Tenor

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid der Beklagten vom 30. November 2016 zum Az. … wird in den Nummern 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte zu 2/3 und die Kläger zu 1/3.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus und hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.

2

Die im Jahr … geborene Klägerin zu 1) ist russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie war bis zum Jahr 2016 verheiratet mit dem … im Jahr … geborenen Herrn A, der ebenfalls russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit ist. Mit diesem hat sie drei Kinder, nämlich die in den Jahren …, … und … geborenen Kläger zu 2) bis 4).

3

Herr A reiste … in das Bundesgebiet ein und stellte dort am … … 2013 einen Asylantrag. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass er in Tschetschenien Probleme mit den dortigen Behörden habe. …

4

Nach eigenen Angaben reisten die Kläger am ... in das Bundesgebiet ein. Am … … 2015 stellten sie Asylanträge.

5

In ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … gab die Klägerin zu 1) an: Ihr Ehemann habe in Tschetschenien Ärger mit bestimmten Leuten gehabt. Ihr Ehemann habe viele schlechte Angewohnheiten gehabt sowie sie und ihre Kinder auch geschlagen. Sie habe Angst gehabt, mit ihren Kindern das Haus zu verlassen und habe ihrem Ehemann nahe gelegt, zu fliehen. Als ihr Ehemann dann geflohen sei, habe sie ihn überlistet. Sie habe ihm erzählt, dass sie ihm folgen werde. Dies habe sie aber nicht getan, in der Hoffnung, dass sich die Probleme von alleine mit seiner Flucht lösen würden. Ihr eigener Bruder habe sie dann aber vor die Wahl gestellt: Entweder sie folge mit den Kindern ihrem Ehemann oder aber die Kinder würden zu der Familie ihres Ehemanns gehen, während sie zu ihrer Familie zurückkehren müsse. Sie habe eigentlich nicht fliehen wollen, sie habe ihre Kinder aber nicht verlieren wollen. Ihr Schwiegervater und ihr Bruder hätten ihr dann die Ausreise ermöglicht. Sie sei dann zu ihrem Ehemann nach Deutschland gekommen. Dort habe sie festgestellt, dass dieser mittlerweile eine neue Frau habe, mit der er auch ein Kind gezeugt habe. Sie habe große Angst, dass ihr bei einer Rückkehr nach Tschetschenien die Kinder weggenommen würden. …

6

Mit Bescheid vom 17. Mai 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag des Herrn A auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte zugleich fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung trug das Bundesamt vor, dass eine eigene individuelle Verfolgung nicht glaubhaft gemacht worden sei und zudem eine inländische Fluchtalternative bestehe. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Klage ist noch beim erkennenden Gericht anhängig.

7

Mit Bescheid vom 30. November 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger auf Asylanerkennung ab, erkannte die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Die Kläger wurden unter Fristsetzung aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihnen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Befürchtung der Klägerin zu 1), ihr könnten die Kinder weggenommen werden, sei lediglich eine Vermutung der Klägerin zu 1) und könne nicht nachvollzogen werden. Ihr Ehemann habe sich mittlerweile eine neue Beziehung aufgebaut. Damit sei nicht zu erwarten, dass die Eltern ihres Ehemanns die Kinder herausverlangen würden. Seitens der Familie der Klägerin zu 1) sei hingegen eine positive Reaktion zu erwarten. Im Übrigen bestünde für die Klägerin zu 1) interner Schutz innerhalb der Russischen Föderation. Sie sei gut ausgebildet und habe die Möglichkeit, in anderen Regionen der Russischen Föderation den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid vom 30. November 2016 verwiesen.

8

Am 8. Dezember 2016 haben die Kläger Klage erhoben. In Bezug auf die Angaben ihres Ehemanns in seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt trägt die Klägerin zu 1) vor: Die Behauptung ihres Ehemanns, ihr Bruder …, sei nicht richtig. Ihr Bruder …. Sie habe Angst vor ihm und davor, dass er ihr, wie er bereits angedroht habe, die Kinder wegnehmen und diese der Familie ihres Ehemanns übergeben werde.

9

Nachdem die Kläger in der mündlichen Verhandlung ihre Klage in Bezug auf die ursprünglich begehrte Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen haben, beantragen sie,

10

den Bescheid vom 30. November 2016 zum Az. … aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vorliegen, hilfsweise festzustellen, dass für sie die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.

11

Die Beklagte hat schriftsätzlich angekündigt, zu beantragen,

12

die Klage abzuweisen.

13

Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.

14

Das Gericht hat die Asylakten der Kläger und des Herrn A beigezogen und diese sowie die in der Ladung zur mündlichen Verhandlung genannten Erkenntnisquellen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Klägerin zu 1) persönlich angehört und Herrn A als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

15

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter anstelle der Kammer (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO). Sie konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ergehen, da die Beteiligten ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

II.

1.

16

Soweit die Kläger ihre Klage zurückgenommen haben, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

2.

17

Soweit die Klage nicht zurückgenommen worden ist, ist sie zulässig und begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (hierzu a)). Der angefochtene Bescheid erweist sich daher insoweit als rechtswidrig und war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben (hierzu b)).

a)

18

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes.

19

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG gelten dabei die §§ 3c - e AsylG entsprechend. Bei der Prüfung, ob dem Ausländer ein ernsthafter Schaden droht, ist – wie bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft – der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010, 10 C 5/09, juris, Rn. 20 ff.).

20

Die Voraussetzungen von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG liegen für die Kläger vor. Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass diese nach einer Wiedereinreise in die Russische Föderation einer unmenschlichen Behandlung im Sinne dieser Vorschrift ausgesetzt sind. Nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin zu 1) und dem jedenfalls insoweit glaubhaften Vortrag des als Zeugen vernommenen ehemaligen Ehemanns der Klägerin zu 1) sowie unter Berücksichtigung der herangezogenen Erkenntnisquellen ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr nach Tschetschenien von ihren Kindern, den Klägern zu 2) bis 4), dauerhaft getrennt wird (hierzu aa)). Dies stellt sowohl für die Klägerin zu 1) als auch für die Kläger zu 2) bis 4) eine unmenschliche Behandlung i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar (hierzu bb)). Diese Behandlung ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG zuzurechnen (hierzu cc)). Für die Kläger besteht schließlich kein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylG (hierzu dd)).

aa)

21

Es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr nach Tschetschenien von ihren Kindern, den Klägern zu 2) bis 4), dauerhaft getrennt wird.

22

Die Klägerin zu 1) und der Zeuge A haben übereinstimmend vorgetragen, dass die Kinder der Klägerin zu 1), die Kläger zu 2) bis 4), bei einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien beim Schwiegervater der Klägerin zu 1) leben würden bzw. müssten, während die Klägerin zu 1) zu ihrem Bruder ziehen müsste. Diesen Vortrag hält das Gericht für glaubhaft. Die Klägerin zu 1) hat sich im Jahr 2016 im Bundesgebiet vom Vater ihrer Kinder, dem Zeugen A, scheiden lassen. Nach dem tschetschenischen Gewohnheitsrecht, dem sog. Adat, sind Kinder das „Eigentum“ des Vaters und seiner Familie und sollen bei der Familie des Vaters leben. Dementsprechend ist nach einer Scheidung traditionsgemäß der Mann bzw. dessen Familie für die tägliche Betreuung der Kinder zuständig und leben die Kinder im Falle der Scheidung bei der Familie des Mannes (European Asylum Support Office [EASO], Tschetschenien: Frauen, Heirat, Scheidung und Sorgerecht für Kinder, September 2014, S. 29, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation [ACCORD], Tschetschenien: Situation von alleinstehenden Frauen mit unehelichen Kindern (Unterstützung durch Familie nach Rückkehr; Verstoßung, Diskriminierung oder Tötung wegen des unehelichen Kindes; Sorgerecht für Kinder, auch von anderen Männern, für die Familie des Ex-Mannes). Von der Frau wird erwartet, dass sie sich (wieder) in die Obhut ihres Vaters bzw. ihres ältesten Bruders begibt (ACCORD, aaO).

23

Aufgrund der Beweisaufnahme steht für das Gericht zwar fest, dass weder der Zeuge A noch sein Vater, d.h. der Schwiegervater der Klägerin zu 1), Einwände dagegen haben, dass die Kläger zu 2) bis 4) im Falle einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien bei der Klägerin zu 1) leben. Während nämlich die Klägerin zu 1) glaubhaft vorgetragen hat, dass ihr von seiner Ehefrau getrennt und unweit von Tschetschenien in … lebender Schwiegervater ihr vor ihrer Ausreise gesagt habe, dass er keine Einwände dagegen habe, dass sie mit ihren Kindern weiterhin allein in … lebe, hat der Zeuge A – insoweit glaubhaft – vorgetragen, dass er ebenfalls keine Einwände dagegen habe, dass seine Kinder bei der Klägerin zu 1) lebten. Auch nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es (vereinzelt) Fälle, in denen die Familie des Mannes erlaubt, dass die Kinder nach der Scheidung bei der Mutter leben (EASO, aaO, S. 29). Entscheidend ist vorliegend indes, dass die Klägerin zu 1) und der Zeuge A glaubhaft vorgetragen haben, dass der Bruder der Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr der Kläger nach Tschetschenien verlangen wird, dass die Kläger zu 2) bis 4) beim Schwiegervater der Klägerin zu 1) leben. Ein solches Verlangen entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten in Tschetschenien. In Tschetschenien gelten die Kinder der Söhne als leibliche Kinder der Familie, die Kinder der Töchter hingegen als fremde Kinder (ACCORD, aaO). Dementsprechend muss eine geschiedene Frau in Tschetschenien, wenn sie – was in vielen Fällen die einzige Möglichkeit für sie darstellt – zu ihrer Familie zurückkehrt, ihre Kinder häufig beim Mann bzw. dessen Familie zurücklassen, weil die eigenen Eltern oder Brüder keine „fremden“ Kinder im Haus haben wollen (ACCORD, aaO). Mithin kann es ohne weiteres vorkommen, dass die Familie des Mannes der Frau erlaubt, die Kinder mitzunehmen, die eigenen Eltern oder Brüder dies aber ablehnen (ACCORD, aaO). Vor diesem Hintergrund ist es nicht abwegig, sondern vielmehr wahrscheinlich, dass der Bruder der Klägerin zu 1) verlangen wird, dass die Kinder der Klägerin zu 1) zum Schwiegervater der Klägerin zu 1) ziehen. Dies gilt zumal vor dem Hintergrund, dass der Bruder der Klägerin zu 1) nach deren glaubhaften Vortrag bereits angekündigt hat, dass die Klägerin zu 1), da sie noch jung sei, erneut heiraten müsse (vgl. insoweit auch ACCORD, aaO, wonach Frauen im Falle einer Scheidung von ihrer Familie unter Druck gesetzt werden, erneut zu heiraten, und zwar auch dann, wenn sie bereits Kinder haben). Heiratet eine geschiedene Frau erneut, dann darf sie ihre Kinder nach Adatrecht jedoch keinesfalls in die neue Ehe mitnehmen (ACCORD, aaO). Die Zahl der Fälle, in denen Frauen ihre Kinder in eine neue Ehe mitnehmen können, ist sehr gering. Dagegen stellen sich sowohl die Familie des Mannes als auch die der Frau (ACCORD, aaO).

24

Das Gericht ist auch überzeugt davon, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1) es nicht ablehnen kann, die Kläger zu 2) bis 4) bei sich aufzunehmen, wenn der Bruder der Klägerin zu 1) dies verlangt. Nach dem Adatrecht sind die Kläger zu 2) bis 4) das „Eigentum“ seiner Familie. Seine Familie und damit faktisch er als nächster in der Russischen Föderation lebender männlicher Verwandter trägt die Hauptverantwortung für die Kläger zu 2) bis 4) (EASO, aaO, S. 29). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Bruder der Klägerin zu 1) nach dem übereinstimmenden und glaubhaften Vortrag der Klägerin zu 1) und des Zeugen A …. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1) es vor diesem Hintergrund nicht wagen wird, dem Bruder der Klägerin zu 1) zu widersprechen. ...

25

Der vorliegenden, durch das Gericht vorgenommenen Bewertung kann nicht entgegengehalten werden, dass auch in Tschetschenien das russische föderale Recht gilt, welches formell gesehen Vorrang vor dem Adatrecht hat und Frauen im Falle einer Scheidung einklagbare Sorge- und Umgangsrechte einräumt (vgl. EASO, aaO, S. 9). Faktisch ist nämlich das Adatrecht (ebenso wie die Scharia) in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen föderalen Rechtsvorschriften. Die Menschen richten sich faktisch nach dem Adatrecht, das vorschreibt, dass Kinder bei ihrem Vater und dessen Familie leben sollen (EASO, S. 29; ACCORD, aaO). Es kann von der Klägerin zu 1) auch nicht erwartet werden, vor Gericht unter Berufung auf das russische föderale Recht ein Sorge- und Umgangsrecht einzuklagen. Unabhängig davon, ob ein solches Vorgehen überhaupt Aussicht auf Erfolg hätte, gilt dies schon deshalb, weil das Gericht davon überzeugt ist, dass der Bruder der Klägerin zu 1) dies nicht zulassen wird. Als engster männlicher Verwandter wird dieser seine Vorstellungen gegenüber der Klägerin zu 1) – notfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt und Zwang – durchsetzen können. Denn die tschetschenische Gesellschaft ist stark patriarchalisch, die Ungleichbehandlung und Unterdrückung von Frauen ist massiv und sozial legitimiert (Gesellschaft für bedrohte Völker, Die aktuelle Menschenrechtslage in Tschetschenien, 23. Mai 2016, S. 5; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien: Aktuelle Menschenrechtslage, 13. Mai 2016, S. 13). Gewalt gegen weibliche Familienangehörige ist umgeben von einer Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit (Gesellschaft für bedrohte Völker, aaO). Von der Klägerin zu 1) kann daher vernünftigerweise schon nicht erwartet werden, sich ihrem Bruder zu widersetzen. Sie würde dann nämlich nicht nur trotzdem ihre Kinder verlieren, sondern zugleich auch noch damit rechnen müssen, für ihren Widerstand von ihrem Bruder körperlich misshandelt bzw. „gezüchtigt“ zu werden.

bb)

26

Werden die Kläger bei einer Rückkehr nach Tschetschenien gegen ihren Willen voneinander getrennt, stellt dies eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar.

27

Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG insoweit identischen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 4 Rn. 10 m.w.N.). Eine solche Schlechtbehandlung liegt hier vor. Die zwangsweise Trennung der Kläger voneinander stellt einen schwerwiegenden Eingriff in ihr grundlegendes Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK dar. Dieses garantiert nämlich das Recht, mit seinen Kindern bzw. seinen Eltern zusammenzuleben. In dieses Recht wird besonders schwerwiegend eingegriffen, indem die Klägerin zu 1) auf der einen und die Kläger zu 2) bis 4) auf der anderen Seite gegen ihren Willen und ohne Berücksichtigung ihrer Belange und Interessen voneinander getrennt werden. Sowohl die Klägerin zu 1) als auch die Kläger zu 2) bis 4) werden letztlich zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einer unmenschlichen, ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) widersprechenden Behandlung unterzogen (vgl. auch VG Karlsruhe, Urt. v. 23. März 2016, A 2 K 5534/15, juris, Rn. 20).

cc)

28

Die drohende Trennung der Klägerin zu 1) von den Klägern zu 2) bis 4) ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG zuzurechnen. Es kann dabei offen bleiben, ob das Adatrecht als faktischer Bestandteil der tschetschenischen Rechtsordnung angesehen und aus diesem Grund dem russischen Staat im Sinne von 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG zugerechnet werden muss. Denn jedenfalls ist der Bruder der Klägerin zu 1) ein Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG. Nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, wenn der Staat erwiesenermaßen nicht willens oder in der Lage ist, Schutz zu gewähren. Dies ist vorliegend der Fall. Der Bruder der Klägerin zu 1) ist, soweit er als nächster männlicher Verwandter der Klägerin zu 1) verlangt, dass diese sich in seine Obhut begibt und ihre Kinder, die Kläger zu 2) bis 4), an ihren Schwiegervater abgibt, ein nichtstaatlicher Akteur (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 3c Rn. 4). Die Staatsgewalt in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation ist zudem nicht willens, den Klägern Schutz zu gewähren. Diesbezüglich kann auf die Ausführungen unter aa) zur Bedeutung des Adatrechts in Tschetschenien verwiesen werden.

dd)

29

Für die Kläger besteht schließlich auch kein interner Schutz i.S.v. § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AsylG. Nach diesen Vorschriften wird einem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht oder er dort Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

30

Die genannten Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. ….

b)

31

Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes und Aufhebung der entgegenstehenden Nummer 3 der angefochtenen Entscheidung stattzugeben. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes lässt die negative Feststellung des Bundesamts in der Nummer 4 (Abschiebungsverbote) der angefochtenen Entscheidung angesichts des Eventualverhältnisses (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997, 9 C 19/96, juris, Rn. 11) gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Entsprechendes gilt im Hinblick auf die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 6).

III.

32

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83b AsylG, §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


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(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen n

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(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich1.aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen

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Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

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(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen G

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Asylgesetz - AsylVfG 1992 | § 3e Interner Schutz


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Die Verfolgung kann ausgehen von 1. dem Staat,2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließl

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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Der Vorsitzende entscheidet, wenn die Entscheidung im vorbereitenden Verfahren ergeht,

1.
über die Aussetzung und das Ruhen des Verfahrens;
2.
bei Zurücknahme der Klage, Verzicht auf den geltend gemachten Anspruch oder Anerkenntnis des Anspruchs, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
3.
bei Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache, auch über einen Antrag auf Prozesskostenhilfe;
4.
über den Streitwert;
5.
über Kosten;
6.
über die Beiladung.

(2) Im Einverständnis der Beteiligten kann der Vorsitzende auch sonst anstelle der Kammer oder des Senats entscheiden.

(3) Ist ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet dieser anstelle des Vorsitzenden.

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.

(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.

(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, begehrt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG.

2

Der 1972 geborene Kläger wurde im November 2004 in M. aufgegriffen und beantragte daraufhin Asyl. Zur Begründung gab der Kläger an, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft sei er bis Dezember 2000 weiter im Gefängnis gewesen und dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich erneut der PKK angeschlossen. Später habe er an deren politischer Linie gezweifelt und sich im Juli 2004 von der PKK getrennt. In der Türkei sei sein Leben trotz des Reuegesetzes gefährdet gewesen, da er keinen Wehrdienst abgeleistet und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach seiner Entlassung aus der Haft wieder der PKK angeschlossen habe.

3

Der Kläger hat dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt) unter anderem die Kopie eines Urteils des Staatssicherheitsgerichts D. vom 24. Januar 1992 übergeben, wonach er u.a. wegen "Mitgliedschaft in der illegalen Organisation PKK" gemäß § 168/2 tStGB zu einer Haftstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist. Das Auswärtige Amt bestätigte die Echtheit der Urkunden und teilte mit, dass nach dem Kläger in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der PKK gefahndet werde. Sein Bruder habe ausgesagt, dass der Kläger sich nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder der PKK angeschlossen habe. Außerdem sei bekannt, dass er sich in einem Ausbildungscamp im Iran aufgehalten habe. Würde er wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Haftstrafe verurteilt, würde zusätzlich die auf Bewährung ausgesetzte Reststrafe vollstreckt werden.

4

Mit Bescheid vom 28. Juli 2005 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 4 AsylVfG offensichtlich unbegründet, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor.

5

Im Klageverfahren hat der Kläger seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter nicht weiter verfolgt. Mit Urteil vom 22. November 2005 hat das Verwaltungsgericht die Beklagte zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Im Berufungsverfahren hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, der Kläger sei im Bundesgebiet für die Nachfolgeorganisation der PKK, den KONGRA-GEL aktiv und habe im Januar 2005 an einer Aktivistenversammlung in N. teilgenommen. Er habe im Jahr 2006 als Leiter des KONGRA-GEL in Offenbach fungiert und ab diesem Zeitpunkt eine Kontrollfunktion innerhalb des KONGRA-GEL in A. ausgeübt. Der Kläger hat das bestritten.

6

Mit Urteil vom 21. Oktober 2008 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Kläger nach Rückkehr in die Türkei gemäß § 314 Abs. 2 tStGB 2005 zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt und die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests widerrufen würde. Auch wenn dies politische Verfolgung darstellen sollte, stünde § 3 Abs. 2 AsylVfG der Flüchtlingsanerkennung entgegen. Die terroristischen Taten der PKK seien als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen, stellten schwere nichtpolitische Straftaten dar und stünden in Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Der Kläger habe sich daran zumindest "in sonstiger Weise" beteiligt. Selbst wenn für das Vorliegen von Ausschlussgründen gemäß § 3 Abs. 2 AsylVfG von dem Ausländer weiterhin eine Gefahr ausgehen müsse, sei das beim Kläger der Fall. Denn er habe sich weder äußerlich von der PKK abgewandt noch innerlich von seiner früheren Verstrickung in den Terror gelöst. Dahinstehen könne, ob § 3 Abs. 2 AsylVfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetze, denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung bedeute keine unbillige Härte für den Kläger.

7

Abschiebungshindernisse lägen nicht vor. Die Todesstrafe sei in der Türkei vollständig abgeschafft. Wegen der dem Kläger in der Türkei drohenden langjährigen Haftstrafe sei ausgeschlossen, dass er im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG einer erheblichen individuellen Gefahr ausgesetzt sei. Ein Abschiebungsverbot ergebe sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 AufenthG und § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Zwar greife zugunsten des Klägers, der im Anschluss an seine Festnahme im Juni 1991 Folter erlitten habe, die Beweiserleichterung des § 60 Abs. 11 AufenthG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Dennoch sprächen aufgrund der Angaben des Auswärtigen Amtes sowie türkischer Menschenrechtsorganisationen stichhaltige Gründe dagegen, dass er bis zum Abschluss des Strafverfahrens Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten habe. Misshandlungen durch türkische Sicherheitskräfte lägen ganz überwiegend Fälle zugrunde, in denen sich der Betroffene nicht offiziell in Gewahrsam befunden habe; das wäre beim Kläger jedoch der Fall. Angesichts bereits vorhandener Beweise bestünde auch keine Notwendigkeit, durch Folter ein Geständnis zu erzwingen. Schließlich lebten in seiner Heimat zahlreiche Personen, die sich seiner annehmen und ihm bereits bei seiner Ankunft anwaltlichen Beistand verschaffen könnten. Zudem würden die PKK oder andere prokurdische Organisationen das Schicksal des Klägers verfolgen und etwaige Übergriffe auf seine Person publik machen. Ein Schutz durch "Herstellen von Öffentlichkeit" lasse sich zwar nicht während der gesamten Dauer der Strafhaft gewährleisten. Aber auch für diese Zeitspanne sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger, der in einem Gefängnis des Typs F untergebracht würde, Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein würde, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen könnten. Dahinstehen könne, ob das auch für unter dieser Schwelle liegende Maßnahmen gelte, denn derartige Umstände stünden einer Abschiebung des Klägers in die Türkei als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK stehe bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat dessen eigene Verantwortung für die Einhaltung der Konventionsrechte im Vordergrund. Eine Mitverantwortung des abschiebenden Landes bestehe nur, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohten und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht rechtzeitig zu erreichen sei. Diese Voraussetzungen lägen angesichts der Verhältnisse in der Türkei nicht vor. Da sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG an Art. 3 EMRK orientiere, beanspruchten diese Grundsätze auch im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG Geltung. Stünden im Herkunftsland ausreichende und effektive Möglichkeiten zur Abwehr drohender Gefahren zur Verfügung, benötige der Betreffende keinen internationalen Schutz. Auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG greife nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision - beschränkt auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 2 AufenthG - zugelassen.

8

Mit der Revision rügt der Kläger vor allem eine Verletzung des § 60 Abs. 2 AufenthG. Das Berufungsgericht habe im Rahmen seiner Beweiswürdigung die Quellen selektiv ausgewertet und zu Lasten des Klägers ohne Aufklärung unterstellt, dass seine Familie einen Rechtsanwalt besorgen könne und die Nachfolgeorganisationen der PKK für ihn Öffentlichkeitsarbeit machen würden. Angesichts der umfassenden Geltung des Art. 3 EMRK reiche die Erkenntnislage nicht aus, um ein Abschiebungshindernis auszuschließen. Insofern werde auch eine Gehörsverletzung gerügt, denn wenn das Gericht zu erkennen gegeben hätte, dass es aus tatsächlichen Gründen für den Kläger keine Gefahr einer Misshandlung sehe, hätte der Kläger dazu weiter vorgetragen und Beweisanträge gestellt. Schließlich sei die Auslegung der in Art. 17 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Ausschlussgründe ungeklärt.

9

Innerhalb der bis einschließlich 4. Juni 2009 verlängerten Revisionsbegründungsfrist ist der Begründungsschriftsatz nicht vollständig per Fax eingegangen. Die Bevollmächtigte des Klägers hat Wiedereinsetzung beantragt und zur Begründung Probleme bei der Faxübertragung geltend gemacht.

10

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen des Berufungsgerichts seien einer Überprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. Nicht ersichtlich sei, warum der Kläger angesichts der tatsächlichen Würdigung des Berufungsgerichts nicht den Schutz seines Heimatlandes durch Anrufung türkischer Gerichte bzw. eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Anspruch nehmen könne.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision hat Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da er bei der Prüfung des in § 60 Abs. 2 AufenthG enthaltenen Abschiebungsverbots diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen übergangen hat, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend selbst entscheiden. Daher ist die Sache gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

12

1. Die Revision ist zulässig. Wegen der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da seine Prozessbevollmächtigte ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsbegründungsfrist einzuhalten. Diese durfte nach mehreren nur teilweise erfolgreichen Versuchen einer Faxübertragung infolge der fernmündlich erteilten unrichtigen Auskunft des Gerichtspförtners, es seien alle Seiten angekommen, davon ausgehen, dass der Revisionsbegründungsschriftsatz innerhalb der Frist vollständig eingegangen sei.

13

2. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die unionsrechtlich vorgezeichneten Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG. Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung auf das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG erweist sich als unwirksam. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG (entsprechend den Voraussetzungen für den subsidiären Schutz in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl EU Nr. L 304 S. 12; ber. ABl EU vom 5. August 2005 Nr. L 204 S. 24) bildet nach dem dafür maßgeblichen materiellen Recht einen einheitlichen Streitgegenstand bzw. selbständigen Streitgegenstandsteil (Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 - BVerwGE 131, 198 ). Die Revisionszulassung kann daher nicht wirksam auf einzelne materielle Anspruchsgrundlagen dieses einheitlichen prozessualen Anspruchs beschränkt werden (vgl. Urteil vom 1. April 1976 - BVerwG 2 C 39.73 - BVerwGE 50, 292 <295>; BGH, Urteil vom 21. September 2006 - I ZR 2/04 - NJW-RR 2007, 182 <183>).

14

Für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens, das auf Feststellung der Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG zielt, ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz am 15. Oktober 2008 abzustellen. Deshalb sind die Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162) von Bedeutung, die - soweit hier einschlägig - auch derzeit noch unverändert gelten und die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) - Richtlinienumsetzungsgesetz - berücksichtigen.

15

3. Gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Mit diesem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ergänzten Abschiebungsverbot, das bereits in § 53 Abs. 1 AuslG 1990 und § 53 Abs. 4 AuslG 1990 i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 685 - EMRK) enthalten war, wird Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG umgesetzt. Die Europäische Kommission hat sich bei der Formulierung dieser Richtlinienbestimmung an Art. 3 EMRK orientiert und in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen (Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen vom 12. September 2001 KOM(2001) 510 endgültig S. 6, 30).

16

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz sind im Aufenthaltsgesetz insoweit "überschießend" umgesetzt worden, als die in Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Varianten des ernsthaften Schadens in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG als absolute Abschiebungsverbote ausgestaltet worden sind. Denn die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Daher kommt es entgegen der Annahme der Revision auf die Interpretation der Ausschlussgründe gemäß Art. 17 der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht an.

17

Bei der Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG ist der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretene Art. 19 Abs. 2 der Grundrechte-Charta (ABl EU 2010 Nr. C 83 S. 389 - GR-Charta) als verbindlicher Teil des primären Unionsrechts (Art. 6 Abs. 1 EUV) zu berücksichtigen. Danach darf niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. Die Vorschrift gilt nach Art. 51 Abs. 1 GR-Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach den gemäß Art. 52 Abs. 7 GR-Charta bei ihrer Auslegung gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen (ABl EU 2007 Nr. C 303 S. 17 = EuGRZ 2008, 92) wird durch diese Bestimmung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen übernommen.

18

a) Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Prüfung des § 60 Abs. 2 AufenthG in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Kläger vor seiner Ausreise in der Türkei gefoltert worden ist. Dennoch hat das Berufungsgericht seiner Prognose den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und nicht den sog. herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinreichender Sicherheit zugrunde gelegt. Es hat aber zugunsten des Klägers die in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG enthaltene Beweiserleichterung angewendet (UA Rn. 90). Das hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung stand.

19

Gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG gilt für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG u.a. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

20

Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Das ergibt sich neben dem Wortlaut auch aus der Entstehungsgeschichte des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Bundesrepublik Deutschland konnte sich mit ihrem Vorschlag, zwischen den unterschiedlichen Prognosemaßstäben der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und der hinreichenden Sicherheit zu differenzieren, nicht durchsetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Asyl" vom 25. September 2002, Ratsdokument 12199/02 S. 8 f.). Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.

21

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341 <360 f.>; dem folgend Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27; stRspr). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97 <101 ff.>), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (Urteil vom 27. April 1982 - BVerwG 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250 <252>). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (Urteil vom 18. Februar 1997 - BVerwG 9 C 9.96 - a.a.O. S. 99). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend Urteile vom 25. September 1984 - BVerwG 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 <170 f.> und vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162 <169 f.>) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (Urteil vom 3. November 1992 - BVerwG 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150 <154 f.>), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (vgl. Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4. Juni 1996 - BVerwG 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).

22

Die Richtlinie 2004/83/EG modifiziert diese Nachweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4: Zum einen wird ihr Anwendungsbereich über den Flüchtlingsschutz hinaus auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Sie erfasst demzufolge auch das im vorliegenden Fall zu prüfende Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG. Zum anderen bleibt der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unverändert, auch wenn der Antragsteller bereits Vorverfolgung oder einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie erlitten hat (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 84 ff. zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung). Der in dem Tatbestandsmerkmal "... tatsächlich Gefahr liefe ..." des Art. 2 Buchst. e der Richtlinie enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab ("real risk"; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330 ); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Urteil vom 18. April 1996 - BVerwG 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7. Februar 2008 - BVerwG 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192 stRspr).

23

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla - Rn. 92 ff.). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. Rn. 128 m.w.N.). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung (mehr).

24

b) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Kläger während der Strafhaft erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt sein wird, den Maßstab des § 60 Abs. 2 AufenthG auf diejenigen tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen verengt, die irreparable körperliche oder seelische Folgen nach sich ziehen können, zur Verursachung bleibender Schäden geeignet oder aus sonstigen Gründen als gravierend anzusehen sind (UA Rn. 106). Erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, hat es bei der Prognoseerstellung ausdrücklich nicht geprüft (UA Rn. 111). Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof die eigene Verantwortung der Türkei als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention betont und daraus gefolgert, dass sich der Kläger darauf verweisen lassen müsse, seine Rechte gegen diese Arten von Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus selbst zu verfolgen (UA Rn. 112). Diese Annahme verletzt Bundesrecht.

25

Die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich nach den unionsrechtlichen Vorgaben - wie oben bereits ausgeführt - an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Dieser betont in seinen Entscheidungen zur Verantwortlichkeit eines Vertragsstaates für die mittelbaren Folgen einer Abschiebung, wenn dem Betroffenen im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, immer wieder den absoluten und ausnahmslosen Schutz des Art. 3 EMRK (EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 - Nr. 1/1989/161/217, Soering - NJW 1990, 2183 ; vom 15. November 1996 - Nr. 70/1995/576/662, Chahal - NVwZ 1997, 1093 und vom 28. Februar 2008 - Nr. 37201/06, Saadi - a.a.O. ). Damit erweist es sich als unvereinbar, den Schutzbereich des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG zu verengen, und bei einer Abschiebung in einen Signatarstaat der Konvention erniedrigende Behandlungsmaßnahmen von vornherein auszunehmen, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen. Sonst käme Rechtsschutz durch türkische Gerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu spät und könnte eine bereits eingetretene Rechtsverletzung nicht ungeschehen machen. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt mithin uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention.

26

Der Verwaltungsgerichtshof beruft sich für seine Auffassung zu Unrecht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 53 Abs. 4 AuslG 1990 (nunmehr: § 60 Abs. 5 AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK. Der damals für die Feststellung von Abschiebungshindernissen durch das Bundesamt zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat entschieden, dass eine Mitverantwortung des abschiebenden Vertragsstaates, den menschenrechtlichen Mindeststandard in einem anderen Signatarstaat als Zielstaat der Abschiebung zu wahren, nur dann besteht, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz - auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (Urteil vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14.04 - BVerwGE 122, 271 <277>). Dieser Rechtssatz schränkt jedoch nicht den Schutzbereich des Art. 3 EMRK ein. Vielmehr werden - insbesondere mit Blick auf die von dem damaligen Kläger angeführten Haftbedingungen in der Türkei - nur Maßnahmen erfasst, die erst durch Zeitablauf oder Wiederholung in den Tatbestand einer erniedrigenden Behandlung und damit den Schutzbereich des Art. 3 EMRK hineinwachsen. Nur in derartigen Fällen kann der Betroffene auf Rechtsschutz im Abschiebezielstaat oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verwiesen werden.

27

4. Das Berufungsgericht hat die Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 3 und Abs. 7 Satz 2 AufenthG geprüft und aus tatsächlichen Gründen abgelehnt (UA Rn. 86 f.). Dagegen bestehen aus revisionsgerichtlicher Sicht keine Bedenken.

28

5. Der Senat kann über das geltend gemachte Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts weder zugunsten noch zulasten des Klägers abschließend entscheiden. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Damit bedarf es keiner Entscheidung über die Gehörsrüge. Der Senat bemerkt aber dazu, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht gegen das Verbot einer Überraschungsentscheidung verstoßen hat. Denn grundsätzlich ist ein Gericht nicht verpflichtet, die abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52; stRspr). Etwas anderes gilt nur dann, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich, da der Kläger selbst in der Berufungsbegründung zur Gefahr der Folter in der Türkei vorgetragen hatte.

29

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem neuen Berufungsverfahren die Prognose, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger in der Türkei der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, auf aktueller tatsächlicher Grundlage erneut stellen müssen. Dabei besteht auch Gelegenheit, dem Vorbringen des Klägers weiter nachzugehen, dass die ihn belastende Aussage seines Bruders die Gefahr von Folter nicht ausschließe. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Berufungsgericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (Entscheidungen vom 7. Oktober 2004 - Nr. 33743/03, Dragan - NVwZ 2005, 1043 <1045> und vom 15. Dezember 2009 - Nr. 43212/05, Kaplan - ) und ist durch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:

1.
die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.
eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

(2) Ein Ausländer ist von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Absatz 1 ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen,
2.
eine schwere Straftat begangen hat,
3.
sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen oder
4.
eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
Diese Ausschlussgründe gelten auch für Ausländer, die andere zu den genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.

(3) Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend. An die Stelle der Verfolgung, des Schutzes vor Verfolgung beziehungsweise der begründeten Furcht vor Verfolgung treten die Gefahr eines ernsthaften Schadens, der Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens; an die Stelle der Flüchtlingseigenschaft tritt der subsidiäre Schutz.

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.11.2015 in den Ziffern 3 – 6 (Az. 5617276-423) verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Der am ...1989 in Kabul/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volk der Tadschiken, sunnitischen Glaubens. Er reiste am 06.03.2013 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 20.03.2013 Asylantrag. Am 09.06.2015 fand eine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – im Folgenden: Bundesamt – statt.
Als Grund für seine Ausreise trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er von einem ... ..., einem ehemaligen Mujahedin-Kommandanten, und dessen Angehörigen und Freunden bedroht werde, die ihn töten bzw. seine Tochter haben wollten. Er habe seine heutige Ehefrau nur deswegen heiraten dürfen, weil sie bereits von ihm schwanger gewesen sei. ... ... behaupte, seine Ehefrau sei schon von Kindheit an seinem Sohn, ... ..., versprochen gewesen. Als ... ... etwa zwei Monate nach der Heirat davon erfahren habe, etwa im Juni/Juli 2008, habe er gedroht ihn, den Kläger, zu töten und seine Frau zu entführen. Schließlich habe die Jirga (Ältestenrat des Dorfes) beschlossen, dass die älteste Tochter des Klägers, ..., im Alter von zehn Jahren mit ... ... verlobt werden solle und ihn mit 13 Jahren heiraten solle. Er, der Kläger, sei bei der Beschlussfassung der Jirga nicht dabei gewesen und sei von Anfang an dagegen gewesen. Es sei dann aber vier Jahre relativ friedlich gewesen. Im Herbst 2012 seien mehrmals weibliche Mitglieder der Familie ... zu ihm nach Hause gekommen und hätten die Herausgabe der nun vierjährigen ... verlangt, damit sie bei ihnen lebe und von ihnen erzogen werde, bis sie alt genug zum Heiraten sei. Er habe dies verweigert. Dann sei ... ... mit etwa 16–20 Personen, Angehörigen der Familie und Leibwächtern, zu ihm nach Hause gekommen und habe noch einmal verlangt, dass ... an die weiblichen Familienmitglieder herausgegeben werde, wenn diese am Freitag wiederkämen. Dabei sei der Kläger zusammen geschlagen worden. Als er deswegen zur Polizei in ... gegangen sei, hätten sie ihm gesagt, dass sie keine Anzeige gegen ... ... aufnehmen wollten, dass er selbst Schuld sei und dass er gehen solle. Daraufhin habe er sich dazu entschlossen, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern auszureisen.
Mit Bescheid vom 16.11.2015, zugestellt laut Postzustellungsurkunde am 02.12.2015, lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab. Auch der subsidiäre Schutzstatus wurde ihm nicht zuerkannt. Zudem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht, außerdem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Am 08.12.2015 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung beruft er sich auf die bei seiner Anhörung vorgebrachten Gründe und führt ergänzend aus, ... ... sei früher ein Kommandant der Organisation Shorai-e-Nesar gewesen, einer Unterorganisation der Jamiat-e-Eslami. Er sei ein religiös tief verwurzelter Kämpfer.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.11.2015 in den Ziffern 3–6 (Az. 5617276 - 423) zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz zu zuerkennen,
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegt,
sowie das gesetzliche Einreise und auf das Verbot auf weniger als 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen.
Die Beklagte beantragt,
10 
die Klage abzuweisen.
11 
Zur Begründung beruft sie sich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids.
12 
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18.02.2016 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
13 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.03.2016, sowie die Akten des Bundesamts verwiesen.

Entscheidungsgründe

 
14 
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutz. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.11.2015 ist daher in den Ziffern 3 – 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.
15 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, auch wenn die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, denn die Ladung, die aufgrund des allgemeinen Verzichts der Beklagten auf die Förmlichkeiten der Ladung formlos erfolgt ist, enthielt einen entsprechenden Hinweis (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
16 
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Subsidiärer Schutz ist danach zu gewähren, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei u.a. nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung.
17 
Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers (a) wäre er bei seiner Rückkehr in sein Heimatland durch den Beschluss der Jirga einer unmenschlichen Bestrafung ausgesetzt (b). Dieser Beschluss ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Abs. 1 AsylG zurechenbar (c). Für den Kläger besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative (d).
18 
a) Der Vortrag des Klägers ist glaubhaft und überzeugend. Er schilderte wortreich, widerspruchsfrei und nachvollziehbar die Gründe für seine Flucht und wirkte dabei stellenweise emotional aufgewühlt. Die chronologisch springende Erzählung seiner Flucht mit seiner Frau und den Kindern spricht dabei für ein tatsächlich erlebtes Geschehen. Auch konnte der Kläger spontan und überzeugend erklären, warum er als Tadschike mit der paschtunischen Tradition der Jirga in Berührung kam, sowie, warum bei dem Besuch durch die Männer der Familie ... seine Tochter nicht mitgenommen wurde. Auch insgesamt ist das Geschehen inhaltlich nachvollziehbar. Obwohl der Brauch Ba‘ad, das Übergeben einer Frau zur Wiedergutmachung, nach afghanischem Recht verboten ist, wird er auf dem afghanischen Land weiterhin praktiziert (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 60.11.2015, S. 17).
19 
b) Der Kläger wäre bei der Rückkehr in sein Heimatland durch den Beschluss der Jirga einer unmenschlichen Bestrafung ausgesetzt. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgebenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG insoweit identischen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (VGH Mannheim, Urt. v. 06.03.2013 - A 11 S 3070/11, Juris Rn. 16 unter Hinweis auf Renner/Bergmann, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 60 AufenthG Rn. 34 f. m.w.N.; EGMR, Urt. v. 29.04.2002 – 2364/02 Rn. 52, NJW 2002, 2851; vgl. EGMR, Urt. v. 10.04.2012 –9829/07 Rn. 43, NVwZ 2013, 1599). Behandlung und Bestrafung unterscheiden sich dadurch, dass Strafen Maßnahmen mit Sanktionscharakter sind, während Behandlungen alle sonstigen Formen staatlichen Handelns umfassen (Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 3 EMRK Rn. 5).
20 
Durch den Beschluss der Jirga wurde der Kläger verpflichtet, seine Tochter im Alter von zehn Jahren zu verloben und aus seiner väterlichen Obhut zu geben, um sie mit dreizehn Jahren zu verheiraten, wobei ihrem Willen dazu nach den Umständen keine Bedeutung zukommt (Zwangsheirat). Damit wurde auch der Kläger als Vater schwerwiegend verletzt in seinem grundlegenden Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, sowie seinem Grundrecht auf Schutz der Familie, Art. 6 GG. Sowohl Art. 8 EMRK als auch Art. 6 GG garantieren das elterliche Erziehungsrecht einschließlich des Rechts, mit seinem Kind zusammen zu leben und für sein Wohl zu sorgen. In dem Beschluss wurde die Tochter des Klägers als Ware benutzt um eine vermeintliche Schuld der Familie auszugleichen. Damit wurde sie zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einem unmenschlichen, der Menschenwürde aus Art. 1 GG widersprechenden Behandlung unterzogen (vgl. BVerfGE 27, 1, 6 zur Objektformel, st. Rspr.). Indem der Kläger verpflichtet wurde, an dieser menschenunwürdigen Behandlung seiner Tochter mitzuwirken bzw. sie zu dulden, wurden ihm schwere seelische Qualen zugefügt und auch er selbst einer menschenunwürdigen Maßnahme unterzogen.
21 
Der Bestrafungscharakter ergibt sich daraus, dass die Jirga ein Fehlverhalten des Klägers darin sah, dass er eine Frau geheiratet hat, die einem anderen versprochen gewesen sein soll. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Jirga-Beschluss aus Sicht der Beteiligten eine Art privatrechtlicher Kompromiss im Sinne eines Vergleichs war, bei dem zur Herstellung des Rechtsfriedens die Familie des Klägers auf seine Tochter verzichtet und die andere Seite auf Ansprüche auf die Ehefrau verzichtet. Der Kläger wurde jedenfalls objektiv und nach dem erkennbaren Zweck des Beschlusses für sein Verhalten sanktioniert.
22 
c) Die Bestrafung ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG zuzurechnen.
23 
Bei einer Jirga, einem Treffen der Älteren, handelt es sich um eine traditionelle Streitbeilegungsform in Afghanistan (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 60.11.2015, S. 16). In einer Mehrzahl der ländlichen Gegenden sind Jirgas, neben Shuras, sehr viel einflussreicher als formal eingerichtete Gerichtete und gehören dort zu den Grundsäulen von Streitbeilegung und Rechtschutz für eine große Mehrheit der Bevölkerung (UNAMA, Still a Long Way to Go: Implementation oft he Law on Elimination of Violence against Women in Afghanistan, vom Dezember 2012, S. 24 f.). Die afghanische nationale Polizei sowie Staatsanwaltschaften sollen sogar zahlreiche Fälle zur Streitbeilegung an Jirgas delegieren (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 06.08.2013, S. 57).
24 
Es kann offen bleiben, ob der afghanische Staat die Ausübung von Hoheitsgewalt durch Jirgas in einem derartigen Ausmaß zulässt, dass diese als faktischer Bestandteil der staatlichen Ordnung angesehen werden müssten und dem afghanischen Staat im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Nr. 1 AsylG zurechenbar wären. Jedenfalls handelt es sich bei der Jirga um einen nichtstaatlichen Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Nr. 3 AsylG gegen den der afghanische Staat als Akteur im Sinne von § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht in der Lage oder willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nichtstaatliche Akteure in diesem Sinn können sogar Clans, Stämme oder Einzelpersonen sein (Zeitler in HTK-AuaslR, § 3c AsylVfG, Stand 03.11.2013, Rn. 8-12 m.w.N.), so dass ein gesellschaftlich akzeptiertes Gremium wie die Jirga auch darunter fällt. Nach den Erkenntnismitteln (s.o.) ist der afghanische Staat auch nicht in der Lage oder willens, gegen die Jirgas einzuschreiten, sondern toleriert diese bzw. arbeitet sogar mit ihnen zusammen. Auch im konkreten Fall hatte der Kläger nach seinem glaubhaften Vortrag Schutz bei der afghanischen Polizei gesucht, die ihm allerdings nicht helfen wollte.
25 
d) Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative, § 4 Abs. 3 S. 1, § 3e AsylG. Dabei kommt dem Kläger die Beweiserleichterung des § 4 Abs. 3 S. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU bei Vorverfolgung zu Gute. Danach ist die Tatsache, dass eine Person bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bzw. einem solchen Schaden bedroht wird.
26 
Durch den Beschluss der Jirga hat der Kläger bereits einen ernsthaften Schaden erlitten, da ein in seine und die Rechte seiner Tochter eingreifender Beschluss gefällt wurde, der in Afghanistan in weiten Teilen anerkannt wird und dem somit quasi-judikative Autorität zukommt. Zudem hat der Kläger im Rahmen des Konflikts mit der Familie ... ...s nach seinem glaubhaften Vortrag bereits einen weiteren ernsthaften Schaden erlitten. Der Kläger schilderte nachvollziehbar einen Vorfall, bei dem die Familie ... ...s mit 16–20 Personen zu seinem Haus kam und ihn wegen seiner Weigerung, seine Tochter herauszugeben, körperlich misshandelte. Bei der Aussage auftretende Ungenauigkeiten konnten dabei aufgeklärt werden. Es ist plausibel, dass ein ehemaliger Mujahedin-Kommandant Personen mit Leibwächterfunktion beschäftigt. Auch besteht keine Diskrepanz zu der Aussage bei der Anhörung durch das Bundesamt, da der Kläger dort auch aussagte, „sie“ seien zu seinem Haus gekommen und hätten die Herausgabe der Tochter verlangt, das Gespräch dann aber sofort auf einen anderes Thema kam, ohne dass der Kläger die Umstände näher ausführen konnte.
27 
Wegen der bereits in der Vergangenheit realisierten Gefahr eines ernsthaften Schadens ist zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass ihm bei seiner Rückkehr landesweit die Gefahr eines ernsthaften Schadens droht. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass die Familie ... ...s ihn in Afghanistan überall aufspüren könnte und ihm unter Berufung auf den Jirga-Beschluss ernsthaften Schaden zufügen würde, liegen nicht vor. Insoweit erstreckt sich die Beweiserleichterung auch auf die Tatsache, dass es sich bei ... ... um einen ehemaligen Mujahedin-Kommandanten handelt, der zur Aufspürung des Klägers auf entsprechende Netzwerke zurückgreifen kann (vgl. zur Verfolgung durch Mujahedin VG München, Urt. v. 12.09.2013 – M 22 K 12.30274, Juris Rn. 33).
28 
2. Die Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids ist deshalb gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Damit entfällt auch die Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung aus Nr. 5 des angefochtenen Bescheids, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG, die dann zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ebenfalls rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Da sich mangels Abschiebung kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG ergibt, war auch die Befristungsanordnung der Nr. 6 aufzuheben.
II.
29 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.

Gründe

 
14 
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutz. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.11.2015 ist daher in den Ziffern 3 – 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.
15 
Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, auch wenn die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, denn die Ladung, die aufgrund des allgemeinen Verzichts der Beklagten auf die Förmlichkeiten der Ladung formlos erfolgt ist, enthielt einen entsprechenden Hinweis (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
16 
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Subsidiärer Schutz ist danach zu gewähren, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei u.a. nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung.
17 
Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers (a) wäre er bei seiner Rückkehr in sein Heimatland durch den Beschluss der Jirga einer unmenschlichen Bestrafung ausgesetzt (b). Dieser Beschluss ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Abs. 1 AsylG zurechenbar (c). Für den Kläger besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative (d).
18 
a) Der Vortrag des Klägers ist glaubhaft und überzeugend. Er schilderte wortreich, widerspruchsfrei und nachvollziehbar die Gründe für seine Flucht und wirkte dabei stellenweise emotional aufgewühlt. Die chronologisch springende Erzählung seiner Flucht mit seiner Frau und den Kindern spricht dabei für ein tatsächlich erlebtes Geschehen. Auch konnte der Kläger spontan und überzeugend erklären, warum er als Tadschike mit der paschtunischen Tradition der Jirga in Berührung kam, sowie, warum bei dem Besuch durch die Männer der Familie ... seine Tochter nicht mitgenommen wurde. Auch insgesamt ist das Geschehen inhaltlich nachvollziehbar. Obwohl der Brauch Ba‘ad, das Übergeben einer Frau zur Wiedergutmachung, nach afghanischem Recht verboten ist, wird er auf dem afghanischen Land weiterhin praktiziert (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 60.11.2015, S. 17).
19 
b) Der Kläger wäre bei der Rückkehr in sein Heimatland durch den Beschluss der Jirga einer unmenschlichen Bestrafung ausgesetzt. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgebenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG insoweit identischen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (VGH Mannheim, Urt. v. 06.03.2013 - A 11 S 3070/11, Juris Rn. 16 unter Hinweis auf Renner/Bergmann, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 60 AufenthG Rn. 34 f. m.w.N.; EGMR, Urt. v. 29.04.2002 – 2364/02 Rn. 52, NJW 2002, 2851; vgl. EGMR, Urt. v. 10.04.2012 –9829/07 Rn. 43, NVwZ 2013, 1599). Behandlung und Bestrafung unterscheiden sich dadurch, dass Strafen Maßnahmen mit Sanktionscharakter sind, während Behandlungen alle sonstigen Formen staatlichen Handelns umfassen (Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 3 EMRK Rn. 5).
20 
Durch den Beschluss der Jirga wurde der Kläger verpflichtet, seine Tochter im Alter von zehn Jahren zu verloben und aus seiner väterlichen Obhut zu geben, um sie mit dreizehn Jahren zu verheiraten, wobei ihrem Willen dazu nach den Umständen keine Bedeutung zukommt (Zwangsheirat). Damit wurde auch der Kläger als Vater schwerwiegend verletzt in seinem grundlegenden Menschenrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK, sowie seinem Grundrecht auf Schutz der Familie, Art. 6 GG. Sowohl Art. 8 EMRK als auch Art. 6 GG garantieren das elterliche Erziehungsrecht einschließlich des Rechts, mit seinem Kind zusammen zu leben und für sein Wohl zu sorgen. In dem Beschluss wurde die Tochter des Klägers als Ware benutzt um eine vermeintliche Schuld der Familie auszugleichen. Damit wurde sie zum bloßen Objekt herabgewürdigt und somit einem unmenschlichen, der Menschenwürde aus Art. 1 GG widersprechenden Behandlung unterzogen (vgl. BVerfGE 27, 1, 6 zur Objektformel, st. Rspr.). Indem der Kläger verpflichtet wurde, an dieser menschenunwürdigen Behandlung seiner Tochter mitzuwirken bzw. sie zu dulden, wurden ihm schwere seelische Qualen zugefügt und auch er selbst einer menschenunwürdigen Maßnahme unterzogen.
21 
Der Bestrafungscharakter ergibt sich daraus, dass die Jirga ein Fehlverhalten des Klägers darin sah, dass er eine Frau geheiratet hat, die einem anderen versprochen gewesen sein soll. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Jirga-Beschluss aus Sicht der Beteiligten eine Art privatrechtlicher Kompromiss im Sinne eines Vergleichs war, bei dem zur Herstellung des Rechtsfriedens die Familie des Klägers auf seine Tochter verzichtet und die andere Seite auf Ansprüche auf die Ehefrau verzichtet. Der Kläger wurde jedenfalls objektiv und nach dem erkennbaren Zweck des Beschlusses für sein Verhalten sanktioniert.
22 
c) Die Bestrafung ist auch einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG zuzurechnen.
23 
Bei einer Jirga, einem Treffen der Älteren, handelt es sich um eine traditionelle Streitbeilegungsform in Afghanistan (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 60.11.2015, S. 16). In einer Mehrzahl der ländlichen Gegenden sind Jirgas, neben Shuras, sehr viel einflussreicher als formal eingerichtete Gerichtete und gehören dort zu den Grundsäulen von Streitbeilegung und Rechtschutz für eine große Mehrheit der Bevölkerung (UNAMA, Still a Long Way to Go: Implementation oft he Law on Elimination of Violence against Women in Afghanistan, vom Dezember 2012, S. 24 f.). Die afghanische nationale Polizei sowie Staatsanwaltschaften sollen sogar zahlreiche Fälle zur Streitbeilegung an Jirgas delegieren (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 06.08.2013, S. 57).
24 
Es kann offen bleiben, ob der afghanische Staat die Ausübung von Hoheitsgewalt durch Jirgas in einem derartigen Ausmaß zulässt, dass diese als faktischer Bestandteil der staatlichen Ordnung angesehen werden müssten und dem afghanischen Staat im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Nr. 1 AsylG zurechenbar wären. Jedenfalls handelt es sich bei der Jirga um einen nichtstaatlichen Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Nr. 3 AsylG gegen den der afghanische Staat als Akteur im Sinne von § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht in der Lage oder willens ist, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nichtstaatliche Akteure in diesem Sinn können sogar Clans, Stämme oder Einzelpersonen sein (Zeitler in HTK-AuaslR, § 3c AsylVfG, Stand 03.11.2013, Rn. 8-12 m.w.N.), so dass ein gesellschaftlich akzeptiertes Gremium wie die Jirga auch darunter fällt. Nach den Erkenntnismitteln (s.o.) ist der afghanische Staat auch nicht in der Lage oder willens, gegen die Jirgas einzuschreiten, sondern toleriert diese bzw. arbeitet sogar mit ihnen zusammen. Auch im konkreten Fall hatte der Kläger nach seinem glaubhaften Vortrag Schutz bei der afghanischen Polizei gesucht, die ihm allerdings nicht helfen wollte.
25 
d) Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative, § 4 Abs. 3 S. 1, § 3e AsylG. Dabei kommt dem Kläger die Beweiserleichterung des § 4 Abs. 3 S. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU bei Vorverfolgung zu Gute. Danach ist die Tatsache, dass eine Person bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bzw. einem solchen Schaden bedroht wird.
26 
Durch den Beschluss der Jirga hat der Kläger bereits einen ernsthaften Schaden erlitten, da ein in seine und die Rechte seiner Tochter eingreifender Beschluss gefällt wurde, der in Afghanistan in weiten Teilen anerkannt wird und dem somit quasi-judikative Autorität zukommt. Zudem hat der Kläger im Rahmen des Konflikts mit der Familie ... ...s nach seinem glaubhaften Vortrag bereits einen weiteren ernsthaften Schaden erlitten. Der Kläger schilderte nachvollziehbar einen Vorfall, bei dem die Familie ... ...s mit 16–20 Personen zu seinem Haus kam und ihn wegen seiner Weigerung, seine Tochter herauszugeben, körperlich misshandelte. Bei der Aussage auftretende Ungenauigkeiten konnten dabei aufgeklärt werden. Es ist plausibel, dass ein ehemaliger Mujahedin-Kommandant Personen mit Leibwächterfunktion beschäftigt. Auch besteht keine Diskrepanz zu der Aussage bei der Anhörung durch das Bundesamt, da der Kläger dort auch aussagte, „sie“ seien zu seinem Haus gekommen und hätten die Herausgabe der Tochter verlangt, das Gespräch dann aber sofort auf einen anderes Thema kam, ohne dass der Kläger die Umstände näher ausführen konnte.
27 
Wegen der bereits in der Vergangenheit realisierten Gefahr eines ernsthaften Schadens ist zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass ihm bei seiner Rückkehr landesweit die Gefahr eines ernsthaften Schadens droht. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass die Familie ... ...s ihn in Afghanistan überall aufspüren könnte und ihm unter Berufung auf den Jirga-Beschluss ernsthaften Schaden zufügen würde, liegen nicht vor. Insoweit erstreckt sich die Beweiserleichterung auch auf die Tatsache, dass es sich bei ... ... um einen ehemaligen Mujahedin-Kommandanten handelt, der zur Aufspürung des Klägers auf entsprechende Netzwerke zurückgreifen kann (vgl. zur Verfolgung durch Mujahedin VG München, Urt. v. 12.09.2013 – M 22 K 12.30274, Juris Rn. 33).
28 
2. Die Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids ist deshalb gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Damit entfällt auch die Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung aus Nr. 5 des angefochtenen Bescheids, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG, die dann zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ebenfalls rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Da sich mangels Abschiebung kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG ergibt, war auch die Befristungsanordnung der Nr. 6 aufzuheben.
II.
29 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG.

Die Verfolgung kann ausgehen von

1.
dem Staat,
2.
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

(1) Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er

1.
in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und
2.
sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

(2) Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen.

(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich

1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er

1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen,
2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder
3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben.

(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er

1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder
2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
Wird der Schutz oder Beistand nach Satz 1 Nummer 1 nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig erklärt worden ist, sind die Absätze 1 und 2 anwendbar.

(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.

(1) Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden

1.
vom Staat oder
2.
von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen,
sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz gemäß Absatz 2 zu bieten.

(2) Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in Absatz 1 genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.

(3) Bei der Beurteilung der Frage, ob eine internationale Organisation einen Staat oder einen wesentlichen Teil seines Staatsgebiets beherrscht und den in Absatz 2 genannten Schutz bietet, sind etwaige in einschlägigen Rechtsakten der Europäischen Union aufgestellte Leitlinien heranzuziehen.

Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden in Streitigkeiten nach diesem Gesetz nicht erhoben.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.