Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße Beschluss, 24. Sept. 2018 - 5 L 1140/18.NW

ECLI:ECLI:DE:VGNEUST:2018:0924.5L1140.18.00
bei uns veröffentlicht am24.09.2018

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 13. August 2018 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 25. Juni 2018, mit der die Nutzungsänderung des bisherigen Wohnhauses auf dem Grundstück Flurstück-Nr. ..., A-Straße ... in Neustadt/Wstr. in ein Bordell bzw. einen bordellähnlichen Betrieb genehmigt wurde, wird angeordnet, soweit die gewerbliche Nutzung den Bereich der drei Meter breiten Abstandsfläche zum Grundstück Flurstück-Nr. ..., A-Straße ... in Neustadt/Wstr. betrifft.

Die Antragsgegnerin und die Beigeladene haben die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin je zur Hälfte zu tragen. Im Übrigen trägt jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 3.750 € festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 13. August 2018 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 25. Juni 2018, mit der die Nutzungsänderung des bisherigen Wohnhauses auf dem Grundstück Flurstück-Nr. ..., A-Straße ... in Neustadt/Wstr. in ein Bordell bzw. einen bordellähnlichen Betrieb genehmigt wurde, anzuordnen, soweit die gewerbliche Nutzung den Bereich der drei Meter breiten Abstandsfläche zum Nachbargrundstück Flurstück-Nr. ..., A-Straße ... betrifft, ist nach §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VerwaltungsgerichtsordnungVwGO – i.V.m. § 212a BaugesetzbuchBauGB – statthaft und auch ansonsten zulässig. Er ist ferner auch in der Sache begründet.

2

Für die nach § 80a Abs. 3 VwGO zu treffende Ermessensentscheidung des Gerichts sind die gegenläufigen Interessen des Antragstellers und der Beigeladenen für den Zeitraum bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren gegeneinander abzuwägen. Dabei ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Vorhabens mit nachbarschützenden Vorschriften bestehen. Demgegenüber ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen, wenn die Baugenehmigung offensichtlich nicht gegen nachbarschützende Normen verstößt. Lässt sich auch nach intensiver Prüfung nicht feststellen, ob der Rechtsbehelf des Nachbarn wahrscheinlich zum Erfolg führen wird, sind die Erfolgsaussichten also offen, ist eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, bei der der Einzelfallbezug gewahrt bleiben muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 – 4 VR 1005/04 –, NVwZ 2005, 689).

3

In Anwendung dieser Grundsätze muss hier die Interessenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin ausfallen.

4

Die gemäß §§ 70 Abs. 1 Satz 1 Landesbauordnung – LBauO – erteilte Baugenehmigung vom 25. Juni 2018 verstößt gegen baurechtliche oder sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften, die auch dem Schutz der Antragstellerin als Nachbarin zu dienen bestimmt sind.

5

Ein Rechtsbehelf des Nachbarn ist nicht schon dann erfolgreich, wenn der angefochtene Verwaltungsakt gegen objektives Recht verstößt, sondern nur dann, wenn der Nachbar dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 1997 – 4 B 167.96 –, NVwZ-RR 1998, 457; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 8. Februar 2012 – 8 B 10011/12.OVG –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. November 2016 – 7 A 775/15 –, juris). Dies ist hier der Fall.

6

Die Antragstellerin kann sich in bauordnungsrechtlicher Hinsicht auf einen Verstoß gegen die bauordnungsrechtliche Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 LBauO berufen. Danach sind vor Außenwänden oberirdischer Gebäude Flächen von Gebäuden freizuhalten. Gemäß § 8 Abs. 6 Satz 1 LBauO beträgt die Tiefe der Abstandsfläche in Gewerbe- und Industriegebieten 0,25 H. In allen Fällen muss die Tiefe der Abstandsfläche jedoch mindestens 3 m betragen (§ 8 Abs. 6 Satz 3 LBauO).

7

Hier hält das streitgegenständliche Gebäude der Beigeladenen den Mindestgrenzabstand von drei Metern unzweifelhaft nicht ein. Das in der Vergangenheit zu Wohnzwecken genutzte Gebäude war am 17. Oktober 1963 bauaufsichtlich genehmigt worden. Kurz zuvor war im August 1963 eine Baugenehmigung für die Errichtung einer Weberei auf dem gleichen Grundstück erteilt worden. Zu einem nach Angaben der Antragsgegnerin nicht mehr bekannten späteren Zeitpunkt (vermutlich in den 70er Jahren) wurde dieses Grundstück geteilt, so dass ab diesem Zeitpunkt das weiterhin zu Wohnzwecken genutzte Gebäude an der südlichen Außenwand auf der Grundstücksgrenze stand. Soweit die Antragsgegnerin vorgetragen hat, das Wohngebäude sei als Betriebsleiterwohnung für die Weberei genehmigt worden, lässt sich dies aus den vorgelegten Verwaltungsakten nicht nachvollziehen. In den Bauplänen, auf denen jeweils ein Genehmigungsstempel mit dem Datum 17. Oktober 1963 angebracht ist, ist stets von einem Wohnhausneubau die Rede. Der in den Bauakten enthaltene Bauschein vom 17. Oktober 1963 enthält keinerlei Einschränkung.

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Die Umwandlung des zu Wohnzwecken genutzten grenzständigen Gebäudes in ein Bordell stellt eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung dar (1.). Diese Nutzungsänderung hat zur Folge, dass die Abstandsregelungen des § 8 LBauO neu behandelt werden müssen (2.). Eine Nutzung des streitgegenständlichen Gebäudes innerhalb der Abstandsflächen ist nicht nach § 8 Abs. 12 LBauO zulässig (3.). Der Verstoß gegen § 8 LBauO ist hier auch nicht wegen der Möglichkeit der Zulassung einer Abweichung nach § 69 Abs. 1 LBauO unbeachtlich (4.). Es drängt sich nicht auf, dass die Beigeladene einen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung hat (5.).

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1. Eine Nutzungsänderung im Sinne des § 29 Satz 1 BauGB ist immer dann anzunehmen, wenn die jeder Art von Nutzung eigene tatsächliche Variationsbreite verlassen wird und durch die Veränderung bodenrechtliche Belange, wie sie insbesondere § 1 Abs. 5 BauGB bestimmt, erneut berührt werden können, und damit die Genehmigungsfrage erneut aufgeworfen wird (s. z.B. BVerwG, Urteil vom 11. November 1988 – 4 C 50/87 –, NVwZ-RR 1989, 340 und Urteil vom 18. November 2010 – 4 C 10/09 –, NVwZ 2011, 748). Dies ist hier der Fall, denn die Nutzung als Bordell – einem in Gewerbegebieten gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 BaunutzungsverordnungBauNVO – allgemein zulässigen Gewerbebetrieb (vgl. BVerwG, Beschluss vom 05. Juni 2014 – 4 BN 8/14 –, UPR 2014, 397 und Beschluss vom 02. November 2015 – 4 B 32/15 –, NVwZ 2016, 151; Bay. VGH, Urteil vom 13. Dezember 2017 – 2 B 17.1741 –, juris) ist nicht mehr von der Baugenehmigung zur Errichtung einer Wohnung gedeckt.

10

2. Obwohl Gegenstand des Vorhabens allein eine Änderung der Nutzung des hinsichtlich ihrer Außenwände (nahezu) unverändert gebliebenen ehemaligen Wohngebäudes ist, stellt sich die Genehmigungsfrage hinsichtlich der Abstandsregelungen neu (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 09. März 2010 – 8 B 10263/10.OVG – und Beschluss vom 22. November 2001 – 8 B 11707/01.OVG –, ESOVG). Geht es um die Änderung einer Nutzung, dürfen Bausubstanz einerseits und Nutzung andererseits nicht getrennt beurteilt werden; sie bilden eine Einheit (BVerwG, Urteil vom 18. November 2010 – 4 C 10/09 –, juris). Aus dem Umstand, dass § 61 LBauO auch die Änderung der Nutzung eines für eine andere Nutzung genehmigten und errichteten Gebäudes grundsätzlich der Genehmigungspflicht unterwirft, soweit in den §§ 62, 67 und 84 LBauO nichts anderes bestimmt ist, und die Erteilung der Baugenehmigung die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften voraussetzt, folgt, dass auch bei der Nutzungsänderung grundsätzlich alle öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zu prüfen sind, sofern sie auch für die Nutzung des Gebäudes Bedeutung haben können. Dies ist aber bei den Abstandsvorschriften der Fall, was sich sowohl aus deren Schutzgütern, zu denen neben der Belichtung und Belüftung des Gebäudes auch nutzungsbezogene Belange wie der Brandschutz und vor allem der Wohnfrieden gehören (s. z.B. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. Juni 2010 – 1 A 11265/09 –, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Juli 2018 – OVG 10 S 68.17 –, juris; VG Neustadt/Wstr., Urteil vom 17. April 2008 – 4 K 25/08.NW –, juris), als auch aus den Regelungen selbst ergibt, für die hinsichtlich der Bemessung bzw. der ausnahmsweise Entbehrlichkeit der Abstandsflächen in verschiedener Hinsicht auch die Nutzungsfrage von Bedeutung ist (s. z.B. § 8 Abs. 9 LBauO).

11

3. Gewinnt der bisher in Bezug auf das Wohngebäude bestandsgeschützte Verstoß gegen § 8 Abs. 1, Abs. 6 Satz 3 LBauO durch die von der Beigeladenen vorgesehene Nutzungsänderung folglich abstandsflächenrechtliche Relevanz, so wäre das Vorhaben ohne Einhaltung von Abstandsflächen nach Maßgabe des § 8 Abs. 12 LBauO zulässig. Wird danach in zulässiger Weise errichteten Gebäuden, deren Außenwände die nach diesem Gesetz erforderlichen Abstandsflächen gegenüber Grundstücksgrenzen nicht einhalten, Raum für die Wohnnutzung oder die Änderung und Entwicklung ansässiger, ortsüblicher Betriebe insbesondere des Weinbaus, Handwerks oder Gastgewerbes durch Ausbau oder Änderung der Nutzung geschaffen, gelten die Absätze 1 bis 4 und 6 nicht für diese Außenwände, wenn

1. die Gebäude in Gebieten liegen, die überwiegend dem Wohnen oder der Innenentwicklung von Städten und Gemeinden dienen,

2. die Gebäude eine erhaltenswerte Bausubstanz haben und

3. die äußere Gestalt des Gebäudes nicht oder nur unwesentlich verändert wird.

12

Der 1999 in die Landesbauordnung aufgenommene § 8 Abs. 12 LBauO enthält als Sondervorschrift unter den genannten Voraussetzungen einen Verzicht auf das allgemeine Abstandsflächenerfordernis bei nachträglicher Umnutzung von legal errichteten Gebäuden zu Wohnraum oder gewerblicher Nutzung (s. Jeromin, in: Jeromin, Landesbauordnung RhPf, 4. Auflage 2016 Rn. 153). Diese Vorschrift ist vorliegend jedoch nicht einschlägig, da in dem streitgegenständlichen Gebäude weder neuer Raum für Wohnnutzung noch für die Änderung und Entwicklung ansässiger, ortsüblicher Betriebe geschaffen wird.

13

4. Die sich infolge der Nutzungsänderung ergebende Abstandspflichtigkeit des Gebäudes kann mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 8 Abs. 12 LBauO nur durch die im Ermessen der Antragsgegnerin stehende Zulassung einer Abweichung gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO aufgehoben werden. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen nach diesem Gesetz und nach den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind, soweit in diesem Gesetz oder in den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften nichts anderes bestimmt ist.

14

Nach der Rechtsprechung des OVG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 20. September 1999 – 1 A 11285/99.OVG –, ESOVG), der die Kammer folgt, wird die Abweichungsregelung in § 69 LBauO nicht durch § 8 Abs. 12 LBauO als Spezialvorschrift verdrängt. Vielmehr besteht der Sinn des § 8 Abs. 12 LBauO darin, dass ein bestimmter im Baurecht häufig vorkommender Lebenssachverhalt, der bis Ende 1998 aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 16. Mai 1991 – 4 C 17.90 –, NJW 1991, 3293) die Erteilung einer Befreiung erforderlich machte, ab 1999 gesetzlich in der Weise geregelt wurde, dass die Anwendung der Abstandsflächenvorschrift in § 8 Abs. 1 bis 4 und 6 LBauO unter den in Abs. 12 genannten Voraussetzungen ausgeschlossen wird, ohne dass es der Erteilung eines Ausnahme-, Befreiungs- oder Abweichungsbescheides bedarf. Daneben gibt es in anderen Fällen, in denen nicht die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, die Möglichkeit, gemäß § 69 LBauO unter den dort geregelten Voraussetzungen eine Abweichung von bauordnungsrechtlichen Vorschriften und damit auch von § 8 Abs. 1 bis 11 LBauO zuzulassen.

15

Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 25. Juni 2018 enthält keine Zulassung einer Abweichung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO. Auch der Bauakte kann nicht entnommen werden, dass sich die Antragsgegnerin der betreffenden Abweichung überhaupt bewusst war und diese mit der Baugenehmigung in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zulassen wollte.

16

Leidet die Baugenehmigung aber wegen der fehlenden Zulassungsentscheidung an einem rechtlichen Mangel, so kann sich die Antragstellerin hierauf grundsätzlich auch berufen. Denn § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO dient auch dem Schutz des Nachbarn. Dieser hat – jedenfalls wenn wie hier eine Abweichung von nachbarschützenden Normen des Bauordnungsrechts in Rede steht – einen Anspruch darauf, dass diese Abweichung nur in der gesetzlich vorgesehenen Art und Weise zugelassen wird (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. November 2001 – 8 B 11707/01.OVG –, ESOVG; vgl. auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Februar 2017 – 8 A 10688/16.OVG –, ESOVG zum Anhörungsrecht des Nachbarn nach § 68 Abs. 2 LBauO und OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05. Februar 2010 – 1 B 11356/09.OVG –, juris, wonach das Vorliegen einer Befreiungslage nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht ausreichend ist, um eine ohne Befreiung ergangene Baugenehmigung als rechtmäßig ansehen zu können). Verfahrensrechtlich genügt das bloße Vorliegen einer Abweichungslage nach § 69 Abs. 1 LBauO folglich nicht, die ohne Abweichung ergangene Baugenehmigung als rechtmäßig ansehen zu können, so sie denn für das streitige Vorhaben nur im Wege der Abweichung gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO hätte ergehen dürfen. Für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung bedarf es vielmehr der tatsächlichen Abweichungserteilung, wenn nur dadurch ein bestimmtes Vorhaben in einem Baugebiet abweichend von einer bestimmten bauordnungsrechtlichen Vorschrift zugelassen werden kann. Eine dieses Erfordernis nicht berücksichtigende Baugenehmigung verletzt dann auch den Nachbarn in seinem Anspruch auf Einhaltung der maßgeblichen bauordnungsrechtlichen Bestimmung (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. November 2011 – 8 A 10636/11.OVG –, ESOVG; VG Neustadt/Wstr., Beschluss vom 09. September 2015 – 3 L 793/15.NW -, ESOVG).

17

5. Es drängt sich auch nicht auf, dass die Beigeladene einen Anspruch auf Zulassung einer Abweichung hat.

18

Auch wenn, wie ausgeführt, die unter Verstoß gegen Abstandsflächenrecht ergangene Baugenehmigung rechtswidrig bleibt, solange nicht eine Abweichung vom Abstandsflächenrecht ausdrücklich zugelassen worden ist, hält es die Kammer für angezeigt, im Rahmen der Interessenabwägung zu prüfen, ob sich bereits nach summarischer Prüfung im Eilverfahren ein Anspruch der Beigeladenen auf Zulassung einer durch die Antragsgegnerin zu erteilenden Abweichung aufdrängt (s. auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. November 2001 – 8 B 11707/01.OVG –, ESOVG). Denn die Antragsgegnerin kann die erteilte Baugenehmigung noch im Laufe des von der Antragstellerin eingeleiteten Widerspruchsverfahrens um die Zulassung einer Abweichung ergänzen (vgl. Kerkmann/Schmidt, in: Jeromin, a.a.O., § 69 Rn. 47). Auch wenn sich beim Baunachbarstreit die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Baugenehmigung grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung beurteilt, sind nachträgliche Änderungen, die sich zu Gunsten des Vorhabens des Bauherrn auswirken, zu berücksichtigen (s. z.B. BVerwG, Urteil vom 20. August 2008 – 4 C 11/07 –, NVwZ 2008, 1349; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. März 2015 – 8 S 492/15 –, NVwZ-RR 2015, 637).

19

Ein Anspruch der Beigeladenen auf Zulassung einer Abweichung drängt sich allerdings nur dann auf, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO vorliegen und ferner hinreichende Anhaltspunkte für eine Ermessensreduzierung gegeben sind.

20

Es kann im vorliegenden Eilverfahren bereits nicht festgestellt werden, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO vorliegen. Danach setzt die Zulassung einer Abweichung deren Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen voraus. Diese Voraussetzungen sind restriktiv zu handhaben (s. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03. November 1999 – 8 A 10951/99 –, NVwZ-RR 2000, 580). Dies gebietet allein schon der Umstand, dass durch die baurechtlichen Vorschriften die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Belange und Interessen regelmäßig schon in einen gerechten Ausgleich gebracht worden sind und die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs ein mehr oder minder beliebiges Abweichen von den Vorschriften der Landesbauordnung nicht gestattet. Angesichts dessen lässt das Merkmal der „Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung“ eine Abweichung nur dann zu, wenn im konkreten Einzelfall eine besondere Situation vorliegt, die sich vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheidet, dass die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards gerechtfertigt ist. Eine derartige Lage ist gegeben, wenn aufgrund der besonderen Umstände der Zweck, der mit einer Vorschrift verfolgt wird, die Einhaltung der Norm nicht erfordert oder wenn deren Einhaltung aus objektiven Gründen außer Verhältnis zu der Beschränkung steht, die mit einer Versagung der Abweichung verbunden wäre. Um dies sachgerecht beurteilen zu können, sind stets die mit der gesetzlichen Anforderung verfolgten Ziele zu bestimmen und den Gründen gegenüberzustellen, die im Einzelfall für die Abweichung streiten. Daneben sind die betroffenen nachbarlichen Interessen zu gewichten und angemessen zu würdigen. Je stärker die Interessen des Nachbarn berührt sind, um so gewichtiger müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe sein. Soll von einer nachbarschützenden Vorschrift abgewichen werden, sind die entgegenstehenden Rechte des Nachbarn materiell mitentscheidend (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03. November 1999 – 8 A 10951/99 –, NVwZ-RR 2000, 580). Eine Abweichung kommt in einer derartigen Situation nur in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles der Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für eine Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn ausnahmsweise zurücktreten müssen (OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 15. Februar 2017 – 8 A 10688/16.OVG –, juris). Stehen weder der Zweck der gesetzlichen Anforderung noch die nachbarlichen Interessen unüberwindbar entgegen, ist zu prüfen, ob die Abweichung mit den konkret betroffenen öffentlichen Belangen, also allen im öffentlichen Interesse liegenden Anliegen, zu vereinbaren ist (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03. November 1999 – 8 A 10951/99 –, NVwZ-RR 2000, 580). Eine unter Abweichung von einer nachbarschützenden Vorschrift ergangene Baugenehmigung ist auf den Rechtsbehelf des Nachbarn hin aufzuheben, wenn die Abweichung objektiv rechtswidrig erteilt wurde. Eine solche objektive rechtswidrige Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften verletzt nämlich den Nachbarn stets in seinen Rechten (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 02. August 2007 – 1 A 10230/07 –, ESOVG; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 08. Juli 1998 – 4 B 64/98 –, NVwZ-RR 1999, 8 und VG Mainz, Urteil vom 11. November 2009 – 3 K 101/09.MZ –, juris zur Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB).

21

Nach diesen Grundsätzen liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO jedenfalls nicht evident vor.

22

Zwar bestehen erhebliche Zweifel an der Schutzbedürftigkeit der Antragstellerin in Bezug auf die Abstandsvorschriften. Wie oben bereits dargelegt, sollen die Abstandsflächen eine Brandübertragung verhindern, eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung in den Räumen der Gebäude und der Gebäude zueinander gewährleisten und nach dem überkommenen Verständnis der Abstandsvorschriften auch sozialen Zwecken, nämlich der Sicherung der „Privatheit“ und der Wahrung des Wohnfriedens dienen. Zentraler Zweck ist es auch, unzumutbare Belästigungen zu verhüten und die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu verwirklichen (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. Januar 2006 – 1 A 10845/05 –, NVwZ-RR 2006, 768. Da das streitgegenständliche Gebäude seit der Grundstücksteilung in den 70er Jahren auf der Grenze steht, ergeben sich hinsichtlich der Schutzgüter Belichtung und Belüftung des Gebäudes sowie Brandschutz keine nachteiligen Veränderungen für die Antragstellerin. Im Gegenteil wird das bisher in der Grenzwand vorhandene Fenster verschlossen, so dass eine Einsicht in das Grundstück der Antragstellerin künftig nicht mehr möglich sein wird.

23

Die zur Genehmigung gestellte Nutzung als Bordell hat auch keine nachteiligeren Auswirkungen als die bisherige Wohnnutzung auf den Schutz des Wohnfriedens. Dieser umfasst sowohl die Sicherung der Privatheit durch Schutz vor Einsichtnahme als auch die Abwendung von Gesundheitsgefahren, insbesondere die Abschirmung von akustischen Störungen (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Mai 1997 – 11 A 7224/95 –, NVwZ-RR 1998, 614). Diese Belange werden durch die neue Nutzung nicht stärker beeinträchtigt. So findet auf dem Grundstück der Antragstellerin bereits keine Wohnnutzung statt. Vielmehr wird darauf eine „Event-Location“ betrieben. Ausweislich der Homepage https://www..... können dort Firmenveranstaltungen, Geburtstagsfeiern, Theaterveranstaltungen, Hochzeiten und sonstige Privatveranstaltungen für bis zu 200 Personen durchgeführt werden. Die Antragstellerin ist vor diesem Hintergrund unter dem Gesichtspunkt „Wohnfriede“ daher nur in einer so geringfügigen Art und Weise beeinträchtigt, dass von einem Wegfall der Schutzbedürftigkeit auszugehen sein dürfte. Jedenfalls wirkt sich die gewerbliche Nutzung durch die Beigeladene auch unter Immissionsgesichtspunkten nicht nachteiliger aus, zumal das Bordell der Beigeladenen, in dem lediglich drei Damen arbeiten werden, „nur“ von 10 – 23 Uhr betrieben werden soll. Dass von der Nutzung als Bordell keine unzumutbaren Belästigungen ausgehen, wurde bereits oben im Rahmen der Prüfung, ob das Bauvorhaben gegenüber der Antragstellerin rücksichtslos ist, verneint.

24

Allerdings ist nach Auffassung der Kammer das Merkmal der „Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung“ nicht evident erfüllt.

25

Die Problematik der Nichteinhaltung von Abstandsflächen resultiert vorliegend aus dem Umstand, dass das im Jahre 1963 genehmigte Wohngebäude erst nachträglich durch die Grundstücksteilung in den 70er Jahren die Eigenschaft eines grenzständigen Gebäudes erhielt. In dem später in Kraft getretenen Bebauungsplan „... Straße“ der Antragsgegnerin wurde das Wohngebäude als Bestand wiedergegeben. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplans lag es nunmehr in einem Gewerbegebiet, in dem nur bestimmte Einzelhandelsnutzungen und je Gewerbegrundstück nur eine Betriebsinhaberwohnung zugelassen waren. Ferner setzte der genannte Bebauungsplan für das Gewerbegebiet, in dessen Geltungsbereich das hier streitgegenständliche Wohngebäude lag und auch heute noch liegt, offene Bauweise, bei der Baukörperlängen und -tiefen innerhalb des Grundstücks über 50 m zulässig sind, fest.

26

Ungeachtet der entgegenstehenden Festsetzungen des Bebauungsplan „A-Straße“ genießt das Wohngebäude jedoch Bestandsschutz; dieses kann auch in Zukunft weiterhin zu Wohnzwecken genutzt werden. Der bestehende Bestandsschutz entfällt allerdings dann, wenn – wie hier vorgesehen – eine Nutzungsänderung erfolgt, die qualitativ wesentliche Veränderungen im Sinne einer Funktionsänderung zur Folge hat. Vor dem Hintergrund, dass das Vertrauen des Grundeigentümers auf eine anderweitige Verwertung der einmal geschaffenen Bausubstanz nicht in gleicher Weise schützenswert ist wie das Vertrauen des Grundeigentümers in den Fortbestand der bisherigen Nutzungsweise (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – 4 C 17/90 –, NJW 1991, 3293), hat der rheinland-pfälzische Gesetzgeber mit § 8 Abs. 12 LBauO eine Regelung geschaffen, nach der unter bestimmten Voraussetzungen die nachträgliche Umnutzung von legal errichteten Gebäuden, die die Abstandsflächen nicht einhalten, zulässig sein soll. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 Abs. 12 LBauO vor, hat der Bauherr einen Anspruch auf Zulassung der Grenzbebauung, der nicht durch Zweckmäßigkeitserwägungen der Bauaufsichtsbehörde eingeschränkt werden kann. Auch wenn § 8 Abs. 12 LBauO die Anwendbarkeit des § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO nicht ausschließt (s.o.), muss doch im Rahmen der Prüfung des Merkmals der „Berücksichtigung des Zwecks der gesetzlichen Anforderung“ beachtet werden, dass der nach § 69 Abs. 1 Satz 1 LBauO zu beurteilende Sachverhalt strenger zu beurteilen sein muss als ein im Baurecht häufig vorkommender Lebenssachverhalt, der dem § 8 Abs. 12 LBauO zugrunde liegt.

27

Gemessen daran dürfte es hier an einer atypischen Sondersituation fehlen, die ein Abweichen von der gesetzlichen Regel des § 8 Abs. 1 Satz 1 LBauO rechtfertigt. Weder dürfte es der besondere Grundstückszuschnitt des Grundstücks der Beigeladenen noch die besondere städtebauliche Situation erfordern, dass die gewerbliche Nutzung des streitgegenständlichen Gebäudes auch den Bereich der drei Meter breiten Abstandsfläche zum angrenzenden Grundstück der Antragstellerin umfassen muss. Einer näheren Prüfung dieser Frage bedarf es hier jedoch nicht, denn jedenfalls drängt sich die Zulassung einer Abweichung vorliegend nicht auf.

28

Zuletzt kann zugunsten der Beigeladenen nicht ins Feld geführt werden, dass infolge des Verschließens des Fensters in der Grenzwand die Beeinträchtigungen geringer seien als zuvor. Die Regelung des § 8 LBauO, die auch im Falle von nachträglichen Nutzungsänderungen neu zu prüfen ist, räumt dem Grundstücksnachbarn ein subjektiv-öffentliches Abwehrrecht gegen die rechtswidrige Zulassung eines Vorhabens unter Verletzung des § 8 LBauO ein. Dabei kommt es auf die Frage, ob der Grundstücksnachbar spürbar und merklich durch den Abstandsflächenverstoß beeinträchtigt wird, nicht an. Die Abstandsvorschriften nehmen den Ausgleich der nachbarlichen Interessen in abstrakt - genereller Weise vor und legen zentimeterscharf fest, was dem Nachbarn an heranrückender Bebauung zuzumuten ist, ohne auf die Verhältnisse im Einzelfall abzustellen, insbesondere ohne nach Lage und Zuschnitt der einzelnen Grundstücke zu differenzieren (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09. November 2016 – 2 L 10/15 –, juris). Derartige Besonderheiten können nur bei der Erteilung einer Abweichung nach § 69 LBauO im Einzelfall eine Rolle spielen. Die Zulassung einer Abweichung drängt sich vorliegend jedoch nicht auf.

29

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene einen Antrag gestellt hat, war sie an den Kosten des Verfahrens zu beteiligen.

30

Die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf den §§ 52, 53 Gerichtskostengesetz – GKG –. Dabei hält es die Kammer für angezeigt, den für baurechtliche Nachbarklagen in Betracht kommenden Mindeststreitwert von 7.500 € zugrunde zu legen (vgl. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ Beilage 2014, Seite 58) und im Hinblick auf die Ziffer 1.5 des genannten Streitwertkatalogs 2013 auf die Hälfte zu reduzieren.

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Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße Beschluss, 24. Sept. 2018 - 5 L 1140/18.NW zitiert 7 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Urteil, 13. Dez. 2017 - 2 B 17.1741

bei uns veröffentlicht am 13.12.2017

Tenor I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 16. November 2015 wird die Klage abgewiesen. II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen K

Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Urteil, 09. Nov. 2016 - 2 L 10/15

bei uns veröffentlicht am 09.11.2016

Tatbestand 1 Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer den Beigeladenen erteilten Baugenehmigung. 2 Sie ist Eigentümerin des Grundstücks K-Straße 4a in A-Stadt (Flurstück 58/3 der Flur A der Gemarkung A-Stadt), welches mit einer Doppelhaushälfte

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 02. Nov. 2015 - 4 B 32/15

bei uns veröffentlicht am 02.11.2015

Gründe 1 Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 11. März 2015 - 8 S 492/15

bei uns veröffentlicht am 11.03.2015

Tenor Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. November 2012 - 11 K 3405/12 - in der Fassung des Senatsbeschlusses vom 14. März 2013 - 8 S 2504/12 - wird geändert, soweit er die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller

Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 05. Juni 2014 - 4 BN 8/14

bei uns veröffentlicht am 05.06.2014

Tenor Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2013 wird zurückgewiesen.

Bundesverwaltungsgericht Urteil, 18. Nov. 2010 - 4 C 10/09

bei uns veröffentlicht am 18.11.2010

Tatbestand 1 Die Klägerin ist eine als eingetragener Verein organisierte Pfarrgemeinde der Syrisch-Orthodoxen Kirche. Im Jahre 1994 beantragte sie die Erteilung einer Ba

Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Urteil, 24. Juni 2010 - 1 A 11265/09

bei uns veröffentlicht am 24.06.2010

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 27. Januar 2009 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides der Beklagten vom 10. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 5. Au

Referenzen

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens haben keine aufschiebende Wirkung.

(2) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Geltendmachung des Kostenerstattungsbetrags nach § 135a Absatz 3 sowie des Ausgleichsbetrags nach § 154 durch die Gemeinde haben keine aufschiebende Wirkung.

(1) Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt ein, kann die Behörde

1.
auf Antrag des Begünstigten nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 die sofortige Vollziehung anordnen,
2.
auf Antrag des Dritten nach § 80 Abs. 4 die Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen.

(2) Legt ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten belastenden Verwaltungsakt, der einen Dritten begünstigt, einen Rechtsbehelf ein, kann die Behörde auf Antrag des Dritten nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 die sofortige Vollziehung anordnen.

(3) Das Gericht kann auf Antrag Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen. § 80 Abs. 5 bis 8 gilt entsprechend.

(1) Für Vorhaben, die die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen zum Inhalt haben, und für Aufschüttungen und Abgrabungen größeren Umfangs sowie für Ausschachtungen, Ablagerungen einschließlich Lagerstätten gelten die §§ 30 bis 37.

(2) Die Vorschriften des Bauordnungsrechts und andere öffentlich-rechtliche Vorschriften bleiben unberührt.

(1) Aufgabe der Bauleitplanung ist es, die bauliche und sonstige Nutzung der Grundstücke in der Gemeinde nach Maßgabe dieses Gesetzbuchs vorzubereiten und zu leiten.

(2) Bauleitpläne sind der Flächennutzungsplan (vorbereitender Bauleitplan) und der Bebauungsplan (verbindlicher Bauleitplan).

(3) Die Gemeinden haben die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist; die Aufstellung kann insbesondere bei der Ausweisung von Flächen für den Wohnungsbau in Betracht kommen. Auf die Aufstellung von Bauleitplänen und städtebaulichen Satzungen besteht kein Anspruch; ein Anspruch kann auch nicht durch Vertrag begründet werden.

(4) Die Bauleitpläne sind den Zielen der Raumordnung anzupassen.

(5) Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln. Hierzu soll die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen.

(6) Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind insbesondere zu berücksichtigen:

1.
die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse und die Sicherheit der Wohn- und Arbeitsbevölkerung,
2.
die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere auch von Familien mit mehreren Kindern, die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen, die Eigentumsbildung weiter Kreise der Bevölkerung und die Anforderungen kostensparenden Bauens sowie die Bevölkerungsentwicklung,
3.
die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, insbesondere die Bedürfnisse der Familien, der jungen, alten und behinderten Menschen, unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer sowie die Belange des Bildungswesens und von Sport, Freizeit und Erholung,
4.
die Erhaltung, Erneuerung, Fortentwicklung, Anpassung und der Umbau vorhandener Ortsteile sowie die Erhaltung und Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche,
5.
die Belange der Baukultur, des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege, die erhaltenswerten Ortsteile, Straßen und Plätze von geschichtlicher, künstlerischer oder städtebaulicher Bedeutung und die Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes,
6.
die von den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestellten Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge,
7.
die Belange des Umweltschutzes, einschließlich des Naturschutzes und der Landschaftspflege, insbesondere
a)
die Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Fläche, Boden, Wasser, Luft, Klima und das Wirkungsgefüge zwischen ihnen sowie die Landschaft und die biologische Vielfalt,
b)
die Erhaltungsziele und der Schutzzweck der Natura 2000-Gebiete im Sinne des Bundesnaturschutzgesetzes,
c)
umweltbezogene Auswirkungen auf den Menschen und seine Gesundheit sowie die Bevölkerung insgesamt,
d)
umweltbezogene Auswirkungen auf Kulturgüter und sonstige Sachgüter,
e)
die Vermeidung von Emissionen sowie der sachgerechte Umgang mit Abfällen und Abwässern,
f)
die Nutzung erneuerbarer Energien sowie die sparsame und effiziente Nutzung von Energie,
g)
die Darstellungen von Landschaftsplänen sowie von sonstigen Plänen, insbesondere des Wasser-, Abfall- und Immissionsschutzrechts,
h)
die Erhaltung der bestmöglichen Luftqualität in Gebieten, in denen die durch Rechtsverordnung zur Erfüllung von Rechtsakten der Europäischen Union festgelegten Immissionsgrenzwerte nicht überschritten werden,
i)
die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Belangen des Umweltschutzes nach den Buchstaben a bis d,
j)
unbeschadet des § 50 Satz 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, die Auswirkungen, die aufgrund der Anfälligkeit der nach dem Bebauungsplan zulässigen Vorhaben für schwere Unfälle oder Katastrophen zu erwarten sind, auf die Belange nach den Buchstaben a bis d und i,
8.
die Belange
a)
der Wirtschaft, auch ihrer mittelständischen Struktur im Interesse einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung,
b)
der Land- und Forstwirtschaft,
c)
der Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen,
d)
des Post- und Telekommunikationswesens, insbesondere des Mobilfunkausbaus,
e)
der Versorgung, insbesondere mit Energie und Wasser, einschließlich der Versorgungssicherheit,
f)
der Sicherung von Rohstoffvorkommen,
9.
die Belange des Personen- und Güterverkehrs und der Mobilität der Bevölkerung, auch im Hinblick auf die Entwicklungen beim Betrieb von Kraftfahrzeugen, etwa der Elektromobilität, einschließlich des öffentlichen Personennahverkehrs und des nicht motorisierten Verkehrs, unter besonderer Berücksichtigung einer auf Vermeidung und Verringerung von Verkehr ausgerichteten städtebaulichen Entwicklung,
10.
die Belange der Verteidigung und des Zivilschutzes sowie der zivilen Anschlussnutzung von Militärliegenschaften,
11.
die Ergebnisse eines von der Gemeinde beschlossenen städtebaulichen Entwicklungskonzeptes oder einer von ihr beschlossenen sonstigen städtebaulichen Planung,
12.
die Belange des Küsten- oder Hochwasserschutzes und der Hochwasservorsorge, insbesondere die Vermeidung und Verringerung von Hochwasserschäden,
13.
die Belange von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden und ihrer Unterbringung,
14.
die ausreichende Versorgung mit Grün- und Freiflächen.

(7) Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen.

(8) Die Vorschriften dieses Gesetzbuchs über die Aufstellung von Bauleitplänen gelten auch für ihre Änderung, Ergänzung und Aufhebung.

Tatbestand

1

Die Klägerin ist eine als eingetragener Verein organisierte Pfarrgemeinde der Syrisch-Orthodoxen Kirche. Im Jahre 1994 beantragte sie die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer "Syrisch-Orthodoxen Kirche mit Mausoleum" sowie eines "Gemeindezentrums". In der Bauzeichnung für das Untergeschoss der Kirche war eine "Krypta" mit zehn Grabkammern eingezeichnet.

2

Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans der Beigeladenen zu 1, der das gesamte Plangebiet als Industriegebiet (GI) festsetzt. In den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans sind "Ausnahmen nach § 9 Abs. 3 BauNVO und Nebenanlagen nach § 14 BauNVO" zugelassen.

3

Die Beklagte erteilte der Klägerin die beantragte Baugenehmigung für das Kirchengebäude und das Gemeindezentrum. Hinsichtlich der Krypta lehnte sie den Antrag unter Hinweis auf das versagte gemeindliche Einvernehmen der Beigeladenen zu 1 ab. Die Klägerin erhob Widerspruch gegen die Ablehnung, ließ dann aber in der Bauzeichnung ihres Bauantrags die Zweckbestimmung "Krypta" durch "Abstellraum" ersetzen und die Grabkammern streichen. Die Beklagte hob daraufhin den ablehnenden Teil des Genehmigungsbescheides auf. Die Kirche ist mittlerweile errichtet und wird von der Klägerin als solche genutzt.

4

Im Jahre 2005 beantragte die Klägerin, im betreffenden Raum im Untergeschoss der Kirche eine Krypta "als privaten Bestattungsplatz ausdrücklich ausschließlich für verstorbene Geistliche" ihrer Kirche zu genehmigen. Entsprechend der ursprünglichen Planung ist der Einbau von zehn Grabkammern in Wandnischen vorgesehen, die nach Beisetzung durch dicht verfugte Stahlbetonplatten zur Raumseite hin verschlossen und mit beschrifteten Marmorverkleidungen versehen werden sollen. Die Krypta soll nur von außen zugänglich sein.

5

Das Gesundheitsamt beim Landratsamt Heilbronn stimmte der Krypta aus hygienischer Sicht unter Auflagen zu. Die Beigeladene zu 1 versagte wiederum das gemeindliche Einvernehmen. Die Beklagte lehnte den Bauantrag ab, der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

6

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Einbau einer Krypta im Untergeschoss der Kirche unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

7

Auf die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen zu 1 hat der Verwaltungsgerichtshof die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen; die Berufung der Klägerin hat er zurückgewiesen. Die Umwandlung des betreffenden Abstellraums in eine Krypta sei eine genehmigungspflichtige, aber nicht genehmigungsfähige Nutzungsänderung. Sie sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil sie den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans widerspreche. Zwar handle es sich bei der Krypta um eine - städtebaulich gegenüber der Kirche eigenständig zu würdigende - Anlage für kirchliche Zwecke im Sinne des Ausnahmekatalogs des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Sie sei jedoch wegen Unverträglichkeit mit dem Charakter eines Industriegebiets unzulässig. Das Ermessen für eine ausnahmsweise Zulassung nach § 31 Abs. 1 BauGB sei deshalb entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht eröffnet. Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB komme ebenfalls nicht in Betracht. Es spreche alles dafür, dass die private Bestattungsanlage schon die Grundzüge der Planung berühre, die auf ein typisches, die gewerbliche Nutzungsbreite voll ausschöpfendes Industriegebiet ohne konfliktträchtige Ausnahmenutzungen gerichtet gewesen sei. Jedenfalls fehle es aber an Befreiungsgründen. Insbesondere erforderten es Gründe des Wohls der Allgemeinheit nicht, die Krypta trotz ihrer bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit an der vorgesehenen Stelle zu errichten. Dies gelte auch im Lichte der Art. 4 und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Das Bedürfnis, über eine Krypta in der eigenen Kirche zu verfügen, sei nicht zwingender Bestandteil der Religionsausübung der Klägerin. Der durch die Ablehnung unterhalb dieser Schwelle angesiedelte Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit sei durch den Achtungsanspruch der Verstorbenen und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken gerechtfertigt, das im Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet sei. Eine diskriminierende Ungleichbehandlung im Verhältnis zur katholischen Kirche sei ebenfalls nicht zu erkennen.

8

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Revision gegen die vorinstanzlichen Urteile und macht eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 und Art. 3 Abs. 1 GG sowie ihrer Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 ff. WRV geltend.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Berufungsurteil verstößt gegen Bundesrecht.

10

Die Einrichtung einer Krypta im Untergeschoss des Kirchengebäudes der Klägerin ist eine Nutzungsänderung im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB, deren bauplanungsrechtliche Zulässigkeit an §§ 30 ff. BauGB zu messen ist (1). Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass diese Nutzungsänderung im Industriegebiet nicht im Wege einer Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen werden kann, weil sie mit dem typischen Charakter eines Industriegebiets unvereinbar ist, steht im Einklang mit Bundesrecht (2). Bundesrechtswidrig sind demgegenüber die Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung gestützt hat, dass die Krypta auch nicht im Wege einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB genehmigt werden könne (3). Da die Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs für eine abschließende Prüfung der Befreiungsvoraussetzungen nicht ausreichen, war die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (4).

11

1. Die beantragte Nutzung des Abstellraums im Untergeschoss des Kirchengebäudes der Klägerin als Krypta ist eine vom Vorhabenbegriff des § 29 Abs. 1 BauGB umfasste, mit geringfügigen baulichen Änderungen verbundene Nutzungsänderung.

12

Eine Nutzungsänderung liegt vor, wenn durch die Verwirklichung eines Vorhabens die einer genehmigten Nutzung eigene Variationsbreite verlassen wird und durch die Aufnahme dieser veränderten Nutzung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können, so dass sich die Genehmigungsfrage unter bodenrechtlichem Aspekt neu stellt (Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 4 C 49.89 - NVwZ 1991, 264 m.w.N.; Beschlüsse vom 14. April 2000 - BVerwG 4 B 28.00 - juris Rn. 6 und vom 7. November 2002 - BVerwG 4 B 64.02 - BRS 66 Nr. 70 S. 327). Die Variationsbreite der bisherigen Nutzung wird auch dann überschritten, wenn das bisher charakteristische Nutzungsspektrum durch die Änderung erweitert wird (Urteil vom 27. August 1998 - BVerwG 4 C 5.98 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 190 S. 64). So liegen die Dinge hier. Die Nutzung als Begräbnisstätte ist heute für eine Kirche nicht mehr charakteristisch. Im vorliegenden Fall wurde die Krypta zudem von der im Jahre 1994 erteilten Baugenehmigung für die Errichtung der Kirche ausdrücklich ausgenommen und sollte - auf Anregung des Regierungspräsidiums Stuttgart letztlich auch aus der Sicht der Klägerin - einem Nachtrags-Baugenehmigungsverfahren vorbehalten bleiben.

13

Vorhaben im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB und damit Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Prüfung ist jedoch nicht - wie vom Verwaltungsgerichtshof angenommen - die Krypta als selbständige "Hauptanlage", sondern die Änderung von einer Kirche mit Abstellraum zu einer Kirche mit Krypta als Gesamtvorhaben. Geht es um die Änderung einer Nutzung, dürfen die bauliche Anlage und ihre Nutzung nicht getrennt beurteilt werden; sie bilden eine Einheit (Urteil vom 15. November 1974 - BVerwG 4 C 32.71 - BVerwGE 47, 185 <188>). Soll nicht die Nutzung der baulichen Anlage insgesamt, sondern - wie hier - lediglich eines bestimmten Teils der Anlage geändert werden, kann die bauplanungsrechtliche Prüfung hierauf nur beschränkt werden, wenn der betroffene Anlagenteil auch ein selbständiges Vorhaben sein könnte; er muss von dem Vorhaben im Übrigen abtrennbar sein (Urteil vom 17. Juni 1993 - BVerwG 4 C 17.91 - BRS 55 Nr. 72 S. 204). Daran fehlt es hier. Der streitgegenständliche, unter dem Altar gelegene Raum ist untrennbar mit der Kirche im Übrigen verbunden. Nur weil dies so ist, möchte die Klägerin in der Krypta ihre Gemeindepriester beisetzen. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass nach den Glaubensvorstellungen der Klägerin die Verpflichtung besteht, syrisch-orthodoxe Priester in einem geweihten kirchlichen Bestattungsraum beizusetzen (UA S. 17 und 27). Kirche und Krypta stehen deshalb als Gesamtvorhaben zur bauplanungsrechtlichen Prüfung.

14

Die Nutzungsänderung ist auch städtebaulich relevant, weil durch die Aufnahme der neuen Nutzung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können (Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 4 C 49.89 - a.a.O.). Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass das Trauern und Gedenken nicht nur im Innern der Kirche unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, sondern auch außerhalb des Kirchengebäudes bemerkbar sein werde. Wie sich aus den Äußerungen der Klägerin im Baugenehmigungsverfahren sowie aus den von ihr in Bezug genommenen externen Stellungnahmen zum Ritual des Totengedenkens ergebe, solle das Gedenken feierlich zelebriert werden; die Toten sollen mit gelegentlichen Feiern geehrt werden. Zudem sei es Brauch der syrisch-orthodoxen Christen, nach jedem samstäglichen Abendgottesdienst vor den Priestergruften Gedenkgebete zu zelebrieren und an bestimmten Sonntagen und an hohen kirchlichen Feiertagen die Gottesdienste mit einer feierlichen Prozession in die Krypta abzuschließen. Bereits diese Feststellungen rechtfertigen die Annahme, dass durch die beantragte Nutzungsänderung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können, auch wenn der Verwaltungsgerichtshof Quantität und Dauer dieser "externen" Traueraktivitäten nicht näher beschrieben und sie "letztlich" selbst nicht für ausschlaggebend gehalten, sondern entscheidend auf die funktionsmäßige städtebauliche Qualität der Krypta als Begräbnisstätte abgestellt hat (UA S. 22).

15

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, dass eine Kirche mit Krypta zwar grundsätzlich unter die im Industriegebiet gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulassungsfähigen Anlagen für kirchliche Zwecke fällt, eine Ausnahme vorliegend aber wegen Unverträglichkeit dieser Nutzung mit dem typischen Charakter eines Industriegebiets nicht erteilt werden kann. Dagegen gibt es aus bundesrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.

16

Das Kirchengrundstück liegt nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans, der hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung für das gesamte Plangebiet ein Industriegebiet (GI) gemäß § 9 BauNVO festsetzt. Bedenken gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans hat der Verwaltungsgerichtshof nicht zu erkennen vermocht. Anhaltspunkte dafür haben sich auch im Revisionsverfahren nicht ergeben. Maßstab für die Zulässigkeit des Vorhabens ist deshalb grundsätzlich § 30 Abs. 1 BauGB. Im Industriegebiet ist eine Kirche mit Krypta nicht gemäß § 9 Abs. 2 BauNVO allgemein zulässig. Zu Recht konzentriert der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung deshalb zunächst auf die Frage, ob die beantragte Nutzungsänderung im Wege einer Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen werden kann.

17

a) Im Einklang mit Bundesrecht geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass das Vorhaben eine Anlage für kirchliche Zwecke im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ist. Unter diesen Begriff fallen Anlagen, die unmittelbar kirchlich-religiösen Zwecken dienen, wie insbesondere ein dem Gottesdienst dienendes Kirchengebäude. Die von der Klägerin errichtete Kirche erfüllt diese Voraussetzungen. Die Krypta ist - wie bereits dargelegt - untrennbar mit der Kirche verbunden. Sie ist nicht nur ein privater Bestattungsplatz im Sinne des § 9 BestattG, sondern, weil sie der Bestattung von Gemeindepriestern dienen soll, die nach der Glaubensvorstellung der Klägerin nur in einem geweihten kirchlichen Raum beigesetzt werden dürfen, selbst Anlage für kirchliche Zwecke.

18

b) In Übereinstimmung mit Bundesrecht geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die ausnahmsweise Zulassungsfähigkeit der beantragten Nutzungsänderung aber am ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Gebietsverträglichkeit scheitert.

19

Die Prüfung der Gebietsverträglichkeit rechtfertigt sich aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Der Verordnungsgeber will durch die Zuordnung von Nutzungen zu den näher bezeichneten Baugebieten die vielfältigen und oft gegenläufigen Ansprüche an die Bodennutzung zu einem schonenden Ausgleich im Sinne überlegter Städtebaupolitik bringen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die vom Verordnungsgeber dem jeweiligen Baugebiet zugewiesene allgemeine Zweckbestimmung den Charakter des Gebiets eingrenzend bestimmt (Urteil vom 21. März 2002 - BVerwG 4 C 1.02 - BVerwGE 116, 155 <158>; Beschluss vom 28. Februar 2008 - BVerwG 4 B 60.07 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 19 Rn. 6, jeweils m.w.N.). Zu Recht geht der Verwaltungsgerichtshof deshalb davon aus, dass die Gebietsverträglichkeit eine für die in einem Baugebiet allgemein zulässigen und erst recht für die ausnahmsweise zulassungsfähigen Nutzungsarten ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung ist, der eine typisierende Betrachtungsweise zugrunde liegt und die der Einzelfallprüfung auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 BauNVO vorgelagert ist.

20

Industriegebiete dienen gemäß § 9 Abs. 1 BauNVO ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind. Gewerbegebiete dienen gemäß § 8 Abs. 1 BauNVO der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben. Die Unterbringung erheblich störender Betriebe ist deshalb dem Industriegebiet vorbehalten und zugleich dessen Hauptzweck.

21

Von maßgeblicher Bedeutung für die Frage, welche Vorhaben mit dieser allgemeinen Zweckbestimmung des Industriegebiets unverträglich sind, sind die Anforderungen des jeweiligen Vorhabens an ein Gebiet, die Auswirkungen des Vorhabens auf ein Gebiet und die Erfüllung des spezifischen Gebietsbedarfs (Urteil vom 21. März 2002 a.a.O.). Da Industriegebiete der einzige Baugebietstyp der Baunutzungsverordnung sind, in dem erheblich störende Gewerbebetriebe untergebracht werden können, sind die in § 9 Abs. 3 BauNVO bezeichneten Nutzungsarten nur dann ohne Weiteres gebietsverträglich, wenn sie nicht störempfindlich sind und deshalb mit dem Hauptzweck des Industriegebiets nicht in Konflikt geraten können. Diese Voraussetzung erfüllt eine Kirche - mit oder ohne Krypta - bei typisierender Betrachtung nicht (vgl. auch Beschluss vom 20. Dezember 2005 - BVerwG 4 B 71.05 - Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 21). Eine auf störunempfindliche Anlagen beschränkte ausnahmsweise Zulassungsfähigkeit von "Anlagen für kirchliche Zwecke" im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO führt auch nicht dazu, dass dieses Tatbestandsmerkmal leer liefe. Das gilt bereits deshalb, weil nicht alle Anlagen für kirchliche Zwecke in gleicher Weise störempfindlich sind (vgl. etwa die Beispiele bei Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Band V, Stand: Juni 2010, Rn. 82 zu § 4 BauNVO). Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auch eine störempfindliche Nutzung gebietsverträglich sein kann, etwa weil sie einem aus dem Gebiet stammenden Bedarf folgt, kann offen bleiben, weil weder seitens der Verfahrensbeteiligten geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich ist, dass hier derartige die Gebietsverträglichkeit begründende Umstände gegeben sein könnten.

22

3. Bundesrechtswidrig sind jedoch die Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Annahme gestützt hat, das Vorhaben könne auch nicht im Wege einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB genehmigt werden.

23

Ob die Umwandlung des Abstellraums in eine Krypta die Grundzüge der Planung berührt, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht abschließend entschieden. Nach seiner Auffassung fehlt jedenfalls ein Befreiungsgrund. Auch Gründe des Wohls der Allgemeinheit erforderten es nicht, dass die Krypta trotz ihrer bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit an der vorgesehenen Stelle eingerichtet werde. Das gelte auch bei Bewertung der Grabstättennutzung im Licht der Art. 4 und 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV (UA S. 25). Die Bestattung der Gemeindepriester in der Hauskirche sei kein zwingender Bestandteil der Religionsausübung (UA S. 27). Der verbleibende Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit sei gerechtfertigt. Die Krypta erfordere ein Umfeld der Ruhe und Andacht. Dieses Umfeld sei in dem Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet. Zudem befinde sich die Krypta nur wenige Meter von der Grenze zum östlichen Nachbargrundstück und nur ca. 17 m von der dortigen großen Produktionshalle entfernt. Diese Situation widerspreche der Würde der in solchem Umfeld bestatteten Toten in hohem Maße. Insofern werde der Achtungsanspruch der Verstorbenen verletzt, der sich nachwirkend aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebe. Darüber hinaus werde bei objektiver Betrachtung auch das durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt. Diese verfassungsimmanente Schranke setze sich gegenüber der Beeinträchtigung der Religionsausübungsfreiheit durch und sei auch verhältnismäßig. Dabei sei besonders zu berücksichtigen, dass die Krypta keinesfalls nur am vorgesehenen Ort, sondern (zusammen mit der Kirche) an anderer geeigneter Stelle errichtet werden könnte oder damals hätte errichtet werden können. Das Planungsrecht biete zahlreiche Möglichkeiten, um städtebaulich die Grundlagen für eine pietätvolle Begräbnisstätte zu schaffen (UA S. 28 f.).

24

Mit diesen Erwägungen kann das Vorliegen eines Befreiungsgrundes nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht verneint werden.

25

a) Gründe des Wohls der Allgemeinheit beschränken sich nicht auf spezifisch bodenrechtliche Belange, sondern erfassen alles, was gemeinhin unter öffentlichen Belangen oder öffentlichen Interessen zu verstehen ist, wie sie beispielhaft etwa in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB aufgelistet sind (vgl. Urteil vom 9. Juni 1978 - BVerwG 4 C 54.75 - BVerwGE 56, 71 <76>). Vom Wortlaut des § 1 Abs. 6 Nr. 6 BauGB erfasst werden die Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge zwar nur, soweit sie von Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestellt werden. Die in den Glaubensvorstellungen wurzelnden Belange privatrechtlich organisierter Kirchen und Religionsgesellschaften sind jedoch ebenfalls als öffentliche Belange zu berücksichtigen, sei es als kulturelle Bedürfnisse der Bevölkerung im Sinne des § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB oder als ein in dem nicht abschließenden Katalog des § 1 Abs. 6 BauGB nicht ausdrücklich erwähnter Belang (VGH München, Urteil vom 29. August 1996 - 26 N 95.2983 - VGH n.F. 49, 182 <186> = NVwZ 1997, 1016 <1017 f.> m.w.N.). Das gilt jedenfalls, wenn die betreffende Kirchengemeinde - wie dies bei der Klägerin der Fall sein dürfte - eine nicht unbedeutende Zahl von Mitgliedern hat.

26

b) Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern eine Befreiung im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht erst dann, wenn den Belangen der Allgemeinheit auf eine andere Weise als durch eine Befreiung nicht entsprochen werden könnte, sondern bereits dann, wenn es zur Wahrnehmung des jeweiligen öffentlichen Interesses "vernünftigerweise geboten" ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen. Dass die Befreiung dem Gemeinwohl nur irgendwie nützlich oder dienlich ist, reicht demgegenüber nicht aus (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O.; Beschluss vom 6. März 1996 - BVerwG 4 B 184.95 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 35). Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls. Dabei kann es auch auf - nach objektiven Kriterien zu beurteilende - Fragen der Zumutbarkeit ankommen (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77).

27

Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass das Bedürfnis der Klägerin, ihre verstorbenen Gemeindepriester in der eigenen Kirche beisetzen zu können, kein zwingender Bestandteil ihrer Religionsausübung ist. Nach ihrer Begräbnisregel sei es zwar verboten, syrisch-orthodoxe Priester zusammen mit den Gemeindeangehörigen auf normalen Friedhöfen zu bestatten. Es bestehe die Verpflichtung, diesen Personenkreis in einem geweihten kirchlichen Bestattungsraum beizusetzen. Die Beisetzung müsse jedoch nicht zwingend in der "Hauskirche" erfolgen (UA S. 27).

28

Diese Feststellungen stehen der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht entgegen. Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern die Zulassung der Krypta auch, wenn Alternativen zur Beisetzung in der eigenen Kirche an sich in Betracht kommen, der Klägerin aber unter den gegebenen Umständen nicht zugemutet werden können. Dass die Klägerin theoretisch an anderer Stelle eine Kirche mit Krypta neu errichten könnte, genügt nicht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs kann eine Befreiung auch nicht mit dem Argument verweigert werden, dass es planungsrechtlich bereits bei Errichtung der Kirche möglich gewesen wäre, an anderer geeigneter Stelle die Grundlagen für eine pietätvolle Begräbnisstätte zu schaffen. Maßgebend für die Zumutbarkeit ist vielmehr, ob der Klägerin tatsächlich zu nicht unangemessenen Bedingungen ein besser geeignetes Grundstück für die Errichtung einer Kirche mit Krypta auf dem Gebiet der Beklagten zur Verfügung gestanden hätte oder, wenn dies nicht der Fall war, ob sie sich bewusst auf die Errichtung einer Kirche ohne Krypta eingelassen hat. Feststellungen hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof nicht getroffen. Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin ein besser geeignetes Grundstück zur Verfügung gestanden hätte, sind jedenfalls nach Aktenlage nicht ersichtlich. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge hat das Regierungspräsidium selbst angeregt, dass über die Zulässigkeit einer Krypta im Rahmen eines Nachtragsbaugesuchs entschieden wird. Ausgehend hiervon dürfte der Klägerin nicht entgegengehalten werden können, dass sie den Anspruch auf eine Krypta nicht bereits vor Errichtung der Kirche gerichtlich geltend gemacht hat. Mangels tatsächlicher Feststellungen kann der Senat hierüber jedoch nicht abschließend entscheiden. Eine Bestattung der Gemeindepriester in einem niederländischen Kloster kann der Klägerin wegen der großen Entfernung von fast 500 km jedenfalls nicht zugemutet werden. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Einwand "gut nachvollziehen" können (UA S. 27). Er hat ihn jedoch nicht - wie es geboten gewesen wäre - im Rahmen des "Erforderns" als für eine Befreiung sprechenden Umstand gewürdigt.

29

Die Annahme eines Befreiungsgrundes gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB scheitert auch nicht daran, dass die Krypta - wie der Verwaltungsgerichtshof anführt - an der vorgesehenen Stelle "bauplanungsrechtlich unzulässig" sei (UA S. 25). Richtig ist zwar, dass die Krypta weder allgemein zulässig ist noch im Wege einer Ausnahme zugelassen werden kann und - so ist zu ergänzen - wohl auch bereits die Kirche am betreffenden Standort nicht hätte genehmigt werden dürfen. Dies stellt jedoch kein Hindernis für die Erteilung einer Befreiung dar, sondern eröffnet im Gegenteil erst den Anwendungsbereich des § 31 Abs. 2 BauGB.

30

Schließlich darf bei der einzelfallbezogenen Prüfung des Befreiungsgrundes nicht unberücksichtigt bleiben, dass hier eine Nutzungserweiterung in Frage steht, die zwar bei typisierender Betrachtung gebietsunverträglich ist, aber "vernünftigerweise" an ein vorhandenes Kirchengebäude anknüpft, das aufgrund bestandskräftiger Baugenehmigung im genehmigten Umfang formal legal weitergenutzt werden darf. Das gilt umso mehr, wenn die bestandsgeschützte Kirchennutzung - wie hier - im Einvernehmen mit der Gemeinde genehmigt wurde, die Gemeinde also gewissermaßen selbst den Keim für "vernünftigerweise gebotene" Nutzungserweiterungen gelegt hat. Ob die sich aus der Würde der Toten und der Trauernden ergebenden städtebaulichen Anforderungen an eine Begräbnisstätte der Befreiung entgegen stehen, ist keine Frage des Befreiungsgrundes, sondern der weiteren Voraussetzung, dass die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss.

31

4. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht ausdrücklich geprüft. Auch mit den dargelegten grundrechtlichen Erwägungen verfehlt er die nach § 31 Abs. 2 BauGB anzulegenden Prüfungsmaßstäbe. Für eine eigene abschließende Beurteilung dieser Frage durch den Senat fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen (a). Nicht abschließend entschieden hat der Verwaltungsgerichtshof, ob die Grundzüge der Planung berührt werden. Auch der Senat ist hierzu nicht in der Lage (b).

32

a) Der Verwaltungsgerichtshof verfehlt die gemäß § 31 Abs. 2 BauGB anzulegenden Maßstäbe, soweit er der Religionsausübungsfreiheit der Klägerin den Achtungsanspruch der Toten und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken abstrakt gegenübergestellt und hierbei maßgebend auf die Typik und die Eigenart des Industriegebiets abgestellt hat, anstatt die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen.

33

Geboten ist eine Betrachtung, die die bisherige Situation (hier: Kirche ohne Krypta) dem durch die Abweichung zu ermöglichenden Gesamtvorhaben (hier: Kirche mit Krypta) gegenüberstellt und die Vereinbarkeit des sich daraus ergebenden Unterschieds mit öffentlichen Belangen untersucht. Welche Umstände als öffentliche Belange im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung ausschließen, lässt sich nicht generell beantworten. In Betracht kommen insbesondere die in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB genannten öffentlichen Belange (vgl. Urteil vom 9. Juni 1978 - BVerwG 4 C 54.75 - BVerwGE 56, 71 <78>), auch solche, die nicht in der gemeindlichen Planungskonzeption ihren Niederschlag gefunden haben (Roeser, in: Berliner Kommentar, 3. Aufl., Stand: August 2010, Rn. 17 zu § 31; vgl. auch Urteil vom 19. September 2002 - BVerwG 4 C 13.01 - BVerwGE 117, 50 <54>). Ist die Befreiung mit einem öffentlichen Belang in beachtlicher Weise unvereinbar, so vermag sich der die Befreiung rechtfertigende Gemeinwohlgrund im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht durchzusetzen (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77 f.). Da der Plan gerade unter den Nachbarn einen Ausgleich von Nutzungsinteressen zum Inhalt hat, muss ferner darauf abgehoben werden, ob in den durch den Bebauungsplan bewirkten nachbarlichen Interessenausgleich erheblich störend eingegriffen wird (Beschluss vom 6. März 1996 - BVerwG 4 B 184.95 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 35). Maßgebend sind stets die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77).

34

Diesen bauplanungsrechtlichen Anforderungen werden die verfassungsrechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofs auch der Sache nach nicht in jeder Hinsicht gerecht. Zutreffend ist zwar, dass auch der Achtungsanspruch der Verstorbenen und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken als öffentliche Belange im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommen, wobei offen bleiben kann, ob der Verwaltungsgerichtshof mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG die richtige grundrechtliche Anknüpfung gewählt hat. Mit den abstrakten Erwägungen, dass eine Krypta ein städtebauliches Umfeld der Ruhe und Andacht erfordere, um der Totenruhe und der Würde der Toten Rechnung zu tragen, und dass dieses Umfeld in einem Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet sei, ferner, dass "bei objektiver Betrachtung" das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt werde, lässt sich die Versagung einer Befreiung nicht begründen. Maßgebend ist, ob im konkreten Einzelfall ausnahmsweise auch eine Begräbnisstätte in einem Industriegebiet den sich aus der Würde der Toten und der Trauernden ergebenden städtebaulichen Anforderungen genügt. Soweit der Verwaltungsgerichtshof auch die konkreten örtlichen Verhältnisse in den Blick genommen und darauf abgehoben hat, dass sich die Krypta nur wenige Meter von der Grenze zum östlichen Nachbargrundstück und nur ca. 17 m von der dortigen großen Produktionshalle entfernt befinde, in der auch im Schichtbetrieb gearbeitet werde und teilweise auch Lkw-Verkehr im Grenzbereich stattfinde, was in hohem Maße der Würde der in solchem Umfeld bestatteten Toten widerspreche (UA S. 28), fehlen jedenfalls Feststellungen dazu, inwieweit dieser Belang durch die Geschäftigkeit und Betriebsamkeit der industriellen Umgebung konkret beeinträchtigt werden kann, obwohl die Krypta in dem gegenüber der Außenwelt abgeschirmten Kircheninnern gelegen ist. Ähnliches gilt, soweit der Verwaltungsgerichtshof "bei objektiver Betrachtung" auch das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt sieht. Insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass die Beisetzung in einem geweihten Kirchenraum nach den Glaubensvorstellungen nicht nur der Syrisch-Orthodoxen Kirche eine besonders würdevolle Form der Bestattung ist.

35

Es fehlen auch Feststellungen, inwieweit durch die Zulassung der Abweichung nachbarliche Interessen konkret betroffen werden können, etwa, ob und gegebenenfalls in welcher Intensität gewerbliche Nutzungen in der Umgebung der Kirche durch die Krypta mit Nutzungseinschränkungen rechnen müssen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass mögliche Nutzungskonflikte bereits mit der Errichtung und Nutzung der Kirche entstanden sein dürften. Allein auf die Feststellung, dass das Trauern und Gedenken auch außerhalb des Kirchengebäudes "bemerkbar" sein werde (UA S. 21), kann die Ablehnung einer Befreiung nicht gestützt werden, weil dies auch auf die in einer Kirche ohne Krypta abgehaltenen Beerdigungs- und Trauergottesdienste zutrifft.

36

b) Mit der Formulierung, es spreche alles dafür, dass die private Bestattungsstätte die Grundzüge der Planung berühre, hat der Verwaltungsgerichtshof zwar deutlich gemacht, dass er dieser Auffassung zuneigt. Tragend festgelegt hat er sich insoweit aber nicht. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen lässt sich derzeit auch hierzu Abschließendes nicht sagen.

37

Ob die Grundzüge der Planung berührt sind, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung in der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O.; Beschlüsse vom 5. März 1999 - BVerwG 4 B 5.99 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 S. 2 und vom 19. Mai 2004 - BVerwG 4 B 35.04 - BRS 67 Nr. 83). Die Beantwortung der Frage, ob Grundzüge der Planung berührt werden, setzt einerseits die Feststellung voraus, was zum planerischen Grundkonzept gehört und andererseits die Feststellung, ob dieses planerische Grundkonzept gerade durch die in Frage stehende Befreiung berührt wird (vgl. Söfker, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Band II, Stand: Juni 2010, Rn. 35 zu § 31 BauGB).

38

Zur ersten Frage hat der Verwaltungsgerichtshof festgestellt, dass die Planung - zum maßgeblichen Zeitpunkt des Planerlasses im Jahr 1970, aber auch nach der tatsächlichen Bebauung - auf ein typisches, die gewerbliche Nutzungsbreite voll ausschöpfendes Industriegebiet ohne konfliktträchtige Ausnahmenutzungen gerichtet gewesen sei (UA S. 25). Weder die Festsetzungen noch die Begründung des Bebauungsplans enthielten Hinweise für die Absicht des Plangebers, das Baugebiet in einer vom Regelfall des § 9 Abs. 1 BauGB abweichenden Weise auszugestalten. Auch die seither verwirklichten Gewerbebetriebe in der näheren und weiteren Umgebung der Kirche ließen eine geradezu "klassische" Industriegebietsnutzung erkennen (UA S. 24), die vorhandenen Betriebe im Bebauungsplangebiet entsprächen der Nutzungsstruktur eines normtypischen Industriegebiets geradezu beispielhaft (UA S. 21). Diese Feststellungen haben zwar Tatsachen (§ 137 Abs. 2 VwGO) sowie die Auslegung des Bebauungsplans als Teil des nicht revisiblen Landesrechts (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO) zum Gegenstand. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber mehrere für die Grundzüge der Planung bedeutsame Umstände außer Acht gelassen. Soweit er auf den Zeitpunkt des Planerlasses im Jahr 1970 abstellt, hat er unberücksichtigt gelassen, dass die Plangeberin in Ziffer 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans (konfliktträchtige) Ausnahmenutzungen gemäß § 9 Abs. 3 BauNVO ausdrücklich zugelassen hat. Auch wenn diese Festsetzung nicht über das hinausgeht, was gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 3 BauNVO auch ohne sie gegolten hätte, bedarf es der Prüfung, welche Bedeutung dem Umstand, dass sich die Gemeinde gleichwohl zu einer ausdrücklichen Regelung veranlasst gesehen hat, bei der Bestimmung der Planungskonzeption beizumessen ist. Soweit der Verwaltungsgerichtshof auch auf die tatsächliche Bebauung im Industriegebiet abgestellt hat, hätte er nicht unberücksichtigt lassen dürfen, dass nicht nur Gewerbebetriebe verwirklicht wurden, sondern im Einvernehmen mit der Beigeladenen zu 1 auch die Kirche der Klägerin. Das ist ein Umstand, dem eine starke Indizwirkung für eine auch gegenüber konfliktträchtigen Ausnahmenutzungen offene Planungskonzeption zukommen kann.

39

Zu der weiteren Frage, ob die planerische Grundkonzeption durch die Befreiung berührt würde, hat der Verwaltungsgerichtshof keine Feststellungen getroffen. Verlässliche Rückschlüsse lassen auch die in anderem Zusammenhang getroffenen Feststellungen nicht zu. Diese Feststellungen wird der Verwaltungsgerichtshof nachzuholen haben, falls es für seine Entscheidung hierauf ankommt. Weil eine planerische Grundkonzeption durch ein Vorhaben nicht mehr berührt werden kann, wenn der mit der Planung verfolgte Interessenausgleich bereits durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet nachhaltig gestört ist (zutreffend VGH München, Urteil vom 9. August 2007 - 25 B 05.1337 - juris Rn. 41; nachfolgend Beschluss vom 28. April 2008 - BVerwG 4 B 16.08 -), wird er sich hierbei auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob die Grundzüge der Planung bereits durch die Errichtung und Nutzung der Kirche nachhaltig gestört sind und deshalb durch das Hinzutreten der Krypta nicht mehr in einer ins Gewicht fallenden Weise berührt werden können.

(1) Gewerbegebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben.

(2) Zulässig sind

1.
Gewerbebetriebe aller Art einschließlich Anlagen zur Erzeugung von Strom oder Wärme aus solarer Strahlungsenergie oder Windenergie, Lagerhäuser, Lagerplätze und öffentliche Betriebe,
2.
Geschäfts- , Büro- und Verwaltungsgebäude,
3.
Tankstellen,
4.
Anlagen für sportliche Zwecke.

(3) Ausnahmsweise können zugelassen werden

1.
Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter, die dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sind,
2.
Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale und gesundheitliche Zwecke,
3.
Vergnügungsstätten.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2013 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

2

1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Die Rüge des Antragstellers, der Verwaltungsgerichtshof sei von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen und habe dadurch gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen, ist schon nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt.

3

Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Fehler in der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen (vgl. nur Beschluss vom 14. Juli 2010 - BVerwG 10 B 7.10 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 66 Rn. 4). Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung mit der Folge des Vorliegens eines Verfahrensfehlers ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind; diese Verstöße gegen den Überzeugungsgrundsatz können als Verfahrensmängel gerügt werden (vgl. Beschlüsse vom 28. März 2012 - BVerwG 8 B 76.11 - Buchholz 428 § 6 VermG Nr. 76 Rn. 8, vom 13. Februar 2012 - BVerwG 9 B 77.11 - NJW 2012, 1672 Rn. 7, vom 17. Mai 2011 - BVerwG 8 B 98.10 - juris Rn. 8 und vom 25. Juni 2012 - BVerwG 7 BN 6.11 - juris Rn. 13, jeweils m.w.N.). Der Antragsteller wirft dem Verwaltungsgerichtshof vor, von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen zu sein und dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen zu haben. Das Normenkontrollgericht habe dem Vortrag der Antragsgegnerin, vor dem Beschluss über die Veränderungssperre und auch im Zusammenhang mit der Erweiterung des Geltungsbereichs des Bebauungsplans und der Veränderungssperre sei eine städtebauliche Bestandsaufnahme und Bewertung erfolgt, ein Billigungs- und Auslegungsbeschluss sei zudem in Vorbereitung, Glauben geschenkt, obwohl die Antragsgegnerin hierfür keine konkreten Nachweise beigebracht habe. Nur aufgrund dieses unzutreffenden Sachverhalts, der bestritten werde, habe der Verwaltungsgerichtshof die Schlussfolgerung ziehen können, dass eine unzulässige Negativplanung, die zur Ungültigkeit der Veränderungssperre führen würde, nicht vorgelegen habe. Dieses Vorbringen genügt den genannten Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensfehlers in der Form des Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz nicht. Es erschöpft sich vielmehr in der Kritik an der Beweiswürdigung des Normenkontrollgerichts.

4

2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.

5

Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, so bereits Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch Beschluss vom 1. Februar 2011 - BVerwG 7 B 45.10 - juris Rn. 15). Daran fehlt es hier.

6

Die Beschwerde hält zunächst die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig,

ob im Falle einer planerischen Untätigkeit (einer Gemeinde) während der Geltungsdauer einer Veränderungssperre (§ 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB) von einer unzulässigen Negativplanung auszugehen ist und in diesem Fall die Planung schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Verfahrens an einem erkennbaren, nicht behebbaren Mangel leidet, der zur Ungültigkeit der Veränderungssperre führt.

7

Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, denn sie geht von einem Sachverhalt aus, den der Verwaltungsgerichtshof so nicht festgestellt hat. Danach könne nicht von einer (planerischen) Untätigkeit der Antragsgegnerin seit dem Erlass der Veränderungssperre ausgegangen werden. Vielmehr seien inzwischen die städtebauliche Bestandsaufnahme und deren Bewertung erfolgt; nach der informellen Beteiligung sei nunmehr der Billigungs- und Auslegungsbeschluss in Vorbereitung. Die Eintragung, wonach „gegenwärtig keine" Gesamtkosten der Planung entstünden, sei nach den nachvollziehbaren Ausführungen der Antragsgegnerin auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Bebauungsplanverfahren im Stadtplanungsamt ohne Beauftragung eines externen Büros durchgeführt werde und deshalb derzeit keine für den städtischen Haushalt konkret anzusetzenden Planungskosten zu erwarten seien (UA S. 7). An diese mit Verfahrensrügen nicht erfolgreich angegriffenen Feststellungen des Normenkontrollgerichts ist der Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden.

8

Weiter hält die Beschwerde für grundsätzlich klärungsbedürftig,

ob es sich bei einem Bordell und einem bordellartigen Betrieb um bestimmte Unterarten der in einem Gewerbegebiet allgemein oder ausnahmsweise zulässigen baulichen und sonstigen Anlagen im Sinne von § 1 Abs. 9 BauNVO handelt.

9

Auch diese Frage führt nicht zur Zulassung der Revision, denn auf sie lässt sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung antworten, ohne dass es hierfür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf (z.B. Beschlüsse vom 13. März 1992 - BVerwG 4 B 39.92 - NVwZ 1993, 268 = juris Rn. 11 und vom 12. Juli 2012 - BVerwG 4 B 13.12 - NVwZ 2012, 1565 = juris Rn. 3).

10

In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass § 1 Abs. 9 BauNVO - über § 1 Abs. 5 BauNVO hinausgehend - gestattet, einzelne Unterarten von Nutzungen, welche die Baunutzungsverordnung selbst nicht angeführt hat, mit planerischen Festsetzungen zu erfassen (vgl. Urteil vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 C 77.84 - BVerwGE 77, 317 = Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 5). Während bereits nach § 1 Abs. 5 BauNVO einzelne der unter einer Nummer einer Baugebietsvorschrift der Baunutzungsverordnung zusammengefassten Nutzungen im Bebauungsplan ausgeschlossen werden können (vgl. Beschluss vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 N 4.86 - BVerwGE 77, 308 = Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 4 und Urteil vom 26. März 2009 - BVerwG 4 C 21.07 - BVerwGE 133, 310 Rn. 12 f.), können nach § 1 Abs. 9 BauNVO weitergehende Differenzierungen vorgenommen werden. Ziel des § 1 Abs. 9 BauNVO ist es mithin, die allgemeinen Differenzierungsmöglichkeiten der Baugebietstypen nochmals einer „Feingliederung" unterwerfen zu können, falls sich hierfür besondere städtebauliche Gründe ergeben, um die Vielfalt der Nutzungsarten im Plangebiet zu mindern. Die Planungsfreiheit der Gemeinden ist lediglich dadurch begrenzt, dass sich die Differenzierungen auf bestimmte Anlagentypen beziehen müssen, die es in der sozialen und ökonomischen Realität bereits gibt (vgl. z.B. Beschluss vom 27. Juli 1998 - BVerwG 4 BN 31.98 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 25 = juris Rn. 7). Vor diesem Hintergrund kann nicht zweifelhaft sein, dass Bordelle oder bordellähnliche Betriebe - als in der sozialen und ökonomischen Realität vorkommende Nutzungen - eine Unterart eines Gewerbebetriebes i.S.v. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO darstellen (vgl. Urteil vom 25. November 1983 - BVerwG 4 C 21.83 - BVerwGE 68, 213 = Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 2 = juris Rn. 9, für den Fall, dass die Dirnen in dem Bordell nicht wohnen). Sie können folglich in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet über § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i.V.m. § 1 Abs. 9 BauNVO ausgeschlossen werden.

11

3. Die Revision ist schließlich nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Antragsteller legt nicht dar, dass das angefochtene Urteil von Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts abweicht.

12

Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 und vom 13. Juli 1999 - BVerwG 8 B 166.99 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9).

13

Es ist bereits zweifelhaft, ob die Beschwerde die Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erfüllt. Das kann jedoch offenbleiben, weil der Verwaltungsgerichtshof mit seinen Ausführungen zu § 1 Abs. 9 BauNVO nicht von dem Urteil vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 C 77.84 - (a.a.O.) und dem Beschluss des Senats vom 6. Mai 1993 - BVerwG 4 NB 32.92 - (Buchholz 406.12 § 9 BauNVO Nr. 6) abgewichen ist. Seine Annahme, bei Bordellen und bordellartigen Betrieben sowie bei der Wohnungsprostitution handele es sich um bestimmte Unterarten einer gewerblichen Nutzung i.S.v. § 1 Abs. 9 BauNVO, steht - wie dargestellt - mit der Senatsrechtsprechung im Einklang.

14

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Gründe

1

Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.

2

Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> und vom 9. April 2014 - 4 BN 3.14 - ZfBR 2014, 479 Rn. 2).

3

Die Beschwerde hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

ob ein Bordell als "Gewerbebetrieb aller Art" im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO anzusehen ist oder Bordelle dem Begriff der Vergnügungsstätte im Sinne von § 7 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO unterfallen.

4

Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Nach der Rechtsprechung des Senats sind Bordelle oder bordellähnliche Betriebe "Gewerbebetriebe aller Art" im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO (BVerwG, Beschluss vom 5. Juni 2014 - 4 BN 8.14 - ZfBR 2014, 574 Rn. 10). Ungeachtet der Neubestimmung des Verhältnisses von Vergnügungsstätten und Gewerbebetrieben durch die Vierte Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung vom 23. Januar 1990 (BGBl. I S. 127) (dazu BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 1990 - 4 B 120.90 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 4) hält der Senat insoweit an seinem Urteil vom 25. November 1983 - 4 C 21.83 - (BVerwGE 68, 213 <215>) fest, dass Bordellbetriebe Einrichtungen sind, für die sich im Hinblick auf die sich aus dem "Milieu" ergebenden Begleiterscheinungen eher ein Standort eignet, der außerhalb oder allenfalls am Rande des "Blickfeldes" und der Treffpunkte einer größeren und allgemeinen Öffentlichkeit liegt und auch nicht in der Nachbarschaft von Wohnungen. In Übereinstimmung hiermit hat das Oberverwaltungsgericht tatrichterlich festgestellt, dass bei gewerblicher Prostitution bei der gebotenen typisierenden Betrachtung mit milieutypischen Begleiterscheinungen wie Belästigungen durch alkoholisierte oder unzufriedene Kunden, organisierte Kriminalität, Menschen- und Drogenhandel, ausbeutender Zuhälterei, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstößen gegen das Waffenrecht und Gewaltkriminalität bis hin zu Tötungsdelikten zu rechnen sei (UA S. 19). An diese Feststellungen wäre das Bundesverwaltungsgericht in einem Revisionsverfahren nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, weil zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind.

5

Die Beschwerdeführerin zeigt mit ihrem nicht weiter ausgeführten Hinweis auf abweichende Rechtsprechung (VGH Kassel, Beschluss vom 30. April 2009 - 3 A 1284/08 - BRS 74 Nr. 58 = juris Rn. 8; OVG Saarlouis, Beschlüsse vom 30. Juni 2009 - 2 B 367/09 - juris Rn. 13 und vom 8. Januar 2014 - 2 A 437/13 - juris Rn. 16) und Literatur (Stühler, BauR 2010, 1013 <1021 f.>; ders., NVwZ 1997, 861 <866 f.>; Schlichter/Friedrich, WiVerw 1988, 199 <209, 225 f.>; Ziegler, in: Brügelmann, BauGB, Stand: Februar 2015, § 4a BauNVO Rn. 74; Knaup/Stange, BauNVO, 8. Aufl. 1997, § 4a Rn. 51), welche den Beschluss des Senats vom 5. Juni 2014 - 4 BN 8.14 - (a.a.O.) noch nicht berücksichtigen konnte, keinen Klärungsbedarf auf. Die "Nähe" von Bordellen und bordellartigen Betrieben zu anderen Stätten "sexuellen Amüsements" (so insb. Stühler, BauR 2010, 1013 <1022>) führt nicht zu einer bauplanungsrechtlichen Gleichbehandlung solcher Einrichtungen. Denn maßgeblich für die Rechtsprechung des Senats ist nicht die Motivation der Besucher, sondern sind die städtebaulich bedeutsamen Begleiterscheinungen der Prostitutionsausübung in Bordellen. Hiermit übereinstimmend hat der überwiegende Teil der Rechtsprechung (VGH München, Urteil vom 12. Dezember 2013 - 15 N 12.1020 - juris Rn. 25; VGH Mannheim, Beschluss vom 5. März 2012 - 5 S 3239/11 - BRS 79 Nr. 87 = juris Rn. 5 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. November 2005 - OVG 10 S 3.05 - juris Rn. 8; OVG Hamburg, Beschluss vom 13. August 2009 - 2 Bs 102/09 - NordÖR 2009, 453 = juris Rn. 9; OVG Koblenz, Urteil vom 11. Mai 2005 - 8 C 10053/05 - BRS 69 Nr. 35 = juris Rn. 15) und der Literatur (Schiller, in: Bracher/Reidt/Schiller, Bauplanungsrecht, 8. Aufl. 2014, Rn. 1635; Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Aufl. 2014, § 8 Rn. 22; Kämper, in: BeckOK BauNVO, Stand 1. September 2015, § 9 Rn. 40; Mampel/Schmidt-Bleker, in: BeckOK BauNVO, Stand 1. März 2015, § 8 Rn. 106; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand September 2015, § 8 BauNVO Rn. 24a; Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 5. Aufl. 2015, Rn. 614; Fickert/Fieseler, BauNVO, 12. Aufl. 2014, § 4a Rn. 23.71; Wolf, Die prostitutive Einrichtung und ihre Mitarbeiter im öffentlichen Recht - Rechtslage und Perspektiven, 2013, S. 88; von Galen, Rechtsfragen der Prostitution, 2004, Rn. 499 f.) bereits vor dem Senatsbeschluss vom 5. Juni 2014 - 4 BN 8.14 - (a.a.O.) Bordelle und bordellartige Betriebe als "Gewerbebetriebe aller Art" im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO angesehen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Tenor

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 16. November 2015 wird die Klage abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen in zweiter Instanz. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten in erster Instanz selbst. Die ausgeschiedene Klägerin … Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH & Co. Objekt Eins KG trägt ihre außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen selbst.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer dem Beigeladenen erteilten Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von einem Büro zu einem Bordell in dem Anwesen M* …straße 24, FlNr. 271/14 der Gemarkung F* …

Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 270/2, S* …straße 2 - 8, das mit einem drei-bis fünfgeschossigen Gebäudekomplex bebaut ist. Die Gebäude der Klägerin liegen dem strittigen Gebäude des Beigeladenen schräg gegenüber und sind durch die ca. 12 m breite M* …straße von dem Vorhabensgrundstück getrennt. Die Klägerin vermietet ihre Räumlichkeiten hauptsächlich an verschiedene Konzerne aus dem Biotech- und Pharmabereich. Ferner befinden sich in den Gebäuden ein Fitnessstudio, die deutsche Niederlassung eines Konzerns aus dem Bereich der Kaffeeproduktion sowie der Sitz eines Werbeanlagenbetreibers. In der unmittelbaren Nähe des Vorhabensgrundstücks befinden sich Bürogebäude, zahlreiche Autohäuser und sonstige Gewerbebetriebe.

1. Mit Bescheid vom 25. Februar 2015 erteilte die Beklagte auf den Antrag des Beigeladenen vom 5. September 2014 hin die Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung von Bürozur Bordellnutzung in den Obergeschossen 1 bis 3 des Anwesens M* …straße 24. Die Baugenehmigung steht unter dem Vorbehalt des Widerrufs, insbesondere für den Fall, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch den genehmigten Bordellbetrieb gefährdet werde. Sie enthält Auflagen hinsichtlich der Stellplätze für Kraftfahrzeuge und Fahrräder, des vorbeugenden Brandschutzes sowie naturschutzrechtliche Auflagen.

Im Mai 2015 wurde die genehmigte Nutzung aufgenommen und das Gebäude des Beigeladenen mit zahlreichen und auffälligen Werbeanlagen für den sich darin befindenden Bordellbetrieb versehen. Vom Grundstück des Beigeladenen besteht eine Sichtbeziehung zu dem weiter südlich gelegenen Anwesen M* …straße 39, in dem sich ein genehmigter Bordellbetrieb befindet.

Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2015 erhob die Klägerin eine Anfechtungsklage gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 25. Februar 2015, die sie mit Schriftsatz vom 26. August 2015 begründete. Sie führte im Wesentlichen aus, das strittige Vorhaben sei in seiner konkreten Ausgestaltung und seiner Lage ihr gegenüber rücksichtslos. Aufgrund der Tatsache, dass das Gebäude der Klägerin überwiegend von international tätigen Unternehmen angemietet worden sei, sei es auch auf eine entsprechend hochwertige Lage angewiesen. Die Räumlichkeiten, in dem sich ein Unternehmenssitz befinde, repräsentierten das jeweilige Unternehmen nach außen hin. Als das Gebäude der Klägerin errichtet worden sei, hätte das Gebiet schon die entsprechende Aufwertung erfahren. Die Lage sei von den sehr anspruchsvollen Mietern des Biotechzentrums der Klägerin als repräsentativ akzeptiert worden. Nunmehr befinde sich schräg gegenüber dem Eingangsbereich des Gebäudes S* …straße 2 eine Bordelleinrichtung mit Milieubezug, die anders als beispielsweise ein wohnähnliches Bordell massiv mit Fensterbeklebungen in jedem Fenster, mit einer Werbetafel im Eingangsbereich, mit einer großflächigen Werbung an der südlichen Stirnseite und mit einem Werbebanner an der Dachterrassenbrüstung nach außen hin beworben werde. Die im Gebäudeinneren stattfindende Bordellnutzung trete durch die Werbung nach außen hin deutlich erkennbar in Erscheinung. Gerade dieser massive Außenauftritt führe bei einem internationalen Kundenverkehr dazu, dass der Standort die dort ansässigen Unternehmen nicht mehr repräsentiere, sondern vielmehr geeignet sei, den Ruf des Unternehmens im Hinblick auf dessen Seriosität zu schädigen. Der Unterschied zu einem wohnmäßig betriebenen Bordell, welches aufgrund seiner eher untergeordneten Zimmerzahl und seines meist harmlosen äußeren Erscheinungsbilds auch anders beurteilt werden könne, sei offensichtlich. Die Bordellnutzung der unmittelbaren Nachbarschaft zum Anwesen der Klägerin rufe derartige Spannungen und Störungen hervor, dass sie ihr als Rücksichtnahmebegünstigter nicht mehr zuzumuten seien. Einzelne Mieter hätten bereits angedeutet, bei Bestehenbleiben des Bordells die gewerblichen Mietverträge nicht zu verlängern, sondern sich nach anderen Räumlichkeiten umzusehen.

Nach Einschätzung der Beklagten verletzt das Vorhaben weder den Gebietserhaltungsanspruch noch das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei ein Bordellbetrieb ein Gewerbebetrieb aller Art und als solcher im Gewerbegebiet nach der Baunutzungsverordnung von 1968 allgemein zulässig.

Der Beigeladene ließ ausführen, sein Vorhaben entspreche der im Bebauungsplan Nr. 71 g festgesetzten Art der Nutzung. Durch die Nutzungsänderung würden ansonsten wesentliche Gesichtspunkte wie die Geschossflächenzahl nicht geändert. Das Vorhaben sei der Klägerin gegenüber nicht rücksichtslos. Da die Nutzung als Bordell eine gewerbliche Nutzung sei, müsse in einem Gewerbegebiet grundsätzlich mit einer solchen Nutzung gerechnet werden.

Mit Urteil vom 16. November 2015 hob das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung vom 25. Februar 2015 auf. Das strittige Vorhaben verstoße gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme. Von dem Bordellbetrieb gingen in seiner konkreten Ausgestaltung Beeinträchtigungen aus, die der Klägerin billigerweise nicht mehr zugemutet werden könnten. Die streitgegenständliche Baugenehmigung enthalte keine Einschränkungen im Hinblick auf die Anlagen der Außenwerbung, obwohl Betriebe dieser Art üblicherweise mit zahlreichen, teilweise sehr auffälligen und aufdringlichen Anlagen der Außenwerbung versehen würden, um auf den Betrieb aufmerksam zu machen. Sie gestatte den Betrieb eines Bordells ohne die Problematik der für die Betriebe dieser Art üblichen, sehr auffälligen Gestaltung der Fassade mit Werbeanlagen zu regeln, weshalb die Baugenehmigung gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße und aufzuheben sei.

2. Mit Beschluss vom 4. September 2017 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Berufung des Beigeladenen zugelassen.

Zur Begründung seiner Berufung lässt der Beigeladene vortragen, das Verwaltungsgericht gehe bereits von einem unzutreffenden Sachverhalt aus, indem es angebe, dass in der unmittelbaren Nähe des strittigen Bordellbetriebs keine weiteren Betriebe dieser Art vorhanden seien und damit eine erstmalige Belastung der Umgebung im Raum stehe. Dabei sei aus den Feststellungen bei der Ortsbesichtigung zu ersehen, dass es in der M* …straße neben dem Betrieb im Anwesen des Beigeladenen eine ganze Reihe von Bordellen und bordellähnlichen Betrieben (Erotikbetriebe, Massagestudios) gebe. Auch bestehe vom Anwesen des Beigeladenen eine Sichtverbindung zum Anwesen M* …straße 39, in dem sich ebenfalls ein Bordellbetrieb mit einer sehr auffälligen und sehr großen Außenwerbung befinde. Im Hinblick darauf könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich hier um eine besonders repräsentative, gediegene Umgebung handle.

Aus der Tatsache, dass Bordelle in einem Gewerbegebiet grundsätzlich zulässig seien, folge auch, dass sich diese Betriebe im Gewerbegebiet nicht verstecken müssten, sondern auch beworben werden dürften. Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne nicht gefolgert werden, dass ein solcher Betrieb nur am Rand eines Gewerbegebiets zulässig sei.

Die negativen Auswirkungen, die von der Klägerin befürchtet würden, bestünden auch nicht in den vom Verwaltungsgericht in Anlehnung an das Bundesverwaltungsgericht aufgeführten Unzuträglichkeiten. Es gehe allein darum, ob es den umliegenden Grundstückseigentümern zumutbar sei, dass die tatsächliche Nutzung des Gebäudes des Beigeladenen durch Werbung nach außen erkennbar werde. Die Außenwerbung am Anwesen des Beigeladenen sei bereits wenige Tage nach der Ortsbesichtigung durch das Verwaltungsgericht in Absprache mit der Beklagten minimiert worden, insbesondere sei das große Plakat an der Südwand entfernt worden. Es könne dem Beigeladenen jedoch nicht verwehrt werden, auf die zulässige Nutzung seines Anwesens durch entsprechende Außenwerbung hinzuweisen. Gerade in einem Gewerbegebiet sei es üblich, dass die dort ansässigen Gewerbebetriebe durch Werbung auf sich aufmerksam machten.

In der näheren Umgebung des Bauvorhabens und des Grundstücks der Klägerin seien eine ganze Reihe ähnlicher Betriebe vorhanden, die auch zum Teil massiv nach außen beworben würden. Selbst wenn die Werbung auf dem Grundstück des Beigeladenen durch entsprechende Auflagen in einer Baugenehmigung entscheidend beschnitten würde, würde dies an der Situation des klägerischen Grundstücks wenig ändern, da die anderen Betriebe weiter vorhanden wären, die ebenfalls deutlich Werbung für ihre Betriebe machten. Für Kunden und Besucher der Gewerbebetriebe im Haus der Klägerin sei also bei der Anfahrt ohnehin ersichtlich, dass es in der Umgebung entsprechende Betriebe gebe.

Im Bereich der M* …straße existierten mehrere Bebauungspläne, die jeweils Gewerbegebiete festsetzten. Diese Gewerbegebiete seien als ein einheitliches Gebiet zu betrachten. Insofern könne nicht davon ausgegangen werden, das Anwesen der Klägerin befinde sich in einem Gebiet, das nicht mit Bordellbetrieben vorbelastet sei. Im Übrigen sei zwischen der Genehmigung eines Gebäudes und der Genehmigung von Werbeanlagen zu unterscheiden, da es sich insoweit um zwei separate bauliche Anlagen handle. Die für ein Gebäude erteilte Baugenehmigung dürfe daher nicht im Hinblick auf die gesondert zu beurteilende Werbung für rechtswidrig erklärt werden.

Auch aus dem von der Klägerin befürchteten Trading-Down-Effekt ergebe sich keine Rechtswidrigkeit des Vorhabens des Beigeladenen. Tatsächlich sei in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grundstück des Beigeladenen und dem Grundstück der Klägerin bisher kein Bordellbetrieb vorhanden. Allerdings gebe es mehrere solcher Betriebe in der M* …straße, wenn auch weiter südlich gelegen. Es treffe nicht zu, dass es mit der Genehmigung eines Bordellbetriebs auf dem Grundstück des Beigeladenen zu einer Massierung solcher Betriebe im Bereich des Grundstücks der Klägerin kommen würde. Vielmehr handle es sich in diesem Bereich um den einzigen Betrieb dieser Art. Es sei in den letzten gut zwei Jahren seit der Nutzungsänderung auch nicht zu irgendwelchen Nachteilen oder Belästigungen der Nachbarschaft gekommen. Die Klägerin befürchte offensichtlich, dass zwischen den im südlichen Bereich der M* …straße vorhandenen Betrieben und dem Betrieb auf dem Grundstück des Beigeladenen weitere Betriebe genehmigt würden. Dieser Gesichtspunkt könne im vorliegenden Verfahren jedoch keine Rolle spielen. Ob es künftig andere Grundstückseigentümer in diesem Bereich geben werde, die eine entsprechende Nutzungsänderung beantragen, sei zurzeit nicht feststellbar.

Der Beigeladene beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 16. November 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die durch das erstinstanzliche Urteil aufgehobene Baugenehmigung der Beklagten lasse keine Auseinandersetzung mit der Gefährdungseinschätzung des Polizeipräsidiums München vom 4. Dezember 2014 erkennen. Die Beklagte habe es im Baugenehmigungsverfahren insofern versäumt, Beschränkungen der Betriebszeiten des Bordells auf dem Grundstück des Beigeladenen als Maßnahmen zur Erreichung einer besseren Vereinbarkeit des Bordellbetriebs mit dem Rücksichtnahmegebot zu verfügen oder nur in Erwägung zu ziehen. Das verfahrensgegenständliche Bordell bilde in der näheren Umgebung des klägerischen Grundbesitzes einen Fremdkörper. Diese „Insellage“ verstärke sich seit Beginn des ersten Rechtszugs noch dadurch, dass die Sichtverbindung zu der Liegenschaft M* …straße 39 noch weniger als damals eine vorbelastende Wirkung auf den engeren Umkreis des klägerischen Grundbesitzes habe. Am südlich gelegenen Ende der M* …straße finde sich eine ganze Ansammlung von Bordellen und bordellähnlichen Betrieben. Sowohl die fehlende Vorbelastung der näheren Umgebung des klägerischen Anwesens als auch die Häufung von Bordellen und bordellähnlichen Betrieben am Ende der M* …straße sprächen gegen eine Zulässigkeit des Betriebs auf dem Grundstück des Beigeladenen. Die vom Beigeladenen vorgelegte Nachbareinlassung spreche nicht gegen den klägerseits dargelegten Trading-Down-Effekt. Die Bordelle an der M* …straße lägen mit Ausnahme des hier strittigen Betriebs im räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 71n und nicht innerhalb desjenigen des Bebauungsplans Nr. 71g. Weshalb die Beklagte der Auffassung sei, Spielhallen auf dem Grundstück M* …straße 19 seien mit öffentlichen Belangen unvereinbar, wenige Jahre später aber davon ausgehe, ein Bordellbetrieb auf dem Grundbesitz des Beigeladenen störe nicht, könne nur sie erklären. Indem die Beklagte in der neuen Baugenehmigung wörtlich aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts zitiere, räume sie die Rechtswidrigkeit der hier strittigen Baugenehmigung und die Richtigkeit des hierauf erkennenden erstinstanzlichen Urteils ein. Ebenso verhalte es sich mit dem Beigeladenen, der gleichsam mit einer „Salamitaktik“ dafür Sorge getragen habe, die Außenwerbung für den Bordellbetrieb in seinem Gebäude sukzessive zu reduzieren. Die Prozessbevollmächtigte des Beigeladenen habe im Übrigen gegenüber der Beklagten im Übersendungsschreiben vom 7. April 2016 zum Antrag auf Erteilung der neuen Baugenehmigung angekündigt, das vorliegende zweitinstanzliche Verfahren zu beenden.

Mit Schriftsätzen vom 29. November 2017 haben die frühere Klägerin und die jetzige Klägerin erklärt, dass das Grundstück FlNr. 270/2 der Gemarkung F* … veräußert worden sei. Die neue Eigentümerin werde das laufende Berufungsverfahren fortführen. Die Beklagte und der Beigeladene haben gegen den Klägerwechsel keine Einwände erhoben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Behördenakten und die Niederschriften über die Einnahme eines Augenscheins vom 5. Dezember 2017 sowie die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2017 verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Beigeladenen (§ 124 Abs. 1 VwGO) ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht die Baugenehmigung vom 25. Februar 2015 aufgehoben, denn die Klägerin wird durch diese nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

I.

1. Die ursprüngliche Klägerin … Grundstücksverwaltungsgesellschaft mbH & Co. Objekt Eins KG ist aus dem vorliegenden Verfahren ausgeschieden. Die neue Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 270/2 der Gemarkung F* … ist für sie in das laufende Berufungsverfahren eingetreten. Hierbei handelt es sich um eine Klageänderung nach § 91 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, U.v. 3.7.1987 – 4 C 12.84 – NJW 1988, 1228), in die die Beklagte und der Beigeladene eingewilligt haben. Im Übrigen ist die Klageänderung auch sachdienlich.

2. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für die Berufung des Beigeladenen ist nicht dadurch entfallen, dass er eine weitere Baugenehmigung vom 24. August 2016 für das Grundstück FlNr. 271/14 der Gemarkung F* … erhalten hat. Denn die beiden Baugenehmigungen unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. Die Baugenehmigung vom 24. August 2016 enthält keine erkennbaren Einschränkungen hinsichtlich der Betriebszeiten, dagegen werden erhebliche Beschränkungen hinsichtlich der Anbringung von Werbeanlagen beauflagt. Ferner ist auch die neue Baugenehmigung vor dem Verwaltungsgericht angefochten worden. Damit darf der Beigeladene davon ausgehen, dass er in dem vorliegenden Berufungsverfahren schneller zu einer bestandskräftigen Baugenehmigung gelangen kann.

II.

1. Die Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 25. Februar 2015 ist zulässig. Die Klägerin kann sich zumindest auf die von ihr behauptete Verletzung des Rücksichtnahmegebots berufen (§ 42 Abs. 2 VwGO).

2. Die Anfechtungsklage ist jedoch nicht begründet. Durch die Baugenehmigung vom 25. Februar 2015 wird weder der Gebietserhaltungsanspruch noch das Rücksichtnahmegebot zulasten der Klägerin verletzt.

2.1. Die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung in einem bestimmten Baugebiet sind nachbarschützend. Durch sie werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151/155). Dieser Gebietserhaltungsanspruch besteht jedoch nicht, wenn die betreffenden Grundstücke in verschiedenen Baugebieten eines Bebauungsplans liegen (vgl. VGH BW, B.v. 23.8.1996 – 10 S 1492.96 – BRS Nr. 160; OVG Münster, B.v. 28.11.2002 – 10 B 1618.02 – BRS 66 Nr. 168; BayVGH, U.v. 14.7.2006 – 1 BV 03.2179 – BayVBl 2007, 334; U.v. 28.6.2012 – 2 B 10.788 –juris). Im vorliegenden Fall liegen das Grundstück der Klägerin und das Baugrundstück zwar im selben Bebauungsplan Nr. 71g der Beklagten, die Grundstücke FlNr. 270/2 und FlNr. 271/14 liegen aber in unterschiedlichen Baugebieten, die durch die M* …straße voneinander getrennt sind. Die Klägerin und der Beigeladene werden demnach im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke nicht zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft im oben genannten Sind verbunden. Selbst bei Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 71g lägen die beiden Grundstücke in unterschiedlichen durch die M* …straße voneinander getrennten Baugebieten. Die M* …straße ist in diesem Bereich so breit angelegt, dass nicht von einem einheitlichen Gewerbegebiet ausgegangen werden kann.

Im Übrigen wäre hier eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs auch nicht gegeben. Ein Bordell ist als Gewerbebetrieb aller Art im Sinn von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO (vgl. BVerwG, B.v. 5.6.2014 – 4 BN 8.14 – BRS 82 Nr. 18; B.v. 2.11.2015 – 4 B 32.15 – BauR 2016, 477) in einem Gewerbegebiet allgemein zulässig. Eine Wohnnutzung ist im vorliegenden Fall nicht beabsichtigt. Hierzu wurde bereits in der Betriebsbeschreibung vom 4. September 2014 erklärt, dass eine solche durch eine entsprechende Klausel in den Mietverträgen ausgeschlossen werde. Die in den einzelnen Obergeschossen vorgesehenen Duschbäder/WC‘s sind nach Auffassung des Senats aus hygienischen Gründen erforderlich. Ebenso wenig ist die Mitarbeiterküche im ersten Obergeschoss angesichts der Tatsache zu beanstanden, dass sich dort weitere Einrichtungen befinden wie Büro, Videoüberwachung, Hausmeister, Matratzen-/Bettenlager und Lagern/Waschen/Bügeln. Insoweit ist keine Vergleichbarkeit mit dem Sachverhalt gegeben, der dem Beschluss des Senats vom 2. Mai 2006 (2 BV 05.1739 – juris) zugrunde lag. Dort war den Mieterinnen ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, in den von ihnen angemieteten Appartments zu nächtigen, die zudem über ein eigenes Bad verfügten. Ferner wurde den Mieterinnen ausdrücklich die Möglichkeit geboten, in einer gemeinschaftlichen Küche und einem gemeinschaftlichen Aufenthaltsraum Essen zuzubereiten und dieses zu verzehren.

Bei dem hier umstrittenen Bordell handelt es sich nicht nur um die einzige derartige Nutzung im Baugebiet, sondern im gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 71g. Die beim Augenschein des Senats in einer Entfernung von ca. 270 m zum Vorhaben in den Blick genommenen bestehenden bzw. bereits untersagten Bordellnutzungen im südlichen Verlauf der M* …straße liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 71n bzw. sind bei Unwirksamkeit dieses Bebauungsplans separat nach § 34 BauGB zu beurteilen, da sie zu weit von den Grundstücken des Beigeladenen sowie der Klägerin entfernt liegen. Dass hier gleichsam ein Sondergebiet für Bordellbetriebe entstünde (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – BVerwGE 68, 213/218), kann mithin nicht angenommen werden.

2.2. Die von der Klägerin behauptete Verletzung des Rücksichtnahmegebots zu ihren Lasten ist ebenso wenig gegeben. Ein in einem Gewerbegebiet allgemein nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO zulässiges Bordell oder eine sonstige bauliche Anlage kann im Einzelfall zulasten der Nachbarn und übrigen Anwohner gegen das in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerte Gebot der Rücksichtnahme verstoßen, wenn von ihm Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – BVerwGE 68, 213/217; U.v. 25.1.2007 – 4 C 1.06 – BVerwGE 128, 118). Hierbei hängt das Maß der nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO gebotenen Rücksichtnahme von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Es sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen. Erforderlich ist eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen (vgl. BVerwG, B.v. 3.3.1992 – 4 B 70.91 – BayVBl 1992, 411).

Zunächst ist auch in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Klägerin mit ihrem Grundstück FlNr. 270/2 nicht direkt Nachbarin des Bauvorhabens auf dem Grundstück FlNr. 271/14 ist und auch nicht im selben Baugebiet des Bebauungsplans Nr. 71g liegt. Zwischen dem Anwesen der Klägerin und dem Bauvorhaben liegt zudem die in diesem Bereich breit angelegte M* …straße. Irgendwelche möglichen negativen Auswirkungen des Bordellbetriebs im Anwesen M* …straße 24 werden sich deshalb nicht direkt vor dem Anwesen S* …straße 2 bis 8 abspielen, das sich ohnehin im Osten bis zum Ende der S* …straße erstreckt.

Unabhängig davon und abgesehen von der vom Erstgericht beanstandeten, aber in diesem Umfang nicht mehr vorhandenen Werbung für die Bordellnutzung, sieht der Senat keine Anhaltspunkte dafür, dass von dem Gewerbegebiet Belästigungen oder Störungen ausgehen könnten, die für die Nachbarn oder in der näheren Umgebung des Vorhabens unzumutbar sein könnten.

Das Verwaltungsgericht ist vorliegend davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung den Betrieb eines Bordells zulasse, ohne die Problematik der für die Betriebe dieser Art üblichen, sehr auffälligen Gestaltung der Fassade mit Werbeanlagen zu regeln, weshalb die Baugenehmigung gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße und aufzuheben sei. Diese Entscheidung ist aufgrund der Erkenntnisse aus einem Augenschein des Erstgerichts am 16. November 2015 ergangen, wobei eine sehr auffällige Gestaltung des Betriebsgebäudes mit Anlagen der Eigenwerbung festgestellt wurde. Bei der Ortseinsicht durch den Senat am 5. Dezember 2017 war dagegen festzustellen, dass sich dort sowohl an der Zufahrt als auch in Höhe des ersten Obergeschosses in lila Schrift lediglich jeweils ein Werbeschild M* …straße 24 findet. Das Werbeschild in Höhe des ersten Obergeschosses wird durch zwei weiße Strahler beleuchtet. Außerdem besitzen einige Fenster eine lila Folie. Am ca. 270 m entfernten Anwesen M* …straße 39 ist mit Blick vom Anwesen M* …straße 24 aus keine Werbung oder ein sonstiger Hinweis auf die Bordellnutzung mehr zu erkennen. Für die seitens des Erstgerichts dringlich geforderte Regelung der Werbeanlagen bereits in der strittigen Baugenehmigung für die Bordellnutzung finden sich damit keine zwingenden Anhaltspunkte mehr. Im Übrigen hat die Beklagte bereits im Zulassungsverfahren zu Recht darauf hingewiesen, dass zwischen der Genehmigung von Gebäuden und der Genehmigung von Werbeanlagen im Sinn von Art. 2 BayBO zu unterscheiden ist. Beides sind separate bauliche Anlagen nach Art. 2 Abs. 1 BayBO. Wenn eine bauliche Anlage wie eine Werbetafel an einer baulichen Anlage wie einem Gebäude errichtet werden soll, ist – da es sich nicht um die gleiche bauliche Anlage handelt – beispielsweise die Frage einer Verunstaltung im Sinn von Art. 8 BayBO nach unterschiedlichen Maßstäben zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 6.2.2016 – 2 ZB 15.2503 – BayVBl 2016, 597). Demnach wird die Bauaufsichtsbehörde gehalten sein, bei einer verunstaltenden Wirkung oder einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die Anbringung einer Werbeanlage gegen die Errichtung der Werbeanlage vorzugehen. Ein bauaufsichtliches Einschreiten im Hinblick auf das Gebäude, an dem die Werbeanlage angebracht ist, dürfte regelmäßig gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Ebenso scheitert die Aufhebung der Baugenehmigung für ein Gebäude wegen der dort angebrachten Werbeanlagen an diesem Grundsatz.

Soweit sich die Klägerin für die von ihr behauptete Verletzung des Rücksichtnahmegebots auf die Stellungnahme des Polizeipräsidiums München vom 4. Dezember 2014 stützen will, ist festzustellen, dass diese Stellungnahme überholt ist. Nach den Feststellungen des Senats beim Augenscheinstermin am 5. Dezember 2017 sowie nach der von Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 2017 übergebenen Aufstellung wurde bei der überwiegenden Zahl der im südlichen Bereich der M* …straße vorhandenen Bordellnutzungen die Nutzung untersagt und auch vom Betreiber aufgegeben. Zudem ist das Vorhaben des Beigeladenen entgegen der Stellungnahme des Polizeipräsidiums München vom 4. Dezember 2014 nicht mit 18 Zimmern, sondern nur mit zwölf Zimmern verwirklicht worden.

Die Baugenehmigung vom 25. Februar 2015 verstößt auch nicht deshalb zulasten der Klägerin gegen das Rücksichtnahmegebot, weil ein quasi Rund-um-die-Uhr-Betrieb des Bordells zugelassen würde. Wie in der ergänzenden Betriebsbeschreibung vom 16. Januar 2015 dargelegt wird, ist es vielmehr beabsichtigt, eine sogenannte Putzstunde von 4.00 Uhr morgens bis 6.00 Uhr morgens zu fixieren. Mithin wird ein Dauerbetrieb des Bordells ausgeschlossen. Damit wird zusätzlich sichergestellt, dass keine Wohnnutzung in den Arbeitszimmern erfolgen kann. Zudem ist sich auch die Klägerin darüber im Klaren, dass mögliche Ausstrahlungen der Bordellnutzung in der Nacht sich kaum auf die Büronutzung sowie das Fitnessstudio in ihrem Anwesen auswirken werden. Deshalb hat sie auch in der mündlichen Verhandlung des Senats erklären lassen, dass sich unter Tags die negativen Auswirkungen der Bordellnutzung über die M* …straße hin auf ihr Anwesen erstrecken würden. Dem ist jedoch entgegen zu halten, dass sich die am Anwesen des Beigeladenen noch vorhandenen Werbeanlagen bei Tageslicht noch weniger stark auswirken und eine entsprechend geringere Anreizwirkung haben werden. Auch ansonsten sind keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass sich mögliche negative Auswirkungen des Bordellbetriebs insbesondere am Tag zeigen werden.

Soweit die Klägerin eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots zu ihren Lasten durch den Eintritt eines sogenannten Trading-Down-Effekts behauptet, kann dem nicht gefolgt werden. Der sozioökonomische Begriff des Trading-Down-Effekts kennzeichnet eine Entwicklung, die auf der Beobachtung wirtschaftlicher Aktivitäten und ihrer Auswirkungen auf gesellschaftliche Prozesse beruht. Ihre Erfassung und Bewertung ist der Ebene der Sachverhaltsermittlung zuzuordnen und obliegt den Tatsachengerichten (vgl. BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – BauR 2013, 934). Fragen im Zusammenhang mit der Entstehung eines sog. Trading-Down-Effekts wurden vom Bundesverwaltungsgericht bislang insbesondere im Zusammenhang mit den besonderen städtebaulichen Gründen für Festsetzungen in einem Bebauungsplan (vgl. B.v. 21.12.1992 – 4 B 182.92 – BRS 55 Nr. 42) und im Rahmen einer Verpflichtungsklage des Bauherrn bei der Frage des objektiven Einfügens eines Vorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB geprüft (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 – 4 C 13.33 – BauR 1995, 361; B.v. 4.9.2008 – 4 BN 9.08 – BRS 73 Nr. 26). Auch bei den klägerseits angeführten Entscheidungen (vgl. BayVGH, B.v. 21.4.2015 – 9 ZB 12.1912 – juris; B.v. 14.5.2014 – 1 ZB 13.886 – juris; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.6.2015 – 10 B 7.13 – juris) handelte es sich nicht um Klagen von Nachbarn, die sich zur subjektivrechtlichen Seite des Rücksichtnahmegebots auf das Eintreten eines sogenannten Trading-Down-Effekts berufen hätten.

In jedem Fall könnte der sogenannte Trading-Down-Effekt nur innerhalb eines bestimmten Baugebiets relevant werden (vgl. BayVGH, U.v. 15.4.2010 – 2 B 09.2419 – BauR 2011, 1143; U.v. 12.7.2012 – 2 B 12.1211 – BayVBl 2013, 51; U.v. 20.12. 2012 – 2 B 12.1977 – BayVBl 2013, 275). Denn für die Bejahung eines Trading-Down-Effekts müsste sich das geplante Vorhaben so negativ auswirken, dass das Baugebiet mit seiner Zulassung seinen Charakter verlöre. Ein solcher extremer Ausnahmefall (vgl. BayVGH, U.v. 15.12.2010 – 2 B 09.2419 – BauR 2011, 1143; Stange, Baunutzungsverordnung, 3. Aufl. 2015, § 8 Rn. 59) kann hier nicht angenommen werden.

Wie jedoch bereits oben festgestellt wurde, liegen das Bauvorhaben und das Anwesen der Klägerin nicht im selben Baugebiet des Bebauungsplans 71g. Selbst wenn der Bebauungsplan Nr. 71g unwirksam sein sollte, lägen sie wegen der trennenden Wirkung der in diesem Bereich breit ausgebauten M* …straße nicht im selben Baugebiet, wozu unten noch auszuführen sein wird.

Selbst bei einer Unwirksamkeit der Bebauungspläne Nr. 71g und 71n wäre auch keine Wechselwirkung mit der ca. 270 m entfernten Bordellnutzung im südlichen Bereich der M* …straße gegeben. Weder das Bauvorhaben noch das Anwesen der Klägerin lägen im selben Baugebiet wie das Bordell im Anwesen M* …straße 39.

Unabhängig davon handelt es sich hier um die einzige Bordellnutzung im Baugebiet, im Gebiet des Bebauungsplans Nr. 71g bzw. in der näheren Umgebung des klägerischen Anwesens. Auch ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO kann damit ausgeschlossen werden. Ebenso wenig handelt es sich vom Baukörper oder von der Nutzung her um einen Fremdkörper im maßgeblichen Gebiet. Es handelt sich vielmehr um eine allgemein zulässige Nutzung in einem festgesetzten bzw. faktischen Gewerbegebiet. Der Beigeladene weist zu Recht darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – BVerwGE 68, 213/215; B.v. 2.11.2015 – 4 B 32.15 – BauR 2016, 477) nicht ergibt, dass Bordelle nur an einem Standort zulässig sind, der außerhalb oder allenfalls am Rand des „Blickfelds“ und der Treffpunkte einer größeren und allgemeinen Öffentlichkeit bzw. vorliegend am Rand eines Gewerbegebiets liegt. Vielmehr ist auch hier eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen erforderlich (vgl. BVerwG, U.v. 5.8.1983 – 4 C 96.79 – BVerwGE 67, 334/339; B.v. 3.3.1992 – 4 B 70.91 – BayVBl 1992, 411).

Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich auch nicht um ein Gebiet mit hochwertigen Gewerbebetrieben, das durch das Vorhaben des Beigeladenen eine deutliche Abwertung erfahren könnte. Auf der westlichen Seite der M* …straße in der näheren Umgebung des Vorhabensgrundstücks findet sich ein fünfgeschossiges Gebäude, in dem zukünftig Büronutzung stattfinden soll, sowie ein weiteres fünfgeschossiges Gebäude, in dem bereits Büronutzung vorhanden ist. Im zweigeschossigen Anbau sind ein Beschriftungswerk sowie sonstiges Kleingewerbe untergebracht. Weiter Richtung Norden finden sich Warenlager, Autohändler sowie ein Discounter und Richtung Süden sind mehrere Autohäuser sowie eine zweigeschossige Lagerhalle und ein kleiner Imbiss vorhanden. Auf der östlichen Seite der M* …straße findet sich in einem fünfgeschossigen Gebäude überwiegend Nutzung durch ein Fitnessstudio sowie Büronutzung. Ferner besteht in einem Keller eine „Eventlocation“. Weiter Richtung Norden sind ein Reifen- und Autoservice, ein Geschäft für Wassersportartikel sowie das Bürogebäude einer Krankenkasse vorhanden. Damit stellt sich die Umgebung des Bauvorhabens als die für ein durchschnittliches Gewerbegebiet typische Mischung unterschiedlichster Gewerbe- und Büronutzungen dar. Auf dem Anwesen der Klägerin besteht ein fünfgeschossiger Gebäudekomplex, in dem Büronutzung sowie ein Fitnessstudio untergebracht sind. Sofern die Klägerin darauf hinweist, dass sie über mehrere Mieter mit einer gewerblichen Tätigkeit im gehobenen Segment verfüge, reicht auch dies nicht aus, um eine weitgehende Prägung des Gebiets durch hochwertige Gewerbebetriebe zu belegen. Denn südlich des Anwesens der Klägerin folgen ein Gartencenter, ein Baumarkt sowie ein Discounter. Unabhängig davon, auf welche Weise und wie weit man den Umgriff um das Bauvorhaben zieht, sind damit keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass es sich um ein durch hochwertige Gewerbebetriebe geprägtes Gebiet handeln könnte. Zudem weist die Klägerin zu Recht darauf hin, dass östlich der M* …straße bei Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 71g aufgrund der vorhandenen großflächigen Einzelhandelsbetriebe kein Gewerbegebiet im Sinn von § 8 BauNVO mehr angenommen werden könnten. Damit würde jedoch im Umfeld des klägerischen Anwesens auf der östlichen Seite der M* …straße bereits eine Gemengelage bestehen. Demgegenüber wäre auf der westlichen Seite der M* …straße im Umfeld des Bauvorhabens ein faktisches Gewerbegebiet gegeben. Selbst wenn man jedoch nicht von einer trennenden Wirkung der M* …straße in diesem Bereich ausginge, würde durch das relativ kleine Bauvorhaben mit einer Bordellnutzung in zwölf Arbeitszimmern entgegen der Auffassung der Klägerin kein Übergewicht dieser Nutzung entstehen. Wie bereits ausgeführt, kann die in einer Entfernung von ca. 270 m im Süden der M* …straße bestehende Bordellnutzung insoweit nicht miteinbezogen werden. Insoweit würde sich die Bordellnutzung mit zwölf Zimmern selbst im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB einfügen und folglich keine bodenrechtlichen Spannungen begründen.

Soweit in dem nicht nachgelassenen, von einem nicht näher bezeichneten Rechtsanwalt im Auftrag unterzeichneten Schriftsatz vom 18. Dezember 2017 auf eine Stellungnahme des Referats für Stadtplanung und Bauordnung der Beklagten vom 14. November 2014 verwiesen wird, ist hervorzuheben, dass es im vorliegenden Rechtsstreit nicht darauf ankommt, ob das Gebiet im Gewerbeflächen- und Siedlungsprogramm der Beklagten als B-Fläche für höherwertiges Gewerbe ausgewiesen ist, sondern darauf, welche Arten von Gewerbeansiedlungen im maßgeblichen Gebiet tatsächlich vorhanden sind. Ebenso wenig kommt es vorliegend darauf an, ob in den von der Klägerin mittels Ausführungen der Beklagten in Bezug genommenen weiteren Verfahren die Zunahme einer Gesamtsituation mit den typischen Begleiterscheinungen eines Rotlichtviertels zu befürchten ist. Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist im vorliegenden Fall die Entstehung einer solchen kritischen Gesamtsituation allein durch die Zulassung des begrenzten Einzelvorhabens des Beigeladenen in der Nähe des klägerischen Anwesens nicht zu erwarten.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht vorliegend der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da er dort einen Antrag gestellt hat, während er in der ersten Instanz keinen Antrag gestellt hat. Über die außergerichtlichen Kosten der ausgeschiedenen früheren Klägerin ist nach § 161 Abs. 1 VwGO ebenfalls im Endurteil zu entscheiden (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.1999 – 4 C 99.227 – NVwZ-RR 1999, 695).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinn von § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

Tatbestand

1

Die Klägerin ist eine als eingetragener Verein organisierte Pfarrgemeinde der Syrisch-Orthodoxen Kirche. Im Jahre 1994 beantragte sie die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer "Syrisch-Orthodoxen Kirche mit Mausoleum" sowie eines "Gemeindezentrums". In der Bauzeichnung für das Untergeschoss der Kirche war eine "Krypta" mit zehn Grabkammern eingezeichnet.

2

Das Baugrundstück liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans der Beigeladenen zu 1, der das gesamte Plangebiet als Industriegebiet (GI) festsetzt. In den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans sind "Ausnahmen nach § 9 Abs. 3 BauNVO und Nebenanlagen nach § 14 BauNVO" zugelassen.

3

Die Beklagte erteilte der Klägerin die beantragte Baugenehmigung für das Kirchengebäude und das Gemeindezentrum. Hinsichtlich der Krypta lehnte sie den Antrag unter Hinweis auf das versagte gemeindliche Einvernehmen der Beigeladenen zu 1 ab. Die Klägerin erhob Widerspruch gegen die Ablehnung, ließ dann aber in der Bauzeichnung ihres Bauantrags die Zweckbestimmung "Krypta" durch "Abstellraum" ersetzen und die Grabkammern streichen. Die Beklagte hob daraufhin den ablehnenden Teil des Genehmigungsbescheides auf. Die Kirche ist mittlerweile errichtet und wird von der Klägerin als solche genutzt.

4

Im Jahre 2005 beantragte die Klägerin, im betreffenden Raum im Untergeschoss der Kirche eine Krypta "als privaten Bestattungsplatz ausdrücklich ausschließlich für verstorbene Geistliche" ihrer Kirche zu genehmigen. Entsprechend der ursprünglichen Planung ist der Einbau von zehn Grabkammern in Wandnischen vorgesehen, die nach Beisetzung durch dicht verfugte Stahlbetonplatten zur Raumseite hin verschlossen und mit beschrifteten Marmorverkleidungen versehen werden sollen. Die Krypta soll nur von außen zugänglich sein.

5

Das Gesundheitsamt beim Landratsamt Heilbronn stimmte der Krypta aus hygienischer Sicht unter Auflagen zu. Die Beigeladene zu 1 versagte wiederum das gemeindliche Einvernehmen. Die Beklagte lehnte den Bauantrag ab, der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.

6

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Baugenehmigung für den Einbau einer Krypta im Untergeschoss der Kirche unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

7

Auf die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen zu 1 hat der Verwaltungsgerichtshof die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Klage insgesamt abgewiesen; die Berufung der Klägerin hat er zurückgewiesen. Die Umwandlung des betreffenden Abstellraums in eine Krypta sei eine genehmigungspflichtige, aber nicht genehmigungsfähige Nutzungsänderung. Sie sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil sie den Festsetzungen des qualifizierten Bebauungsplans widerspreche. Zwar handle es sich bei der Krypta um eine - städtebaulich gegenüber der Kirche eigenständig zu würdigende - Anlage für kirchliche Zwecke im Sinne des Ausnahmekatalogs des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Sie sei jedoch wegen Unverträglichkeit mit dem Charakter eines Industriegebiets unzulässig. Das Ermessen für eine ausnahmsweise Zulassung nach § 31 Abs. 1 BauGB sei deshalb entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht eröffnet. Eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB komme ebenfalls nicht in Betracht. Es spreche alles dafür, dass die private Bestattungsanlage schon die Grundzüge der Planung berühre, die auf ein typisches, die gewerbliche Nutzungsbreite voll ausschöpfendes Industriegebiet ohne konfliktträchtige Ausnahmenutzungen gerichtet gewesen sei. Jedenfalls fehle es aber an Befreiungsgründen. Insbesondere erforderten es Gründe des Wohls der Allgemeinheit nicht, die Krypta trotz ihrer bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit an der vorgesehenen Stelle zu errichten. Dies gelte auch im Lichte der Art. 4 und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Das Bedürfnis, über eine Krypta in der eigenen Kirche zu verfügen, sei nicht zwingender Bestandteil der Religionsausübung der Klägerin. Der durch die Ablehnung unterhalb dieser Schwelle angesiedelte Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit sei durch den Achtungsanspruch der Verstorbenen und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken gerechtfertigt, das im Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet sei. Eine diskriminierende Ungleichbehandlung im Verhältnis zur katholischen Kirche sei ebenfalls nicht zu erkennen.

8

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Revision gegen die vorinstanzlichen Urteile und macht eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 und Art. 3 Abs. 1 GG sowie ihrer Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 ff. WRV geltend.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Berufungsurteil verstößt gegen Bundesrecht.

10

Die Einrichtung einer Krypta im Untergeschoss des Kirchengebäudes der Klägerin ist eine Nutzungsänderung im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB, deren bauplanungsrechtliche Zulässigkeit an §§ 30 ff. BauGB zu messen ist (1). Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass diese Nutzungsänderung im Industriegebiet nicht im Wege einer Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen werden kann, weil sie mit dem typischen Charakter eines Industriegebiets unvereinbar ist, steht im Einklang mit Bundesrecht (2). Bundesrechtswidrig sind demgegenüber die Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung gestützt hat, dass die Krypta auch nicht im Wege einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB genehmigt werden könne (3). Da die Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs für eine abschließende Prüfung der Befreiungsvoraussetzungen nicht ausreichen, war die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (4).

11

1. Die beantragte Nutzung des Abstellraums im Untergeschoss des Kirchengebäudes der Klägerin als Krypta ist eine vom Vorhabenbegriff des § 29 Abs. 1 BauGB umfasste, mit geringfügigen baulichen Änderungen verbundene Nutzungsänderung.

12

Eine Nutzungsänderung liegt vor, wenn durch die Verwirklichung eines Vorhabens die einer genehmigten Nutzung eigene Variationsbreite verlassen wird und durch die Aufnahme dieser veränderten Nutzung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können, so dass sich die Genehmigungsfrage unter bodenrechtlichem Aspekt neu stellt (Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 4 C 49.89 - NVwZ 1991, 264 m.w.N.; Beschlüsse vom 14. April 2000 - BVerwG 4 B 28.00 - juris Rn. 6 und vom 7. November 2002 - BVerwG 4 B 64.02 - BRS 66 Nr. 70 S. 327). Die Variationsbreite der bisherigen Nutzung wird auch dann überschritten, wenn das bisher charakteristische Nutzungsspektrum durch die Änderung erweitert wird (Urteil vom 27. August 1998 - BVerwG 4 C 5.98 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 190 S. 64). So liegen die Dinge hier. Die Nutzung als Begräbnisstätte ist heute für eine Kirche nicht mehr charakteristisch. Im vorliegenden Fall wurde die Krypta zudem von der im Jahre 1994 erteilten Baugenehmigung für die Errichtung der Kirche ausdrücklich ausgenommen und sollte - auf Anregung des Regierungspräsidiums Stuttgart letztlich auch aus der Sicht der Klägerin - einem Nachtrags-Baugenehmigungsverfahren vorbehalten bleiben.

13

Vorhaben im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB und damit Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Prüfung ist jedoch nicht - wie vom Verwaltungsgerichtshof angenommen - die Krypta als selbständige "Hauptanlage", sondern die Änderung von einer Kirche mit Abstellraum zu einer Kirche mit Krypta als Gesamtvorhaben. Geht es um die Änderung einer Nutzung, dürfen die bauliche Anlage und ihre Nutzung nicht getrennt beurteilt werden; sie bilden eine Einheit (Urteil vom 15. November 1974 - BVerwG 4 C 32.71 - BVerwGE 47, 185 <188>). Soll nicht die Nutzung der baulichen Anlage insgesamt, sondern - wie hier - lediglich eines bestimmten Teils der Anlage geändert werden, kann die bauplanungsrechtliche Prüfung hierauf nur beschränkt werden, wenn der betroffene Anlagenteil auch ein selbständiges Vorhaben sein könnte; er muss von dem Vorhaben im Übrigen abtrennbar sein (Urteil vom 17. Juni 1993 - BVerwG 4 C 17.91 - BRS 55 Nr. 72 S. 204). Daran fehlt es hier. Der streitgegenständliche, unter dem Altar gelegene Raum ist untrennbar mit der Kirche im Übrigen verbunden. Nur weil dies so ist, möchte die Klägerin in der Krypta ihre Gemeindepriester beisetzen. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass nach den Glaubensvorstellungen der Klägerin die Verpflichtung besteht, syrisch-orthodoxe Priester in einem geweihten kirchlichen Bestattungsraum beizusetzen (UA S. 17 und 27). Kirche und Krypta stehen deshalb als Gesamtvorhaben zur bauplanungsrechtlichen Prüfung.

14

Die Nutzungsänderung ist auch städtebaulich relevant, weil durch die Aufnahme der neuen Nutzung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können (Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 4 C 49.89 - a.a.O.). Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass das Trauern und Gedenken nicht nur im Innern der Kirche unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, sondern auch außerhalb des Kirchengebäudes bemerkbar sein werde. Wie sich aus den Äußerungen der Klägerin im Baugenehmigungsverfahren sowie aus den von ihr in Bezug genommenen externen Stellungnahmen zum Ritual des Totengedenkens ergebe, solle das Gedenken feierlich zelebriert werden; die Toten sollen mit gelegentlichen Feiern geehrt werden. Zudem sei es Brauch der syrisch-orthodoxen Christen, nach jedem samstäglichen Abendgottesdienst vor den Priestergruften Gedenkgebete zu zelebrieren und an bestimmten Sonntagen und an hohen kirchlichen Feiertagen die Gottesdienste mit einer feierlichen Prozession in die Krypta abzuschließen. Bereits diese Feststellungen rechtfertigen die Annahme, dass durch die beantragte Nutzungsänderung bodenrechtliche Belange neu berührt werden können, auch wenn der Verwaltungsgerichtshof Quantität und Dauer dieser "externen" Traueraktivitäten nicht näher beschrieben und sie "letztlich" selbst nicht für ausschlaggebend gehalten, sondern entscheidend auf die funktionsmäßige städtebauliche Qualität der Krypta als Begräbnisstätte abgestellt hat (UA S. 22).

15

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, dass eine Kirche mit Krypta zwar grundsätzlich unter die im Industriegebiet gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulassungsfähigen Anlagen für kirchliche Zwecke fällt, eine Ausnahme vorliegend aber wegen Unverträglichkeit dieser Nutzung mit dem typischen Charakter eines Industriegebiets nicht erteilt werden kann. Dagegen gibt es aus bundesrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.

16

Das Kirchengrundstück liegt nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans, der hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung für das gesamte Plangebiet ein Industriegebiet (GI) gemäß § 9 BauNVO festsetzt. Bedenken gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans hat der Verwaltungsgerichtshof nicht zu erkennen vermocht. Anhaltspunkte dafür haben sich auch im Revisionsverfahren nicht ergeben. Maßstab für die Zulässigkeit des Vorhabens ist deshalb grundsätzlich § 30 Abs. 1 BauGB. Im Industriegebiet ist eine Kirche mit Krypta nicht gemäß § 9 Abs. 2 BauNVO allgemein zulässig. Zu Recht konzentriert der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung deshalb zunächst auf die Frage, ob die beantragte Nutzungsänderung im Wege einer Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen werden kann.

17

a) Im Einklang mit Bundesrecht geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass das Vorhaben eine Anlage für kirchliche Zwecke im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ist. Unter diesen Begriff fallen Anlagen, die unmittelbar kirchlich-religiösen Zwecken dienen, wie insbesondere ein dem Gottesdienst dienendes Kirchengebäude. Die von der Klägerin errichtete Kirche erfüllt diese Voraussetzungen. Die Krypta ist - wie bereits dargelegt - untrennbar mit der Kirche verbunden. Sie ist nicht nur ein privater Bestattungsplatz im Sinne des § 9 BestattG, sondern, weil sie der Bestattung von Gemeindepriestern dienen soll, die nach der Glaubensvorstellung der Klägerin nur in einem geweihten kirchlichen Raum beigesetzt werden dürfen, selbst Anlage für kirchliche Zwecke.

18

b) In Übereinstimmung mit Bundesrecht geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass die ausnahmsweise Zulassungsfähigkeit der beantragten Nutzungsänderung aber am ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Gebietsverträglichkeit scheitert.

19

Die Prüfung der Gebietsverträglichkeit rechtfertigt sich aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Der Verordnungsgeber will durch die Zuordnung von Nutzungen zu den näher bezeichneten Baugebieten die vielfältigen und oft gegenläufigen Ansprüche an die Bodennutzung zu einem schonenden Ausgleich im Sinne überlegter Städtebaupolitik bringen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die vom Verordnungsgeber dem jeweiligen Baugebiet zugewiesene allgemeine Zweckbestimmung den Charakter des Gebiets eingrenzend bestimmt (Urteil vom 21. März 2002 - BVerwG 4 C 1.02 - BVerwGE 116, 155 <158>; Beschluss vom 28. Februar 2008 - BVerwG 4 B 60.07 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 19 Rn. 6, jeweils m.w.N.). Zu Recht geht der Verwaltungsgerichtshof deshalb davon aus, dass die Gebietsverträglichkeit eine für die in einem Baugebiet allgemein zulässigen und erst recht für die ausnahmsweise zulassungsfähigen Nutzungsarten ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung ist, der eine typisierende Betrachtungsweise zugrunde liegt und die der Einzelfallprüfung auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 BauNVO vorgelagert ist.

20

Industriegebiete dienen gemäß § 9 Abs. 1 BauNVO ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind. Gewerbegebiete dienen gemäß § 8 Abs. 1 BauNVO der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben. Die Unterbringung erheblich störender Betriebe ist deshalb dem Industriegebiet vorbehalten und zugleich dessen Hauptzweck.

21

Von maßgeblicher Bedeutung für die Frage, welche Vorhaben mit dieser allgemeinen Zweckbestimmung des Industriegebiets unverträglich sind, sind die Anforderungen des jeweiligen Vorhabens an ein Gebiet, die Auswirkungen des Vorhabens auf ein Gebiet und die Erfüllung des spezifischen Gebietsbedarfs (Urteil vom 21. März 2002 a.a.O.). Da Industriegebiete der einzige Baugebietstyp der Baunutzungsverordnung sind, in dem erheblich störende Gewerbebetriebe untergebracht werden können, sind die in § 9 Abs. 3 BauNVO bezeichneten Nutzungsarten nur dann ohne Weiteres gebietsverträglich, wenn sie nicht störempfindlich sind und deshalb mit dem Hauptzweck des Industriegebiets nicht in Konflikt geraten können. Diese Voraussetzung erfüllt eine Kirche - mit oder ohne Krypta - bei typisierender Betrachtung nicht (vgl. auch Beschluss vom 20. Dezember 2005 - BVerwG 4 B 71.05 - Buchholz 406.12 § 8 BauNVO Nr. 21). Eine auf störunempfindliche Anlagen beschränkte ausnahmsweise Zulassungsfähigkeit von "Anlagen für kirchliche Zwecke" im Sinne des § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO führt auch nicht dazu, dass dieses Tatbestandsmerkmal leer liefe. Das gilt bereits deshalb, weil nicht alle Anlagen für kirchliche Zwecke in gleicher Weise störempfindlich sind (vgl. etwa die Beispiele bei Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Band V, Stand: Juni 2010, Rn. 82 zu § 4 BauNVO). Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen auch eine störempfindliche Nutzung gebietsverträglich sein kann, etwa weil sie einem aus dem Gebiet stammenden Bedarf folgt, kann offen bleiben, weil weder seitens der Verfahrensbeteiligten geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich ist, dass hier derartige die Gebietsverträglichkeit begründende Umstände gegeben sein könnten.

22

3. Bundesrechtswidrig sind jedoch die Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Annahme gestützt hat, das Vorhaben könne auch nicht im Wege einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB genehmigt werden.

23

Ob die Umwandlung des Abstellraums in eine Krypta die Grundzüge der Planung berührt, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht abschließend entschieden. Nach seiner Auffassung fehlt jedenfalls ein Befreiungsgrund. Auch Gründe des Wohls der Allgemeinheit erforderten es nicht, dass die Krypta trotz ihrer bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit an der vorgesehenen Stelle eingerichtet werde. Das gelte auch bei Bewertung der Grabstättennutzung im Licht der Art. 4 und 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV (UA S. 25). Die Bestattung der Gemeindepriester in der Hauskirche sei kein zwingender Bestandteil der Religionsausübung (UA S. 27). Der verbleibende Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit sei gerechtfertigt. Die Krypta erfordere ein Umfeld der Ruhe und Andacht. Dieses Umfeld sei in dem Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet. Zudem befinde sich die Krypta nur wenige Meter von der Grenze zum östlichen Nachbargrundstück und nur ca. 17 m von der dortigen großen Produktionshalle entfernt. Diese Situation widerspreche der Würde der in solchem Umfeld bestatteten Toten in hohem Maße. Insofern werde der Achtungsanspruch der Verstorbenen verletzt, der sich nachwirkend aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebe. Darüber hinaus werde bei objektiver Betrachtung auch das durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt. Diese verfassungsimmanente Schranke setze sich gegenüber der Beeinträchtigung der Religionsausübungsfreiheit durch und sei auch verhältnismäßig. Dabei sei besonders zu berücksichtigen, dass die Krypta keinesfalls nur am vorgesehenen Ort, sondern (zusammen mit der Kirche) an anderer geeigneter Stelle errichtet werden könnte oder damals hätte errichtet werden können. Das Planungsrecht biete zahlreiche Möglichkeiten, um städtebaulich die Grundlagen für eine pietätvolle Begräbnisstätte zu schaffen (UA S. 28 f.).

24

Mit diesen Erwägungen kann das Vorliegen eines Befreiungsgrundes nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht verneint werden.

25

a) Gründe des Wohls der Allgemeinheit beschränken sich nicht auf spezifisch bodenrechtliche Belange, sondern erfassen alles, was gemeinhin unter öffentlichen Belangen oder öffentlichen Interessen zu verstehen ist, wie sie beispielhaft etwa in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB aufgelistet sind (vgl. Urteil vom 9. Juni 1978 - BVerwG 4 C 54.75 - BVerwGE 56, 71 <76>). Vom Wortlaut des § 1 Abs. 6 Nr. 6 BauGB erfasst werden die Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge zwar nur, soweit sie von Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestellt werden. Die in den Glaubensvorstellungen wurzelnden Belange privatrechtlich organisierter Kirchen und Religionsgesellschaften sind jedoch ebenfalls als öffentliche Belange zu berücksichtigen, sei es als kulturelle Bedürfnisse der Bevölkerung im Sinne des § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB oder als ein in dem nicht abschließenden Katalog des § 1 Abs. 6 BauGB nicht ausdrücklich erwähnter Belang (VGH München, Urteil vom 29. August 1996 - 26 N 95.2983 - VGH n.F. 49, 182 <186> = NVwZ 1997, 1016 <1017 f.> m.w.N.). Das gilt jedenfalls, wenn die betreffende Kirchengemeinde - wie dies bei der Klägerin der Fall sein dürfte - eine nicht unbedeutende Zahl von Mitgliedern hat.

26

b) Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern eine Befreiung im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht erst dann, wenn den Belangen der Allgemeinheit auf eine andere Weise als durch eine Befreiung nicht entsprochen werden könnte, sondern bereits dann, wenn es zur Wahrnehmung des jeweiligen öffentlichen Interesses "vernünftigerweise geboten" ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen. Dass die Befreiung dem Gemeinwohl nur irgendwie nützlich oder dienlich ist, reicht demgegenüber nicht aus (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O.; Beschluss vom 6. März 1996 - BVerwG 4 B 184.95 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 35). Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls. Dabei kann es auch auf - nach objektiven Kriterien zu beurteilende - Fragen der Zumutbarkeit ankommen (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77).

27

Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass das Bedürfnis der Klägerin, ihre verstorbenen Gemeindepriester in der eigenen Kirche beisetzen zu können, kein zwingender Bestandteil ihrer Religionsausübung ist. Nach ihrer Begräbnisregel sei es zwar verboten, syrisch-orthodoxe Priester zusammen mit den Gemeindeangehörigen auf normalen Friedhöfen zu bestatten. Es bestehe die Verpflichtung, diesen Personenkreis in einem geweihten kirchlichen Bestattungsraum beizusetzen. Die Beisetzung müsse jedoch nicht zwingend in der "Hauskirche" erfolgen (UA S. 27).

28

Diese Feststellungen stehen der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht entgegen. Gründe des Wohls der Allgemeinheit erfordern die Zulassung der Krypta auch, wenn Alternativen zur Beisetzung in der eigenen Kirche an sich in Betracht kommen, der Klägerin aber unter den gegebenen Umständen nicht zugemutet werden können. Dass die Klägerin theoretisch an anderer Stelle eine Kirche mit Krypta neu errichten könnte, genügt nicht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs kann eine Befreiung auch nicht mit dem Argument verweigert werden, dass es planungsrechtlich bereits bei Errichtung der Kirche möglich gewesen wäre, an anderer geeigneter Stelle die Grundlagen für eine pietätvolle Begräbnisstätte zu schaffen. Maßgebend für die Zumutbarkeit ist vielmehr, ob der Klägerin tatsächlich zu nicht unangemessenen Bedingungen ein besser geeignetes Grundstück für die Errichtung einer Kirche mit Krypta auf dem Gebiet der Beklagten zur Verfügung gestanden hätte oder, wenn dies nicht der Fall war, ob sie sich bewusst auf die Errichtung einer Kirche ohne Krypta eingelassen hat. Feststellungen hierzu hat der Verwaltungsgerichtshof nicht getroffen. Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin ein besser geeignetes Grundstück zur Verfügung gestanden hätte, sind jedenfalls nach Aktenlage nicht ersichtlich. Ausweislich der Verwaltungsvorgänge hat das Regierungspräsidium selbst angeregt, dass über die Zulässigkeit einer Krypta im Rahmen eines Nachtragsbaugesuchs entschieden wird. Ausgehend hiervon dürfte der Klägerin nicht entgegengehalten werden können, dass sie den Anspruch auf eine Krypta nicht bereits vor Errichtung der Kirche gerichtlich geltend gemacht hat. Mangels tatsächlicher Feststellungen kann der Senat hierüber jedoch nicht abschließend entscheiden. Eine Bestattung der Gemeindepriester in einem niederländischen Kloster kann der Klägerin wegen der großen Entfernung von fast 500 km jedenfalls nicht zugemutet werden. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Einwand "gut nachvollziehen" können (UA S. 27). Er hat ihn jedoch nicht - wie es geboten gewesen wäre - im Rahmen des "Erforderns" als für eine Befreiung sprechenden Umstand gewürdigt.

29

Die Annahme eines Befreiungsgrundes gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB scheitert auch nicht daran, dass die Krypta - wie der Verwaltungsgerichtshof anführt - an der vorgesehenen Stelle "bauplanungsrechtlich unzulässig" sei (UA S. 25). Richtig ist zwar, dass die Krypta weder allgemein zulässig ist noch im Wege einer Ausnahme zugelassen werden kann und - so ist zu ergänzen - wohl auch bereits die Kirche am betreffenden Standort nicht hätte genehmigt werden dürfen. Dies stellt jedoch kein Hindernis für die Erteilung einer Befreiung dar, sondern eröffnet im Gegenteil erst den Anwendungsbereich des § 31 Abs. 2 BauGB.

30

Schließlich darf bei der einzelfallbezogenen Prüfung des Befreiungsgrundes nicht unberücksichtigt bleiben, dass hier eine Nutzungserweiterung in Frage steht, die zwar bei typisierender Betrachtung gebietsunverträglich ist, aber "vernünftigerweise" an ein vorhandenes Kirchengebäude anknüpft, das aufgrund bestandskräftiger Baugenehmigung im genehmigten Umfang formal legal weitergenutzt werden darf. Das gilt umso mehr, wenn die bestandsgeschützte Kirchennutzung - wie hier - im Einvernehmen mit der Gemeinde genehmigt wurde, die Gemeinde also gewissermaßen selbst den Keim für "vernünftigerweise gebotene" Nutzungserweiterungen gelegt hat. Ob die sich aus der Würde der Toten und der Trauernden ergebenden städtebaulichen Anforderungen an eine Begräbnisstätte der Befreiung entgegen stehen, ist keine Frage des Befreiungsgrundes, sondern der weiteren Voraussetzung, dass die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein muss.

31

4. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). Ob die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht ausdrücklich geprüft. Auch mit den dargelegten grundrechtlichen Erwägungen verfehlt er die nach § 31 Abs. 2 BauGB anzulegenden Prüfungsmaßstäbe. Für eine eigene abschließende Beurteilung dieser Frage durch den Senat fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen (a). Nicht abschließend entschieden hat der Verwaltungsgerichtshof, ob die Grundzüge der Planung berührt werden. Auch der Senat ist hierzu nicht in der Lage (b).

32

a) Der Verwaltungsgerichtshof verfehlt die gemäß § 31 Abs. 2 BauGB anzulegenden Maßstäbe, soweit er der Religionsausübungsfreiheit der Klägerin den Achtungsanspruch der Toten und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken abstrakt gegenübergestellt und hierbei maßgebend auf die Typik und die Eigenart des Industriegebiets abgestellt hat, anstatt die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen.

33

Geboten ist eine Betrachtung, die die bisherige Situation (hier: Kirche ohne Krypta) dem durch die Abweichung zu ermöglichenden Gesamtvorhaben (hier: Kirche mit Krypta) gegenüberstellt und die Vereinbarkeit des sich daraus ergebenden Unterschieds mit öffentlichen Belangen untersucht. Welche Umstände als öffentliche Belange im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung ausschließen, lässt sich nicht generell beantworten. In Betracht kommen insbesondere die in § 1 Abs. 5 und 6 BauGB genannten öffentlichen Belange (vgl. Urteil vom 9. Juni 1978 - BVerwG 4 C 54.75 - BVerwGE 56, 71 <78>), auch solche, die nicht in der gemeindlichen Planungskonzeption ihren Niederschlag gefunden haben (Roeser, in: Berliner Kommentar, 3. Aufl., Stand: August 2010, Rn. 17 zu § 31; vgl. auch Urteil vom 19. September 2002 - BVerwG 4 C 13.01 - BVerwGE 117, 50 <54>). Ist die Befreiung mit einem öffentlichen Belang in beachtlicher Weise unvereinbar, so vermag sich der die Befreiung rechtfertigende Gemeinwohlgrund im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht durchzusetzen (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77 f.). Da der Plan gerade unter den Nachbarn einen Ausgleich von Nutzungsinteressen zum Inhalt hat, muss ferner darauf abgehoben werden, ob in den durch den Bebauungsplan bewirkten nachbarlichen Interessenausgleich erheblich störend eingegriffen wird (Beschluss vom 6. März 1996 - BVerwG 4 B 184.95 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 35). Maßgebend sind stets die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O. S. 77).

34

Diesen bauplanungsrechtlichen Anforderungen werden die verfassungsrechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofs auch der Sache nach nicht in jeder Hinsicht gerecht. Zutreffend ist zwar, dass auch der Achtungsanspruch der Verstorbenen und das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken als öffentliche Belange im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommen, wobei offen bleiben kann, ob der Verwaltungsgerichtshof mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG die richtige grundrechtliche Anknüpfung gewählt hat. Mit den abstrakten Erwägungen, dass eine Krypta ein städtebauliches Umfeld der Ruhe und Andacht erfordere, um der Totenruhe und der Würde der Toten Rechnung zu tragen, und dass dieses Umfeld in einem Industriegebiet weder nach seiner Typik noch nach seiner Eigenart gewährleistet sei, ferner, dass "bei objektiver Betrachtung" das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt werde, lässt sich die Versagung einer Befreiung nicht begründen. Maßgebend ist, ob im konkreten Einzelfall ausnahmsweise auch eine Begräbnisstätte in einem Industriegebiet den sich aus der Würde der Toten und der Trauernden ergebenden städtebaulichen Anforderungen genügt. Soweit der Verwaltungsgerichtshof auch die konkreten örtlichen Verhältnisse in den Blick genommen und darauf abgehoben hat, dass sich die Krypta nur wenige Meter von der Grenze zum östlichen Nachbargrundstück und nur ca. 17 m von der dortigen großen Produktionshalle entfernt befinde, in der auch im Schichtbetrieb gearbeitet werde und teilweise auch Lkw-Verkehr im Grenzbereich stattfinde, was in hohem Maße der Würde der in solchem Umfeld bestatteten Toten widerspreche (UA S. 28), fehlen jedenfalls Feststellungen dazu, inwieweit dieser Belang durch die Geschäftigkeit und Betriebsamkeit der industriellen Umgebung konkret beeinträchtigt werden kann, obwohl die Krypta in dem gegenüber der Außenwelt abgeschirmten Kircheninnern gelegen ist. Ähnliches gilt, soweit der Verwaltungsgerichtshof "bei objektiver Betrachtung" auch das Recht der Angehörigen und Trauernden auf ein würdevolles Gedenken beeinträchtigt sieht. Insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass die Beisetzung in einem geweihten Kirchenraum nach den Glaubensvorstellungen nicht nur der Syrisch-Orthodoxen Kirche eine besonders würdevolle Form der Bestattung ist.

35

Es fehlen auch Feststellungen, inwieweit durch die Zulassung der Abweichung nachbarliche Interessen konkret betroffen werden können, etwa, ob und gegebenenfalls in welcher Intensität gewerbliche Nutzungen in der Umgebung der Kirche durch die Krypta mit Nutzungseinschränkungen rechnen müssen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass mögliche Nutzungskonflikte bereits mit der Errichtung und Nutzung der Kirche entstanden sein dürften. Allein auf die Feststellung, dass das Trauern und Gedenken auch außerhalb des Kirchengebäudes "bemerkbar" sein werde (UA S. 21), kann die Ablehnung einer Befreiung nicht gestützt werden, weil dies auch auf die in einer Kirche ohne Krypta abgehaltenen Beerdigungs- und Trauergottesdienste zutrifft.

36

b) Mit der Formulierung, es spreche alles dafür, dass die private Bestattungsstätte die Grundzüge der Planung berühre, hat der Verwaltungsgerichtshof zwar deutlich gemacht, dass er dieser Auffassung zuneigt. Tragend festgelegt hat er sich insoweit aber nicht. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen lässt sich derzeit auch hierzu Abschließendes nicht sagen.

37

Ob die Grundzüge der Planung berührt sind, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung in der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (Urteil vom 9. Juni 1978 a.a.O.; Beschlüsse vom 5. März 1999 - BVerwG 4 B 5.99 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 S. 2 und vom 19. Mai 2004 - BVerwG 4 B 35.04 - BRS 67 Nr. 83). Die Beantwortung der Frage, ob Grundzüge der Planung berührt werden, setzt einerseits die Feststellung voraus, was zum planerischen Grundkonzept gehört und andererseits die Feststellung, ob dieses planerische Grundkonzept gerade durch die in Frage stehende Befreiung berührt wird (vgl. Söfker, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Band II, Stand: Juni 2010, Rn. 35 zu § 31 BauGB).

38

Zur ersten Frage hat der Verwaltungsgerichtshof festgestellt, dass die Planung - zum maßgeblichen Zeitpunkt des Planerlasses im Jahr 1970, aber auch nach der tatsächlichen Bebauung - auf ein typisches, die gewerbliche Nutzungsbreite voll ausschöpfendes Industriegebiet ohne konfliktträchtige Ausnahmenutzungen gerichtet gewesen sei (UA S. 25). Weder die Festsetzungen noch die Begründung des Bebauungsplans enthielten Hinweise für die Absicht des Plangebers, das Baugebiet in einer vom Regelfall des § 9 Abs. 1 BauGB abweichenden Weise auszugestalten. Auch die seither verwirklichten Gewerbebetriebe in der näheren und weiteren Umgebung der Kirche ließen eine geradezu "klassische" Industriegebietsnutzung erkennen (UA S. 24), die vorhandenen Betriebe im Bebauungsplangebiet entsprächen der Nutzungsstruktur eines normtypischen Industriegebiets geradezu beispielhaft (UA S. 21). Diese Feststellungen haben zwar Tatsachen (§ 137 Abs. 2 VwGO) sowie die Auslegung des Bebauungsplans als Teil des nicht revisiblen Landesrechts (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 560 ZPO) zum Gegenstand. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber mehrere für die Grundzüge der Planung bedeutsame Umstände außer Acht gelassen. Soweit er auf den Zeitpunkt des Planerlasses im Jahr 1970 abstellt, hat er unberücksichtigt gelassen, dass die Plangeberin in Ziffer 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans (konfliktträchtige) Ausnahmenutzungen gemäß § 9 Abs. 3 BauNVO ausdrücklich zugelassen hat. Auch wenn diese Festsetzung nicht über das hinausgeht, was gemäß § 1 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 3 BauNVO auch ohne sie gegolten hätte, bedarf es der Prüfung, welche Bedeutung dem Umstand, dass sich die Gemeinde gleichwohl zu einer ausdrücklichen Regelung veranlasst gesehen hat, bei der Bestimmung der Planungskonzeption beizumessen ist. Soweit der Verwaltungsgerichtshof auch auf die tatsächliche Bebauung im Industriegebiet abgestellt hat, hätte er nicht unberücksichtigt lassen dürfen, dass nicht nur Gewerbebetriebe verwirklicht wurden, sondern im Einvernehmen mit der Beigeladenen zu 1 auch die Kirche der Klägerin. Das ist ein Umstand, dem eine starke Indizwirkung für eine auch gegenüber konfliktträchtigen Ausnahmenutzungen offene Planungskonzeption zukommen kann.

39

Zu der weiteren Frage, ob die planerische Grundkonzeption durch die Befreiung berührt würde, hat der Verwaltungsgerichtshof keine Feststellungen getroffen. Verlässliche Rückschlüsse lassen auch die in anderem Zusammenhang getroffenen Feststellungen nicht zu. Diese Feststellungen wird der Verwaltungsgerichtshof nachzuholen haben, falls es für seine Entscheidung hierauf ankommt. Weil eine planerische Grundkonzeption durch ein Vorhaben nicht mehr berührt werden kann, wenn der mit der Planung verfolgte Interessenausgleich bereits durch die bisherige tatsächliche Entwicklung im Baugebiet nachhaltig gestört ist (zutreffend VGH München, Urteil vom 9. August 2007 - 25 B 05.1337 - juris Rn. 41; nachfolgend Beschluss vom 28. April 2008 - BVerwG 4 B 16.08 -), wird er sich hierbei auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, ob die Grundzüge der Planung bereits durch die Errichtung und Nutzung der Kirche nachhaltig gestört sind und deshalb durch das Hinzutreten der Krypta nicht mehr in einer ins Gewicht fallenden Weise berührt werden können.

Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 27. Januar 2009 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides der Beklagten vom 10. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 5. August 2008 wird die Beklagte verpflichtet, den Bauantrag des Klägers vom 5. Februar 2007 in der Fassung dessen Abänderung in der mündlichen Verhandlung vom 24. Juni 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar, die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Neubescheidung eines Baugenehmigungsantrags für einen - in dieser Form abweichend von der erteilten Baugenehmigung - bereits errichteten Balkon in geringem Abstand zur seitlichen Nachbargrenze an der Rückseite seines unmittelbar an diese Nachbargrenze angebauten Wohngebäudes. Er ist Eigentümer des Grundstücks Parzelle Nr. ... in Flur ... der Gemarkung K. im Stadtteil K. der Beklagten (Z.straße ...). Auf diesem Grundstück steht sein Wohnhaus, das an das auf dem südlich angrenzenden Grundstück Parzelle Nr. ... vorhandene Wohngebäude (Z.straße ...) unmittelbar angebaut ist. Zu dem nördlich angrenzenden Grundstück Parzelle Nr. ... hält das Wohnhaus des Klägers einen Grenzabstand ein. Die östlich und westlich an die Z.straße angrenzende Bebauung ist weitgehend durch Doppelhausbebauung bzw. Hausgruppen geprägt.

2

Unter dem 17. November 2003 erteilte die Beklagte dem Kläger die Baugenehmigung zur Errichtung der Doppelhaushälfte auf seinem Grundstück Parzelle Nr. .... Hierdurch wurde dem Kläger unter anderem die Errichtung eines 3,25 m breiten Balkons im ersten Obergeschoss an der rückwärtigen Gebäudewand seines Hauses genehmigt. Dieser Balkon sollte 1,50 m vor dieser Gebäudewand vortreten und einen Abstand von 2,20 m zum südlich angrenzenden Grundstück Parzelle Nr. ... einhalten. Hiervon abweichend errichtete der Kläger indessen einen Balkon mit einer Breite von 6,86 m, der 2,12 m vor die Wand vortritt und einen Abstand von lediglich 0,53 m zu der genannten Nachbargrenze einhält. Nachdem diese Abweichung von der Beklagten - aufgrund von Nachbarbeschwerden - festgestellt und aufgegriffen worden war, beantragte der Kläger unter dem 5. Februar 2007 - zunächst - im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß § 66 LBauO die Genehmigung für einen Balkon zu erteilen, der – insoweit weder mit dem genehmigten noch mit dem tatsächlich vorhandenen Balkon übereinstimmend - 2,12 m vor die Gebäudewand vortreten, eine Breite von 3,70 m aufweisen und zu dem Nachbargrundstück Parzelle Nr.... einen Abstand von 1,58 m einhalten sollte. Diesen Bauantrag hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat dahingehend abgeändert, dass nunmehr die Genehmigung des tatsächlich vorhandenen Balkons begehrt wird.

3

Die Beklagte lehnte die Erteilung der Baugenehmigung mit Bescheid vom 10. Juli 2007 unter Hinweis auf den entgegenstehenden § 8 LBauO und die fehlende Zustimmung des Nachbarn ab.

4

Den hiergegen von dem Kläger rechtzeitig eingelegten Widerspruch wies der Stadtrechtsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 5. August 2008 zurück, in dem ausgeführt wurde, dass dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis für die Erteilung einer Genehmigung im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren, in dem bauordnungsrechtliche Vorschriften nicht geprüft würden, fehle, da das Vorhaben gegen § 8 Abs. 1 LBauO verstoße und die Erteilung einer Abweichung nach § 69 LBauO nicht in Betracht komme.

5

Hiergegen hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben, zu deren Begründung er vorgetragen hat, die beantragte Baugenehmigung sei ihm zu erteilen, da sein Grundstück grenzständig bebaut sei und somit gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO eine - weitere - Bebauung ohne Grenzabstand zulässig sei. Daher sei auf den Balkon § 8 Abs. 5 LBauO nicht anzuwenden. Es liege auch kein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot vor, da eine Sichtblende auf dem Balkon vorgesehen sei und sich auf dem Nachbargrundstück eine bis an die Grenze reichende Terrasse befinde.

6

Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 27. Januar 2009 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung. Ihm fehle nämlich das erforderliche Sachbescheidungsinteresse. In der Rechtsprechung sei geklärt, dass die Erteilung einer Baugenehmigung im vereinfachten Genehmigungsverfahren, in dem grundsätzlich die bauordnungsrechtlichen Vorschriften nicht geprüft würden, abgelehnt werden könne, wenn das Bauvorhaben eindeutig gegen bauordnungsrechtliche Vorschriften verstoße. Das sei hier der Fall gewesen. Der zur Genehmigung gestellte Balkon sei nämlich nicht mit der Abstandsflächenvorschrift des § 8 LBauO zu vereinbaren. Aus § 8 Abs. 1 und Abs. 6, Satz 3 LBauO folge, dass die Tiefe der Abstandsfläche grundsätzlich mindestens 3 m betragen müsse. Von dieser Regelung weiche § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO für Balkone ab. Danach müsse ein Balkon in jedem Falle mindestens 2 m von der gegenüberliegenden Grundstücksgrenze entfernt bleiben. Diese Regelung finde entsprechende Anwendung hinsichtlich der Abstände zur seitlichen Grundstücksgrenze. Nach den Antragsunterlagen solle der Balkon einen Abstand zum Nachbargrundstück Parzelle Nr. ... von lediglich 53 cm haben. Daher missachte er die Abstandsflächenvorschrift, ohne dass es noch darauf ankomme, ob der Balkon angesichts der Dimensionierung überhaupt noch zu den untergeordneten Vorbauten im Sinne von § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO gehöre. Dieses Ergebnis werde entgegen der Auffassung des Klägers durch § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO nicht in Frage gestellt, wonach ohne Grenzabstand gebaut werden könne, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften zwar mit Grenzabstand gebaut werden müsste, aber auf dem Nachbargrundstück innerhalb der bebaubaren Grundstücksfläche ein Gebäude ohne Grenzabstand gebaut worden sei. Diese Regelung finde auf Balkone keine Anwendung. § 8 Abs. 1 LBauO regele die Einhaltung von Abstandsflächen oberirdischer Gebäude. Dazu zählten Balkonanlagen nicht. Ferner stelle § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO eine spezielle Regelung für die Einhaltung von Abstandsflächen für vor eine Wand vortretende Gebäudeteile und untergeordnete Vorbauten wie Balkone dar. Das Bestehen besonderer Abstandsflächenvorschriften in einem gesonderten Absatz führe aber zu dem Schluss, dass nur in dem dort genannten Fall eine abstandsflächenrechtliche Privilegierung für einen Balkon greifen solle. Schließlich streite auch der Zweck des § 8 Abs. 1 LBauO, der neben der Gewährleistung einer ausreichenden Belichtung und Belüftung auch dem Schutz des Wohnfriedens diene, für dieses Verständnis. Gerade Balkonanlagen, die in unmittelbarer Nähe zur Grundstücksgrenze errichtet würden, könnten Störungen im Nachbarschaftsverhältnis hervorrufen. Von daher müssten Balkone, die die in § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO vorgegebenen Maße nicht einhielten, den in § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 LBauO genannten Mindestabstand einhalten und dürften nicht grenzständig errichtet werden. Die Voraussetzung für eine Abweichung gemäß § 69 Abs. 1 LBauO lägen nicht vor. Der Kläger habe nämlich keine besondere Grundstückssituation aufgezeigt, die es rechtfertige, ausnahmsweise von den Anforderungen der nachbarschützenden Vorschrift des § 8 LBauO abzuweichen.

7

Zur Begründung der durch Beschluss des Senates vom 26. November 2009 zugelassenen Berufung, mit der er nunmehr die Neubescheidung seines in der mündlichen Verhandlung geänderten Bauantrages begehrt, trägt der Kläger vor, da an das Grundstück des Klägers grenzständig angebaut sei und somit auf seinem Grundstück eine Bebauung ohne Grenzabstand gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 BauGB zulässig sei, sei § 8 Abs. 5 LBauO nicht anzuwenden, sondern lediglich zu prüfen, ob das Rücksichtnahmegebot verletzt sei. Letzteres sei nicht der Fall, weil eine Sichtblende geplant sei. § 8 Abs. 5 LBauO sei schon seinem Wortlaut nach auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil danach für vortretende Gebäudeteile eine Abstandsfläche gesondert zu ermitteln sei. Bei einem Grenzabbau sei jedoch gar keine Abstandsfläche einzuhalten. Damit liege in einem solchen Fall kein Sachverhalt vor, in dem dann eine gesonderte Abstandsfläche gemäß § 8 Abs. 5 LBauO ermittelt werden müsse. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts, § 8 Abs. 1 LBauO sei auf Balkone nicht anwendbar, komme es insoweit nicht darauf an, ob Balkone in § 8 Abs. 2 LBauO genannt seien. § 8 Abs. 5 zeige nämlich, dass der Gesetzgeber Balkone als Gebäudeteile verstehe und nicht als eigenständige Bauten. Zudem verkenne das Verwaltungsgericht die Systematik des § 8 LBauO, wenn es die Regelung in § 8 Abs. 5 LBauO als Sonderregelung gegenüber § 8 Abs. 1 Nr. 3 LBauO ansehe. Der Hinweis des Verwaltungsgerichts auf eine diesbezügliche Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen stütze diese Auffassung nicht, weil die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen mit der in Rheinland-Pfalz nicht vergleichbar sei.

8

Der Kläger beantragt,

9

die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 27. Januar 2009 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides der Beklagten vom 10. Juli 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Stadtrechtsausschusses der Beklagten vom 5. August 2008 zu verpflichten, den Bauantrag des Klägers vom 5. Februar 2007 in der Fassung dessen Abänderung in der mündlichen Verhandlung vom 24. Juli 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

10

Die Beklagte beantragt,

11

die Berufung zurückzuweisen.

12

Sie trägt vor, die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit beurteile sich hier nach § 34 BauGB. Danach müsse der Balkon nicht an die Grenze gebaut werden. Das sei nur der Fall, wenn sich ein Balkon mit einem Abstand zur seitlichen Grenze nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde. Die Pflicht zur Einhaltung von Abstandsflächen bei der rückwärtigen Anschlussbebauung an eine Doppelhaushälfte entfalle nur dann, wenn in der näheren Umgebung ein Ordnungsprinzip herrsche, das eine rückwärtige Erweiterung von Anbauten nur an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zulasse. Hieran fehle es im vorliegenden Fall, weshalb ein Abstand zum Nachbargrundstück einzuhalten sei. § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO gelte auch für die seitlichen Grundstücksgrenzen. Allerdings seien die Voraussetzungen für eine gesonderte Berechnung der Abstandsfläche gemäß § 8 Abs. 5 LBauO hier nicht erfüllt, weil es sich bei dem streitigen Balkon wegen seiner Ausmaße nicht um ein untergeordnetes Bauteil im Sinne dieser Vorschrift handele. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die massiven Stützen, die in der Nähe des Nachbargrundstückes stünden. Die Frage, ob das Rücksichtnahmegebot beachtet sei, bedürfe daher keiner Prüfung mehr, weil der zur Genehmigung gestellte Balkon gegen § 8 LBauO verstoße und schon deshalb nicht genehmigt werden könne.

13

Der Senat hat eine Ortsbesichtigung durchgeführt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 24. Juni 2010 Bezug genommen.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Bau- und Widerspruchsakten der Beklagten (2 Hefte). Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

15

Die Berufung ist zulässig.

16

Das gilt gemäß § 91 Abs. 1 VwGO auch hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung geänderten Klagebegehrens, weil die Beklagte in diese Änderung eingewilligt hat, mit der der Kläger die Neubescheidung seines Baugenehmigungsantrags nunmehr insoweit begehrt, als dieser den tatsächlich verwirklichten Balkon und nicht den mit dem Bauantrag vom 5. Februar 2007 zur Genehmigung gestellten - kleineren, allerdings auch nicht mit dem ursprünglich genehmigten Balkon übereinstimmenden - Balkon zum Gegenstand haben soll.

17

Die Berufung ist auch begründet.

18

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts fehlt dem Kläger nämlich nicht das erforderliche Sachbescheidungsinteresse aus dem Grund, dass der Balkon gegen § 8 LBauO verstoßen würde und der Kläger deshalb, ungeachtet des Umstandes, dass zwar im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß § 66 Abs. 3 LBauO die bauordnungsrechtlichen Vorschriften nicht geprüft werden, von einer ihm erteilten Baugenehmigung keinen Gebrauch machen könnte. Im vorliegenden Fall ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO ein Grenzanbau zulässig. Das gilt auch für den streitgegenständlichen - grenznahen - Balkon. Dem steht § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO nicht als Spezialvorschrift entgegen. Diese Vorschrift kommt allein dann zur Anwendung, wenn in Bezug auf die maßgebliche Nachbargrenze überhaupt eine Abstandsfläche einzuhalten ist. Das ist hier in Bezug auf die Nachbargrenze zur Parzelle Nr. 257/2 jedoch nicht der Fall. Schließlich ist aus der maßgeblichen Umgebungsbebauung auch kein Ordnungsprinzip ableitbar, dass gebieten würde, bei einem an der Grenze zulässigen Gebäude zwischen dessen straßenseitigen und dessen rückwärtigen Wand einerseits und den vor diese Wände vortretenden Gebäudeteilen andererseits zu differenzieren. Darüber hinaus sind, unter der Voraussetzung, dass zum Nachbargrundstück Parzelle Nr. ... ein Sichtschutz an den Balkon angebracht wird, auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Vorhaben gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot verstößt, das auch im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfen ist.

19

Zwar findet in dem vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß § 66 LBauO, der bezüglich des Wohngebäudes des Klägers gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 1 LBauO und damit auch bezüglich des hier in Rede stehenden Gebäudeteiles, des Balkons, einschlägig ist, gemäß § 66 Abs. 3 Satz 1 LBauO eine Prüfung der bauordnungsrechtlichen Vorschriften und damit auch des § 8 LBauO nicht statt, um dessen Einhaltung zwischen den Beteiligten hier gestritten wird. Gleichwohl besteht, wie das Verwaltungsgericht im Einzelnen unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz dargelegt hat, dann kein Anspruch auf die Erteilung der beantragten Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren, wenn das genehmigte Vorhaben erkennbar dem Bauordnungsrecht widerspricht, der Bauantragsteller daher von einer ihm erteilten Baugenehmigung keinen Gebrauch machen könnte und deshalb das erforderliche Sachbescheidungsinteresse zu verneinen ist. So liegt der Fall hier jedoch nicht.

20

Dass auf dem klägerischen Grundstück grundsätzlich ein Anbau an die Nachbargrenze zu dem Grundstück Parzelle Nr. ... zulässig ist, stellt die Beklagte ersichtlich nicht in Abrede. Unabhängig davon, dass die nach § 34 BauGB maßgebliche Bebauung in der näheren Umgebung entlang der Z.straße durch Doppelhausbebauung geprägt ist, ergibt sich die Zulässigkeit eines derartigen Grenzanbaues im vorliegenden Fall bereits daraus, dass das Nachbargebäude auf dem Grundstück Parzelle Nr. ... als Doppelhaushälfte an die Grenze zum Grundstück des Klägers unmittelbar angebaut ist, sodass der Kläger seinerseits zulässigerweise gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO an die Grenze angebaut hat. Dabei ist in einem solchen Fall nach der Rechtsprechung des Senates (vgl. Urteil vom 22. August 2002 - 1 A 10731/02.OVG -, NVwZ-RR 2003, 485 f.) eine zusätzliche öffentlich-rechtliche Sicherung des Grenzanbaues gemäß § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 LBauO nicht erforderlich. Das gilt des Weiteren nicht nur für diejenige Teillänge der gemeinsamen Grundstücksgrenze zwischen dem Grundstück des Klägers und dem südlich angrenzenden Nachbargrundstück Parzelle Nr. ..., an die der Nachbar bereits unmittelbar angebaut hat, sondern auch für die gesamte zulässige Bautiefe, die sich aus den planungsrechtlichen Vorgaben - sei aus es den Festsetzungen eines Bebauungsplanes oder aus dem durch die maßgebliche Umgebungsbebauung vorgegebenen Rahmen - ergibt. Die nach den früher geltenden Fassungen der Vorschrift von der Rechtsprechung geforderte Deckungsgleichheit ist nämlich durch die nunmehr geltende Fassung der LBauO vom 24. November 1998 (GVBl. 365) überholt. Der aktuelle Wortlaut des § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO erlaubt im Falle vorhandener Grenzbebauung nicht nur einen Anbau, sondern das Bauen ohne Grenzabstand. Diese Wortlautänderung führt, wie sich auch aus den Gesetzesmaterialien ergibt (s. LT-Drs. 13/3040, S. 50) nach dem Willen des Gesetzgebers dazu, dass die Deckungsgleichheit von Alt- und Neubau nicht mehr Voraussetzung der Ausnahme nach § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO ist. Das Ausmaß der hinzutretenden Grenzbebauung wird nur noch durch die jeweils einschlägigen Regelungen des Bauplanungsrechtes begrenzt (vgl. OVG RP, Beschluss vom 29. Oktober 2001 - 8 A 11309/01.OVG -; vgl. auch BVerwG Urteil vom 24. Februar 2000, BVerwGE 110, 355 ff.). Die bauplanungsrechtliche Begrenzung der Grenzbebauung ergibt sich entweder aus den Festsetzungen eines Bebauungsplanes, soweit dieser die Bautiefe durch die Festsetzung von Baugrenzen oder Baulinien regelt, oder im Falle eines unbeplanten Innenbereiches gemäß § 34 BauGB aus der Bebauung der maßgeblichen näheren Umgebung, aus der dann die faktischen Baugrenzen abzuleiten sind.

21

Im vorliegenden Fall besteht kein Bebauungsplan. Daher ist auf die in der näheren Umgebung verwirklichte Bautiefe abzustellen. Diese wird durch das streitige Vorhaben des Klägers indessen nicht überschritten. Ausweislich des Lageplanes (Bl. 18 der Bauakte) erreicht das Wohngebäude des Klägers einschließlich des zur Genehmigung gestellten Balkons eine Bautiefe von 15 m. In der näheren Umgebung sind - stellt man allein auf die Bebauung westlich der Z.straße ab - zu der das Grundstück des Klägers zählt, größere Bautiefen vorhanden. Dies gilt zunächst für das unmittelbar nördlich an das Grundstück des Klägers grenzende Grundstück Parzelle Nr. ..., aber auch für das daran nördlich angrenzende Grundstück Parzelle Nr. ... und das weiter nördlich gelegene Grundstück Parzelle Nr. ..., deren Bautiefe jeweils mehr als 15 m beträgt. Eine vergleichbare Bautiefe wie das Wohngebäude des Klägers einschließlich des streitigen Balkons weist auch das Wohngebäude Z.straße ... auf, das südlich des klägerischen Grundstückes liegt. Soweit sich demgemäß aus der vorhandenen Bebauung eine faktisch rückwärtige Baugrenze ableiten lässt, wird diese durch das Wohngebäude des Klägers einschließlich des streitigen Balkons nicht überschritten. Zwar weist das Wohngebäude auf dem Nachbargrundstück Parzelle Nr. ... eine geringere Bautiefe auf. Der Umstand, dass der Nachbar die nach der Umgebungsbebauung mögliche Bautiefe nicht in vollem Umfange ausgeschöpft hat, begrenzt die zulässige Grenzbebauung auf dem Grundstück des Klägers aus den vorstehend dargelegten Gründen indessen nicht. Somit ist zum einen festzuhalten, dass sich die hier zur Genehmigung gestellte Bautiefe innerhalb des Rahmens hält, der durch die Umgebungsbebauung gemäß § 34 BauGB vorgegeben ist, und zum anderen dass, weil auf dem südlich angrenzenden Nachbargrundstück Parzelle Nr.... an die Grenze angebaut worden ist, auf dem Grundstück des Klägers innerhalb der nach der Umgebungsbebauung zulässigen Bautiefe ebenfalls an die Grenze gebaut werden darf, ohne dass es darauf ankommt, ob das Vorhaben des Klägers gegenüber dem südlich angrenzenden Nachbarwohngebäude im Wesentlichen deckungsgleich ist.

22

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO auch auf den Fall anzuwenden, dass nicht ein gesamtes Gebäude sondern nur der Anbau eines Balkons an ein bestehendes Gebäude zur Genehmigung gestellt wird. Dies ist zunächst nicht dadurch ausgeschlossen, dass § 8 Abs. 1 LBauO die Einhaltung von Abstandsflächen vor den Außenwänden oberirdischer Gebäude regelt und § 2 Abs. 2 LBauO, der die Definition des Begriffs „Gebäude“ enthält, Balkone nicht ausdrücklich erwähnt. Ein Balkon ist nämlich kein eigenständiges Bauwerk, das von dem Gebäude, an dem er angebaut ist, zumindest gedanklich getrennt werden könnte, sofern nicht ein gesamtes Gebäude einschließlich eines Balkons sondern nur die Ergänzung eines Gebäudes um einen Balkon Gegenstand des Baugenehmigungsantrages ist. Aus dem Umstand, dass sich der Genehmigungsantrag hierauf beschränkt, folgt nicht, dass ein Balkon dann als eigenständiges - hochsitzähnliches – Bauwerk zu behandeln wäre, sondern auch dann bleibt ein solcher Balkon ein Gebäudeteil des als Einheit zu betrachtenden Gebäudes, was im Übrigen aus der Gesetzesformulierung in § 8 Abs. 5 LBauO deutlich wird, der Balkone ausdrücklich als „Gebäudeteile“ bezeichnet. Dies wird im Übrigen auch schon daraus deutlich, dass der Gesetzgeber die verschiedenen in § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO bezeichneten Gebäudeteile, wie z.B. Dachvorsprünge gleich behandelt. In der Rechtsprechung ist bislang ersichtlich nicht erwogen worden, dass bei einem zulässigen Grenzanbau etwa ein Dachvorsprung einen Grenzabstand einhalten müsste, weil Dachvorsprünge in § 2 Abs. 2 LBauO keine eigenständige Erwähnung gefunden haben. Die in § 8 Abs. 5 Satz 2 erwähnten Gebäudeteile sind somit - innerhalb der bauplanungsrechtlich vorgegebenen Bebauungstiefe - gleichermaßen gemäß § 8 Abs. 1 S. 3 LBauO an der Grenze zulässig, wie das Gebäude, soweit es durch die Straßenfront und Rückfront begrenzt wird (vgl. zu Doppelhäusern: Jeromin, Kommentar zur LBauO RP, § 8 LBauO, Rn. 90, S. 180; Gädtke/Böckenförde/Temme/Heintz, LBauO NW, 9. Auflage, § 6 Rn. 108 und Gädtke / Temme/Heintz/Czepuck, LBauO NW, 11. Auflage, § 6 Rn. 264; vgl auch zu Reihenhäusern: VG Trier, Urteil vom 13. September 2006 – 5 K521/06.TR – in juris, bestätigt durch Beschluss vom 30. Januar 2007 – 8 A 11375/06.OVG - ).

23

Gegenteiliges ergibt sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes wie der Beklagten auch nicht aus dem Beschluss des 8. Senats des erkennenden Gerichts vom 7. Oktober 2002 (8 A 11338/02.OVG) und aus dem Urteil des genannten Senats vom 28. März 2001 (8 A 12042/00.OVG), soweit darin festgehalten ist, dass § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO auch für die seitlichen Grundstücksgrenzen entsprechend gilt. Diese Überlegungen, wonach § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO nicht nur für die rückwärtige Grundstücksgrenze sondern auch bezüglich der seitlichen Grundstücke Geltung beanspruchen kann, setzen nämlich voraus, dass zu der jeweils maßgeblichen Grundstücksgrenze überhaupt eine Abstandsfläche einzuhalten ist, weil § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO die Behandlung derartiger vor die Wand vortretender Gebäudeteile bei der Bemessung der Tiefe der Abstandsfläche regelt. Ist indessen, weil gemäß § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO an die Grenze angebaut werden darf, in Bezug auf diese Grenze eine Abstandsfläche nicht einzuhalten, dann fehlt es schon an dem Ansatzpunkt für eine Anwendung des § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO.

24

Anderes folgt auch nicht daraus, dass § 8 Abs. 5 Satz 2 letzter Halbsatz LBauO als eine eigenständige, neben § 8 Abs. 5 Satz 2 1. Halbsatz LBauO stehende und hiervon unabhängige Regelung verstanden werden müsste, die als lex specialis für Balkone der Regelung in § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO vorginge. Hiergegen spricht sowohl die Systematik des Gesetzes, soweit sie sich aus dem Aufbau des § 8 LBauO ableiten lässt, als auch die Zweckbestimmung des § 8 Abs. 5 LBauO.

25

Der Gesetzgeber hat in § 8 Abs. 1 LBauO geregelt, in welchen Fällen Abstandsflächen vor Außenwänden oberirdischer Gebäude freizuhalten sind. Die weiteren Regelungen in den Absätzen 2 bis 6 des § 8 LBauO bestimmen daran anknüpfend, wo die Abstandsflächen liegen müssen und wie sie zu bemessen sind. In § 8 Abs. 2 und 3 LBauO ist deren Lage auf dem Grundstück und in den Absätzen 4 bis 6 des § 8 LBauO ist im Einzelnen festgelegt, wie die Tiefe der jeweils freizuhaltenden und im rechten Winkel zur jeweiligen Wand zu messenden Abstandsfläche zu berechnen ist. Die Regelungen des § 8 Abs. 2 bis 6 LBauO sind allerdings nur dann einschlägig, wenn überhaupt eine Abstandsfläche freizuhalten ist. Ist das nach § 8 Abs. 1 Satz 2 und 3 LBauO nicht der Fall, dann fehlt somit die Grundlage für die Anwendung der vorgenannten Absätze des § 8 LBauO. Von daher widerspricht es dem systematischen Aufbau des § 8 LBauO, einem einzelnen Halbsatz der letztgenannten Absätze, nämlich § 8 Abs. 5 Satz 2 2. Halbsatz LBauO den Charakter einer Spezialvorschrift zu § 8 Abs. 1 LBauO zuzusprechen, der regelt, in welchen Fällen eine Abstandsfläche freizuhalten ist. Hätte der Gesetzgeber in Bezug auf die Frage, ob eine Abstandsfläche freizuhalten ist, für Balkone eine von § 8 Abs. 1 LBauO abweichende Sonderregelung normieren wollen, so wäre diese der letztgenannten Regelung und nicht den Vorschriften, die die Lage und die Bemessung der Abstandsfläche zum Gegenstand haben, zuzuordnen gewesen.

26

§ 8 Abs. 5 LBauO regelt vielmehr Sonderfälle im Verhältnis zu den in § 8 Abs. 4 LBauO geregelten Standardsituationen. In dem letztgenannten Absatz hat der Gesetzgeber - für den Fall, dass eine Abstandsfläche freizuhalten ist - eine zweifache Klärung vorgenommen. Diese bezieht sich zum einen auf die Frage, wo die Abstandsfläche anzusetzen ist. Sie ist, wie in § 8 Abs. 4 Satz 1 LBauO festgelegt ist, nämlich senkrecht zur Wand zu messen, die zu der maßgeblichen Nachbargrenze zeigt. In § 8 Abs. 4 LBauO ist zum anderen die Frage geklärt, welcher maßgebliche Parameter mit dem in § 8 Abs. 6 LBauO geregelten Multiplikator für die Berechnung der Tiefe der Abstandsfläche maßgeblich sein soll. Das ist die Wandhöhe, deren Ermittlung im einzelnen in § 8 Abs. 4 LBauO geregelt wird. § 8 Abs. 5 LBauO ergänzt die Regelung in § 8 Abs. 4 Satz 1 LBauO insoweit, als er in seinen Sätzen 1 und 2 die Fallgestaltungen aufgreift, in denen der maßgeblichen Nachbargrenze keine glatte durchgehende Wand, sondern eine strukturierte Wand gegenüber steht. § 8 Abs. 5 Satz 1 LBauO regelt den Fall vor- oder zurücktretender Wandteile mit der Folge, dass die Abstandsfläche jeweils gesondert an den einzelnen Wandteilen anzusetzen und zu insoweit gesondert zu berechnen ist. § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO regelt für den Fall, dass die in der Norm benannten Gebäudeteile vor die abstandflächenrelevante Wand vortreten, diese Gebäudeteile ihrerseits abstandsflächenrechtlich außer Betracht bleiben, an ihrer Vorderseite also nicht im Sinne einer fiktiven Wand eine eigenständige, gesondert zu berechnende Abstandsfläche anzusetzen ist, sofern die in der Vorschrift genannten Maße nicht überschritten werden. Diese vor die Wand vortretenden Gebäudeteile können danach in eine an dieser Wand anzusetzende Abstandsfläche hinein ragen, müssen jedoch mindestens 2 m von der - der Wand gegenüberliegenden - Grundstücksgrenze entfernt bleiben. In diesem Sinne ist § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO eine Spezialvorschrift zu § 8 Abs. 4 LBauO, die indessen nicht in zwei gänzlich unterschiedliche Regelung zerlegt werden kann, nämlich zum einen in eine Sonderregelung zu § 8 Abs. 4 LBauO und zum anderen in eine Sonderregelung zu § 8 Abs. 1 LBauO.

27

Auch der Sinn und Zweck des § 8 Abs. 5 S. 2 LBauO spricht gegen die Interpretation des Verwaltungsgerichts. Ersichtlich soll diese Regelung die in § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO genannten Gebäudeteile näher an die hier maßgebliche Nachbargrenze herantreten lassen, als das bei der Wand zulässig ist, vor der sie vortreten. Diese Intention des Gesetzgebers, die Zulässigkeit von Balkonen zu erleichtern, würde aber geradezu ins Gegenteil verkehrt, wenn zwar die seitliche Gebäudewand unmittelbar an der Grenze errichtet werden dürfte, ein sich hieran anschließender Balkon indessen unzulässig wäre, andererseits aber ein über sämtliche Geschosse durchgeführter Anbau innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche entlang der Nachbargrenze wiederum zulässig wäre.

28

Eine derartige Differenzierung ist auch nicht mit Blick auf die Überlegungen des Verwaltungsgerichtes zum Schutz des Wohnfriedens geboten. Eine solche Balkonanlage verstößt nicht gegen das Erfordernis der verträglichen Errichtung der beiden Doppelhaushälften. Durch einen derartigen Balkon werden keine Einsichtnahmen geschaffen, die der Nachbar und Bauherr der anderen Doppelhaushälfte nicht hinzunehmen hätte. Denn die erhöhte Nutzbarkeit der Grundstücke des Nachbarn und des Klägers wurde durch den Verzicht auf seitliche Grenzabstände und damit auf Freiflächen, die dem Wohnfrieden dienen „erkauft“ (vgl. BVerwG Urteil vom 24. Februar 2000, BVerwGE 110, 355 ff.; VGH BW Beschluss vom 29. April 2009 in juris). Dieser Verzicht umfasst auch den seitlichen Grenzabstand von Balkonen an der rückwärtigen Gebäudewand, von denen naturgemäß von der Seite das Nachbargrundstück eingesehen werden kann. Der Wahrung des Wohnfriedens wird im Übrigen durch das Gebot der Rücksichtnahme hinreichend Rechnung getragen, dessen Beachtung unabhängig von der Übereinstimmung des Vorhabens mit den bauordnungsrechtlichen Vorschriften zu prüfen ist, die nicht Prüfungsgegenstand im vereinfachten Verfahren gemäß § 66 LBauO sind.

29

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht auch das Urteil des 8. Senats des erkennenden Gerichtes vom 28. März 2001 (8 A 12042/00.OVG) dem vorstehend erläuterten Verständnis von § 8 LBauO nicht entgegen. Dabei ist zunächst anzumerken, dass die genannte Entscheidung schon deshalb nicht unmittelbar auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar ist, weil sie die Rechtsfrage erörtert, ob für den Fall, dass aus planungsrechtlichen Gründen an die Grenze gebaut werden muss , im Einzelfall zu differenzieren sein kann zwischen einem Teilbereich der überbaubaren Grundstücksfläche, in dem an die Grenze gebaut werden müsse und einem weiteren Bereich der überbaubaren Grundstücksfläche, wo ein solcher Zwang nicht bestehe. Diese Entscheidung erörtert also, wie im Falle des § 8 Abs. 1 Satz 2 LBauO bei einem rückwärtigen Balkon zu verfahren ist, wenn dieser in einem Teilbereich der überbaubaren Grundstücksfläche verwirklicht werden soll, in dem ein bauplanungsrechtlicher Zwang zur Grenzbebauung nicht besteht. Im vorliegenden Fall ist indessen § 8 Abs. 1 Satz 3 LBauO einschlägig, wonach für den Fall, dass auf dem Nachbargrundstück bereits an die Grenze angebaut ist, ebenfalls ohne Grenzabstand gebaut werden darf. Auf den Fall einer Doppelhausbebauung, wie er hier vorliegt und in dem eine Deckungsgleichheit von dem Gesetzgeber nicht mehr gefordert sondern der Umfang der zulässigen Grenzbebauung dann lediglich durch in einem Bebauungsplan festgesetzten oder aus der maßgeblichen Umgebungsbebauung ableitbaren Baugrenzen beschränkt wird, kann der Grundgedanke der vorgenannten Entscheidung, soweit es um einen Grenzanbau innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche geht, daher nur insoweit übertragen werden, als sich im unbeplanten Innenbereichs im Einzelfall die Frage stellen kann, ob aus der Umgebungsbebauung zumindest ein Ordnungsprinzip dergestalt ableitbar ist, dass vor die Wand tretende Gebäudeteile wie Balkone nur mit Grenzabstand vorhanden sind und ein hiervon abweichender, bis zur Grenze reichender Balkon sich deshalb nicht in den vorgegebenen Rahmen einfügen würde. Dabei ergibt sich schon aus der Aufzählung der Gebäudeteile in § 8 Abs. 5 Satz 2 LBauO, dass diese Überlegungen ohnehin nicht für sämtliche vor die Wand vortretende Gebäudeteile wie z. B. Dachvorsprünge Geltung beanspruchen können, sondern nur für einzelne, wie z.B. für Balkone oder Erker.

30

Im vorliegenden Fall ist ein derartiges Ordnungsprinzip, in den sich der von dem Kläger zur Genehmigung gestellte Balkon nicht einfügen würde, indessen nicht ersichtlich, wie die Ortsbesichtigung ergeben hat. Vielmehr war in der näheren Umgebung - vom Grundstück des Klägers aus gesehen in geringer Entfernung - ein Doppelhaus mit jeweils bis zur Nachbargrenze reichenden Balkonen sichtbar. Des Weiteren war eine bis zur Nachbargrenze reichende Veranda auf der Rückseite eines Anwesens zu erkennen, dass von der westlich des klägerischen Grundstückes verlaufenden und südlich des klägerischen Grundstückes in die Z.straße einmündete A.straße erschlossen wird. Da, wie oben ausgeführt, das klägerische Anwesen einschließlich des Balkons auch nicht über die aus der Umgebungsbebauung ableitbare rückwärtige Baugrenze hinausragt, steht § 8 LBauO dem Vorhaben des Klägers nicht entgegen.

31

Dem steht schließlich im vorliegenden Fall auch nicht entgegen, dass der zur Genehmigung gestellte Balkon nicht bis unmittelbar an die Grenze reichen, sondern einen geringen Abstand hiervon halten soll. Nach der im Rahmen der Ortsbesichtigung erkennbaren örtlichen Situation sind nämlich keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass hierdurch ein „Schmutzwinkel“ entstehen könnte, der Nachbarbelange beeinträchtigen würde. Ohnehin geht es hier nicht um eine in Grenznähe geplante - höhere - Wand, bei der ein solcher „Schmutzwinkel eher denkbar wäre, sondern um einen Balkon. Ein solcher kann hier zudem durch die Stellung der jeweiligen Doppelhaushälften zueinander nicht entstehen. Darüber hinaus würde es den Nachbarbelangen, im Ergebnis eher zuwiderlaufen, wenn dem Kläger die Schaffung baurechtmäßiger Zustände in Bezug auf § 8 LBauO allein dadurch möglich würde, dass er seine Balkonanlage bis unmittelbar zur Nachbargrenze vorzieht.

32

Die zur Genehmigung gestellte Balkonanlage verstößt, wie die Ortsbesichtigung ergeben hat, und wie sich auch aus den vorliegenden Lageplänen und Luftbildern (Quelle: Geoportal Rheinland-Pfalz) ergibt, des Weiteren nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme aus § 34 BauGB. Aufgrund der Lage des Balkons im Norden der Nachbarparzelle Nr. ... ist nämlich eine Beeinträchtigung der Belichtung des Nachbaranwesens auszuschließen. Soweit Beeinträchtigungen des Nachbarn im Zusammenhang mit Einsichtsmöglichkeiten von dem Balkon aus in Rede stehen, ist anzumerken, das Einsichtnahmen von einer Balkonanlage auf ein Nachbargrundstück im Innenbereich unvermeidlich und als sozialadäquat hinzunehmen sind. Eine Einsichtnahme von dem streitgegenständlichen Balkon in das Nachbargebäude selbst kann durch die Anbringung eines Sichtschutzes, wie er von dem Kläger auch geplant ist, verhindert werden. Nach alledem war die Beklagte zur Neubescheidung des in der mündlichen Verhandlung abgeänderten Bauantrages zu verpflichten.

33

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO.

34

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

35

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Art nicht vorliegen.

36

Beschluss

37

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 52 Abs. 1, 63 Abs. 2 GKG).

(1) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans können solche Ausnahmen zugelassen werden, die in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind.

(2) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und

1.
Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung, des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, des Bedarfs an Anlagen für soziale Zwecke und des Bedarfs an einem zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien, die Befreiung erfordern oder
2.
die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3.
die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde
und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

(3) In einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt, das nach § 201a bestimmt ist, kann mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Von Satz 1 kann nur bis zum Ende der Geltungsdauer der Rechtsverordnung nach § 201a Gebrauch gemacht werden. Die Befristung in Satz 2 bezieht sich nicht auf die Geltungsdauer einer Genehmigung, sondern auf den Zeitraum, bis zu dessen Ende im bauaufsichtlichen Verfahren von der Vorschrift Gebrauch gemacht werden kann. Für die Zustimmung der Gemeinde nach Satz 1 gilt § 36 Absatz 2 Satz 2 entsprechend.

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. November 2012 - 11 K 3405/12 - in der Fassung des Senatsbeschlusses vom 14. März 2013 - 8 S 2504/12 - wird geändert, soweit er die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller zu 1 und 2 gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 21. September 2012 anordnet.

Der Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 21. September 2012 wird mit Wirkung ab Zustellung dieses Beschlusses abgelehnt.

Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Abänderungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.

Der Streitwert für das Abänderungsverfahren wird auf 3.750,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Die Antragsteller wenden sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer dem Beigeladenen am 21.09.2012 erteilten Baugenehmigung zur Änderung der Nutzung eines Wohnheims mit Werkstatt und Schulungsräumen in Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber sowie Büros mit Lagerräumen.
1. Die Antragsgegnerin erteilte dem Beigeladenen mit Bescheid vom 21.09.2012 die streitbefangene Baugenehmigung zur oben beschriebenen (Nutzungs-)Änderung entsprechend seinem Antrag vom 11.06.2012 in Anwendung von § 31 Abs. 1 BauGB, § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO 1968. Der Bauantrag war ausdrücklich auf „Gemeinschaftsunterkünfte zur Unterbringung von Personen nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz (Asylbewerber)“ gerichtet.
Das Baugrundstück befindet sich ebenso wie das im Miteigentum der Antragsteller zu 1 und zu 2 befindliche Nachbargrundstück im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ der Gemeinde Oeffingen vom 29.10.1973, in dem nach Nr. 1.2 seines Textteils für das gesamte Plangebiet ein „beschränktes Gewerbegebiet nach § 8 Abs. 4 BauNVO“ festgesetzt wird, in dem „nur nicht wesentlich störende Betriebe im Sinne von § 6 BauNVO zulässig [sind]“.
2. Die Antragsteller erhoben gegen die Baugenehmigung Widerspruch. Ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 21.11.2012 abgelehnt. Die Beschwerde der Antragsteller gegen diese Entscheidung hatte Erfolg. Mit Senatsbeschluss vom 14. März 2013 wurde der Beschluss des Verwaltungsgerichts geändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller angeordnet. Zur Begründung führte der Senat im Wesentlichen aus, die angegriffene Baugenehmigung werde sich in der Hauptsache wohl als rechtswidrig erweisen und die Antragsteller dadurch in eigenen Rechten verletzen. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei dem Vorhaben um eine Anlage für soziale Zwecke handele, sei sie voraussichtlich bauplanungsrechtlich unzulässig, weil die genehmigte Nutzung mit ihrem wohnähnlichen Charakter in einem Gewerbegebiet gebietsunverträglich sei.
3. Das Regierungspräsidium Stuttgart wies den Widerspruch der Antragsteller mit Bescheid vom 07.08.2013 unter Erteilung einer Befreiung von der Festsetzung zur Art der baulichen Nutzung des Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ zurück. Die Voraussetzungen für die Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB lägen vor, denn Gründe des Wohls der Allgemeinheit erforderten die Befreiung und die Abweichung sei auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
Ein auf die Erteilung der Befreiung gestützter Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hatte vor dem Verwaltungsgericht Erfolg (Beschluss vom 14.10.2013 - 11 K 2941/13). Dieser Beschluss wurde auf die Beschwerde der Antragsteller mit Senatsbeschluss vom 17.12.2013 geändert und der Antrag auf Abänderung abgelehnt (8 S 2350/13).
4. Auf die Klage der Antragsteller hat das Verwaltungsgericht die Baugenehmigung vom 21.09.2012 und den Widerspruchsbescheid vom 07.08.2013 mit Urteil vom 22.07.2014 aufgehoben (11 K 3170/13). Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung ist vom Beklagten, dem Beigeladenen und dem - im Klageverfahren ebenfalls beigeladenen - Landkreis Rems-Murr-Kreis, eingelegt worden. Über die Berufungen ist noch nicht entschieden worden.
II.
Der Senat macht von der ihm in § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO eingeräumten Kompetenz Gebrauch, ändert den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.11.2012 - in der Fassung, die er durch den Senatsbeschluss vom 14.03.2013 gefunden hat - mit Wirkung für die Zukunft ab und lehnt den Antrag der Antragsteller auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage ab. Die Erfolgsaussichten dieser Klage erweisen sich aufgrund der Einführung von § 246 Abs. 10 BauGB durch Art. 1 des Gesetzes über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen vom 20.11.2014 (BGBl I S. 1748) mit Wirkung vom 26.11.2014 (vgl. dessen Art. 2) derzeit als offen. Das Vollzugsinteresse - sowohl das öffentliche als auch das private des Beigeladenen - überwiegt daher nunmehr das Suspensivinteresse der Antragsteller.
1. Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient dabei nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung formell und materiell richtig ist. Es eröffnet vielmehr die Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab ist daher allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (BVerwG; Beschluss vom 10.03.2011 - 8 VR 2.11 - juris Rn. 8; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.11.1995 - 13 S 494/95 - VBlBW 1996, 98; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.12.2013 - 9 S 53.13 - juris; Funke-Kaiser, in: Bader, VwGO, 6. Aufl. 2014, § 80 Rn. 143a).
10 
2. Die vom Senat zu treffende umfassende Interessenabwägung (§§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO) unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Klage fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Aufgrund der Einfügung des neuen Absatzes 10 in § 246 BauGB erweisen sich die Erfolgsaussichten der Klage derzeit als offen (a)). Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung des §212a Abs. 1 BauGB, wonach der Bauherr von der Baugenehmigung sofort Gebrauch machen darf, kommt dem Vollzugsinteresse aufgrund des erheblichen Platzbedarfs für die Unterbringung von Asylantragstellern der Vorrang vor dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs zu (b)).
11 
a) Die dem Beigeladenen mit Widerspruchsbescheid vom 07.08.2013 erteilte Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans „Handwerkergebiet“ wird tatbestandlich voraussichtlich von § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB - dessen Einfügung in das Baugesetzbuch mit Wirkung vom 26.11.2014 vom Senat hier zu berücksichtigen ist (aa)) - gedeckt (bb)). Das grundsätzlich eröffnete Ermessen der Baurechtsbehörde ist hier wohl zugunsten des Beigeladenen auf Null reduziert (cc)). Es ist allerdings eine offene Rechtsfrage, ob auf der Grundlage des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB eine unbefristete Baugenehmigung bzw. Befreiung erteilt werden darf (dd)).
12 
aa) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei einer Drittanfechtung einer Baugenehmigung der Zeitpunkt der Erteilung der angefochtenen Baugenehmigung. Allerdings ist es zu berücksichtigen, wenn sich die Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Bauherrn verändert (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.04.2011 - 5 S 194/10 - VBlBW 2011, 395 m.w.N.). Eine solche Änderung stellt § 246 Abs. 10 BauGB dar.
13 
bb) (1) Nach § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB kann bis zum 31.12.2019 in Gewerbegebieten (§ 8 der Baunutzungsverordnung, auch in Verbindung mit § 34 Abs. 2 BauGB) für Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können oder allgemein zulässig sind und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist.
14 
Diese spezielle Befreiungsvorschrift, die ergänzend neben die allgemeine Vorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB tritt (BT-Drs. 18/2752 S. 11 f.), ist auf Festsetzungen von Gewerbegebieten als Baugebiet im Sinne der Baunutzungsverordnung anzuwenden und bezieht sich auf alle Fassungen der Baunutzungsverordnung seit derem ersten Erlass vom 26.06.1962 (BGBl I. S. 429). Die Voraussetzung, dass an dem Standort Anlagen für soziale Zwecke als Ausnahme zugelassen werden können, zielt darauf ab, dass die Gemeinde mit dem Bebauungsplan nicht von Möglichkeiten zur Feinsteuerung Gebrauch gemacht haben darf und also die nach der Anordnung - der jeweils anzuwenden Fassung - des § 8 BauNVO ausnahmsweise zulässigen Anlagen für soziale Zwecke nicht durch den Bebauungsplan von der (ausnahmsweisen) Zulässigkeit ausgeschlossen hat (Battis/Mitschang/Reidt, NVwZ 2014, 1609<1612>). Abweichend von § 31 Abs. 2 BauGB ist hingegen nicht gefordert, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden.
15 
Für die Prüfung der Vereinbarkeit der Abweichung mit öffentlichen Belangen, wie sie von § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB ebenso gefordert wird wie von § 31 Abs. 2 BauGB, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur allgemeinen Befreiungsvorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB keine generellen Maßstäbe zu bilden. Denn es ist nicht generell zu beantworten, welche Umstände als öffentliche Belange einer Befreiung entgegenstehen. Der Schluss, eine Befreiung sei mit den öffentlichen (bodenrechtlichen) Belangen nicht vereinbar, liegt umso näher, je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht einer Planung eingreift. Eine Befreiung ist ausgeschlossen, wenn das Vorhaben in seine Umgebung nur durch Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt oder erhöht, so dass es bei unterstellter Anwendbarkeit des § 34 Abs. 1 BauGB nicht zugelassen werden dürfte (BVerwG, Urteile vom 09.06.1978 - 4 C 54.75 - BVerwGE 56, 71 <78 f.> und vom 19.09.2002 - 4 C 13.01 - BVerwGE 117, 50 <53 f.>). Es kommt also - auch für die hypothetische Prüfung am Maßstab des § 34 Abs. 1 BauGB - darauf an, ob durch das Bauvorhaben städtebauliche Spannungen hervorgerufen werden, die vorhandene bauliche Situation verschlechtert wird, das Bauvorhaben mithin „Unruhe stiftet“. Bei der Anwendung des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB ist - insoweit abweichend - zu berücksichtigen, dass die mögliche Unruhe, die durch die Genehmigung der wohnähnlichen Nutzung eines Gebäudes als Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft für Asylbegehrende (dazu Senatsbeschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 - VBlBW 2013, 384 juris Rn. 15 f. und Bayerischer VGH, Urteil vom 06.02.2015 - 15 B 14.1832 - juris, jeweils m.w.N.), in ein Gewerbegebiet getragen wird, das aufgrund seines durch die Bestimmungen der Baunutzungsverordnung geprägten Gebietstypus wohnähnliche Nutzungsformen nicht verträgt (auch hierzu Senatsbeschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 - VBlBW 2013, 384 juris Rn. 18 m.w.N.), nicht relevant für die Frage der Vereinbarkeit der Befreiung mit den öffentlichen Belangen sein kann. Denn insoweit hat der Gesetzgeber für den Tatbestand des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB eine abschließende Regelung zugunsten der Möglichkeit, Befreiungen für solche Nutzungsformen zu erteilen, getroffen. Als öffentlicher Belang ist hingegen die Wahrung gesunder Wohnverhältnisse zu berücksichtigen. Eine Zulassung der in der Norm benannten Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende ist daher tatbestandlich u.a. dann mangels Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen ausgeschlossen, wenn die Bewohner voraussichtlich gesundheitsgefährdenden Immissionen ausgesetzt wären.
16 
Die Würdigung nachbarlicher Interessen schließlich fordert, dass festgestellt wird, ob nachbarliche Interessen der Erteilung einer Befreiung entgegenstehen. Dazu sind die Interessen des Bauherrn an der Befreiung und die Interessen des Nachbarn an der Einhaltung der Festsetzung nach den Maßstäben des Rücksichtnahmegebots gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zwar davon auszugehen, dass nachbarschützende Festsetzungen - insbesondere solche über die Art der baulichen Nutzung - im Interessengeflecht eines Bebauungsplans in der Regel eine derart zentrale Bedeutung haben, dass ihre Durchbrechung das Bedürfnis nach einer Änderung des Bebauungsplans hervorruft. Etwas anders gilt jedoch dann, wenn die Nachbarn weder von dem Vorhaben selbst noch von dessen zu erwartenden Folgewirkungen nennenswert beeinträchtigt werden können (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2014 - 3 S 1992/13 - NVwZ-RR 2014, 548 <549 f.>).
17 
(2) Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier voraussichtlich alle erfüllt.
18 
(a) Im Plangebiet sind allein die das Wohnen wesentlich störenden Betriebe von der Zulässigkeit, wie sie von dem mit der Festsetzung unter Nr. 1.2 des Bebauungsplans in Bezug genommenen § 8 BauNVO 1968 bestimmt werden, ausgenommen. Anlagen für soziale Zwecke sind nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 3. Var. BauNVO 1968 hingegen ausnahmsweise zulässig.
19 
(b) Die Befreiung ist voraussichtlich auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Die Antragsteller haben bislang nicht substantiiert geltend gemacht, dass bisher ausgeübte Nutzungen - wie etwa der auf ihrem Grundstück ausgeübte Handel mit Natursteinen - aufgrund der Befreiung nicht mehr im gleichen Umfang wie bisher ausgeübt werden könnte und also Nutzungen auf Nachbargrundstücken von dem Vorhaben selbst noch von dessen zu erwartenden Folgewirkungen nennenswert tatsächlich konkret beeinträchtigt werden könnten. Eine solche Beeinträchtigung liegt im Übrigen auch schon deswegen fern, weil die in dem festgesetzten beschränkten Gewerbegebiet zulässigen Gewerbebetriebe das Wohnen ohnehin nicht wesentlich stören dürfen und auch im Mischgebiet zulässig sein müssen, so dass der Senat keine Anhaltspunkte dafür erkennen kann, dass gesunde Wohnverhältnisse auf dem Baugrundstück nicht gewahrt sein könnten.
20 
bb) Das Ermessen der Baugenehmigungsbehörde - aus § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB - dürfte hinsichtlich der Erteilung der Befreiung auf Null reduziert sein. Bereits regelmäßig und allgemein verbleibt für die Ausübung des Befreiungsermessens wenig Spielraum, wenn die engen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erfüllt sind (Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 12. Aufl. 2014, § 31 Rn. 43). Dies gilt auch für das der Baurechtsbehörde in § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB eröffnete Ermessen, auch wenn der Tatbestand mit dem Verzicht auf die Prüfung der Berührung der Planungsgrundzüge hier nicht genauso eng wie in § 31 Abs. 2 BauGB gefasst ist. Denn die neu geschaffene, zeitlich befristete Ermächtigungsgrundlage des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB zielt gerade auf die weitgehende Erteilung von Befreiungen. Da derzeit nicht ersichtlich ist, dass nachbarliche Interessen konkret beeinträchtigt sein könnten, städtebauliche Belange - etwa Planungsabsichten der Gemeinde - nicht berührt sind und also damit einerseits relevante öffentliche Belange oder nachbarliche Interessen in keiner Weise negativ betroffen sind, andererseits ein hohes öffentliches Interesse an der Schaffung zusätzlicher Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbegehrende besteht, ist wohl von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen (vgl auch Senatsurteil vom 14.03.2007 - 8 S 1921/06 - NVwZ-RR 2008, 225 <226 f.>).
21 
cc) Offen hingegen erscheint, ob die Befreiung und damit die Baugenehmigung für die begehrte Nutzungsänderung auf der Grundlage des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB - wie bislang geschehen - unbefristet erteilt werden darf.
22 
Die Gesetzesmaterialien äußern sich nicht zu der Frage, ob mit der Befristung der Ermächtigungsgrundlage auf den 31.12.2019 auch beabsichtigt gewesen ist, nur befristet Befreiungen zu ermöglichen. In der Literatur wird vertreten, dass § 246 Abs. 10 BauGB die Erteilung unbefristeter Befreiungen und auf ihrer Grundlage Baugenehmigungen ermögliche (Krautzberger/Stüer, DVBl 2015, 73<78>) und dass eine Rechtfertigung, Baugenehmigungen für beantragte Vorhaben behördlicherseits mit einer zeitlichen Beschränkung auf den 31.12.2019 zu versehen, nicht bestehe (Battis/Mitschang/Reidt, NVwZ 2014, 1609 <1611>). Dagegen könnte jedoch sprechen, dass der mit der zeitlichen Befristung der Ermächtigungsgrundlage erkennbar verfolgte doppelte Zweck, nur eine befristete Regelung aufgrund der aktuell stark ansteigenden Asylantragszahlen zu schaffen (vgl. BT-Drs. 18/2752 S. 7) und den Eingriff in die kommunale Planungshoheit durch Zulassung einer Befreiungsmöglichkeit ohne Rücksicht auf Planungsgrundzüge möglichst gering zu halten, letztlich nur dann effektiv erreicht werden kann, wenn auch die Auswirkungen der Anwendung des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB zeitlich begrenzt werden und damit der „Ausnahmecharakter“ der Norm (Kment/Bauer, BauR 2015, 211<214>) hinreichend Berücksichtigung findet. Allerdings teilt der Senat nicht die Rechtsauffassung der Antragsteller, wonach die Frage der Befristung für die Verhältnismäßigkeit des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG relevant sei. Denn Art. 14 GG gewährleistet keinen Anspruch auf Beibehaltung der bauplanungsrechtlichen Situation (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2000 - 4 CN 6.99 - BVerwGE 112, 41).
23 
b) Angesichts der aufgrund der fehlenden Befristung der erteilten Befreiung derzeit offenen Frage ihrer Rechtmäßigkeit kommt nunmehr - abweichend von der vom Senat im Beschluss vom 14.03.2013 vorgenommenen Interessenabwägung - dem privaten Interesse des Beigeladenen und den öffentlichen Interessen am weiteren Vollzug der Baugenehmigung höheres Gewicht als dem Suspensivinteresse der Antragsteller zu. Bei dieser Interessenabwägung ist zugunsten des Vollzugsinteresses die gesetzliche Wertung des § 212a Abs. 1 BauGB, der dringende Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbegehrende und die Möglichkeit der Nachholung der Befristung der angefochtenen Baugenehmigung auch im laufenden Klageverfahren - sollte sie denn rechtlich erforderlich sein - einzustellen. Da die Antragsteller bislang keine konkreten Nachteile für den Fall des erneuten Vollzugs der Baugenehmigung substantiiert geltend gemacht haben und solche auch nicht ersichtlich sind, muss ihr Suspensivinteresse nunmehr zurückstehen.
24 
3. a) Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Der Senat weist darauf hin, dass aufgrund der Bestimmung des § 16 Nr. 5 RVG das von Amts wegen eingeleitete Änderungsverfahren im Verhältnis zum ersten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung „dieselbe Angelegenheit“ i. S. des § 15 Abs. 2 RVG ist (vgl. Senatsbeschluss vom 08.11.2011 - 8 S 1247/11 - JZ 2012, 421).
25 
b) Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1,53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 Satz 1 GKG in Anwendung von Nrn. II.1.5 und II.9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ 2004, 1327). Es bedarf einer Streitwertfestsetzung, weil diese Grundlage für zu erhebende Gebühren ist. Denn mehrere Verfahren nach § 80 Abs. 5 und 7, § 80a Abs. 3 VwGO gelten - systematisch insoweit vom Rechtsanwaltsvergütungsgesetz abweichend - nur innerhalb eines Rechtszugs als ein Verfahren, Vorbemerkung 5.2 Abs. 2 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG, was zur Folge hat, dass die Abänderung eines erstinstanzlichen Beschlusses durch das Berufungsgericht eine Gebühr auslöst (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 13.10.1989 - 1 S 3032/89 - juris). Die Abänderung eines Beschlusses nach §§ 80 Abs. 5, 80a Abs. 3 VwGO von Amts wegen führt zum Entstehen einer Gebühr. Denn Absatz 2 der Vorbemerkung 5.2 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG nimmt sowohl Satz 1 als auch Satz 2 des § 80 Abs. 7 VwGO in Bezug.
26 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO.

(1) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans können solche Ausnahmen zugelassen werden, die in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind.

(2) Von den Festsetzungen des Bebauungsplans kann befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und

1.
Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung, des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, des Bedarfs an Anlagen für soziale Zwecke und des Bedarfs an einem zügigen Ausbau der erneuerbaren Energien, die Befreiung erfordern oder
2.
die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3.
die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde
und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

(3) In einem Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt, das nach § 201a bestimmt ist, kann mit Zustimmung der Gemeinde im Einzelfall von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugunsten des Wohnungsbaus befreit werden, wenn die Befreiung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Von Satz 1 kann nur bis zum Ende der Geltungsdauer der Rechtsverordnung nach § 201a Gebrauch gemacht werden. Die Befristung in Satz 2 bezieht sich nicht auf die Geltungsdauer einer Genehmigung, sondern auf den Zeitraum, bis zu dessen Ende im bauaufsichtlichen Verfahren von der Vorschrift Gebrauch gemacht werden kann. Für die Zustimmung der Gemeinde nach Satz 1 gilt § 36 Absatz 2 Satz 2 entsprechend.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer den Beigeladenen erteilten Baugenehmigung.

2

Sie ist Eigentümerin des Grundstücks K-Straße 4a in A-Stadt (Flurstück 58/3 der Flur A der Gemarkung A-Stadt), welches mit einer Doppelhaushälfte bebaut ist. Westlich des Grundstücks unmittelbar angrenzend an das Grundstück der Klägerin liegt das Grundstück der Beigeladenen G-Straße 22 (Flurstück 57 der Flur A der Gemarkung A-Stadt).

3

Der ehemalige Rat des Stadtbezirks Süd der Stadt A. erteilte mit Datum vom 14.09.1979 für das seit dem Jahre 2010 nunmehr im Eigentum der Beigeladenen stehende Grundstück die Zustimmung zur Errichtung eines "Bungalows" und einer Garage. Gemäß dem bautechnischen Erläuterungsbericht sollte "die Bebauung der Laube in einer Länge von 12,20 m und einer Breite von 5,60 m als Grenzbebauung erfolgen". Der "Bungalow" wurde im Jahre 1980 errichtet. Mitte der 1990er Jahre stand das Gebäude für 2 bis 3 Jahre leer. Danach wurde es vermietet und einige Zeit zu Dauerwohnzwecken genutzt. Bevor die Beigeladenen es erwarben, stand der "Bungalow" seit 2008 leer.

4

Mit Datum vom 27.03.2012 beantragten die Beigeladenen die Erteilung einer Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines Bungalows in ein Wohnhaus und zur Errichtung eines Anbaus für die Ergänzung der Wohnfläche. Die Vermessung des geplanten Baugrundstücks ergab, dass der in Rede stehende "Bungalow" abweichend von der mit Datum vom 14.09.1979 erteilten Zustimmung sich mit der östlichen Außenwand des bestehenden "Bungalows" mit 0,25 m auf dem benachbarten Grundstück der Klägerin befand. Gemäß den von den Beigeladenen eingereichten Bauvorlagen sollte die östliche Außenwand des bestehenden "Bungalows" daher so zurückgebaut werden, dass sie sich mit einem Abstand von 9 cm auf dem Grundstück der Beigeladenen befinde solle. Außerdem sollte das in der östlichen Außenwand vorhandene Fenster mit Mauerwerk verschlossen und als Brandwand ausgebildet werden. Mit Datum vom 06.06.2012 erteilte die Beklagte den Beigeladenen die hier strittige Baugenehmigung. Nach den Bauvorlagen soll das vorhandene Gebäude zur Wohnung mittels eines Anbaus umgenutzt und vergrößert werden. Der Anbau an den bestehenden Altbestand (Grundfläche von 71,49 m²) umfasst eine Grundfläche von 48,51 m² und hält von der Grundstücksgrenze der Klägerin einen Abstand von 3 m ein. Das genehmigte Wohnhaus (Altbestand und Anbau) umfasst eine Grundfläche von 120 m² und einen Bruttorauminhalt von 423,62 m³. Für den Dachaufbau des vorhandenen Altbestands war eine Kunststoffabdichtung und Flachdachdämmung von ca. 16 cm Höhe in den Bauvorlagen vorgesehen.

5

Gegen die mit Datum vom 06.06.2012 erteilte Baugenehmigung legte die Klägerin erfolglos Widerspruch ein und hat am 13.12.2013 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben. Die Klägerin hat vorgetragen, die im Gesetz vorgesehenen Abstandsflächen seien einzuhalten, da das Gebäude als komplett neues Bauvorhaben zu bewerten sei. Der Bestandschutz für das Altgebäude sei mit der Nutzungsänderung von Wochenendnutzung zu Dauerwohnnutzung entfallen.

6

Die Klägerin hat beantragt,

7

den Bescheid der Beklagten vom 06.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.02.2014 aufzuheben.

8

Die Beklagte hat beantragt,

9

die Klage abzuweisen.

10

Der Bestandschutz für den zu DDR-Zeiten mit Zustimmung des Rates des Stadtbezirks Süd der Stadt A. errichteten "Bungalow" sei entgegen der Auffassung der Klägerin weder aufgrund der seit 1995 formell illegal geänderten Nutzung zum Dauerwohnen noch aufgrund des Auszugs der letzten Mieterin Ende Juli 2008 erloschen. Die Wohnnutzung des baulich unveränderten "Bungalows" wäre auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt geltenden Landesbauordnung genehmigungsfähig gewesen. Durch die geringfügige Änderung des Daches des Bestandsgebäudes seien die Belange der Klägerin an ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung ihres Wohngebäudes bzw. der geschützten Wohnbereiche nicht nachteilig betroffen. Dies gelte auch für den Anbau, der die erforderliche Abstandsfläche zum Grundstück der Klägerin einhalte. Das Gebot der Rücksichtnahme sei ebenfalls nicht verletzt.

11

Die Beigeladenen haben beantragt,

12

die Klage abzuweisen.

13

Sie haben die Ansicht vertreten, der "Altbungalow" unterliege weiterhin dem Bestandschutz. Beide Teile fügten sich in die nähere Umgebung ein und verletzten nicht das Gebot der Rücksichtnahme.

14

Mit Urteil vom 05.12.2014 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

15

Dem Vorhaben der Beigeladenen ständen weder bauplanungsrechtliche noch bauordnungsrechtliche Vorschriften, die dem Schutz der klagenden Nachbarin dienten, entgegen. Die Klägerin könne nicht mit Erfolg einwenden, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen mit dem Teil des Gebäudes, welcher direkt an der Grenze zum Grundstück der Klägerin errichtet sei, gegen § 6 Abs. 5 BauO LSA verstoße. Gegenstand der Baugenehmigung sei eine Nutzungsänderung, welche die Genehmigungsfrage nicht neu aufwerfe. Eine Nutzungsänderung sei nur dann abstandsflächenbeachtlich, wenn die neue Nutzung vom Bestandschutz nicht mehr gedeckt sei und wenn sie im Verhältnis zur bisherigen Nutzung zu nachteiligen Auswirkungen auf die Nachbargrundstücke in einem der durch die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften geschützten Belange führen könne. Die nunmehr beabsichtigte Nutzungsänderung in eine Dauerwohnnutzung habe auf keinen der durch die Abstandsvorschriften geschützten Belange nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung als Wochenendhaus. Im Hinblick auf das Gebäude im ursprünglichen Bestand ändere sich – auch unter Berücksichtigung der geringfügigen Dacherhöhung – weder im Hinblick auf die Belichtung noch die Belüftung noch die Besonnung noch den Brandschutz noch auf den Wohnfrieden etwas.

16

Selbst wenn man annehme, der Altbestand und der Anbau bildeten eine Einheit und beide Baumaßnahmen müssten als komplett neues Bauvorhaben gewertet werden, bliebe es hinsichtlich der Abstandsvorschriften dabei, dass Altbestand und Anbau als getrennte Bauvorhaben anzusehen seien.

17

Das Bauvorhaben der Beigeladenen halte sich zwar nicht in jeder Hinsicht innerhalb des vorgegebenen Umgebungsrahmens gleichwohl verstoße weder die geringfügige Dacherhöhung noch der Altbestand noch der genehmigte Anbau gegen das Gebot der Rücksichtnahme.

18

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin rechtzeitig Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Mit Beschluss vom 27.04.2016 hat der Senat die Berufung zugelassen.

19

Zur Begründung der Berufung macht die Klägerin geltend: Die von der Beklagten genehmigte neue Grenzwand verletze die gem. § 6 Abs. 1 BauO LSA vor den Außenwänden von Gebäuden freizuhaltenden Abstandsflächen. Die Beigeladenen könnten sich insoweit nicht auf Bestandschutz berufen. Für das Gebäude sei im Jahre 1979 eine Zustimmung als "Bungalow" zur Wochenendnutzung erteilt worden. So sei das Gebäude auch ursprünglich genutzt worden. Mitte der 90er Jahre, nachdem die Klägerin das Nachbargrundstück erworben hatte, habe das Gebäude aber 2-3 Jahre leer gestanden und sei dann zu Dauerwohnzwecken genutzt worden. Mit diesem Übergang zur Dauerwohnnutzung sei der Bestandschutz für die Wochenendhausnutzung entfallen. Darüber hinaus habe das Gebäude bei der Erteilung der Genehmigung vier Jahre leer gestanden. Werde eine baurechtlich genehmigte Nutzung eines Gebäudes für mehr als ein Jahr nicht ausgeübt, sei nach Ablauf des zweiten Jahres die wiederaufgenommene Nutzung nicht mehr vom Bestandschutz gedeckt, wenn Umstände vorlägen, aus denen nach der Verkehrsauffassung geschlossen werden könnte, mit der Wiederaufnahme sei nicht mehr zu rechnen. Des Weiteren könne eine Änderung des Bausubstanz zum Verlust des Bestandschutzes führen. Werde ein bestehendes Gebäude, welches die geltenden Abstandsflächen nicht einhalte, baulich – wie hier – durch einen Anbau verändert, sei abstandflächenrechtlich eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes vorzunehmen. Durch den Anschluss des Neubaus an die Dachkonstruktion des Altbestands und den Rückbau der Grenzwand sei es zu Eingriffen in die Statik des alten Gebäudes gekommen. Die bauliche Veränderung sei in einem solchen Fall nur dann zulässig, wenn auch der Altbestand nach geltendem Abstandsflächenrecht genehmigungsfähig sei. Dies sei offensichtlich nicht der Fall. Auch die "Altsubstanz" im Grenzbereich stelle ein neues Gebäude dar, das aufgrund von Dämmmaßnahmen auf beiden Seiten je ca. 24 cm breiter und insgesamt mindestens um 20 cm höher geworden sei.

20

Der Neubau füge sich auch nicht im Hinblick auf die überbaute Grundstücksfläche in die Eigenart der näheren Umgebung ein und verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Der Neubau sei in die Ruhezone im rückwärtigen Bereich der Grundstücke hineingebaut worden.

21

Die Klägerin beantragt,

22

das Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 05.12.2014 – 4 A 352/13 MD – abzuändern und die Baugenehmigung vom 06.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.2014 aufzuheben.

23

Die Beklagte beantragt,

24

die Berufung zurückzuweisen.

25

Sie macht geltend: Der Bestandschutz für den zu "DDR-Zeiten" mit Zustimmung des Rates des Stadtbezirks Süd der Stadt A. errichteten "Bungalow" sei entgegen der Auffassung der Klägerin weder aufgrund der seit 1995 formell illegal geänderten Nutzung (Dauerwohnen) noch aufgrund des Auszuges der letzten Mieterin Ende Juli 2008 erloschen. Die Nutzung des zu "DDR-Zeiten" genehmigten und errichteten "Bungalows" sei gerade nicht für einen längeren Zeitraum unterbrochen worden. Nach der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung finde das vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Zeitmodell für Fälle, in denen es um die Frage der Beendigung materiellen Bestandschutzes einer baulichen Anlage durch Nutzungsunterbrechung gehe, jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die bisherige Nutzung baurechtlich genehmigt worden sei. Die landesrechtlichen Vorschriften über die Geltungsdauer einer Baugenehmigung könnten auf den Fall einer Nutzungsunterbrechung nicht analog angewendet werden, insbesondere weil eine bereits ausgeführte Baugenehmigung einen weitergehenden Vertrauensschutz gewähre als eine Baugenehmigung, deren Ausführung sich verzögere. Danach komme nur ein Rückgriff auf die allgemeine Regelung des Verwaltungsverfahrensgesetzes in Frage. Nach § 1 Abs. 1 VwVfG LSA i. V. m. § 43 Abs. 2 VwVfG bleibe ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt sei. Diese Regelung bestimme den Schutz, den das Vertrauen in den Fortbestand der durch die Baugenehmigung eingeräumten Rechtsposition genieße und damit den Inhalt des Eigentums. Die Tatbestands- und Feststellungswirkung der Baugenehmigung bleibe nach der Errichtung des Gebäudes erhalten und gewährleiste den rechtlichen Bestand des ausgeführten Vorhabens und seiner Nutzung. Dies gelte grundsätzlich auch für die Dauer der Nichtausübung der genehmigten Nutzung. Unstreitig wäre eine Wohnnutzung des baulich unveränderten "Bungalows" 1995 auf der Grundlage der zu diesem Zeitpunkt geltenden Landesbauordnung unter Beachtung der Vorschriften zum baulichen Brandschutz (Schließen des Fensters in der östlichen Außenwand) genehmigungsfähig gewesen. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei ein eindeutiger und dauerhafter Verzichtswille des Grundstückseigentümers zum Zeitpunkt der Prüfung des Bauantrags durch die untere Bauaufsichtsbehörde und der Erteilung der Baugenehmigung für das streitige Bauvorhaben im Jahr 2012 nicht erkennbar.

26

Selbst wenn durch die baulichen Änderungen des "Bungalows" – geringfügige Änderung des Daches, des Rückbaus der Grenzwand zugunsten der Klägerin und der Errichtung eines Anbaus – die Genehmigungsfrage neu aufgeworfen worden wäre und bei der Prüfung des Bauantrags eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes als Einheit vorzunehmen gewesen wäre, hätte dies keine Auswirkungen auf die einzuhaltenden Abstände. Durch die geringfügige Änderung des Daches des Bestandsgebäudes seien die Belange der Klägerin an ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung ihres Wohngebäudes bzw. der geschützten Wohnbereiche nicht unzumutbar betroffen. Dies gelte auch für den Anbau, der die erforderliche Abstandsfläche zum Grundstück der Klägerin einhalte und sich nordwestlich des Grundstücks der Klägerin insbesondere auch nordwestlich ihres Wohngebäudes befinde. Die Belange des Brandschutzes seien durch das Schließen der Öffnung in der östlichen Außenwand des Bestandsgebäudes und das Rückversetzen dieser östlichen Außenwand auf das Baugrundstück der Beigeladenen sogar verbessert worden. Die östliche Außenwand entspreche nunmehr den Anforderungen an eine Brandwand.

27

Die Beigeladenen beantragen ebenfalls,

28

die Berufung zurückzuweisen.

29

Sie verweisen auf die Gründe des verwaltungsgerichtliche Urteils und auf die Berufungserwiderung der Beklagten.

30

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

31

Die Berufung ist zulässig und begründet.

32

Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 06.06.2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren eigenen Rechten (§ 113 Abs.1 S. 1 VwGO).

33

Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens ist die Änderung einer baulichen Anlage im Sinne von § 58 Abs. 1 BauO LSA.

34

Der Bauherr hat hier zwar eine Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung für einen Bungalow und die Errichtung eines Anbaus beantragt und die Beklagte hat auch eine entsprechende Baugenehmigung erteilt. Zuzugeben ist auch, dass der Bauherr "Herr" des Vorhabensbegriffs ist und prinzipiell frei bestimmen kann, was Gegenstand seines Bauantrags sein soll. Begrenzt wir diese Freiheit aber dort, wo ein nach natürlicher Betrachtungsweise einheitliches Vorhaben in selbständig – faktisch oder normativ – nicht "lebensfähige" Teile aufgespalten werden soll (Dirnberger: in Jäde/Dirnberger u.a. BauO LSA, Kom. Loseblatt, § 58 RdNr.18).

35

Das Vorhaben der Beigeladenen kann weder faktisch noch normativ in zwei Bauvorhaben, nämlich in eine Nutzungsänderung eines Bestandbungalows und in die Errichtung eines Anbaus, aufgeteilt werden. Nach § 2 Abs. 2 BauO LSA sind Gebäude selbständig nutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen. Der bauordnungsrechtliche Gebäudebegriff ist insoweit ein Unterfall, der vom allgemeinen Begriff der baulichen Anlage mitumfasst wird. Dies schließt es aus, unselbständige Teile einer baulichen Anlage als Gebäude zu qualifizieren. Als Abgrenzungskriterium eignet sich insoweit das Kriterium der selbständigen Benutzbarkeit (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.12.1995 – 4 B 345/95 –, Juris RdNr. 4).

36

Aufgrund der funktionalen Verbindung des Altbaus und des Anbaus kann hier nicht von zwei selbständigen Gebäuden, sondern nur von einem einheitlichen Gebäude ausgegangen werden. Nach den genehmigten Bauvorlagen sind Altbestand und Anbau nicht selbstständig nutzbar. Schon aufgrund der Integration zwischen dem Anbau und dem grenzständigen Gebäude in einen neuen Baukörper und aufgrund der inneren Raumaufteilung kann keine Rede davon sein, dass das Gebäude (Altbungalow) in seinen ursprünglichen Dimensionen und seiner Gestalt erhalten bleibt. Das einheitliche Gebäude besitzt nur einen Eingang. Im Altbestand befinden sich Wohn- und Schlafzimmer, Bad/WC sowie ein Hauswirtschaftsraum; im Anbau, der durch eine Tür vom Altbestand zu erreichen ist, liegt das Kinderzimmer und die Küche. Selbst wenn die Statik des Altbestandes durch den Anbau unverändert geblieben sein sollte, ändert dies nichts daran, dass wegen der übrigen baulichen Veränderungen ein Neubau errichtet werden soll, durch den die bauliche Substanz wesentlich verändert wird. Der genehmigte Anbau kann auch nicht als optisch selbständig bewertet werden. Allein der Umstand, dass er den Grenzabstand zum klägerischen Grundstück einhält, vermittelt nicht den Eindruck seiner Selbständigkeit von dem Bestandsbau.

37

Die baulichen Änderungen beschränken sich nicht lediglich auf unwesentliche Änderungen, Instandsetzungsarbeiten oder zu vernachlässigende Erweiterungen. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 17.03.1999 – A 2 S 123/97 –, n. v.) liegt ein möglicherweise vorliegender Bestandschutz bei einer Veränderung der Bausubstanz eines Wochenendhauses bereits dann nicht mehr vor, wenn die Grundfläche eines Anbaus mehr als die Hälfte der Grundfläche des Altbestandes ausmacht. Nach den genehmigten Bauvorlagen beträgt hier die Grundfläche des Anbaus 48,51 m² und die des Altbestandes 71,49 m².

38

Mit den zur Genehmigung gestellten Baumaßnahmen wird die Genehmigung für die Änderung einer baulichen Anlage beantragt und damit ein mit dem früheren Vorhaben nicht mehr identischer Baukörper geschaffen, der auch äußerlich neu gestaltet wird. Dabei kommt es noch nicht einmal darauf an, dass auch die Grenzwand zur Klägerin hin neu errichtet worden ist.

39

Die Erteilung der Baugenehmigung verstößt gegen die gemäß § 62 BauO LSA zu prüfende Vorschrift des § 6 BauO LSA, wonach vor den Außenwänden von oberirdischen Gebäuden Abstandsflächen einzuhalten sind (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BauO LSA). Die Tiefe der Abstandsflächen bemisst sich nach der Wandhöhe und beträgt in der Tiefe grundsätzlich 0,4 der Wandhöhe – 0,4 H –, mindestens 3 m (§ 6 Abs. 4 und 5 Satz 1 BauO LSA). Das Vorderhaus (ehemaliger "Bungalow") der Beigeladenen hält den sich hieraus zum klägerischen Grundstück ergebenden Abstand nicht ein.

40

Die Einhaltung des erforderlichen Abstandes ist auch nicht nach planungsrechtlichen Vorgaben (§ 6 Abs. 1 Satz 3 BauO LSA) oder deshalb entbehrlich, weil im Sinne der Bauordnung des Landes Sachsen-Anhalt rechtlich gesichert wäre, dass das Grundstück der Klägerin nicht überbaut wird.

41

Wenn bestehende Gebäude, die die nach geltendem Recht einzuhaltenden Abstandsflächen nicht wahren, baulich geändert werden, ist abstandsflächenrechtlich eine Gesamtbetrachtung des neuen Gebäudes als Einheit vorzunehmen. Dies gilt auch dann, wenn die Änderung für sich genommen abstandsflächenneutral ist.

42

Eine bauliche Veränderung ist in einem solchen Fall nur dann zulässig, wenn auch der Altbestand nach geltendem Abstandsflächenrecht genehmigungsfähig ist (so auch Sächs.OVG, Beschl. v. 25.03.2009 – 1 B 250/08 –, Juris RdNr. 8; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.01.2012 – 2 S 50.10 –, Juris RdNr. 10, jeweils m.w.N.).

43

Entgegen der Rechtsauffassungen der Beklagten, des Verwaltungsgerichts und der Beigeladenen ist die Frage der Einhaltung der Abstandflächen erneut zu überprüfen, ohne dass es darauf ankommt, ob das Bauvorhaben in abstandflächenrechtlicher Hinsicht im Vergleich zum vorhandenen Baubestand nachteiligere Wirkungen für den Nachbarn mit sich bringt. Die dafür vom Verwaltungsgericht zur Begründung herangezogenen Rechtsgrundsätze gelten nicht für den vorliegenden Sachverhalt einer Änderung der baulichen Substanz. Sie beziehen sich vielmehr auf den Fall der Nutzungsänderung eines ursprünglich legalen Bauvorhabens. In einem solchen Fall wird die Abstandsfrage nur dann neu aufgeworfen, wenn die Nutzungsänderung vom Bestandsschutz nicht mehr gedeckt ist und auf wenigstens einen durch die Abstandvorschriften geschützten Belang nachteiligere Auswirkungen als die bisherige Nutzung hat (vgl. OVG NW, Urt. v. 15.05.1997 – 11 A 7224/95 –, Juris RdNr. 10).

44

Der Nachbar kann sich grundsätzlich gegen jede Unterschreitung der Mindestabstandsfläche zur Wehr setzen, ohne den Nachweis einer gerade dadurch hervorgerufenen tatsächlichen Beeinträchtigung führen zu müssen. Die Abstandsvorschriften nehmen den Ausgleich der nachbarlichen Interessen in abstrakt - genereller Weise vor und legen zentimeterscharf fest, was dem Nachbarn an heranrückender Bebauung zuzumuten ist, ohne auf die Verhältnisse im Einzelfall abzustellen, insbesondere ohne nach Lage und Zuschnitt der einzelnen Grundstücke zu differenzieren. Derartige Besonderheiten können nur bei der Erteilung einer Abweichung nach § 66 BauO LSA im Einzelfall eine Rolle spielen.

45

Die Beigeladenen können sich in diesem Verfahren nicht darauf berufen, dass ihnen hinsichtlich der Abstandsflächen des § 6 Abs. 1, 4 und 5 BauO LSA eine Abweichung nach § 66 BauO LSA zu erteilen sei. Im hier strittigen Baugenehmigungsverfahren wurde hinsichtlich der nachbarlichen Situation zum Grundstück der Klägerin hin weder eine Abweichungsentscheidung beantragt noch wurde eine solche von der Beklagten erteilt. Sowohl die Beigeladenen als auch die Beklagte sind bisher davon ausgegangen, dass eine Abweichungsentscheidung nicht erforderlich sei.

46

Bei dieser Rechtslage kommt es nicht darauf an, ob die strittige Baugenehmigung – wie von der Klägerin geltend gemacht – auch gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verstößt.

47

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3; § 162 Abs. 3 VwGO.

48

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit und über die Abwendungsbefugnis folgen aus den § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

49

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.