffene Untersagung bis zu diesem Tag weiter fortlaufend und mit seinem Ablauf endgültig erledigt hat. Vorher ist keine endgültige Erledigung eingetreten, weil die Klägerin ihre Betriebsstätte nach der vorübergehenden polizeilichen Schließung wieder zur Vermittlung von Pferdewetten nutzte und auch die Vermittlung von Sportwetten dort jederzeit hätte wieder aufnehmen können.

20

2. Zulässig ist die statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage allerdings nur, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position der Klägerin in den genannten Bereichen zu verbessern (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 4. März 1976 - BVerwG 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134 <137> und vom 24. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 61.06 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 24 Rn. 3). Als Sachentscheidungsvoraussetzung muss das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen. Danach kommt es hier auf den Schluss der mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz an.

21

a) Für diesen Zeitpunkt lässt sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse nicht mit einer Wiederholungsgefahr begründen. Dazu ist nicht nur die konkrete Gefahr erforderlich, dass künftig ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen wird. Darüber hinaus müssen die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sein (Urteil vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 4 C 12.04 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 23 Rn. 8 m.w.N.). Daran fehlt es hier. Die für die Beurteilung einer glücksspielrechtlichen Untersagung maßgeblichen rechtlichen Umstände haben sich mit dem Inkrafttreten des Ersten Staatsvertrages zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 15. Dezember 2011 (BayGVBl 2012 S. 318) und dessen landesrechtlicher Umsetzung in Bayern zum 1. Juli 2012 gemäß §§ 1 und 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland und anderer Rechtsvorschriften vom 25. Juni 2012 (BayGVBl S. 270) grundlegend geändert. Dem steht nicht entgegen, dass der allgemeine Erlaubnisvorbehalt für die Veranstaltung und Vermittlung öffentlichen Glücksspiels nach § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV und die Ermächtigung zur Untersagung der unerlaubten Veranstaltung und Vermittlung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV fortgelten. Für die rechtliche Beurteilung einer Untersagung kommt es auch auf die Verhältnismäßigkeit des mit ihr durchgesetzten Erlaubnisvorbehalts sowie des Verbots selbst und damit auf Fragen der materiellen Erlaubnisfähigkeit des untersagten Verhaltens an (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 55; dazu näher unten Rn. 54 f.). Insoweit ergeben sich aus den in Bayern zum 1. Juli 2012 in Kraft getretenen, § 4 GlüStV ergänzenden Spezialregelungen betreffend die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten erhebliche Unterschiede zur früheren, bis zum 30. Juni 2012 geltenden Rechtslage. Nach § 10a Abs. 1 und 2 i.V.m. §§ 4a ff. GlüStV wird das staatliche Sportwettenmonopol - zunächst für eine Experimentierphase von sieben Jahren - durch ein Konzessionssystem ersetzt. Gemäß § 10a Abs. 3 GlüStV können bundesweit bis zu 20 Wettunternehmen eine Veranstalterkonzession erhalten. Für die Konzessionäre wird das Internetverbot des § 4 Abs. 4 GlüStV, von dem ohnehin nach Absatz 5 der Vorschrift dispensiert werden darf, nach Maßgabe des § 10a Abs. 4 Satz 1 und 2 GlüStV gelockert. Die Vermittlung konzessionierter Angebote bleibt nach § 10a Abs. 5 Satz 2 GlüStV i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV erlaubnispflichtig. Die Anforderungen an die gewerbliche Spielvermittlung werden aber in § 19 i.V.m. §§ 5 bis 8 GlüStV in wesentlichen Punkten neu geregelt. So wurden die Werbebeschränkungen des § 5 GlüStV deutlich zurückgenommen (dazu im Einzelnen Beschluss vom 17. Oktober 2012 - BVerwG 8 B 47.12 - Buchholz 11 Art. 20 GG Nr. 208 Rn. 6). Andererseits enthält § 7 Abs. 1 Satz 2 GlüStV eine weitgehende Konkretisierung der zuvor nur allgemein statuierten Aufklärungspflichten. Außerdem bindet § 8 Abs. 6 GlüStV erstmals auch die Vermittler in das übergreifende Sperrsystem nach § 23 GlüStV ein. Insgesamt schließen die erheblichen Änderungen der für die materiell-rechtliche Beurteilung der Untersagung erheblichen Vorschriften es aus, von einer im Wesentlichen gleichen Rechtslage auszugehen.

22

Aus der Befristung der experimentellen Konzessionsregelung lässt sich keine konkrete Wiederholungsgefahr herleiten. Ob der Gesetzgeber das Konzessionssystem und dessen materiell-rechtliche Ausgestaltung nach Ablauf der siebenjährigen Experimentierphase auf der Grundlage der inzwischen gewonnenen Erfahrungen fortschreiben, modifizieren oder aufgeben wird, ist ungewiss. Eine Rückkehr zur alten Rechtslage ist jedenfalls nicht abzusehen.

23

b) Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist auch nicht wegen eines Rehabilitierungsinteresses der Klägerin zu bejahen. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz beruht auf der Annahme, ein solches Interesse bestehe schon wegen des Vorwurfs objektiver Strafbarkeit des untersagten Verhaltens. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

24

Allerdings fehlt ein Rehabilitierungsinteresse nicht etwa deshalb, weil die Klägerin sich als juristische Person nicht strafbar machen kann. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sich nach Art. 19 Abs. 3 GG insgesamt auf juristische Personen erstreckt. Sie können jedenfalls Ausprägungen dieses Rechts geltend machen, die nicht an die charakterliche Individualität und die Entfaltung der natürlichen Person anknüpfen, sondern wie das Recht am eigenen Wort oder das Recht auf Achtung des sozialen Geltungsanspruchs und auf Abwehr von Rufschädigungen auch Personengesamtheiten und juristischen Personen zustehen können (BVerfG, Beschluss vom 9. Oktober 2002 - 1 BvR 1611/96, 805/98 - BVerfGE 106, 28 <42 ff.>; BGH, Urteil vom 3. Juni 1986 - VI ZR 102/85 - BGHZ 98, 94 <97>). Die bloße Einschätzung eines Verhaltens als objektiv strafbar hat aber keinen den Betroffenen diskriminierenden Charakter und kann deshalb noch kein Rehabilitierungsinteresse auslösen.

25

Ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung besteht nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern (Beschlüsse vom 4. März 1976 a.a.O. S. 138 f. und vom 4. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 64.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 36 S. 4 f.). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. In der Feststellung objektiver Strafbarkeit des untersagten Verhaltens liegt noch keine Stigmatisierung. Vielmehr erschöpft sie sich in der Aussage, die unerlaubte Veranstaltung und Vermittlung der Sportwetten erfülle den objektiven Tatbestand des § 284 Abs. 1 StGB und rechtfertige deshalb ein ordnungsbehördliches Einschreiten. Damit enthält sie kein ethisches Unwerturteil, das geeignet wäre, das soziale Ansehen des Betroffenen herabzusetzen. Diese Schwelle wird erst mit dem konkreten, personenbezogenen Vorwurf eines schuldhaft-kriminellen Verhaltens überschritten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 1952 - 1 BvR 197/53 - BVerfGE 9, 167 <171> und Urteil vom 6. Juni 1967 - 2 BvR 375, 53/60 und 18/65 - BVerfGE 22, 49 <79 f.>).

26

Einen solchen Vorwurf hat die Beklagte nach der revisionsrechtlich fehlerfreien Auslegung der Untersagungsverfügung durch die Vorinstanz hier nicht erhoben. Vielmehr bleibt offen, ob angesichts der umstrittenen und seinerzeit ungeklärten Rechtslage ein Entschuldigungsgrund in Gestalt eines unvermeidbaren Verbotsirrtums vorlag (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2007 - 4 StR 62/07 - NJW 2007, 3078 zur Rechtslage unter dem Lotteriestaatsvertrag). Die Einschätzung, die untersagte Tätigkeit sei objektiv strafbar, hat überdies keine Außenwirkung erlangt. Der Bescheid ist nur an die Klägerin gerichtet. Eine Weitergabe an Dritte ist weder substantiiert vorgetragen worden noch aus den Akten zu ersehen.

27

Der vorübergehenden polizeilichen Schließung des Wettlokals kam zwar Außenwirkung zu, sie hatte jedoch keinen diskriminierenden Charakter. Aus dem Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme lässt sich nur ableiten, dass dem Betroffenen ein Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Vorschriften und Anordnungen vorgeworfen wird. Ein solcher Vorwurf bewirkt jedoch im Gegensatz zum Vorwurf schuldhafter Verletzung von Strafgesetzen keine Stigmatisierung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 1952 a.a.O.). Sie ergibt sich hier auch nicht aus der Art und Weise der Schließung des Lokals.

28

Nachteilige Auswirkungen der Untersagung in künftigen Verwaltungsverfahren - etwa zur Erlaubniserteilung nach aktuellem Recht - sind nach der im Termin zur mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegebenen Erklärung des Vertreters des Freistaates Bayern ebenfalls nicht zu besorgen. Danach werden Monopolverstöße dort zukünftig nicht als Anhaltspunkt für eine Unzuverlässigkeit von Konzessionsbewerbern oder Bewerbern um eine Vermittlungserlaubnis gewertet.

29

c) Entgegen dem angegriffenen Urteil lässt sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse nicht mit dem Vorliegen eines tiefgreifenden Eingriffs in die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG begründen. Die Annahme des Berufungsgerichts, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO müsse wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Sinne ausgelegt werden, trifft nicht zu. Eine Ausweitung des Tatbestandsmerkmals des berechtigten Feststellungsinteresses über die einfach-rechtlich konkretisierten Fallgruppen des berechtigten rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Interesses (aa) hinaus verlangt Art. 19 Abs. 4 GG nur bei Eingriffsakten, die sonst wegen ihrer typischerweise kurzfristigen Erledigung regelmäßig keiner gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten (bb). Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs, die ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse allein wegen der Schwere des erledigten Eingriffs in Grundrechte oder Grundfreiheiten annimmt, ist auch aus Art. 47 GRC in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot nicht herzuleiten (cc).

30

aa) Aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und dem systematischen Zusammenhang mit § 42 VwGO ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden können. Nach dem Wegfall der mit dem Verwaltungsakt verbundenen Beschwer wird gerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nur zur Verfügung gestellt, wenn der Kläger ein berechtigtes rechtliches, wirtschaftliches oder ideelles Interesse an einer nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Maßnahme hat (dazu oben Rn. 20). Das berechtigte Feststellungsinteresse geht in all diesen Fällen über das bloße Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit der Verfügung hinaus. Dies gilt unabhängig von der Intensität des erledigten Eingriffs und vom Rang der Rechte, die von ihm betroffen waren.

31

bb) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG differenziert ebenfalls nicht nach diesen beiden Kriterien. Sie gilt auch für einfach-rechtliche Rechtsverletzungen, die - von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen - kein Grundrecht tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte und Grundfreiheiten. Umgekehrt gebietet die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG selbst bei tiefgreifenden Eingriffen in solche Rechte nicht, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzunehmen, wenn dies nicht erforderlich ist, die Effektivität des Rechtsschutzes zu sichern.

32

Effektiver Rechtsschutz verlangt, dass der Betroffene ihn belastende Eingriffsmaßnahmen in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen lassen kann. Solange er durch den Verwaltungsakt beschwert ist, stehen ihm die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zur Verfügung. Erledigt sich der Verwaltungsakt durch Wegfall der Beschwer, wird nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO Rechtsschutz gewährt, wenn der Betroffene daran ein berechtigtes rechtliches, ideelles oder wirtschaftliches Interesse hat. In den übrigen Fällen, in denen sein Anliegen sich in der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts erschöpft, ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach Art. 19 Abs. 4 GG zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt (BVerfG, Beschlüsse vom 5. Dezember 2001 - 2 BvR 527/99, 1337/00, 1777/00 - BVerfGE 104, 220 <232 f.> und vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 - BVerfGE 110, 77 <86> m.w.N).

33

Glücksspielrechtliche Untersagungsverfügungen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV zählen nicht zu den Verwaltungsakten, die sich in diesem Sinne typischerweise kurzfristig erledigen. Vielmehr sind sie als Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 19 m.w.N.) gerade auf langfristige Geltung angelegt. Dass sie sich regelmäßig fortlaufend für den bereits zurückliegenden Zeitraum erledigen, lässt ihre gegenwärtige, sich täglich neu aktualisierende Wirksamkeit und damit auch ihre Anfechtbarkeit und Überprüfbarkeit im Hauptsacheverfahren unberührt (vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2012, § 113 Rn. 85 a.E.). Änderungen der Rechtslage führen ebenfalls nicht zur Erledigung. Vielmehr ist die Untersagung anhand der jeweils aktuellen Rechtslage zu prüfen. Dass ihre Anfechtung sich regelmäßig nur auf eine Aufhebung des Verbots mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung richten kann, stellt keine Rechtsschutzbeschränkung dar. Vielmehr trägt dies dem Umstand Rechnung, dass das Verbot in der Vergangenheit keine Regelungswirkung mehr entfaltet, die aufgehoben werden könnte. Im Ausnahmefall, etwa bei einer noch rückgängig zu machenden Vollziehung der Untersagung, bleibt diese wegen ihrer Titelfunktion als Rechtsgrund der Vollziehung rückwirkend anfechtbar (Beschluss vom 25. September 2008 - BVerwG 7 C 5.08 - Buchholz 345 § 6 VwVG Nr. 1 Rn. 13; zur Vollzugsfolgenbeseitigung vgl. Urteil vom 14. März 2006 - BVerwG 1 C 11.05 - BVerwGE 125, 110 = Buchholz 402.242 § 63 AufenthG Nr. 2 Rn. 17).

34

Dass eine untypisch frühzeitige Erledigung im Einzelfall einer streitigen Hauptsacheentscheidung zuvorkommen kann, berührt Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Die Rechtsweggarantie verbietet zwar, gesetzliche Zulässigkeitsanforderungen so auszulegen, dass ein gesetzlich eröffneter Rechtsbehelf leerläuft, weil das weitere Beschreiten des Rechtswegs unzumutbar und ohne sachliche Rechtfertigung erschwert wird (BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 2010 - 2 BvR 1023/08 - NJW 2011, 137 m.w.N.). Einen solchen Leerlauf hat die dargestellte Konkretisierung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses aber nicht zur Folge. Ihre sachliche Rechtfertigung und die Zumutbarkeit ihrer prozessualen Konsequenzen ergeben sich daraus, dass eine großzügigere Handhabung dem Kläger mangels berechtigten rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Interesses keinen relevanten Vorteil bringen könnte und auch nicht dazu erforderlich ist, maßnahmenspezifische Rechtsschutzlücken zu vermeiden.

35

Entgegen der Auffassung der Klägerin wird deren prozessualer Aufwand mit der endgültigen Erledigung des Verfahrens, wenn kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen ist, auch nicht entwertet. Das ursprüngliche Klageziel, die Beseitigung der Untersagung, wird infolge der zur Erledigung führenden Befristung durch das Unwirksamwerden der Verbotsverfügung mit Fristablauf erreicht. Das prozessuale Vorbringen zur Zulässigkeit und Begründetheit der Klage im Zeitpunkt der Erledigung kann sich bei der Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO zugunsten der Klägerin auswirken. Eine Hauptsacheentscheidung in jedem Einzelfall oder gar ein vollständiger Instanzenzug wird durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht gewährleistet.

36

cc) Aus der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 47 GRC ergibt sich keine Verpflichtung, das Merkmal des berechtigten Interesses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO weiter auszulegen.

37

Allerdings ist nach der unionsgerichtlichen Rechtsprechung davon auszugehen, dass der sachliche Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC eröffnet ist, weil die Klägerin Rechtsschutz wegen einer Beschränkung ihrer Dienstleistungsfreiheit begehrt. Zur mitgliedstaatlichen Durchführung des Unionsrechts im Sinne der Vorschrift rechnet der Gerichtshof nicht nur Umsetzungsakte im Sinne eines unionsrechtlich - zumindest teilweise - determinierten Vollzugs, sondern auch mitgliedstaatliche Eingriffe in Grundfreiheiten nach Maßgabe der allgemeinen unionsrechtlichen Schrankenvorbehalte. An dieser Rechtsprechung, die vor Inkrafttreten der Charta zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs unionsrechtlicher Grundrechte als allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts entwickelt wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 1991 - Rs. C-260/89, ERT - Slg. 1991 I-2951 ), hält der Gerichtshof weiterhin fest. Er geht von einer mitgliedstaatlichen Bindung an die Unionsgrundrechte im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts aus und verweist dazu auf die Erläuterungen zu Art. 51 GRC, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen sind (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 - Rs. C-617/10, Akerberg Fransson - EuZW 2013, 302 ). Wie diese Abgrenzungsformel im Einzelnen zu verstehen ist, inwieweit bei ihrer Konkretisierung grammatische und entstehungsgeschichtliche Anhaltspunkte für eine bewusste Begrenzung des Anwendungsbereichs durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC maßgeblich und welche Folgerungen aus kompetenzrechtlichen Grenzen zu ziehen sind (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 - 1 BvR 1215/07 - NJW 2013, 1499 Rn. 88 und 90; zur Entstehungsgeschichte Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, S. 643 ff.), bedarf hier keiner Klärung. Geht man von der Anwendbarkeit des Art. 47 GRC aus, ist dieser jedenfalls nicht verletzt.

38

Mit der Verpflichtung, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Rechtsverletzungen zur Verfügung zu stellen, konkretisiert Art. 47 Abs. 1 GRC den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz effektiven Rechtsschutzes (dazu vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 - Rs. C-279/09, DEB - EuZW 2011, 137 und Beschluss vom 13. Juni 2012 - Rs. C-156/12, GREP - juris ). Er hindert den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aber nicht, für die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs ein qualifiziertes Interesse des Klägers zu fordern und diese Anforderung im Sinne der soeben unter aa) und bb) (Rn. 30 und 31 ff.) dargelegten Kriterien zu konkretisieren.

39

Wie sich aus den einschlägigen unionsgerichtlichen Entscheidungen ergibt, bleibt es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen, im Rahmen der Ausgestaltung ihres Prozessrechts die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu normieren. Begrenzt wird das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Regelung solcher Zulässigkeitsvoraussetzungen durch das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Effektivitätsgebot (EuGH, Urteile vom 11. Juli 1991 - Rs. C-87/90 u.a., Verholen u.a. ./. Sociale Verzekeringsbank - Slg. 1991 I-3783 und vom 16. Juli 2009 - Rs. C-12/08, Mono Car Styling ./. Dervis Odemis u.a. - Slg. 2009 I-6653 ; Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ).

40

Das Äquivalenzprinzip verlangt eine Gleichwertigkeit der prozessrechtlichen Bedingungen für die Durchsetzung von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht (EuGH, Urteil vom 13. März 2007 - Rs. C-432/05, Unibet ./. Justitiekansler - Slg. 2005 I-2301 ). Es ist hier nicht betroffen, weil die dargelegte verfassungskonforme Konkretisierung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht danach unterscheidet, ob eine Verletzung von Unions- oder mitgliedstaatlichem Recht geltend gemacht wird.

41

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbietet eine Zulässigkeitsregelung, die das Recht auf Zugang zum Gericht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigt, ohne einem unionsrechtlich legitimen Zweck zu dienen und im Verhältnis dazu angemessen zu sein (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 a.a.O. und Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ). Hier fehlt schon eine den Wesensgehalt des Rechts selbst beeinträchtigende Rechtswegbeschränkung. Sie liegt vor, wenn dem Betroffenen der Zugang zum Gericht trotz einer Belastung durch die beanstandete Maßnahme verwehrt wird, weil die fragliche Regelung für den Zugang zum Recht ein unüberwindliches Hindernis aufrichtet (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 a.a.O. ; Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ). Danach kommt es - nicht anders als nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG - maßgeblich darauf an, dass der Betroffene eine ihn belastende Eingriffsmaßnahme gerichtlich überprüfen lassen kann. Das war hier gewährleistet, da die Untersagungsverfügung bis zu ihrer endgültigen Erledigung angefochten werden konnte und § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Fortsetzungsfeststellung ermöglichte, soweit diese noch zur Abwendung fortwirkender Nachteile von Nutzen sein konnte. Dass die Vorschrift keinen darüber hinausgehenden Anspruch auf eine Fortsetzung des Prozesses nur zum Zweck nachträglicher Rechtsklärung vorsieht, widerspricht nicht dem Wesensgehalt der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs. Unabhängig davon wäre selbst eine Beeinträchtigung des Rechts in seinem Wesensgehalt verhältnismäßig. Sie wäre geeignet, erforderlich und angemessen, die Prozessökonomie zur Verwirklichung des unionsrechtlich legitimen Ziels zügigen, effektiven Rechtsschutzes für alle Rechtssuchenden zu wahren.

42

Das Effektivitätsgebot ist ebenfalls nicht verletzt. Es fordert eine Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts, die die Ausübung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder unzumutbar erschwert (EuGH, Urteile vom 11. Juli 1991 a.a.O. und vom 13. März 2007 a.a.O. ). Bezogen auf die mitgliedstaatliche Regelung prozessualer Zulässigkeitsvoraussetzungen ergibt sich daraus, dass den Trägern unionsrechtlich begründeter Rechte gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss, der eine wirksame Kontrolle jeder Rechtsverletzung und damit die Durchsetzbarkeit des betroffenen Rechts gewährleistet. Diese Anforderungen gehen nicht über die aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleitende Gewährleistung einer gerichtlichen Überprüfbarkeit jedes Eingriffs in einem Hauptsacheverfahren hinaus. Insbesondere lässt sich aus dem Effektivitätsgebot keine Verpflichtung herleiten, eine Fortsetzung der gerichtlichen Kontrolle nach Erledigung des Eingriffs unabhängig von einem rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Nutzen für den Kläger allein unter dem Gesichtspunkt eines abstrakten Rechtsklärungsinteresses vorzusehen (vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro, in: - Rs. C-83/91, Meilicke/ADV/ORGA AG - vom 8. April 1992, Slg. 1992 I-4897 ). Das gilt erst recht, wenn die Maßnahme bereits Gegenstand einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung war und sich erst im Rechtsmittelverfahren erledigt hat.

43

An der Richtigkeit dieser Auslegung des Art. 47 Abs. 1 GRC und des unionsrechtlichen Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes bestehen unter Berücksichtigung der zitierten unionsgerichtlichen Rechtsprechung keine ernsthaften Zweifel im Sinne der acte-clair-Doktrin (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T. u.a. -, Slg. 1982, S. 3415 ). Die von der Klägerin angeregte Vorlage an den Gerichtshof ist deshalb nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht geboten.

44

d) Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich schließlich nicht aus der Präjudizwirkung der beantragten Feststellung für den von der Klägerin angestrebten Staatshaftungsprozess. Auch das Berufungsgericht hat das nicht angenommen. Ein Präjudizinteresse kann nur bestehen, wenn die beabsichtigte Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen nicht offensichtlich aussichtslos ist. Bei der Prüfung dieses Ausschlusskriteriums ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs im zivilgerichtlichen Haftungsprozess genügt nicht. Offensichtlich aussichtslos ist eine Staatshaftungsklage jedoch, wenn der geltend gemachte Anspruch unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt besteht und dies sich ohne eine ins Einzelne gehende Würdigung aufdrängt (Urteile vom 14. Januar 1980 - BVerwG 7 C 92.79 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 95 S. 27, vom 29. April 1992 - BVerwG 4 C 29.90 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 247 S. 90 und vom 8. Dezember 1995 - BVerwG 8 C 37.93 - BVerwGE 100, 83 <92> = Buchholz 454.11 WEG Nr. 7). Der Verwaltungsprozess muss nicht zur Klärung öffentlich-rechtlicher Vorfragen der Staatshaftung fortgeführt werden, wenn der Kläger daraus wegen offenkundigen Fehlens anderer Anspruchsvoraussetzungen keinen Nutzen ziehen könnte. Hier drängt sich schon ohne eine detaillierte Würdigung auf, dass der Klägerin selbst bei Rechtswidrigkeit der Untersagung keine staatshaftungsrechtlichen Ansprüche zustehen.

45

Die Voraussetzungen der Amtshaftung gemäß Art. 34 Satz 1 GG, § 839 BGB oder des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs (zu dessen Herleitung vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 1991 - Rs. C-6/90 und 9/90, Francovich u.a. - Slg. 1991 I-5357 ) liegen ersichtlich nicht vor, ohne dass es insoweit einer ins Einzelne gehenden Prüfung bedürfte. Weitere Anspruchsgrundlagen kommen nicht in Betracht.

46

aa) Für den Zeitraum vom Erlass der Untersagung bis zum Ergehen der unionsgerichtlichen Urteile zu den deutschen Sportwettenmonopolen (EuGH, Urteile vom 8. September 2010 - Rs. C-316/07 u.a., Markus Stoß u.a. - Slg. 2010 I-8069, - Rs. C-46/08, Carmen Media Group - Slg. 2010 I-8175 und - Rs. C-409/06, Winner Wetten - Slg. 2010 I-8041) scheidet ein Amtshaftungsanspruch aus, weil den Amtswaltern selbst bei Rechtswidrigkeit der zur Begründung der Untersagung herangezogenen Monopolregelung keine schuldhaft fehlerhafte Rechtsanwendung zur Last zu legen ist. Die unionsrechtliche Staatshaftung greift für diesen Zeitraum nicht ein, da ein etwaiger Verstoß gegen das Unionsrecht nicht hinreichend qualifiziert war.

47

(1) Einem Amtswalter ist auch bei fehlerhafter Rechtsanwendung regelmäßig kein Verschulden im Sinne des § 839 BGB vorzuwerfen, wenn seine Amtstätigkeit durch ein mit mehreren rechtskundigen Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht aufgrund einer nicht nur summarischen Prüfung als objektiv rechtmäßig angesehen wird (Urteil vom 17. August 2005 - BVerwG 2 C 37.04 - BVerwGE 124, 99 <105 ff.> = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 32; BGH, Urteil vom 6. Februar 1986 - III ZR 109/84 - BGHZ 97, 97 <107>). Das Verwaltungsgericht hat die angegriffene Untersagungsverfügung im Hauptsacheverfahren - unabhängig von der Wirksamkeit und Anwendbarkeit des Monopols - für rechtmäßig gehalten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bejahte seinerzeit in ständiger Rechtsprechung die Vereinbarkeit des Sportwettenmonopols mit höherrangigem Recht sowie die Rechtmäßigkeit darauf gestützter Untersagungen unerlaubter Wettvermittlung (vgl. VGH München, Urteile vom 18. Dezember 2008 - 10 BV 07.558 - ZfWG 2009, 27 und - 10 BV 07.774/775 - juris). Er hat diese Auffassung erst im Hinblick auf die im Herbst 2010 veröffentlichten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den deutschen Sportwettenmonopolen vom 8. September 2010 (a.a.O.) sowie die daran anknüpfenden Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. November 2010 (BVerwG 8 C 14.09 - BVerwGE 138, 201 = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 272, - BVerwG 8 C 15.09 - NWVBl 2011, 307 sowie - BVerwG 8 C 13.09 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 273) in einer Eilentscheidung im Frühjahr 2011 aufgegeben (VGH München, Beschluss vom 21. März 2011 - 10 AS 10.2499 - ZfWG 2011, 197 = juris Rn. 24 ff.). Die Orientierung an der berufungsgerichtlichen Rechtsprechung kann den Amtswaltern auch nicht etwa vorgeworfen werden, weil die kollegialgerichtlichen Entscheidungen bis Ende 2010 - für sie erkennbar - von einer schon im Ansatzpunkt völlig verfehlten rechtlichen Betrachtung ausgegangen wären (zu diesem Kriterium vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005 a.a.O. S. 106 f.). Hinreichend geklärt war ein etwaiger Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben jedenfalls nicht vor Ergehen der zitierten unionsgerichtlichen Entscheidungen (BGH, Urteil vom 18. Oktober 2012 - III ZR 196/11 - EuZW 2013, 194 ), die durch die nachfolgenden Urteile des Senats in Bezug auf das bayerische Monopol konkretisiert wurden. Der Gerichtshof stellte seinerzeit erstmals klar, dass die Verhältnismäßigkeit im unionsrechtlichen Sinn nicht nur eine kohärente Ausgestaltung des jeweiligen Monopolbereichs selbst, sondern darüber hinaus eine Kohärenz auch zwischen den Regelungen verschiedener Glücksspielsektoren fordert. Außerdem präzisierte er die Grenzen zulässiger, nicht auf Expansion gerichteter Werbung für die besonders umstrittene Imagewerbung.

48

(2) Im Zeitraum bis zum Herbst 2010 fehlt es auch an einem hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß, wie er für die unionsrechtliche Staatshaftung erforderlich ist. Diese setzt eine erhebliche und gleichzeitig offenkundige Verletzung des Unionsrechts voraus. Maßgeblich dafür sind unter anderem das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des durch sie belassenen Ermessensspielraums und die Frage, ob Vorsatz bezüglich des Rechtsbruchs oder des Zufügens des Schadens vorlag, sowie schließlich, ob ein Rechtsirrtum entschuldbar war (EuGH, Urteil vom 5. März 1996 - Rs. C-46 und 48/93, Brasserie du Pêcheur und Factortame - Slg. 1996 I-1029 ). Nach diesen Kriterien kann zumindest bis zu den zitierten Entscheidungen des Gerichtshofs von einer offenkundigen erheblichen Verletzung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit durch die Monopolregelung nicht die Rede sein. Mangels Harmonisierung des Glücksspielbereichs stand den Mitgliedstaaten ein weites Regelungsermessen zur Verfügung. Seine durch die Grundfreiheiten gezogenen Grenzen waren jedenfalls bis zur unionsgerichtlichen Konkretisierung der intersektoralen Kohärenz nicht so genau und klar bestimmt, dass ein etwaiger Rechtsirrtum unentschuldbar gewesen wäre.

49

bb) Für den anschließenden Zeitraum bis zur endgültigen Erledigung der angegriffenen Untersagung am 30. Juni 2012 bedarf es keiner Prüfung, ob eine schuldhaft fehlerhafte Rechtsanwendung der Behörden oder ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht zu bejahen ist. Jedenfalls fehlt offensichtlich die erforderliche Kausalität zwischen einer etwaigen Rechtsverletzung und dem möglicherweise geltend zu machenden Schaden. Das ergibt sich schon aus den allgemeinen Grundsätzen zur Kausalität von fehlerhaften Ermessensentscheidungen für einen etwaigen Schaden.

50

(1) Die Amtshaftung setzt gemäß § 839 BGB voraus, dass der Schaden durch das schuldhaft rechtswidrige Handeln des Amtsträgers verursacht wurde. Bei Ermessensentscheidungen ist das zu verneinen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch bei fehlerfreier Rechtsanwendung dieselbe zum Schaden führende Entscheidung getroffen worden wäre (BGH, Beschlüsse vom 21. Januar 1982 - III ZR 37/81 - VersR 1982, 275 und vom 30. Mai 1985 - III ZR 198/84 - VersR 1985, 887 f.; Vinke, in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 12, Stand: Sommer 2005, § 839 Rn. 176, zur Unterscheidung von der Figur rechtmäßigen Alternativverhaltens vgl. ebd. Rn. 178).

51

Die unionsrechtliche Staatshaftung greift nur bei einem unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der hinreichend qualifizierten Unionsrechtsverletzung und dem Schaden ein. Diese unionsrechtlich vorgegebene Haftungsvoraussetzung ist im mitgliedstaatlichen Recht umzusetzen (EuGH, Urteil vom 5. März 1996 a.a.O. ). Sie ist erfüllt, wenn ein unmittelbarer ursächlicher und adäquater Zusammenhang zwischen dem hinreichend qualifizierten Unionsrechtsverstoß und dem Schaden besteht (BGH, Urteil vom 24. Oktober 1996 - III ZR 127/91 - BGHZ 134, 30 <39 f.>; Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 839 Rn. 101). Bei Ermessensentscheidungen ist dieser Kausalzusammenhang nicht anders zu beurteilen als in den Fällen der Amtshaftung. Er fehlt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Schaden auch bei rechtsfehlerfreier Ermessensausübung eingetreten wäre.

52

Nach beiden Anspruchsgrundlagen käme daher eine Haftung nur in Betracht, wenn feststünde, dass der Schaden bei rechtmäßiger Ermessensausübung vermieden worden wäre. Das ist für den noch offenen Zeitraum vom Herbst 2010 bis zum 30. Juni 2012 offenkundig zu verneinen. In dieser Zeit war eine Untersagung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV zur Durchsetzung des glücksspielrechtlichen Erlaubnisvorbehalts nach § 4 Abs. 1 GlüStV ermessensfehlerfrei gemäß Art. 40 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) möglich. Es steht auch nicht fest, dass die Beklagte in Kenntnis dieser Befugnis von einer Untersagung abgesehen hätte.

53

(2) Der Erlaubnisvorbehalt selbst war unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Sportwettenmonopols verfassungskonform (BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Oktober 2008 - 1 BvR 928/08 - NVwZ 2008, 1338 ; BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - a.a.O. Rn. 73, 77 ff.) und verstieß auch nicht gegen Unionsrecht. Er diente nicht allein dem Schutz des Monopols, sondern auch unabhängig davon den verfassungs- wie unionsrechtlich legitimen Zielen des Jugend- und Spielerschutzes und der Kriminalitätsbekämpfung. Das in Art. 2 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (BayAGGlüStV) näher geregelte Erlaubnisverfahren ermöglichte die präventive Prüfung, ob unter anderem die für die Tätigkeit erforderliche persönliche Zuverlässigkeit vorlag (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BayAGGlüStV) und die in Art. 2 Abs. 1 BayAGGlüStV in Bezug genommenen Anforderungen des Jugend- und Spielerschutzes nach §§ 4 ff. GlüStV sowie die besonderen Regelungen der gewerblichen Vermittlung und des Vertriebs von Sportwetten nach §§ 19, 21 GlüStV beachtet wurden. Diese gesetzlichen Anforderungen waren im Hinblick auf das damit verfolgte Ziel verhältnismäßig und angemessen (Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - a.a.O. Rn. 80 f., 83). Darüber hinaus waren sie hinreichend bestimmt, transparent und nicht diskriminierend. Gegen etwa rechtswidrige Ablehnungsentscheidungen standen wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung (zu diesen Anforderungen vgl. EuGH, Urteile vom 9. September 2010 - Rs. C-64/08, Engelmann - Slg. 2010 I-8219 , vom 19. Juli 2012 - Rs. C-470/11, SIA Garkalns - NVwZ 2012, 1162 sowie vom 24. Januar 2013 - Rs. C-186/11 und C-209/11, Stanleybet Int. Ltd. u.a. - ZfWG 2013, 95 ).

54

(3) Weil die Klägerin nicht über die erforderliche Erlaubnis für die Veranstaltung und die Vermittlung der von ihr vertriebenen Sportwetten verfügte, war der Tatbestand der Untersagungsermächtigung offenkundig erfüllt. Art. 40 BayVwVfG ließ auch eine Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung zu. Sie entsprach dem Zweck der Norm, da die Untersagungsermächtigung dazu diente, die vorherige behördliche Prüfung der Erlaubnisfähigkeit der beabsichtigten Gewerbetätigkeit zu sichern und damit die mit einer unerlaubten Tätigkeit verbundenen Gefahren abzuwehren. Die Rechtsgrenzen des Ermessens schlossen ein Verbot ebenfalls nicht aus. Insbesondere verpflichtete das Verhältnismäßigkeitsgebot die Beklagte nicht, von einer Untersagung abzusehen und die formell illegale Tätigkeit zu dulden. Das wäre nur anzunehmen, wenn die formell illegale Tätigkeit die materiellen Erlaubnisvoraussetzungen - mit Ausnahme der möglicherweise rechtswidrigen Monopolvorschriften - erfüllte und dies für die Untersagungsbehörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung offensichtlich, d.h. ohne weitere Prüfung erkennbar war. Dann war die Untersagung nicht mehr zur Gefahrenabwehr erforderlich. Verbleibende Unklarheiten oder Zweifel an der Erfüllung der nicht monopolabhängigen Erlaubnisvoraussetzungen rechtfertigten dagegen ein Einschreiten. In diesem Fall war die Untersagung notwendig, die Klärung im Erlaubnisverfahren zu sichern und zu verhindern, dass durch die unerlaubte Tätigkeit vollendete Tatsachen geschaffen und ungeprüfte Gefahren verwirklicht wurden.

55

Aus dem Urteil des Senats vom 1. Juni 2011 (BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 55; vgl. die Parallelentscheidungen vom selben Tag - BVerwG 8 C 4.10 - ZfWG 2011, 341 und Urteile vom 11. Juli 2011 - BVerwG 8 C 11.10 und BVerwG BVerwG 8 C 12.10 - je juris Rn. 53) ergibt sich nichts anderes. Die dortige Formulierung, der Erlaubnisvorbehalt rechtfertige eine vollständige Untersagung nur bei Fehlen der Erlaubnisfähigkeit, mag Anlass zu Missverständnissen gegeben haben. Sie ist aber nicht als Verschärfung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit präventiver Untersagungen zu verstehen und behauptet keine Pflicht der Behörde, eine unerlaubte Tätigkeit bis zur Klärung ihrer Erlaubnisfähigkeit zu dulden. Das ergibt sich schon aus dem Zusammenhang der zitierten Formulierung mit der unmittelbar daran anschließenden Erwägung, bei Zweifeln hinsichtlich der Beachtung von Vorschriften über die Art und Weise der Gewerbetätigkeit kämen zunächst Nebenbestimmungen in Betracht. Dies beschränkt die Durchsetzbarkeit des glücksspielrechtlichen Erlaubnisvorbehalts nicht auf Fälle, in denen bereits feststeht, dass die materielle Erlaubnisfähigkeit endgültig und unbehebbar fehlt. Hervorgehoben wird nur, dass eine vollständige Untersagung unverhältnismäßig ist, wenn Nebenbestimmungen ausreichen, die Legalität einer im Übrigen offensichtlich erlaubnisfähigen Tätigkeit zu sichern. Das setzt zum einen den Nachweis der Erlaubnisfähigkeit im Übrigen und zum anderen einen Erlaubnisantrag voraus, da Nebenbestimmungen sonst nicht erlassen werden können. Solange nicht offensichtlich ist, dass die materielle Legalität vorliegt oder jedenfalls allein mit Nebenbestimmungen gesichert werden kann, bleibt die Untersagung zur Gefahrenabwehr erforderlich. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem vom Verwaltungsgerichtshof angeführten Urteil vom 24. November 2010 (BVerwG 8 C 13.09 a.a.O. ). Es erkennt eine Reduzierung des Untersagungsermessens zulasten des Betroffenen an, wenn feststeht, dass dessen unerlaubte Tätigkeit wesentliche Erlaubnisvoraussetzungen nicht erfüllt. Damit bietet es jedoch keine Grundlage für den - unzulässigen - Umkehrschluss, nur in diesem Fall sei eine Untersagung verhältnismäßig.

56

Die unionsgerichtliche Rechtsprechung, nach der gegen den Betroffenen keine strafrechtlichen Sanktionen wegen des Fehlens einer unionsrechtswidrig vorenthaltenen oder verweigerten Erlaubnis verhängt werden dürfen (EuGH, Urteile vom 6. März 2007 - Rs. C-338/04, Placanica u.a. - Slg. 2007 I-1932 sowie vom 16. Februar 2002 - Rs. C-72/10 und C-77/10, Costa und Cifone - EuZW 2012 275 ), schließt eine ordnungsrechtliche präventive Untersagung bis zur Klärung der - monopolunabhängigen - Erlaubnisfähigkeit ebenfalls nicht aus. Insbesondere verlangt das Unionsrecht selbst bei Rechtswidrigkeit des Monopols keine - und erst recht keine sofortige - Öffnung des Markts für alle Anbieter ohne jede präventive Kontrolle. Vielmehr steht es dem Mitgliedstaat in einer solchen Situation frei, das Monopol zu reformieren oder sich für eine Liberalisierung des Marktzugangs zu entscheiden. In der Zwischenzeit ist er lediglich verpflichtet, Erlaubnisanträge privater Anbieter nach unionsrechtskonformen Maßstäben zu prüfen und zu bescheiden (EuGH, Urteil vom 24. Januar 2013 - Rs. C-186/11 u. a., Stanleybet Int. Ltd. u.a. - a.a.O. ). Einen Anspruch auf Duldung einer unerlaubten Tätigkeit vermittelt das Unionsrecht auch bei Unanwendbarkeit der Monopolregelung nicht.

57

Keiner näheren Prüfung bedarf die Verhältnismäßigkeit der Durchsetzung des Erlaubnisvorbehalts für den Fall, dass die Betroffenen keine Möglichkeit hatten, eine Erlaubnis zu erlangen. Der Freistaat Bayern hat nämlich die Entscheidungen des Gerichtshofs vom 8. September 2010 zum Anlass genommen, das Erlaubnisverfahren nach Art. 2 BayAGGlüStV für private Anbieter und die Vermittler an diese zu öffnen. Entgegen der Auffassung der Klägerin bot diese Regelung in Verbindung mit den Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrages eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Durchführung eines Erlaubnisverfahrens. Die Zuständigkeit der Regierung der Oberpfalz ergab sich aus Art. 2 Abs. 4 Nr. 3 BayAGGlüStV. Der möglichen Rechtswidrigkeit des Sportwettenmonopols war durch Nichtanwenden der Monopol- und monopolakzessorischen Regelungen Rechnung zu tragen. Die gesetzlich normierten materiell-rechtlichen Anforderungen an das Wettangebot und dessen Vermittlung ließen sich entsprechend auf das Angebot privater Wettunternehmer und dessen Vertrieb anwenden. Einzelheiten, etwa die Richtigkeit der Konkretisierung einer solchen entsprechenden Anwendung in den im Termin zur mündlichen Verhandlung angesprochenen, im Verfahren BVerwG 8 C 15.12 vorgelegten Checklisten sowie die Frage, ob und in welcher Weise private Anbieter in das bestehende Spielersperrsystem einzubeziehen waren, müssen hier nicht erörtert werden. Aus verfassungs- und unionsrechtlicher Sicht genügt es, dass eine grundrechts- und grundfreiheitskonforme Anwendung der Vorschriften mit der Folge einer Erlaubniserteilung an private Anbieter und deren Vermittler möglich war und dass diesen gegen etwa rechtsfehlerhafte Ablehnungsentscheidungen effektiver gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stand. Der vom Berufungsgericht hervorgehobene Umstand, eine Erlaubniserteilung sei bisher nicht bekannt geworden, ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zwangsläufig auf systematische Rechtsverstöße zurückzuführen. Er kann sich auch daraus ergeben haben, dass in den zur Kenntnis des Berufungsgerichts gelangten Fällen mindestens eine wesentliche und auch nicht durch Nebenbestimmungen zu sichernde Erlaubnisvoraussetzung fehlte.

58

(4) Im vorliegenden Falle war die materielle Erlaubnisfähigkeit der unerlaubten Tätigkeit für die Behörde der Beklagten im Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht offensichtlich. Vielmehr war für sie nicht erkennbar, inwieweit die gewerbliche Sportwettenvermittlung der Klägerin den ordnungsrechtlichen Anforderungen insbesondere des Jugend- und des Spielerschutzes genügte. Die Klägerin hatte dazu keine aussagekräftigen Unterlagen vorgelegt, sondern meinte, ihre unerlaubte Tätigkeit müsse aus unionsrechtlichen Gründen hingenommen werden.

59

Nach der Verwaltungspraxis der Beklagten ist auch nicht festzustellen, dass diese die unerlaubte Tätigkeit in Kenntnis der Möglichkeit einer rechtsfehlerfreien Untersagung geduldet hätte.

60

cc) Weitere Anspruchsgrundlagen für eine Staatshaftung kommen nicht in Betracht. Eine über die Amtshaftung und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch hinausgehende Haftung für eine rechtswidrige Inanspruchnahme als Störer sieht das bayerische Landesrecht nicht vor (vgl. Art. 70 ff. des Polizeiaufgabengesetzes - BayPAG).

61

e) Andere Umstände, aus denen sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse der Klägerin ergeben könnte, sind nicht erkennbar.

Tenor

I.

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.

Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Klägerin ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch zu erhebende Fortsetzungsfeststellungsklage wegen eines Polizeieinsatzes am 1. Mai 2008 weiter.

Am 1. Mai 2008 wurden zwei Polizisten anlässlich einer Strafanzeige des Nachbarn der Klägerin wegen Sachbeschädigung auf lautes Geschrei und ein dumpfes Poltern aus der Wohnung der Klägerin, in der sich auch ihre zwei minderjährigen Söhne aufhielten, aufmerksam. Auf mehrfaches Klingeln öffnete die Klägerin die Wohnungstüre und gab an, dass alles in Ordnung sei. Als die Klägerin die Wohnungstüre wieder schließen wollte, blockierte ein Polizist die Wohnungstüre mit dem Fuß. Erst als er wahrnahm, dass die beiden Söhne der Klägerin wohlauf waren, ließ er zu, dass die Klägerin die Wohnungstüre wieder schloss. Die Polizisten befanden sich wegen der Sachbeschädigungsanzeige noch in dem Mehrfamilienhaus, in dem die Klägerin damals wohnte, als sie wieder laute Geräusche aus der Wohnung der Klägerin hörten. Sie klingelten erneut, die Klägerin ließ sie in die Wohnung. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen den Polizisten und der Klägerin, weil sie wissen wollte, ob ihr Nachbar die Polizei verständigt habe. Im Laufe dieser Auseinandersetzung alarmierte die Klägerin die polizeiliche Notrufzentrale. Gegen die Klägerin wurde ein Strafverfahren wegen Missbrauchs von Notrufen eingeleitet. Sie selbst erstattete Strafanzeige gegen die beiden Polizisten und machte gegenüber dem Polizeipräsidium Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeld geltend. Das Strafverfahren gegen die Klägerin wurde gemäß § 153 Abs. 2 VwGO eingestellt. Ihre Strafanzeigen führten nicht zur Verurteilung der Polizisten, die Schadensersatzforderungen verfolgte sie nicht weiter. Zudem beantragte sie die Löschung der zum Missbrauch von Notrufen und drei anderen Vorfällen im Kriminalaktennachweis gespeicherten Daten. Dieser Antrag wurde abgelehnt.

Am 26. Juni 2014 beantragte die Klägerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht München für den Fall der Bewilligung von Prozesskostenhilfe die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes in ihrer Wohnung in der A. Str. in M. am 1. Mai 2008 festzustellen. Es bestehe Wiederholungsgefahr, der Einsatz sei für sie und ihre Kinder demütigend gewesen, die Klage reiche sie primär aus Rehabilitationsgründen ein, sie diene aber auch der Vorbereitung eines Amtshaftungsprozesses.

Mit Beschluss vom 24. März 2015 lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Die Klägerin bezeichne schon die polizeiliche Maßnahme, gegen die sie sich wende, nicht genau. Jedenfalls bestehe aber weder ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse i. S. d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO noch ein berechtigtes Interesse i. S. d. § 43 Abs. 2 VwGO. Eine vergleichbare Konstellation wie bei der damaligen Nachschau sei nicht mehr zu erwarten. Ein Präjudizinteresse sei nicht gegeben, weil das Verwaltungshandeln sich vor der Klageerhebung zum Verwaltungsgericht erledigt habe. Ein Rehabilitierungsinteresse bestehe nicht. Die Berichte der Polizisten an das Jugendamt und das Gesundheitsamt seien nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Im Übrigen habe die Klägerin ihr Klagerecht verwirkt.

Gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München erhob die Klägerin am 18. April 2015 Beschwerde. Zur Begründung trug sie mit Schriftsatz vom 26. Mai 2015 im Wesentlichen vor, dass jeder, der Einblick in ihre Akten nehme, kein vorurteilsfreies Bild haben könne. Sie halte es für sehr wahrscheinlich, dass ihre Schwierigkeiten bei einer Stellensuche als Ballettpädagogin durch die Aktenlage über sie verursacht würden. Die Eintragungen im Kriminalaktennachweis führten ebenfalls zu einer Stigmatisierung. Eine Verwirkung liege nicht vor, sie habe die betreffenden Polizisten mehrmals angezeigt. Sie habe aufgeben müssen, weil ihre finanziellen Mittel nicht mehr ausgereicht hätten. Bei dem Polizeieinsatz am 1. Mai 2008 habe es keinen Streit gegeben. Sie habe den Notruf gewählt, weil sie sich den Polizeieinsatz nicht habe erklären können.

Ergänzend wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen. Behördenakten liegen nach Auskunft des Beklagten nicht mehr vor.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ihre beabsichtigte (Fortsetzungs-)Feststellungsklage wegen des Polizeieinsatzes in ihrer Wohnung am 1. Mai 2008 hat.

Gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält Prozesskostenhilfe, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Vorliegend bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung wegen des Polizeieinsatzes am 1. Mai 2008 keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage auf Feststellung, dass der Polizeieinsatz rechtswidrig gewesen ist, voraussichtlich bereits unzulässig ist.

Klagegegenstand einer Feststellungs- bzw. Fortsetzungsfeststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht, mit der die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes festgestellt werden soll, können nur polizeiliche Maßnahmen anlässlich dieses Polizeieinsatzes sein. Soweit sich die Klägerin im Beschwerdeverfahren auf eine Stigmatisierung durch die bezüglich ihrer Person im Kriminalaktennachweis gespeicherten Daten bzw. durch gegen sie eingeleitete Strafverfahren beruft, können diese Vorgänge kein Rehabilitierungsinteresse im Rahmen einer Feststellungsklage begründen, die sich gegen einen Polizeieinsatz richtet. Ob anlässlich der Nachschau am 1. Mai 2008 in der Wohnung der Klägerin seitens der Polizisten die Straftatbestände der Beleidigung, Nötigung o. ä. verwirklicht worden sind - wie von der Klägerin behauptet - ist von den Strafgerichten zu prüfen (Art. 12 Abs. 1 POG i. V. m. § 23 EGGVG; vgl. BayVGH, B. v. 8.3.2012 - 10 C 12.141 - juris Rn. 14).

Bezogen auf die polizeilichen Maßnahmen (das Betreten der Wohnung durch die Polizei und die Befragung durch die Polizisten) kann die Klägerin jedoch kein berechtigtes Feststellungsinteresse in Form der Wiederholungsgefahr, der beabsichtigten Erhebung einer Amtshaftungsklage oder eines Rehabilitierungsinteresses geltend machen.

Dieses Feststellungsinteresse setzt unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr die hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen erneut eine gleichartige Maßnahme ergehen wird (vgl. BayVGH, B. v. 12.5.2015 - 10 ZB 13.629 - juris Rn. 8 m. w. N.). Insoweit hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass ein vergleichbarer Sachverhalt aufgrund der veränderten Lebenssituation der Klägerin nicht mehr auftreten wird. Ursache des polizeilichen Tätigwerdens war die lautstarke Unterhaltung der Klägerin mit ihren Söhnen in der Wohnung und die Anwesenheit der Polizei in der Wohnung des Nachbarn, mit dem die Klägerin seit Jahren in einen Nachbarschaftsstreit verwickelt war. Die Klägerin ist kurz nach dem Vorfall aus der Wohnung ausgezogen, so dass das problematische Nachbarschaftsverhältnis nicht mehr besteht. Ihre Söhne sind inzwischen volljährig, der ältere Sohn lebt nicht mehr bei ihr. Im Rahmen ihrer Beschwerdebegründung beruft sich die Klägerin auch nicht mehr auf das Bestehen einer Wiederholungsgefahr.

Ebenso zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Absicht, eine Amtshaftungsklage zu erheben, kein berechtigtes Interesse für eine Feststellungsklage bilden kann, wenn sich die Maßnahme, deren Rechtswidrigkeit festgestellt werden soll, bereits vor Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage erledigt hat (Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 113 Rn. 87 m. w. N.). So verhält es sich hier, weil der der beabsichtigten Klageerhebung zugrunde liegende Polizeieinsatz bereits im Mai 2008 stattfand.

Ein Rehabilitierungsinteresse wegen der Maßnahmen der Polizei am 1. Mai 2008 kann die Klägerin ebenfalls nicht für sich in Anspruch nehmen. Ein Rehabilitierungsinteresse begründet ein Feststellungsinteresse dann, wenn es bei vernünftiger Würdigung der Umstände des Einzelfalls als schutzwürdig anzusehen ist (vgl. BVerwG, B. v. 4.10.2006 - 6 B 64.06 - juris Rn. 10). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Kläger durch die streitige Maßnahme in seinem Persönlichkeitsrecht objektiv beeinträchtigt ist (vgl. BVerwG, U. v. 4.3.1976 - 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134/138; B. v. 4.10.2006 - 6 B 64.06 - juris Rn. 10), weil diese geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder in seinem sozialen Umfeld herabzusetzen (vgl. BVerwG, U. v. 4.3.1976 - 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134/138 f.; U. v. 16.5.2013 - 8 C 14.12 - juris Rn. 25; U. v. 20.06.2013 - 8 C 39.12 - juris Rn. 24). Dabei müssen die das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigenden Wirkungen noch in der Gegenwart fortbestehen (vgl. BVerwG, U. v. 4.3.1976 - 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134/138 f.; U. v. 19.3.1992 - 5 C 44.87 - juris Rn. 9; B. v. 4.10.2006 - 6 B 64.06 - juris Rn. 10; U. v. 16.5.2013 - 8 C 14.12 - juris Rn. 25; U. v. 20.06.2013 - 8 C 39.12 - juris Rn. 24). Eine Stigmatisierung, die das Ansehen der Klägerin nachhaltig und noch in der Gegenwart fortdauernd herabgesetzt hätte, ist durch die polizeiliche Nachschau nicht erfolgt. Die Klägerin hat die Wohnungstüre jeweils selbst geöffnet. Die Befragung der Klägerin und der Wortwechsel mit den Polizisten erfolgte in der Wohnung der Klägerin. Alleine die Tatsache, dass der Nachbar oder die Nachbarn beobachtet haben könnten, dass die Polizei an der Wohnungstüre der Klägerin geklingelt hat, führt nicht dazu, dass die Klägerin in ihrem sozialen Umfeld herabgesetzt wurde. Der Nachbar, mit dem die Klägerin im Streit lag, hat die Wohnung der Klägerin nicht betreten und war so auch nicht Zeuge eines etwaigen Wortgefechts der Klägerin mit der Polizei. Auch im Beschwerdeverfahren bringt die Klägerin nichts vor, was es naheliegend erscheinen ließe, eine Stigmatisierung der Klägerin anzunehmen.

Auch ergeben sich aus dem Vorbringen der Klägerin keine Anhaltspunkte dafür, dass eine gravierende Grundrechtsverletzung vorliegen würde, die ein Feststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitierung begründen könnte. Das mit einer Grundrechtsverletzung begründete Feststellungsinteresse darf nicht dahingehend verstanden werden, dass jede Rechtsverletzung eine Rehabilitierung rechtfertigen könnte. Insoweit ist auch darauf abzustellen, ob dem Kläger eine etwaige Feststellung der Rechtswidrigkeit noch etwas nützt (Schmidt in Eyermann, a. a. O., Rn. 93). Das ist bei der Klägerin angesichts des Zeitablaufs und der veränderten Lebenssituation nicht mehr der Fall.

Da somit unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen anlässlich des Einsatzes am 1. Mai 2008 erkennbar ist, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob die Klägerin ihr Klagerecht bezüglich der polizeilichen Maßnahmen verwirkt hat. Unabhängig von einer Verwirkung können allerdings auch Fortsetzungsfeststellungsklagen, bei denen sich der Verwaltungsakt schon vor Klageerhebung erledigt hat, nicht zeitlich unbeschränkt erhoben werden. Regelmäßig gilt die Klagefrist des § 58 Abs. 2 VwGO (Schmidt in Eyermann, a. a. O., Rn. 72), die vorliegend weit überschritten ist.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil für die Zurückweisung der Beschwerde in Prozesskostenhilfeangelegenheiten nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1VwGO).

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untersagungsverfügung, mit der ihr die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung von Sportwetten verboten wurde.

2

In der G.straße ... in M. und in drei weiteren Betriebsstätten im Stadtgebiet der Beklagten vermittelte die Klägerin Sportwetten an die I. in G., die über eine dort erteilte Lizenz zur Veranstaltung von Sportwetten verfügte. Die Beklagte untersagte der Klägerin nach vorheriger Anhörung mit Verfügung vom 18. Juni 2008 die Veranstaltung, Vermittlung und Durchführung von Sportwetten sowie die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten im Internet für jede Betriebsstätte in M. Sie gab der Klägerin auf, den Betrieb mit Ablauf des 19. Juni 2008 einzustellen, und drohte ihr ein Zwangsgeld in Höhe von 25 000 € an. Die Untersagung stützte sie auf § 9 Abs. 1 Satz 2 und 3 i.V.m. § 4 Abs. 1, 2 und 4 des Glücksspielstaatsvertrages in der seinerzeit geltenden Fassung (GlüStV). Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, das Wettangebot der Klägerin erfülle den Straftatbestand unerlaubten Glücksspiels gemäß § 284 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB). Eine Erlaubnis könne wegen des staatlichen Wettmonopols nach § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV nicht erteilt werden. Bei sachgerechter Ermessensausübung komme keine andere Entscheidung als eine Untersagung in Betracht. Diese sei auch verhältnismäßig.

3

Am 23. Juni 2008 hat die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht München Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Wenige Tage später wurde bei einer Polizeikontrolle in der G.straße ... die Vermittlung von Sportwetten der I. festgestellt. Daraufhin stellte die Beklagte das Zwangsgeld fällig und verfügte die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Am 26. Juni 2008 wurde das Wettbüro der Klägerin polizeilich geschlossen und versiegelt. Dagegen erhob die Klägerin - in einem anderen Verfahren - ebenfalls Klage und bat um vorläufigen Rechtsschutz.

4

Das Verwaltungsgericht München lehnte mit Beschluss vom 3. Juli 2008 den Eilantrag betreffend die Untersagungsverfügung und die Zwangsgeldandrohung ab. Mit weiterem Beschluss vom 7. Juli 2008 ordnete es die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung unmittelbaren Zwangs unter der Auflage an, dass in der G.straße ... keine unerlaubte Sportwettenvermittlung mehr durchgeführt werde. Die Beklagte setzte das fällig gestellte Zwangsgeld vom Soll ab und hob die Versiegelung auf. Das Eilverfahren wurde nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen eingestellt; der Klage gegen die Anordnung unmittelbaren Zwangs wurde im Januar 2009 stattgegeben.

5

Die Klage gegen die Untersagungsverfügung und die Zwangsgeldandrohung hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 27. Januar 2009 abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin ihr Klagebegehren für die Zeit bis zur Berufungsentscheidung auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt und an der Anfechtung nur für den anschließenden Zeitraum festgehalten. Sie meint, ihr Feststellungsinteresse für die Vergangenheit ergebe sich aus der Versiegelung ihrer Betriebsstätte in der Zeit vom 26. Juni bis zum 8. Juli 2008 sowie aus der Absicht, unionsrechtliche Staatshaftungsansprüche geltend zu machen. Darüber hinaus bestehe eine Wiederholungsgefahr und - wegen des Vorwurfes strafrechtswidrigen Verhaltens - ein Rehabilitierungsinteresse. Die Beklagte hat in ihrer Berufungserwiderung die Auffassung vertreten, die formelle Illegalität der Vermittlung rechtfertige die Untersagung auch unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Monopols. Mit Bezug darauf hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2010 die Ermessenserwägungen des angegriffenen Bescheides ausdrücklich um Ausführungen zur - nach ihrer Ansicht fehlenden - materiellen Erlaubnisfähigkeit der Veranstaltung und Vermittlung der Sportwetten ergänzt.

6

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 12. Januar 2012 das erstinstanzliche Urteil geändert, den angefochtenen Bescheid vom 18. Juni 2008 aufgehoben und dessen Rechtswidrigkeit im Zeitraum bis zur Berufungsentscheidung festgestellt. Die in die Zukunft gerichtete, zulässige Anfechtungsklage sei begründet, weil die Untersagungsverfügung ermessensfehlerhaft sei. Sie stütze sich maßgeblich auf das staatliche Sportwettenmonopol, das seinerseits gegen Unionsrecht verstoße. Es schränke die Dienstleistungsfreiheit unverhältnismäßig ein, da es nicht den Anforderungen der Geeignetheit und dem daraus abzuleitenden Erfordernis der Kohärenz entspreche. Dass es irgendeinen Beitrag zur Verwirklichung der mit dem Monopol verfolgten Ziele leiste, reiche nicht aus. Zu fordern sei vielmehr ein glücksspielsektorenübergreifender, konzeptionell und inhaltlich aufeinander bezogener, systematischer Regelungszusammenhang, mit dem diese Ziele konsequent verfolgt würden. Daran fehle es im maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsentscheidung schon wegen der gegenläufigen Regelung des gewerblichen Automatenspiels. Die Expansionspolitik in diesem Bereich führe dazu, dass die Monopolziele der Suchtbekämpfung und des Spielerschutzes nicht mehr wirksam verfolgt werden könnten. Auf Interdependenzen zwischen den beiden Glücksspielsektoren komme es dabei nicht an. Bei einem derartig widersprüchlichen Regelungs- und Schutzkonzept sei nicht nur die Geeignetheit der Beschränkung in einem Teilsegment, sondern ihre Verhältnismäßigkeit insgesamt in den Blick zu nehmen.

7

Die Untersagungsverfügung könne auch nicht mit dem Hinweis auf die formelle Illegalität und die fehlende materielle Erlaubnisfähigkeit der Wettvermittlung aufrechterhalten werden. Eine vollständige Untersagung sei nur bei fehlender Erlaubnisfähigkeit gerechtfertigt. Außerdem stehe § 114 Satz 2 VwGO einer Berücksichtigung der nachgeschobenen Ermessenserwägungen entgegen. Diesen sei auch kein Neuerlass der Untersagungsverfügung unter konkludenter Rücknahme des Ausgangsbescheides zu entnehmen. Wegen der Rechtswidrigkeit der Untersagung könne die Zwangsgeldandrohung ebenfalls keinen Bestand haben.

8

Der Antrag, die Rechtswidrigkeit der Untersagung für die Vergangenheit festzustellen, sei zulässig und begründet. Ein berechtigtes Interesse der Klägerin an dieser Feststellung bestehe jedenfalls in Gestalt eines Rehabilitierungsinteresses. Dieses ergebe sich schon aus dem Vorwurf objektiv strafbaren Verhaltens. Im Übrigen sei ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse auch wegen des tiefgreifenden Eingriffs in die Berufsfreiheit zu bejahen, da andernfalls effektiver Rechtsschutz nicht gewährleistet sei. Auf das Vorliegen eines Präjudizinteresses komme es danach nicht an. Die Begründetheit des Fortsetzungsfeststellungsantrags ergebe sich aus den Urteilserwägungen zur Anfechtungsklage.

9

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision macht die Beteiligte geltend, der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht ein berechtigtes Feststellungsinteresse der Klägerin bejaht. Ein Rehabilitierungsinteresse scheide aus, da die Klägerin sich als juristische Person nicht strafbar machen könne. Die Untersagungsverfügung bewirke auch keinen tiefgreifenden Grundrechtseingriff, sondern erschöpfe sich in einer Berufsausübungsregelung. Materiell-rechtlich wende das Berufungsgericht das unionsrechtliche Kohärenzerfordernis unzutreffend an. Unabhängig davon werde die Untersagung auch von den nachgeschobenen Gründen getragen. Außerdem macht die Beteiligte Verfahrensmängel geltend.

10

Mit Schriftsatz vom 15. November 2012 hat die Beklagte erklärt, aus der angefochtenen Untersagungsverfügung ab dem 1. Juli 2012 keine Rechte mehr herzuleiten. Daraufhin haben die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit insoweit übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt.

11

Die Beteiligte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Januar 2012 zu ändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 27. Januar 2009 zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit noch nicht - in Bezug auf die Zeit seit dem 1. Juli 2012 - in der Hauptsache erledigt ist, sowie der Klägerin die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens insgesamt aufzuerlegen.

12

Die Beklagte schließt sich dem Revisionsvorbringen der Beteiligten an, ohne einen eigenen Antrag zu stellen.

13

Die Klägerin beantragt,

die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass anstelle der Aufhebung der Untersagungsverfügung deren Rechtswidrigkeit - auch - in der Zeit von der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs bis zum 30. Juni 2012 festgestellt wird, sowie die Kosten des Revisionsverfahrens insgesamt dem Freistaat Bayern aufzuerlegen.

14

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und meint, ein ideelles Feststellungsinteresse ergebe sich auch aus dem tiefgreifenden Eingriff in unionsrechtliche Grundfreiheiten in Verbindung mit der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs nach Art. 47 Abs. 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC). Dazu regt die Klägerin eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union an. Für die von ihr formulierte Vorlagefrage wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift verwiesen. Ferner macht die Klägerin ein Präjudizinteresse wegen unionsrechtlicher Staatshaftungsansprüche geltend. Die formelle Illegalität ihrer Tätigkeit könne ihr nicht entgegengehalten werden, weil ihr die Erlaubnis zur Vermittlung an private Wettanbieter unionsrechtswidrig vorenthalten worden sei. Ein Verneinen des Feststellungsinteresses entwerte ihren prozessualen Aufwand und bringe sie um die Früchte des mehr als vierjährigen Verfahrens. Materiell-rechtlich hält die Klägerin den Erlaubnisvorbehalt nach § 4 Abs. 1 GlüStV für unionsrechtswidrig und die Monopolregelung für inkohärent.

Entscheidungsgründe

15

Soweit die Hauptbeteiligten den Rechtsstreit mit Schriftsätzen vom 15. und 23. November 2012 übereinstimmend - bezüglich der Zeit seit dem 1. Juli 2012 - für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, war das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Einer Zustimmung des am Verfahren beteiligten Vertreters des öffentlichen Interesses bedurfte es nicht. Im Umfang der Teilerledigung sind das erstinstanzliche und das Berufungsurteil wirkungslos geworden.

16

Im Übrigen - soweit die Klägerin begehrt, die Rechtswidrigkeit der Untersagung bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts und darüber hinaus bis zum 30. Juni 2012 festzustellen - ist die zulässige Revision begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs verletzt revisibles Recht, weil es unzutreffend annimmt, die Klägerin habe gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit für den bereits abgelaufenen Zeitraum. Das Urteil beruht auch auf dieser Rechtsverletzung und erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 137 Abs. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). Bei zutreffender Rechtsanwendung hätte es die Fortsetzungsfeststellungsklage für unzulässig halten müssen. Dies führt zur Änderung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen - klagabweisenden - Urteils. Dem steht nicht entgegen, dass der Klagantrag umgestellt wurde.

17

1. In Bezug auf den noch verfahrensgegenständlichen, bereits abgelaufenen Zeitraum bis zum 30. Juni 2012 kann die Untersagungsverfügung nur mit der Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO angegriffen werden.

18

a) Zu Recht hat der Verwaltungsgerichtshof den entsprechenden Antrag der Klägerin für die Zeit bis zur Berufungsentscheidung für statthaft gehalten, da die Untersagung sich als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung grundsätzlich fortlaufend für den jeweils abgelaufenen Zeitraum erledigt. Ein Verbot wird durch Zeitablauf gegenstandslos, weil es nicht rückwirkend befolgt oder durchgesetzt werden kann. Maßnahmen zur Vollstreckung der Untersagung schließen eine Erledigung nur aus, wenn sie bei Aufhebung der Grundverfügung noch rückgängig zu machen sind. Das ist bei der Schließung der Betriebsstätte durch unmittelbaren Zwang vom 26. Juni bis zum 8. Juli 2008 nicht der Fall.

19

b) Für den Zeitraum von der Berufungsentscheidung bis zum Ablauf der Wirkung der Untersagung infolge ihrer nachträglichen Befristung zum 30. Juni 2012 hat die Klägerin ihr Anfechtungsbegehren im Revisionsverfahren zulässig auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellt. Das Verbot der Klageänderung gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht nur einer Änderung des Streitgegenstandes entgegen. Es schließt jedoch nicht aus, von der Anfechtung eines Verwaltungsakts zu einem Fortsetzungsfeststellungsantrag überzugehen. Dieser Antrag ist für die Zeit bis zum 30. Juni 2012 auch statthaft, da sich die angegriffene Untersagung bis zu diesem Tag weiter fortlaufend und mit seinem Ablauf endgültig erledigt hat. Vorher ist keine endgültige Erledigung eingetreten, weil die Klägerin ihre Betriebsstätte nach der vorübergehenden polizeilichen Schließung wieder zur Vermittlung von Pferdewetten nutzte und auch die Vermittlung von Sportwetten dort jederzeit hätte wieder aufnehmen können.

20

2. Zulässig ist die statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage allerdings nur, wenn die Klägerin ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts hat. Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position der Klägerin in den genannten Bereichen zu verbessern (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 4. März 1976 - BVerwG 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134 <137> und vom 24. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 61.06 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 24 Rn. 3). Als Sachentscheidungsvoraussetzung muss das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen. Danach kommt es hier auf den Schluss der mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz an.

21

a) Für diesen Zeitpunkt lässt sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse nicht mit einer Wiederholungsgefahr begründen. Dazu ist nicht nur die konkrete Gefahr erforderlich, dass künftig ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen wird. Darüber hinaus müssen die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sein (Urteil vom 12. Oktober 2006 - BVerwG 4 C 12.04 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 23 Rn. 8 m.w.N.). Daran fehlt es hier. Die für die Beurteilung einer glücksspielrechtlichen Untersagung maßgeblichen rechtlichen Umstände haben sich mit dem Inkrafttreten des Ersten Staatsvertrages zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 15. Dezember 2011 (BayGVBl 2012 S. 318) und dessen landesrechtlicher Umsetzung in Bayern zum 1. Juli 2012 gemäß §§ 1 und 4 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland und anderer Rechtsvorschriften vom 25. Juni 2012 (BayGVBl S. 270) grundlegend geändert. Dem steht nicht entgegen, dass der allgemeine Erlaubnisvorbehalt für die Veranstaltung und Vermittlung öffentlichen Glücksspiels nach § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV und die Ermächtigung zur Untersagung der unerlaubten Veranstaltung und Vermittlung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV fortgelten. Für die rechtliche Beurteilung einer Untersagung kommt es auch auf die Verhältnismäßigkeit des mit ihr durchgesetzten Erlaubnisvorbehalts sowie des Verbots selbst und damit auf Fragen der materiellen Erlaubnisfähigkeit des untersagten Verhaltens an (vgl. Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 55; dazu näher unten Rn. 54 f.). Insoweit ergeben sich aus den in Bayern zum 1. Juli 2012 in Kraft getretenen, § 4 GlüStV ergänzenden Spezialregelungen betreffend die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten erhebliche Unterschiede zur früheren, bis zum 30. Juni 2012 geltenden Rechtslage. Nach § 10a Abs. 1 und 2 i.V.m. §§ 4a ff. GlüStV wird das staatliche Sportwettenmonopol - zunächst für eine Experimentierphase von sieben Jahren - durch ein Konzessionssystem ersetzt. Gemäß § 10a Abs. 3 GlüStV können bundesweit bis zu 20 Wettunternehmen eine Veranstalterkonzession erhalten. Für die Konzessionäre wird das Internetverbot des § 4 Abs. 4 GlüStV, von dem ohnehin nach Absatz 5 der Vorschrift dispensiert werden darf, nach Maßgabe des § 10a Abs. 4 Satz 1 und 2 GlüStV gelockert. Die Vermittlung konzessionierter Angebote bleibt nach § 10a Abs. 5 Satz 2 GlüStV i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV erlaubnispflichtig. Die Anforderungen an die gewerbliche Spielvermittlung werden aber in § 19 i.V.m. §§ 5 bis 8 GlüStV in wesentlichen Punkten neu geregelt. So wurden die Werbebeschränkungen des § 5 GlüStV deutlich zurückgenommen (dazu im Einzelnen Beschluss vom 17. Oktober 2012 - BVerwG 8 B 47.12 - Buchholz 11 Art. 20 GG Nr. 208 Rn. 6). Andererseits enthält § 7 Abs. 1 Satz 2 GlüStV eine weitgehende Konkretisierung der zuvor nur allgemein statuierten Aufklärungspflichten. Außerdem bindet § 8 Abs. 6 GlüStV erstmals auch die Vermittler in das übergreifende Sperrsystem nach § 23 GlüStV ein. Insgesamt schließen die erheblichen Änderungen der für die materiell-rechtliche Beurteilung der Untersagung erheblichen Vorschriften es aus, von einer im Wesentlichen gleichen Rechtslage auszugehen.

22

Aus der Befristung der experimentellen Konzessionsregelung lässt sich keine konkrete Wiederholungsgefahr herleiten. Ob der Gesetzgeber das Konzessionssystem und dessen materiell-rechtliche Ausgestaltung nach Ablauf der siebenjährigen Experimentierphase auf der Grundlage der inzwischen gewonnenen Erfahrungen fortschreiben, modifizieren oder aufgeben wird, ist ungewiss. Eine Rückkehr zur alten Rechtslage ist jedenfalls nicht abzusehen.

23

b) Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist auch nicht wegen eines Rehabilitierungsinteresses der Klägerin zu bejahen. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz beruht auf der Annahme, ein solches Interesse bestehe schon wegen des Vorwurfs objektiver Strafbarkeit des untersagten Verhaltens. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

24

Allerdings fehlt ein Rehabilitierungsinteresse nicht etwa deshalb, weil die Klägerin sich als juristische Person nicht strafbar machen kann. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob der Schutzbereich des Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sich nach Art. 19 Abs. 3 GG insgesamt auf juristische Personen erstreckt. Sie können jedenfalls Ausprägungen dieses Rechts geltend machen, die nicht an die charakterliche Individualität und die Entfaltung der natürlichen Person anknüpfen, sondern wie das Recht am eigenen Wort oder das Recht auf Achtung des sozialen Geltungsanspruchs und auf Abwehr von Rufschädigungen auch Personengesamtheiten und juristischen Personen zustehen können (BVerfG, Beschluss vom 9. Oktober 2002 - 1 BvR 1611/96, 805/98 - BVerfGE 106, 28 <42 ff.>; BGH, Urteil vom 3. Juni 1986 - VI ZR 102/85 - BGHZ 98, 94 <97>). Die bloße Einschätzung eines Verhaltens als objektiv strafbar hat aber keinen den Betroffenen diskriminierenden Charakter und kann deshalb noch kein Rehabilitierungsinteresse auslösen.

25

Ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung besteht nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern (Beschlüsse vom 4. März 1976 a.a.O. S. 138 f. und vom 4. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 64.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 36 S. 4 f.). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. In der Feststellung objektiver Strafbarkeit des untersagten Verhaltens liegt noch keine Stigmatisierung. Vielmehr erschöpft sie sich in der Aussage, die unerlaubte Veranstaltung und Vermittlung der Sportwetten erfülle den objektiven Tatbestand des § 284 Abs. 1 StGB und rechtfertige deshalb ein ordnungsbehördliches Einschreiten. Damit enthält sie kein ethisches Unwerturteil, das geeignet wäre, das soziale Ansehen des Betroffenen herabzusetzen. Diese Schwelle wird erst mit dem konkreten, personenbezogenen Vorwurf eines schuldhaft-kriminellen Verhaltens überschritten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 1952 - 1 BvR 197/53 - BVerfGE 9, 167 <171> und Urteil vom 6. Juni 1967 - 2 BvR 375, 53/60 und 18/65 - BVerfGE 22, 49 <79 f.>).

26

Einen solchen Vorwurf hat die Beklagte nach der revisionsrechtlich fehlerfreien Auslegung der Untersagungsverfügung durch die Vorinstanz hier nicht erhoben. Vielmehr bleibt offen, ob angesichts der umstrittenen und seinerzeit ungeklärten Rechtslage ein Entschuldigungsgrund in Gestalt eines unvermeidbaren Verbotsirrtums vorlag (vgl. BGH, Urteil vom 16. August 2007 - 4 StR 62/07 - NJW 2007, 3078 zur Rechtslage unter dem Lotteriestaatsvertrag). Die Einschätzung, die untersagte Tätigkeit sei objektiv strafbar, hat überdies keine Außenwirkung erlangt. Der Bescheid ist nur an die Klägerin gerichtet. Eine Weitergabe an Dritte ist weder substantiiert vorgetragen worden noch aus den Akten zu ersehen.

27

Der vorübergehenden polizeilichen Schließung des Wettlokals kam zwar Außenwirkung zu, sie hatte jedoch keinen diskriminierenden Charakter. Aus dem Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme lässt sich nur ableiten, dass dem Betroffenen ein Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Vorschriften und Anordnungen vorgeworfen wird. Ein solcher Vorwurf bewirkt jedoch im Gegensatz zum Vorwurf schuldhafter Verletzung von Strafgesetzen keine Stigmatisierung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 1952 a.a.O.). Sie ergibt sich hier auch nicht aus der Art und Weise der Schließung des Lokals.

28

Nachteilige Auswirkungen der Untersagung in künftigen Verwaltungsverfahren - etwa zur Erlaubniserteilung nach aktuellem Recht - sind nach der im Termin zur mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegebenen Erklärung des Vertreters des Freistaates Bayern ebenfalls nicht zu besorgen. Danach werden Monopolverstöße dort zukünftig nicht als Anhaltspunkt für eine Unzuverlässigkeit von Konzessionsbewerbern oder Bewerbern um eine Vermittlungserlaubnis gewertet.

29

c) Entgegen dem angegriffenen Urteil lässt sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse nicht mit dem Vorliegen eines tiefgreifenden Eingriffs in die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG begründen. Die Annahme des Berufungsgerichts, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO müsse wegen der Garantie effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG in diesem Sinne ausgelegt werden, trifft nicht zu. Eine Ausweitung des Tatbestandsmerkmals des berechtigten Feststellungsinteresses über die einfach-rechtlich konkretisierten Fallgruppen des berechtigten rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Interesses (aa) hinaus verlangt Art. 19 Abs. 4 GG nur bei Eingriffsakten, die sonst wegen ihrer typischerweise kurzfristigen Erledigung regelmäßig keiner gerichtlichen Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten (bb). Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs, die ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse allein wegen der Schwere des erledigten Eingriffs in Grundrechte oder Grundfreiheiten annimmt, ist auch aus Art. 47 GRC in Verbindung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot nicht herzuleiten (cc).

30

aa) Aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und dem systematischen Zusammenhang mit § 42 VwGO ergibt sich, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden können. Nach dem Wegfall der mit dem Verwaltungsakt verbundenen Beschwer wird gerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich nur zur Verfügung gestellt, wenn der Kläger ein berechtigtes rechtliches, wirtschaftliches oder ideelles Interesse an einer nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Maßnahme hat (dazu oben Rn. 20). Das berechtigte Feststellungsinteresse geht in all diesen Fällen über das bloße Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit der Verfügung hinaus. Dies gilt unabhängig von der Intensität des erledigten Eingriffs und vom Rang der Rechte, die von ihm betroffen waren.

31

bb) Die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG differenziert ebenfalls nicht nach diesen beiden Kriterien. Sie gilt auch für einfach-rechtliche Rechtsverletzungen, die - von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen - kein Grundrecht tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte und Grundfreiheiten. Umgekehrt gebietet die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG selbst bei tiefgreifenden Eingriffen in solche Rechte nicht, ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse anzunehmen, wenn dies nicht erforderlich ist, die Effektivität des Rechtsschutzes zu sichern.

32

Effektiver Rechtsschutz verlangt, dass der Betroffene ihn belastende Eingriffsmaßnahmen in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren überprüfen lassen kann. Solange er durch den Verwaltungsakt beschwert ist, stehen ihm die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zur Verfügung. Erledigt sich der Verwaltungsakt durch Wegfall der Beschwer, wird nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO Rechtsschutz gewährt, wenn der Betroffene daran ein berechtigtes rechtliches, ideelles oder wirtschaftliches Interesse hat. In den übrigen Fällen, in denen sein Anliegen sich in der bloßen Klärung der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts erschöpft, ist ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach Art. 19 Abs. 4 GG zu bejahen, wenn andernfalls kein wirksamer Rechtsschutz gegen solche Eingriffe zu erlangen wäre. Davon ist nur bei Maßnahmen auszugehen, die sich typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden könnten. Maßgebend ist dabei, ob die kurzfristige, eine Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage ausschließende Erledigung sich aus der Eigenart des Verwaltungsakts selbst ergibt (BVerfG, Beschlüsse vom 5. Dezember 2001 - 2 BvR 527/99, 1337/00, 1777/00 - BVerfGE 104, 220 <232 f.> und vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 - BVerfGE 110, 77 <86> m.w.N).

33

Glücksspielrechtliche Untersagungsverfügungen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV zählen nicht zu den Verwaltungsakten, die sich in diesem Sinne typischerweise kurzfristig erledigen. Vielmehr sind sie als Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (Urteil vom 1. Juni 2011 - BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 19 m.w.N.) gerade auf langfristige Geltung angelegt. Dass sie sich regelmäßig fortlaufend für den bereits zurückliegenden Zeitraum erledigen, lässt ihre gegenwärtige, sich täglich neu aktualisierende Wirksamkeit und damit auch ihre Anfechtbarkeit und Überprüfbarkeit im Hauptsacheverfahren unberührt (vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2012, § 113 Rn. 85 a.E.). Änderungen der Rechtslage führen ebenfalls nicht zur Erledigung. Vielmehr ist die Untersagung anhand der jeweils aktuellen Rechtslage zu prüfen. Dass ihre Anfechtung sich regelmäßig nur auf eine Aufhebung des Verbots mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung richten kann, stellt keine Rechtsschutzbeschränkung dar. Vielmehr trägt dies dem Umstand Rechnung, dass das Verbot in der Vergangenheit keine Regelungswirkung mehr entfaltet, die aufgehoben werden könnte. Im Ausnahmefall, etwa bei einer noch rückgängig zu machenden Vollziehung der Untersagung, bleibt diese wegen ihrer Titelfunktion als Rechtsgrund der Vollziehung rückwirkend anfechtbar (Beschluss vom 25. September 2008 - BVerwG 7 C 5.08 - Buchholz 345 § 6 VwVG Nr. 1 Rn. 13; zur Vollzugsfolgenbeseitigung vgl. Urteil vom 14. März 2006 - BVerwG 1 C 11.05 - BVerwGE 125, 110 = Buchholz 402.242 § 63 AufenthG Nr. 2 Rn. 17).

34

Dass eine untypisch frühzeitige Erledigung im Einzelfall einer streitigen Hauptsacheentscheidung zuvorkommen kann, berührt Art. 19 Abs. 4 GG nicht. Die Rechtsweggarantie verbietet zwar, gesetzliche Zulässigkeitsanforderungen so auszulegen, dass ein gesetzlich eröffneter Rechtsbehelf leerläuft, weil das weitere Beschreiten des Rechtswegs unzumutbar und ohne sachliche Rechtfertigung erschwert wird (BVerfG, Beschluss vom 15. Juli 2010 - 2 BvR 1023/08 - NJW 2011, 137 m.w.N.). Einen solchen Leerlauf hat die dargestellte Konkretisierung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses aber nicht zur Folge. Ihre sachliche Rechtfertigung und die Zumutbarkeit ihrer prozessualen Konsequenzen ergeben sich daraus, dass eine großzügigere Handhabung dem Kläger mangels berechtigten rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Interesses keinen relevanten Vorteil bringen könnte und auch nicht dazu erforderlich ist, maßnahmenspezifische Rechtsschutzlücken zu vermeiden.

35

Entgegen der Auffassung der Klägerin wird deren prozessualer Aufwand mit der endgültigen Erledigung des Verfahrens, wenn kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahen ist, auch nicht entwertet. Das ursprüngliche Klageziel, die Beseitigung der Untersagung, wird infolge der zur Erledigung führenden Befristung durch das Unwirksamwerden der Verbotsverfügung mit Fristablauf erreicht. Das prozessuale Vorbringen zur Zulässigkeit und Begründetheit der Klage im Zeitpunkt der Erledigung kann sich bei der Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO zugunsten der Klägerin auswirken. Eine Hauptsacheentscheidung in jedem Einzelfall oder gar ein vollständiger Instanzenzug wird durch Art. 19 Abs. 4 GG nicht gewährleistet.

36

cc) Aus der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 47 GRC ergibt sich keine Verpflichtung, das Merkmal des berechtigten Interesses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO weiter auszulegen.

37

Allerdings ist nach der unionsgerichtlichen Rechtsprechung davon auszugehen, dass der sachliche Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC eröffnet ist, weil die Klägerin Rechtsschutz wegen einer Beschränkung ihrer Dienstleistungsfreiheit begehrt. Zur mitgliedstaatlichen Durchführung des Unionsrechts im Sinne der Vorschrift rechnet der Gerichtshof nicht nur Umsetzungsakte im Sinne eines unionsrechtlich - zumindest teilweise - determinierten Vollzugs, sondern auch mitgliedstaatliche Eingriffe in Grundfreiheiten nach Maßgabe der allgemeinen unionsrechtlichen Schrankenvorbehalte. An dieser Rechtsprechung, die vor Inkrafttreten der Charta zur Abgrenzung des Anwendungsbereichs unionsrechtlicher Grundrechte als allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts entwickelt wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 1991 - Rs. C-260/89, ERT - Slg. 1991 I-2951 ), hält der Gerichtshof weiterhin fest. Er geht von einer mitgliedstaatlichen Bindung an die Unionsgrundrechte im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts aus und verweist dazu auf die Erläuterungen zu Art. 51 GRC, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigen sind (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 - Rs. C-617/10, Akerberg Fransson - EuZW 2013, 302 ). Wie diese Abgrenzungsformel im Einzelnen zu verstehen ist, inwieweit bei ihrer Konkretisierung grammatische und entstehungsgeschichtliche Anhaltspunkte für eine bewusste Begrenzung des Anwendungsbereichs durch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC maßgeblich und welche Folgerungen aus kompetenzrechtlichen Grenzen zu ziehen sind (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 - 1 BvR 1215/07 - NJW 2013, 1499 Rn. 88 und 90; zur Entstehungsgeschichte Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, S. 643 ff.), bedarf hier keiner Klärung. Geht man von der Anwendbarkeit des Art. 47 GRC aus, ist dieser jedenfalls nicht verletzt.

38

Mit der Verpflichtung, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Rechtsverletzungen zur Verfügung zu stellen, konkretisiert Art. 47 Abs. 1 GRC den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz effektiven Rechtsschutzes (dazu vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 - Rs. C-279/09, DEB - EuZW 2011, 137 und Beschluss vom 13. Juni 2012 - Rs. C-156/12, GREP - juris ). Er hindert den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aber nicht, für die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs ein qualifiziertes Interesse des Klägers zu fordern und diese Anforderung im Sinne der soeben unter aa) und bb) (Rn. 30 und 31 ff.) dargelegten Kriterien zu konkretisieren.

39

Wie sich aus den einschlägigen unionsgerichtlichen Entscheidungen ergibt, bleibt es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen, im Rahmen der Ausgestaltung ihres Prozessrechts die Klagebefugnis und das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen zu normieren. Begrenzt wird das mitgliedstaatliche Ermessen bei der Regelung solcher Zulässigkeitsvoraussetzungen durch das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Effektivitätsgebot (EuGH, Urteile vom 11. Juli 1991 - Rs. C-87/90 u.a., Verholen u.a. ./. Sociale Verzekeringsbank - Slg. 1991 I-3783 und vom 16. Juli 2009 - Rs. C-12/08, Mono Car Styling ./. Dervis Odemis u.a. - Slg. 2009 I-6653 ; Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ).

40

Das Äquivalenzprinzip verlangt eine Gleichwertigkeit der prozessrechtlichen Bedingungen für die Durchsetzung von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht (EuGH, Urteil vom 13. März 2007 - Rs. C-432/05, Unibet ./. Justitiekansler - Slg. 2005 I-2301 ). Es ist hier nicht betroffen, weil die dargelegte verfassungskonforme Konkretisierung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO nicht danach unterscheidet, ob eine Verletzung von Unions- oder mitgliedstaatlichem Recht geltend gemacht wird.

41

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbietet eine Zulässigkeitsregelung, die das Recht auf Zugang zum Gericht in seinem Wesensgehalt selbst beeinträchtigt, ohne einem unionsrechtlich legitimen Zweck zu dienen und im Verhältnis dazu angemessen zu sein (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 a.a.O. und Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ). Hier fehlt schon eine den Wesensgehalt des Rechts selbst beeinträchtigende Rechtswegbeschränkung. Sie liegt vor, wenn dem Betroffenen der Zugang zum Gericht trotz einer Belastung durch die beanstandete Maßnahme verwehrt wird, weil die fragliche Regelung für den Zugang zum Recht ein unüberwindliches Hindernis aufrichtet (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 a.a.O. ; Beschluss vom 13. Juni 2012 a.a.O. ). Danach kommt es - nicht anders als nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG - maßgeblich darauf an, dass der Betroffene eine ihn belastende Eingriffsmaßnahme gerichtlich überprüfen lassen kann. Das war hier gewährleistet, da die Untersagungsverfügung bis zu ihrer endgültigen Erledigung angefochten werden konnte und § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Fortsetzungsfeststellung ermöglichte, soweit diese noch zur Abwendung fortwirkender Nachteile von Nutzen sein konnte. Dass die Vorschrift keinen darüber hinausgehenden Anspruch auf eine Fortsetzung des Prozesses nur zum Zweck nachträglicher Rechtsklärung vorsieht, widerspricht nicht dem Wesensgehalt der Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs. Unabhängig davon wäre selbst eine Beeinträchtigung des Rechts in seinem Wesensgehalt verhältnismäßig. Sie wäre geeignet, erforderlich und angemessen, die Prozessökonomie zur Verwirklichung des unionsrechtlich legitimen Ziels zügigen, effektiven Rechtsschutzes für alle Rechtssuchenden zu wahren.

42

Das Effektivitätsgebot ist ebenfalls nicht verletzt. Es fordert eine Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts, die die Ausübung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte nicht praktisch unmöglich macht oder unzumutbar erschwert (EuGH, Urteile vom 11. Juli 1991 a.a.O. und vom 13. März 2007 a.a.O. ). Bezogen auf die mitgliedstaatliche Regelung prozessualer Zulässigkeitsvoraussetzungen ergibt sich daraus, dass den Trägern unionsrechtlich begründeter Rechte gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss, der eine wirksame Kontrolle jeder Rechtsverletzung und damit die Durchsetzbarkeit des betroffenen Rechts gewährleistet. Diese Anforderungen gehen nicht über die aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleitende Gewährleistung einer gerichtlichen Überprüfbarkeit jedes Eingriffs in einem Hauptsacheverfahren hinaus. Insbesondere lässt sich aus dem Effektivitätsgebot keine Verpflichtung herleiten, eine Fortsetzung der gerichtlichen Kontrolle nach Erledigung des Eingriffs unabhängig von einem rechtlichen, ideellen oder wirtschaftlichen Nutzen für den Kläger allein unter dem Gesichtspunkt eines abstrakten Rechtsklärungsinteresses vorzusehen (vgl. die Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro, in: - Rs. C-83/91, Meilicke/ADV/ORGA AG - vom 8. April 1992, Slg. 1992 I-4897 ). Das gilt erst recht, wenn die Maßnahme bereits Gegenstand einer gerichtlichen Hauptsacheentscheidung war und sich erst im Rechtsmittelverfahren erledigt hat.

43

An der Richtigkeit dieser Auslegung des Art. 47 Abs. 1 GRC und des unionsrechtlichen Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes bestehen unter Berücksichtigung der zitierten unionsgerichtlichen Rechtsprechung keine ernsthaften Zweifel im Sinne der acte-clair-Doktrin (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T. u.a. -, Slg. 1982, S. 3415 ). Die von der Klägerin angeregte Vorlage an den Gerichtshof ist deshalb nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) nicht geboten.

44

d) Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich schließlich nicht aus der Präjudizwirkung der beantragten Feststellung für den von der Klägerin angestrebten Staatshaftungsprozess. Auch das Berufungsgericht hat das nicht angenommen. Ein Präjudizinteresse kann nur bestehen, wenn die beabsichtigte Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen nicht offensichtlich aussichtslos ist. Bei der Prüfung dieses Ausschlusskriteriums ist ein strenger Maßstab anzulegen. Die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs im zivilgerichtlichen Haftungsprozess genügt nicht. Offensichtlich aussichtslos ist eine Staatshaftungsklage jedoch, wenn der geltend gemachte Anspruch unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt besteht und dies sich ohne eine ins Einzelne gehende Würdigung aufdrängt (Urteile vom 14. Januar 1980 - BVerwG 7 C 92.79 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 95 S. 27, vom 29. April 1992 - BVerwG 4 C 29.90 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 247 S. 90 und vom 8. Dezember 1995 - BVerwG 8 C 37.93 - BVerwGE 100, 83 <92> = Buchholz 454.11 WEG Nr. 7). Der Verwaltungsprozess muss nicht zur Klärung öffentlich-rechtlicher Vorfragen der Staatshaftung fortgeführt werden, wenn der Kläger daraus wegen offenkundigen Fehlens anderer Anspruchsvoraussetzungen keinen Nutzen ziehen könnte. Hier drängt sich schon ohne eine detaillierte Würdigung auf, dass der Klägerin selbst bei Rechtswidrigkeit der Untersagung keine staatshaftungsrechtlichen Ansprüche zustehen.

45

Die Voraussetzungen der Amtshaftung gemäß Art. 34 Satz 1 GG, § 839 BGB oder des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs (zu dessen Herleitung vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 1991 - Rs. C-6/90 und 9/90, Francovich u.a. - Slg. 1991 I-5357 ) liegen ersichtlich nicht vor, ohne dass es insoweit einer ins Einzelne gehenden Prüfung bedürfte. Weitere Anspruchsgrundlagen kommen nicht in Betracht.

46

aa) Für den Zeitraum vom Erlass der Untersagung bis zum Ergehen der unionsgerichtlichen Urteile zu den deutschen Sportwettenmonopolen (EuGH, Urteile vom 8. September 2010 - Rs. C-316/07 u.a., Markus Stoß u.a. - Slg. 2010 I-8069, - Rs. C-46/08, Carmen Media Group - Slg. 2010 I-8175 und - Rs. C-409/06, Winner Wetten - Slg. 2010 I-8041) scheidet ein Amtshaftungsanspruch aus, weil den Amtswaltern selbst bei Rechtswidrigkeit der zur Begründung der Untersagung herangezogenen Monopolregelung keine schuldhaft fehlerhafte Rechtsanwendung zur Last zu legen ist. Die unionsrechtliche Staatshaftung greift für diesen Zeitraum nicht ein, da ein etwaiger Verstoß gegen das Unionsrecht nicht hinreichend qualifiziert war.

47

(1) Einem Amtswalter ist auch bei fehlerhafter Rechtsanwendung regelmäßig kein Verschulden im Sinne des § 839 BGB vorzuwerfen, wenn seine Amtstätigkeit durch ein mit mehreren rechtskundigen Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht aufgrund einer nicht nur summarischen Prüfung als objektiv rechtmäßig angesehen wird (Urteil vom 17. August 2005 - BVerwG 2 C 37.04 - BVerwGE 124, 99 <105 ff.> = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 32; BGH, Urteil vom 6. Februar 1986 - III ZR 109/84 - BGHZ 97, 97 <107>). Das Verwaltungsgericht hat die angegriffene Untersagungsverfügung im Hauptsacheverfahren - unabhängig von der Wirksamkeit und Anwendbarkeit des Monopols - für rechtmäßig gehalten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bejahte seinerzeit in ständiger Rechtsprechung die Vereinbarkeit des Sportwettenmonopols mit höherrangigem Recht sowie die Rechtmäßigkeit darauf gestützter Untersagungen unerlaubter Wettvermittlung (vgl. VGH München, Urteile vom 18. Dezember 2008 - 10 BV 07.558 - ZfWG 2009, 27 und - 10 BV 07.774/775 - juris). Er hat diese Auffassung erst im Hinblick auf die im Herbst 2010 veröffentlichten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den deutschen Sportwettenmonopolen vom 8. September 2010 (a.a.O.) sowie die daran anknüpfenden Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. November 2010 (BVerwG 8 C 14.09 - BVerwGE 138, 201 = Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 272, - BVerwG 8 C 15.09 - NWVBl 2011, 307 sowie - BVerwG 8 C 13.09 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 273) in einer Eilentscheidung im Frühjahr 2011 aufgegeben (VGH München, Beschluss vom 21. März 2011 - 10 AS 10.2499 - ZfWG 2011, 197 = juris Rn. 24 ff.). Die Orientierung an der berufungsgerichtlichen Rechtsprechung kann den Amtswaltern auch nicht etwa vorgeworfen werden, weil die kollegialgerichtlichen Entscheidungen bis Ende 2010 - für sie erkennbar - von einer schon im Ansatzpunkt völlig verfehlten rechtlichen Betrachtung ausgegangen wären (zu diesem Kriterium vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 2005 a.a.O. S. 106 f.). Hinreichend geklärt war ein etwaiger Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben jedenfalls nicht vor Ergehen der zitierten unionsgerichtlichen Entscheidungen (BGH, Urteil vom 18. Oktober 2012 - III ZR 196/11 - EuZW 2013, 194 ), die durch die nachfolgenden Urteile des Senats in Bezug auf das bayerische Monopol konkretisiert wurden. Der Gerichtshof stellte seinerzeit erstmals klar, dass die Verhältnismäßigkeit im unionsrechtlichen Sinn nicht nur eine kohärente Ausgestaltung des jeweiligen Monopolbereichs selbst, sondern darüber hinaus eine Kohärenz auch zwischen den Regelungen verschiedener Glücksspielsektoren fordert. Außerdem präzisierte er die Grenzen zulässiger, nicht auf Expansion gerichteter Werbung für die besonders umstrittene Imagewerbung.

48

(2) Im Zeitraum bis zum Herbst 2010 fehlt es auch an einem hinreichend qualifizierten Rechtsverstoß, wie er für die unionsrechtliche Staatshaftung erforderlich ist. Diese setzt eine erhebliche und gleichzeitig offenkundige Verletzung des Unionsrechts voraus. Maßgeblich dafür sind unter anderem das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des durch sie belassenen Ermessensspielraums und die Frage, ob Vorsatz bezüglich des Rechtsbruchs oder des Zufügens des Schadens vorlag, sowie schließlich, ob ein Rechtsirrtum entschuldbar war (EuGH, Urteil vom 5. März 1996 - Rs. C-46 und 48/93, Brasserie du Pêcheur und Factortame - Slg. 1996 I-1029 ). Nach diesen Kriterien kann zumindest bis zu den zitierten Entscheidungen des Gerichtshofs von einer offenkundigen erheblichen Verletzung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit durch die Monopolregelung nicht die Rede sein. Mangels Harmonisierung des Glücksspielbereichs stand den Mitgliedstaaten ein weites Regelungsermessen zur Verfügung. Seine durch die Grundfreiheiten gezogenen Grenzen waren jedenfalls bis zur unionsgerichtlichen Konkretisierung der intersektoralen Kohärenz nicht so genau und klar bestimmt, dass ein etwaiger Rechtsirrtum unentschuldbar gewesen wäre.

49

bb) Für den anschließenden Zeitraum bis zur endgültigen Erledigung der angegriffenen Untersagung am 30. Juni 2012 bedarf es keiner Prüfung, ob eine schuldhaft fehlerhafte Rechtsanwendung der Behörden oder ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht zu bejahen ist. Jedenfalls fehlt offensichtlich die erforderliche Kausalität zwischen einer etwaigen Rechtsverletzung und dem möglicherweise geltend zu machenden Schaden. Das ergibt sich schon aus den allgemeinen Grundsätzen zur Kausalität von fehlerhaften Ermessensentscheidungen für einen etwaigen Schaden.

50

(1) Die Amtshaftung setzt gemäß § 839 BGB voraus, dass der Schaden durch das schuldhaft rechtswidrige Handeln des Amtsträgers verursacht wurde. Bei Ermessensentscheidungen ist das zu verneinen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch bei fehlerfreier Rechtsanwendung dieselbe zum Schaden führende Entscheidung getroffen worden wäre (BGH, Beschlüsse vom 21. Januar 1982 - III ZR 37/81 - VersR 1982, 275 und vom 30. Mai 1985 - III ZR 198/84 - VersR 1985, 887 f.; Vinke, in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 12, Stand: Sommer 2005, § 839 Rn. 176, zur Unterscheidung von der Figur rechtmäßigen Alternativverhaltens vgl. ebd. Rn. 178).

51

Die unionsrechtliche Staatshaftung greift nur bei einem unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der hinreichend qualifizierten Unionsrechtsverletzung und dem Schaden ein. Diese unionsrechtlich vorgegebene Haftungsvoraussetzung ist im mitgliedstaatlichen Recht umzusetzen (EuGH, Urteil vom 5. März 1996 a.a.O. ). Sie ist erfüllt, wenn ein unmittelbarer ursächlicher und adäquater Zusammenhang zwischen dem hinreichend qualifizierten Unionsrechtsverstoß und dem Schaden besteht (BGH, Urteil vom 24. Oktober 1996 - III ZR 127/91 - BGHZ 134, 30 <39 f.>; Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009, § 839 Rn. 101). Bei Ermessensentscheidungen ist dieser Kausalzusammenhang nicht anders zu beurteilen als in den Fällen der Amtshaftung. Er fehlt, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Schaden auch bei rechtsfehlerfreier Ermessensausübung eingetreten wäre.

52

Nach beiden Anspruchsgrundlagen käme daher eine Haftung nur in Betracht, wenn feststünde, dass der Schaden bei rechtmäßiger Ermessensausübung vermieden worden wäre. Das ist für den noch offenen Zeitraum vom Herbst 2010 bis zum 30. Juni 2012 offenkundig zu verneinen. In dieser Zeit war eine Untersagung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV zur Durchsetzung des glücksspielrechtlichen Erlaubnisvorbehalts nach § 4 Abs. 1 GlüStV ermessensfehlerfrei gemäß Art. 40 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) möglich. Es steht auch nicht fest, dass die Beklagte in Kenntnis dieser Befugnis von einer Untersagung abgesehen hätte.

53

(2) Der Erlaubnisvorbehalt selbst war unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Sportwettenmonopols verfassungskonform (BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Oktober 2008 - 1 BvR 928/08 - NVwZ 2008, 1338 ; BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - a.a.O. Rn. 73, 77 ff.) und verstieß auch nicht gegen Unionsrecht. Er diente nicht allein dem Schutz des Monopols, sondern auch unabhängig davon den verfassungs- wie unionsrechtlich legitimen Zielen des Jugend- und Spielerschutzes und der Kriminalitätsbekämpfung. Das in Art. 2 des Bayerischen Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (BayAGGlüStV) näher geregelte Erlaubnisverfahren ermöglichte die präventive Prüfung, ob unter anderem die für die Tätigkeit erforderliche persönliche Zuverlässigkeit vorlag (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BayAGGlüStV) und die in Art. 2 Abs. 1 BayAGGlüStV in Bezug genommenen Anforderungen des Jugend- und Spielerschutzes nach §§ 4 ff. GlüStV sowie die besonderen Regelungen der gewerblichen Vermittlung und des Vertriebs von Sportwetten nach §§ 19, 21 GlüStV beachtet wurden. Diese gesetzlichen Anforderungen waren im Hinblick auf das damit verfolgte Ziel verhältnismäßig und angemessen (Urteil vom 24. November 2010 - BVerwG 8 C 13.09 - a.a.O. Rn. 80 f., 83). Darüber hinaus waren sie hinreichend bestimmt, transparent und nicht diskriminierend. Gegen etwa rechtswidrige Ablehnungsentscheidungen standen wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung (zu diesen Anforderungen vgl. EuGH, Urteile vom 9. September 2010 - Rs. C-64/08, Engelmann - Slg. 2010 I-8219 , vom 19. Juli 2012 - Rs. C-470/11, SIA Garkalns - NVwZ 2012, 1162 sowie vom 24. Januar 2013 - Rs. C-186/11 und C-209/11, Stanleybet Int. Ltd. u.a. - ZfWG 2013, 95 ).

54

(3) Weil die Klägerin nicht über die erforderliche Erlaubnis für die Veranstaltung und die Vermittlung der von ihr vertriebenen Sportwetten verfügte, war der Tatbestand der Untersagungsermächtigung offenkundig erfüllt. Art. 40 BayVwVfG ließ auch eine Ermessensausübung im Sinne einer Untersagung zu. Sie entsprach dem Zweck der Norm, da die Untersagungsermächtigung dazu diente, die vorherige behördliche Prüfung der Erlaubnisfähigkeit der beabsichtigten Gewerbetätigkeit zu sichern und damit die mit einer unerlaubten Tätigkeit verbundenen Gefahren abzuwehren. Die Rechtsgrenzen des Ermessens schlossen ein Verbot ebenfalls nicht aus. Insbesondere verpflichtete das Verhältnismäßigkeitsgebot die Beklagte nicht, von einer Untersagung abzusehen und die formell illegale Tätigkeit zu dulden. Das wäre nur anzunehmen, wenn die formell illegale Tätigkeit die materiellen Erlaubnisvoraussetzungen - mit Ausnahme der möglicherweise rechtswidrigen Monopolvorschriften - erfüllte und dies für die Untersagungsbehörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung offensichtlich, d.h. ohne weitere Prüfung erkennbar war. Dann war die Untersagung nicht mehr zur Gefahrenabwehr erforderlich. Verbleibende Unklarheiten oder Zweifel an der Erfüllung der nicht monopolabhängigen Erlaubnisvoraussetzungen rechtfertigten dagegen ein Einschreiten. In diesem Fall war die Untersagung notwendig, die Klärung im Erlaubnisverfahren zu sichern und zu verhindern, dass durch die unerlaubte Tätigkeit vollendete Tatsachen geschaffen und ungeprüfte Gefahren verwirklicht wurden.

55

Aus dem Urteil des Senats vom 1. Juni 2011 (BVerwG 8 C 2.10 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 276 Rn. 55; vgl. die Parallelentscheidungen vom selben Tag - BVerwG 8 C 4.10 - ZfWG 2011, 341 und Urteile vom 11. Juli 2011 - BVerwG 8 C 11.10 und BVerwG BVerwG 8 C 12.10 - je juris Rn. 53) ergibt sich nichts anderes. Die dortige Formulierung, der Erlaubnisvorbehalt rechtfertige eine vollständige Untersagung nur bei Fehlen der Erlaubnisfähigkeit, mag Anlass zu Missverständnissen gegeben haben. Sie ist aber nicht als Verschärfung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit präventiver Untersagungen zu verstehen und behauptet keine Pflicht der Behörde, eine unerlaubte Tätigkeit bis zur Klärung ihrer Erlaubnisfähigkeit zu dulden. Das ergibt sich schon aus dem Zusammenhang der zitierten Formulierung mit der unmittelbar daran anschließenden Erwägung, bei Zweifeln hinsichtlich der Beachtung von Vorschriften über die Art und Weise der Gewerbetätigkeit kämen zunächst Nebenbestimmungen in Betracht. Dies beschränkt die Durchsetzbarkeit des glücksspielrechtlichen Erlaubnisvorbehalts nicht auf Fälle, in denen bereits feststeht, dass die materielle Erlaubnisfähigkeit endgültig und unbehebbar fehlt. Hervorgehoben wird nur, dass eine vollständige Untersagung unverhältnismäßig ist, wenn Nebenbestimmungen ausreichen, die Legalität einer im Übrigen offensichtlich erlaubnisfähigen Tätigkeit zu sichern. Das setzt zum einen den Nachweis der Erlaubnisfähigkeit im Übrigen und zum anderen einen Erlaubnisantrag voraus, da Nebenbestimmungen sonst nicht erlassen werden können. Solange nicht offensichtlich ist, dass die materielle Legalität vorliegt oder jedenfalls allein mit Nebenbestimmungen gesichert werden kann, bleibt die Untersagung zur Gefahrenabwehr erforderlich. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem vom Verwaltungsgerichtshof angeführten Urteil vom 24. November 2010 (BVerwG 8 C 13.09 a.a.O. ). Es erkennt eine Reduzierung des Untersagungsermessens zulasten des Betroffenen an, wenn feststeht, dass dessen unerlaubte Tätigkeit wesentliche Erlaubnisvoraussetzungen nicht erfüllt. Damit bietet es jedoch keine Grundlage für den - unzulässigen - Umkehrschluss, nur in diesem Fall sei eine Untersagung verhältnismäßig.

56

Die unionsgerichtliche Rechtsprechung, nach der gegen den Betroffenen keine strafrechtlichen Sanktionen wegen des Fehlens einer unionsrechtswidrig vorenthaltenen oder verweigerten Erlaubnis verhängt werden dürfen (EuGH, Urteile vom 6. März 2007 - Rs. C-338/04, Placanica u.a. - Slg. 2007 I-1932 sowie vom 16. Februar 2002 - Rs. C-72/10 und C-77/10, Costa und Cifone - EuZW 2012 275 ), schließt eine ordnungsrechtliche präventive Untersagung bis zur Klärung der - monopolunabhängigen - Erlaubnisfähigkeit ebenfalls nicht aus. Insbesondere verlangt das Unionsrecht selbst bei Rechtswidrigkeit des Monopols keine - und erst recht keine sofortige - Öffnung des Markts für alle Anbieter ohne jede präventive Kontrolle. Vielmehr steht es dem Mitgliedstaat in einer solchen Situation frei, das Monopol zu reformieren oder sich für eine Liberalisierung des Marktzugangs zu entscheiden. In der Zwischenzeit ist er lediglich verpflichtet, Erlaubnisanträge privater Anbieter nach unionsrechtskonformen Maßstäben zu prüfen und zu bescheiden (EuGH, Urteil vom 24. Januar 2013 - Rs. C-186/11 u. a., Stanleybet Int. Ltd. u.a. - a.a.O. ). Einen Anspruch auf Duldung einer unerlaubten Tätigkeit vermittelt das Unionsrecht auch bei Unanwendbarkeit der Monopolregelung nicht.

57

Keiner näheren Prüfung bedarf die Verhältnismäßigkeit der Durchsetzung des Erlaubnisvorbehalts für den Fall, dass die Betroffenen keine Möglichkeit hatten, eine Erlaubnis zu erlangen. Der Freistaat Bayern hat nämlich die Entscheidungen des Gerichtshofs vom 8. September 2010 zum Anlass genommen, das Erlaubnisverfahren nach Art. 2 BayAGGlüStV für private Anbieter und die Vermittler an diese zu öffnen. Entgegen der Auffassung der Klägerin bot diese Regelung in Verbindung mit den Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrages eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Durchführung eines Erlaubnisverfahrens. Die Zuständigkeit der Regierung der Oberpfalz ergab sich aus Art. 2 Abs. 4 Nr. 3 BayAGGlüStV. Der möglichen Rechtswidrigkeit des Sportwettenmonopols war durch Nichtanwenden der Monopol- und monopolakzessorischen Regelungen Rechnung zu tragen. Die gesetzlich normierten materiell-rechtlichen Anforderungen an das Wettangebot und dessen Vermittlung ließen sich entsprechend auf das Angebot privater Wettunternehmer und dessen Vertrieb anwenden. Einzelheiten, etwa die Richtigkeit der Konkretisierung einer solchen entsprechenden Anwendung in den im Termin zur mündlichen Verhandlung angesprochenen, im Verfahren BVerwG 8 C 15.12 vorgelegten Checklisten sowie die Frage, ob und in welcher Weise private Anbieter in das bestehende Spielersperrsystem einzubeziehen waren, müssen hier nicht erörtert werden. Aus verfassungs- und unionsrechtlicher Sicht genügt es, dass eine grundrechts- und grundfreiheitskonforme Anwendung der Vorschriften mit der Folge einer Erlaubniserteilung an private Anbieter und deren Vermittler möglich war und dass diesen gegen etwa rechtsfehlerhafte Ablehnungsentscheidungen effektiver gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stand. Der vom Berufungsgericht hervorgehobene Umstand, eine Erlaubniserteilung sei bisher nicht bekannt geworden, ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zwangsläufig auf systematische Rechtsverstöße zurückzuführen. Er kann sich auch daraus ergeben haben, dass in den zur Kenntnis des Berufungsgerichts gelangten Fällen mindestens eine wesentliche und auch nicht durch Nebenbestimmungen zu sichernde Erlaubnisvoraussetzung fehlte.

58

(4) Im vorliegenden Falle war die materielle Erlaubnisfähigkeit der unerlaubten Tätigkeit für die Behörde der Beklagten im Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht offensichtlich. Vielmehr war für sie nicht erkennbar, inwieweit die gewerbliche Sportwettenvermittlung der Klägerin den ordnungsrechtlichen Anforderungen insbesondere des Jugend- und des Spielerschutzes genügte. Die Klägerin hatte dazu keine aussagekräftigen Unterlagen vorgelegt, sondern meinte, ihre unerlaubte Tätigkeit müsse aus unionsrechtlichen Gründen hingenommen werden.

59

Nach der Verwaltungspraxis der Beklagten ist auch nicht festzustellen, dass diese die unerlaubte Tätigkeit in Kenntnis der Möglichkeit einer rechtsfehlerfreien Untersagung geduldet hätte.

60

cc) Weitere Anspruchsgrundlagen für eine Staatshaftung kommen nicht in Betracht. Eine über die Amtshaftung und den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch hinausgehende Haftung für eine rechtswidrige Inanspruchnahme als Störer sieht das bayerische Landesrecht nicht vor (vgl. Art. 70 ff. des Polizeiaufgabengesetzes - BayPAG).

61

e) Andere Umstände, aus denen sich ein berechtigtes Feststellungsinteresse der Klägerin ergeben könnte, sind nicht erkennbar.

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

Tenor

1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 14. August 2009 - 219j XIV 41031/09 -, des Landgerichts Hamburg vom 22. September 2009 - 329 T 52/09 - und des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 - 2 Wx 111/09 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit sie die Haftantragstellung durch die Hamburger Ausländerbehörde betreffen.

2. Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts wird aufgehoben und die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.

3. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

4. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

5. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Gebots zur Beachtung der Formvorschriften in Freiheitsentziehungsverfahren.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Nach einem erfolglosen Asylantrag und einer Zurückschiebung nach Dänemark im Jahre 2002 reiste er 2009 erneut nach Deutschland ein. Am 27. Juli 2009 wurde er in Hamburg vorläufig festgenommen. Wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts wurde gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, in welchem am 28. Juli 2009 Haftbefehl erging.

3

2. Die aufgrund des früheren Asylantrages des Beschwerdeführers zuständige Ausländerbehörde des Kreises U. bat die Hamburger Ausländerbehörde mit Schreiben vom 3. August 2009, "die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten". Auf Antrag der Hamburger Ausländerbehörde ordnete das Amtsgericht Hamburg gegen den Beschwerdeführer daraufhin mit Beschluss vom 14. August 2009 die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG an.

4

3. Gegen die Anordnung der Sicherungshaft legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, in welcher er unter anderem die Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages in Frage stellte und eine an Verfahrensmängeln leidende Anhörung durch das Amtsgericht bemängelte. Auch rügte er, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht beigezogen und daher den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt. Die sofortige Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das Landgericht hielt die Hamburger Ausländerbehörde aufgrund des Amtshilfeersuchens für die Antragstellung für zuständig, ohne dazu Näheres auszuführen. Die Ausländerakten lagen dem Landgericht bei seiner Entscheidung vor.

5

4. Die sofortige weitere Beschwerde, mit der der Beschwerdeführer die Feststellung der Rechtswidrigkeit der am 18. Dezember 2009 erledigten Freiheitsentziehung begehrte, wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 24. Februar 2010 zurück. Die Stellung des Haftantrages durch die Hamburger Ausländerbehörde im Wege der Amtshilfe begegne keinen rechtlichen Bedenken. Art. 35 Abs. 1 GG hebe die Verpflichtung zur Amtshilfe hervor; die nähere gesetzliche Ausgestaltung der Amtshilfe in §§ 4 ff. des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes ergebe keine Unzulässigkeit der Amtshilfe. Diese sei unter anderem dann möglich, wenn die ersuchende Behörde die Handlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte als die ersuchte Behörde. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt gewesen, weil sich der Beschwerdeführer in Hamburg in Haft befunden habe. Die Organisation der Abschiebung in Nordrhein-Westfalen einschließlich einer Verlegung des Beschwerdeführers dorthin hätte das Verfahren mit großer Wahrscheinlichkeit verzögert. Umgekehrt hätte die zuständige Ausländerbehörde in U. eine Abschiebung über den Flughafen Hamburg nur mit unvertretbarem organisatorischen, personellen und ökonomischen Aufwand durchführen können, weil ein Beamter nach Hamburg hätte anreisen müssen, um dort die erforderlichen Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Das Verfahren vor dem Amtsgericht leide auch nicht an formellen Fehlern. Die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht sei nur dann beachtlich, wenn sich aus den Akten Tatsachen oder Anhaltspunkte ergäben, die gegen das Vorliegen der Voraussetzungen der beantragten Haft sprechen; dies sei hier nicht der Fall gewesen. Im Übrigen sei ein Verstoß jedenfalls geheilt, nachdem das Landgericht die Akten vor seiner Entscheidung beigezogen habe. Bei der Beiziehung von Verfahrensakten handele es sich anders als bei der Anhörung des Betroffenen nicht um einen nicht mehr heilbaren Formverstoß.

II.

6

Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, Zuständigkeitsnormen komme bei freiheitsentziehenden Maßnahmen eine grundrechtssichernde Funktion zu; Art. 104 Abs. 1 GG erhebe die in einem freiheitsbeschränkenden Gesetz enthaltenen Formvorschriften zum Verfassungsgebot. Der Haftantrag sei durch die örtlich unzuständige Behörde gestellt worden, und die Voraussetzungen für eine Amtshilfe hätten in formeller und materieller Hinsicht nicht vorgelegen. Es sei zweifelhaft, ob der Kreis U. ein hinreichend bestimmtes Amtshilfeersuchen gestellt habe, weil er die Entscheidung über die Stellung eines Haftantrages der Hamburger Ausländerbehörde überlassen habe. Die Amtshilfe dürfe sich außerdem nur auf Hilfstätigkeiten erstrecken und könne nicht, wie hier, die gänzliche Übernahme eines Falles betreffen. Darüber hinaus wäre die Antragstellung der Ausländerbehörde U. ohne zusätzlichen Aufwand selbst möglich gewesen, indem sie den Haftantrag und die zugehörigen Unterlagen übersandt hätte. Auf die Erwägungen des Oberlandesgerichts bezüglich anderer Verfahrenshandlungen als der Antragstellung komme es insoweit nicht an.

7

Ferner rügt der Beschwerdeführer die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht. Es gehöre zur unverzichtbaren Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen über den Entzug der persönlichen Freiheit sich auf eine zureichende Sachverhaltsgrundlage stützen; zur gebotenen Sachverhaltsaufklärung sei dabei regelmäßig die Ausländerakte beizuziehen. Die relevanten Unterlagen seien dem Amtsgericht auch nicht unabhängig von der Ausländerakte bekannt gewesen.

III.

8

Zur Verfassungsbeschwerde sind folgende Stellungnahmen eingegangen: Die Behörde für Inneres und Sport der Freien und Hansestadt Hamburg hat sich der Rechtsauffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts angeschlossen. Der Kreis U. hat im Wesentlichen ausgeführt, eine Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde sei nach Nr. 71.1.4.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) begründet, weil der Beschwerdeführer in Hamburg aufgegriffen worden sei; des Amtshilfeersuchens habe es daher nicht bedurft. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden des V. Zivilsenats übermittelt. Dieser hält es bereits für zweifelhaft, ob es sich bei dem Schreiben des Kreises U. vom 3. August 2009 um ein Amtshilfeersuchen handele, weil Amtshilfe begrifflich die auf ein Ersuchen geleistete ergänzende Hilfe zwischen Behörden sei, während das Ersuchen hier mehrere Teilakte umfasse. Zudem seien jedenfalls die Voraussetzungen für eine Amtshilfe nicht erfüllt, insbesondere weil die Haftantragstellung, auf die es hier allein ankomme, für den Kreis U. nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden gewesen wäre (§ 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG). Eine originäre Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde sei nach den insoweit einschlägigen Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht gegeben.

9

Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.

B.

10

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, soweit sie die Haftantragstellung durch die Hamburger Ausländerbehörde rügt. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde insoweit zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93b Satz 1 BVerfGG).

I.

11

Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht beigezogen, sind die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht hinreichend substantiiert ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).

12

1. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen (BVerfGE 70, 297 <308>). Um den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG zu genügen, sind bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung regelmäßig die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, NVwZ 2008, S. 304 f.). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (BVerfGK 7, 87 <100>).

13

2. Inwiefern diese Maßstäbe hier dadurch verletzt worden sein können, dass das Amtsgericht die Ausländerakten nicht beigezogen hat, ist nicht hinreichend dargelegt. Insbesondere ist nicht dargetan, welche Informationen in der Ausländerakte enthalten waren, aufgrund derer das Amtsgericht zu einer abweichenden Beurteilung der Haftfrage hätte gelangen müssen. Von einer weiteren Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

II.

14

Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.

15

1. a) Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 94, 166 <198>; 96, 10 <21>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208 <220>).

16

b) Inhalt und Reichweite der Formvorschriften, deren Beachtung über Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist, sind von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten können. Jenseits der Grenze der Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht verbleibt den Fachgerichten aber Raum, sich zwischen mehreren möglichen Deutungen des Gesetzes zu entscheiden. Es bleibt in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte, den Sinn des Gesetzesrechts mit Hilfe der anerkannten Methoden der Rechtsfindung zu ergründen. Das Bundesverfassungsgericht greift erst dann korrigierend ein, wenn das fachgerichtliche Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift, insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist oder wenn es sachlich schlechthin unhaltbar und somit willkürlich ist (BVerfGE 65, 317 <322 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 - 2 BvR 1537/08 -, juris, Rn. 14).

17

2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen Entscheidungen nicht im Einklang.

18

a) Das Verfahren bei Freiheitsentziehungen richtete sich zu dem maßgeblichen Zeitpunkt gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der bis zum 31. August 2009 geltenden Fassung nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen (FreihEntzG). Nach dessen § 3 Satz 1 konnte die Freiheitsentziehung nur das Amtsgericht auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen. § 3 Satz 1 FreihEntzG gehörte mit seiner Bestimmung, dass ein Haftantrag von der zuständigen Behörde zu stellen ist, zu den Formvorschriften, deren Beachtung durch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist (BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 - 2 BvR 1537/08 -, juris, Rn. 16, und vom 4. Oktober 2010 - 2 BvR 1825/08 -, juris, Rn. 36).

19

b) Die Gerichte haben, indem sie eine Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages angenommen haben, § 3 Satz 1 FreihEntzG in einer Weise angewendet, die unter keinem rechtlichen Aspekt vertretbar ist.

20

aa) Das Amtsgericht hat sich mit der Frage der Zuständigkeit der Ausländerbehörde nicht auseinandergesetzt. Das Landgericht hat ohne weitere Begründung eine zulässige Antragstellung im Wege der Amtshilfe angenommen. Das Oberlandesgericht ist ebenfalls der Auffassung, die Ausländerbehörde in Hamburg sei nach den Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes über die Amtshilfe zur Stellung des Antrages befugt gewesen. Diese Rechtsauffassung verfehlt den Gehalt der herangezogenen Bestimmungen in verfassungsrechtlich erheblicher Weise.

21

(1) Dabei kann dahinstehen, ob die Vorschriften über die Amtshilfe in Abschiebungshaftsachen überhaupt eine von der ersuchenden Behörde abgeleitete Zuständigkeit der ersuchten Behörde begründen können (umstr.; verneinend OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 13. November 1998 - 20 W 442/98 -; ebenso OLG München, Beschluss vom 28. September 2006 - 34 Wx 115/06 -; jeweils zitiert nach Winkelmann, Online-Kommentar Migrationsrecht.net, Freiheitsentziehungs- und Haftrecht, S. 35 <38> bzw. S. 9 <13>; offen gelassen in OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Mai 2008 - 14 Wx 10/08 -; OLG Köln, Beschluss vom 15. Oktober 2008 - 16 Wx 215/08; KG, Beschluss vom 25. August 2006 - 25 W 70/05 -; jeweils zitiert nach Winkelmann, a.a.O., S. 21 <24 f.>, S. 17 <19> bzw. S. 30 <34>).

22

(2) Jedenfalls sind die Voraussetzungen einer Amtshilfe hier in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.

23

(a) Die Amtshilfe umfasst, was der Vorsitzende des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme zutreffend hervorhebt, nur eine auf Ersuchen einer anderen Behörde geleistete ergänzende Hilfe (vgl. die Legaldefinition des § 4 Abs. 1 des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes in der bis zum 27. Dezember 2009 gültigen Fassung - HmbVwVfG 2009). Daraus ergibt sich, dass Amtshilfe notwendig auf bestimmte Teilakte eines Verwaltungsverfahrens begrenzt ist und nicht mit einer vollständigen Übernahme von Verwaltungsaufgaben einhergehen darf. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht geht die dem Grundsatz nach in Art. 35 Abs. 1 GG normierte Amtshilfe nicht über eine Aushilfe im Einzelfall hinaus (vgl. BVerfGE 63, 1 <32>). Amtshilfe besteht demnach in dem lediglich ergänzenden Beistand, den eine Behörde einer anderen leistet, um dieser die Durchführung ihrer öffentlichen Aufgaben zu ermöglichen oder zu erleichtern (vgl. Bauer, in: Dreier, GG, Bd. 2, 1998, Art. 35 Rn. 11). Sie beschränkt sich auf ein punktuelles Zusammenwirken mit Ausnahmecharakter (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG für die Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 2009, Art. 35 Rn. 4).

24

(b) Demnach handelte es sich - ungeachtet der Verwendung der Bezeichnung "Amtshilfe" durch beide beteiligten Behörden - bei dem Haftantrag der Hamburger Ausländerbehörde nicht um eine von § 4 Abs. 1 HmbVwVfG 2009 erfasste Amtshilfehandlung. Dies ergibt sich bereits aus dem Schreiben des Kreises U. vom 3. August 2009, welches sich nicht darauf beschränkt, die Hamburger Ausländerbehörde um eine einzelne Unterstützungshandlung zu ersuchen. Vielmehr beinhaltet das Schreiben die Bitte, "die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten". Der Kreis U. gab damit das weitere Verfahren der Abschiebung aus der Hand und legte es in die Verantwortung der Hamburger Ausländerbehörde. Eigene weitere Maßnahmen seitens des Kreises U. zum Zwecke der erstrebten Abschiebung waren nicht vorgesehen und wären angesichts der gewählten Vorgehensweise auch nicht mehr möglich gewesen, zumal sich der Kreis U. offensichtlich keine Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten auf künftige Verfahrensschritte vorbehalten hatte. Dieses Vorgehen übersteigt die Grenzen eines Amtshilfeersuchens und kommt einer Abgabe des Verfahrens gleich.

25

Eine dem entsprechende Übernahmeabsicht offenbart sich in dem Haftantrag der Hamburger Ausländerbehörde vom 12. August 2009, worin diese erklärt, den Beschwerdeführer im Anschluss an das gegen ihn geführte Strafverfahren aus der Haft heraus in die Türkei abschieben zu wollen. Hierhin liegt ersichtlich eine über eine Hilfeleistung bei einzelnen Verfahrenshandlungen hinausgehende Übernahme des Verfahrens in Bezug auf alle für die erstrebte Abschiebung erforderlichen Verfahrenshandlungen. Die Hamburger Ausländerbehörde brachte in dem Haftantrag zum Ausdruck, dass sie die Verantwortung für die gesamte weitere Durchführung des Abschiebungsverfahrens und der damit verbundenen Schritte bei sich sieht.

26

(c) Darüber hinaus wären auch die Voraussetzungen für ein Tätigwerden in Amtshilfe offensichtlich nicht erfüllt. Das Oberlandesgericht legt seiner Entscheidung - ohne die Vorschrift zu nennen - § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu Grunde, wonach eine Behörde insbesondere dann um Amtshilfe ersuchen kann, wenn sie die Amtshandlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte als die ersuchte Behörde. Dieses Erfordernis sieht das Oberlandesgericht als erfüllt an und stellt unter anderem darauf ab, dass der Beschwerdeführer in Hamburg aufgegriffen worden war und sich dort in Untersuchungshaft befand. Daher sei es zweckmäßig gewesen, die Abschiebung einschließlich der Stellung eines Haftantrages durch die Hamburger Ausländerbehörde zu organisieren. Eine Überstellung des Beschwerdeführers in den Zuständigkeitsbereich des Kreises U. sei demgegenüber ebenso untunlich wie eine Durchführung der Abschiebung von Hamburg aus durch die Ausländerbehörde U..

27

Diese Erwägungen sind nicht geeignet, eine zur Amtshilfe berechtigende und verpflichtende Situation im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu begründen. Ausgehend von der Qualifizierung der Amtshilfe als ergänzende Unterstützung wäre im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 für die Ermittlung des Aufwandes nicht auf das gesamte Verwaltungsverfahren, sondern nur auf den Teilakt abzustellen gewesen, für den die Erforderlichkeit einer Amtshilfe festgestellt werden soll. Dies betraf hier allein die Stellung des Haftantrages. Auf die Frage, ob die zuständige Behörde auch für weitere Verfahrensschritte Amtshilfe in Anspruch nehmen kann, kommt es demgegenüber nicht an (vgl. nur OLG Köln, Beschluss vom 15. Oktober 2008 - 16 Wx 215/08 -, juris, Rn. 8 f.).

28

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es für die Ausländerbehörde des Kreises U. einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutet hätte, selbst den Haftantrag zu stellen. Die Übermittlung des schriftlichen Haftantrages an das Amtsgericht Hamburg - etwa per Telefax - wäre für sie nicht mit größerem Aufwand verbunden gewesen als für die Hamburger Ausländerbehörde. Davon getrennt zu beantworten wäre die Frage gewesen, ob etwa für die Wahrnehmung des Anhörungstermins vor dem Amtsgericht oder andere Verfahrensschritte eine Amtshilfe zulässig gewesen wäre.

29

bb) Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Gerichte im Ergebnis aus anderen, ohne weiteres erkennbaren Gründen zu Recht die Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde angenommen haben (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Das Landgericht und das Oberlandesgericht sind vielmehr zu Recht von einer originären örtlichen Zuständigkeit nur des Kreises U. ausgegangen. Eine originäre örtliche Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde ergibt sich aus der mangels Regelung im Aufenthaltsgesetz einschlägigen landesrechtlichen Bestimmung des § 3 HmbVwVfG 2009 nicht. Insbesondere fehlen für einen die Zuständigkeit begründenden gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG 2009 zum Zeitpunkt der Haftantragstellung zureichende Anhaltspunkte dafür, dass der erst kurz zuvor in das Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer bereits zum damaligen Zeitpunkt beabsichtigte, sich nicht nur vorübergehend in Hamburg aufzuhalten (vgl. die Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I). Die gegen den Beschwerdeführer angeordnete Untersuchungshaft ist angesichts deren vorläufigen Charakters ebenfalls nicht geeignet, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. Für eine Eilzuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde nach § 3 Abs. 5 Satz 1 HmbVwVfG 2009 wegen Gefahr im Verzug besteht bereits angesichts des zwischen der Kenntniserlangung der Behörde von der Festnahme des Beschwerdeführers und der Stellung des Haftantrages liegenden Zeitraumes von über einer Woche kein Anhaltspunkt.

30

Soweit der Kreis U. in seiner Stellungnahme auf die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) Bezug nimmt - hier in Betracht zu ziehen wäre allenfalls eine Bezugnahme auf die zum Zeitpunkt der Haftantragstellung geltenden Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 22. Dezember 2004 -, ist daran zu erinnern, dass Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bei Freiheitsbeschränkungen auch Zuständigkeitsfragen in den Vorbehalt des Gesetzes einbezieht (vgl. BVerfGE 105, 239 <247>) und Verwaltungsvorschriften insoweit eine Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung nicht rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2010, a.a.O., Rn. 43).

C.

31

Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 auf und verweist die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurück.

32

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3 BVerfGG.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.