Sozialgericht Aachen Urteil, 15. Apr. 2014 - S 18 SB 465/12

ECLI:ECLI:DE:SGAC:2014:0415.S18SB465.12.00
bei uns veröffentlicht am15.04.2014

Tenor

Die Klage wird abgewiesen, soweit sie über den in der öffentlichen Sitzung vom 16.04.2014 geschlossenen Teilvergleich hinausgeht. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach zu 3/7.


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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 143


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(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereich

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 69 Kontinuität der Bemessungsgrundlage


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Schwerbehindertenausweisverordnung - SchwbAwV | § 3 Weitere Merkzeichen


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Bundessozialgericht Urteil, 17. Apr. 2013 - B 9 SB 6/12 R

bei uns veröffentlicht am 17.04.2013

Tenor Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 30. Mai 2012 aufgehoben.

Landessozialgericht Baden-Württemberg Urteil, 16. Jan. 2013 - L 3 SB 3862/12

bei uns veröffentlicht am 16.01.2013

Tenor 1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei

Bundessozialgericht Urteil, 16. Feb. 2012 - B 9 SB 2/11 R

bei uns veröffentlicht am 16.02.2012

Tenor Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeiche

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Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 30. Mai 2012 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 40 ab Juli 2007 hat.

2

Nachdem das beklagte Land den im August 2001 gestellten Erstantrag des 1951 geborenen Klägers mit Bescheid vom 21.1.2002 abgelehnt hatte, weil der GdB weniger als 20 betrage, stellte es auf den Widerspruch des Klägers mit Abhilfebescheid vom 5.11.2002 einen GdB von 30 ab August 2001 fest. Als den GdB begründende Beeinträchtigungen berücksichtigte der Beklagte eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Knorpelschäden der Kniegelenke, eine Funktionseinschränkung der Füße, eine Fettleber sowie eine Nierenfehlbildung links.

3

Auf den vom Kläger im Dezember 2004 angebrachten Änderungsantrag stellte der Beklagte einen GdB des Klägers von 40 ab Dezember 2004 fest (Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005). In dem anschließenden, auf Feststellung eines GdB von 50 gerichteten Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Frankfurt/Oder - S 5 SB 2/06 - bewertete der gerichtliche Sachverständige Dr. B. in seinem chirurgisch-sozialmedizinischen Gutachten vom 21.12.2006 aufgrund der nachweisbaren funktionellen Beeinträchtigungen des Klägers den Gesamt-GdB mit 10.

4

Daraufhin hob der Beklagte ohne ausdrückliche Anhörung unter Hinweis auf § 24 Abs 2 Nr 2 SGB X (Eilbedürftigkeit) mit Bescheid vom 1.3.2007 den Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 gemäß § 45 SGB X mit Wirkung für die Zukunft insoweit auf, als ein GdB von mehr als 30 festgestellt worden war. In der Begründung führte der Beklagte aus, die Bescheide vom 5.11.2002 und 10.3.2005 seien rechtswidrig, da mit ihnen ein GdB von 30 bzw 40 festgestellt worden sei. Gemäß § 69 Abs 1 S 5 SGB IX sei eine Feststellung nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliege. Tatsächlich hätten nur Beeinträchtigungen vorgelegen, die einen Gesamt-GdB von 10 begründen. Die Rücknahme des Bescheides vom 5.11.2002 komme wegen des Ablaufs der Frist gemäß § 45 Abs 3 SGB X nicht in Betracht. Der GdB könne nicht unter 30 abgesenkt werden. Der Bescheid werde gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Streitverfahrens.

5

Nachdem der Kläger während des Klageverfahrens im Juli 2007 wegen behaupteter Verschlimmerung beim Beklagten einen weiteren Änderungsantrag gestellt hatte, ordnete das SG auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 19.2.2008 ein Ruhen des Verfahrens an. Nach Einholung verschiedener Berichte der behandelnden Ärzte sowie Beiziehung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme, die einen GdB von 20 vorschlug, entschied der Beklagte mit Bescheid vom 2.2.2009, dass der Bescheid vom 10.3.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 in der Gestalt des Bescheides vom 1.3.2007 nicht geändert werde, weil die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers weiterhin keinen höheren GdB als 30 bedingten. Der Bescheid werde gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Streitverfahrens.

6

Nach Wiederaufnahme des Klageverfahrens - unter dem Az S 24 SB 31/09 - hat das SG von Amts wegen zunächst mehrere Befundberichte und danach ein Gutachten der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. Ba. vom 21.12.2011 eingeholt. Zusammenfassend hat die Sachverständige ausgeführt: Der im November 2002 festgestellte Gesamt-GdB von 30 sei aufgrund der seinerzeit vorliegenden Befunde (Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Knorpelschäden der Kniegelenke, Funktionseinschränkung der Füße, Fettleber, Nierenfehlbildung links) nicht nachvollziehbar. Seit November 2002 hätten die beim Kläger bestandenen Beschwerden zugenommen. Im Vordergrund des heutigen Beschwerdebildes (erstmals vom Kläger mit Schreiben vom 20.7.2007 angegeben) stünde das Bronchialasthma mit allergischer Rhinitis und Konjunktivitis. Hierfür sei ein GdB von 20 angemessen. Sie halte heute einen Gesamt-GdB von 30 für gerechtfertigt.

7

In der mündlichen Verhandlung des SG am 30.5.2012 hat die Vorsitzende darauf hingewiesen, dass der Bescheid des Beklagten vom 1.3.2007 bezüglich der Rücknahme des Bescheides vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 rechtmäßig sei. Der Kläger hat daraufhin beantragt,

        

den Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 in der Fassung des Rücknahmebescheides vom 1.3.2007 teilweise aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 21.1.2002 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 5.11.2002 dahingehend zu ändern, dass bei ihm (dem Kläger) ab 10.7.2007 ein GdB von 40 festgestellt wird.

8

Mit Urteil vom selben Tag (30.5.2012) hat das SG dem Klageantrag entsprochen. Zur Begründung hat das Gericht im Wesentlichen ausgeführt:

9

Die zulässige Klage sei begründet. Gegenstand des Verfahrens seien der Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 und der Rücknahmebescheid vom 1.3.2007. Der Bescheid des Beklagten vom 2.2.2009 sei hingegen nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, da er keinen streitgegenständlichen Bescheid ändere oder ersetze. Zu Unrecht habe der Beklagte die Aufhebung des Bescheides vom 5.11.2002 mit Wirkung für die Zukunft abgelehnt. Denn in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers, die zum Zeitpunkt der Erteilung dieses Bescheides vorgelegen hätten, sei eine Änderung eingetreten, die die Erhöhung des GdB rechtfertige. Die gemäß § 48 SGB X vorzunehmende Prüfung beschränke sich darauf, ob in der Höhe des mit Bescheid vom 5.11.2002 festgestellten Gesamt-GdB (von 30) eine Änderung in der Gestalt eingetreten sei, dass die im Gesundheitszustand des Klägers seither eingetretenen Verschlimmerungen diesen GdB um mindestens 10 erhöhten. Das sei nach Überzeugung der Kammer der Fall. Dem Bescheid vom 5.11.2002 hätten für die Feststellung eines GdB von 30 eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Knorpelschäden der Kniegelenke und eine Funktionseinschränkung der Füße, eine Fettleber und Nierenfehlbildung zugrunde gelegen.

10

Soweit der Beklagte mit Bescheid vom 10.3.2005 beim Kläger ab Dezember 2004 einen GdB von 40 festgestellt habe, sei dieser Bescheid von Anbeginn rechtswidrig, sodass ihn der Beklagte während des laufenden Klageverfahrens zu Recht mit Bescheid vom 1.3.2007 aufgehoben habe. Der Bescheid des Beklagten vom 1.3.2007 werde auch vom Kläger nicht beanstandet.

11

Hiervon ausgehend habe das Gericht zu prüfen, ob seit Feststellung eines GdB von 30 mit Bescheid vom 5.11.2002 möglicherweise zu einem Zeitpunkt nach Erteilung des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 eine Verschlimmerung im Gesundheitszustand des Klägers eingetreten sei, die die Erhöhung des GdB rechtfertige. Das sei der Fall, denn beim Kläger sei ein Bronchialasthma hinzugetreten, dessen Auswirkungen in jedem Fall zur Erhöhung des Gesamt-GdB führen müsse. Dies ergebe sich insbesondere aus den schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten der Sachverständigen Dr. Ba.

12

Die Bewertung dieser Gesundheitsstörung durch die Sachverständige mit einem Einzel-GdB von 20 sei auch angesichts der Nr 26.8 der hier noch zu berücksichtigenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) angemessen.

13

Der Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, diese ab Juli 2007 durch Hinzutreten der Lungenerkrankung nachweisbare Verschlimmerung im Gesundheitszustand des Klägers unberücksichtigt zu lassen, um den nicht mehr rücknehmbaren Bescheid vom "20.2.2002" (gemeint 5.11.2002) zu korrigieren. Zumindest dann, wenn das ehemals festgestellte Ausmaß einer einzigen Gesundheitsstörung das alleinige tragende Element der Gesamt-GdB-Feststellung gewesen sei, rechtfertige dies nicht, eine "stille Abschmelzung" in dem Sinne vorzunehmen, dass weitere, neu hinzugetretene Gesundheitsstörungen solange nicht berücksichtigt würden, bis das nun für gerechtfertigt erachtete Ausmaß der Beeinträchtigung dem seiner Zeit festgestellten Gesamt-GdB entspreche.

14

Zunächst sei festzustellen, dass die in § 45 Abs 3 S 1 und Abs 4 SGB X geregelte Frist für eine Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Bescheides vom "21.1.2002" (gemeint 5.11.2002) bereits abgelaufen sei. Soweit nunmehr zu prüfen sei, ob aufgrund des Eintritts einer vom Kläger geltend gemachten wesentlichen Änderung durch Hinzutreten einer Lungenerkrankung dieser Bescheid mit Wirkung für die Zukunft, nämlich ab 10.7.2007 aufzuheben sei, habe das Gericht festzustellen, inwieweit sich eine Änderung ergeben habe. Ausgehend von dem ursprünglich zu hoch festgesetzten Gesamt-GdB sei demnach trotz der Rechtswidrigkeit der GdB in dem Ausmaß zu erhöhen, in dem sich tatsächlich eine Änderung im Gesundheitszustand eingestellt habe. Etwas anderes würde sich allein dann ergeben, wenn der Beklagte einen auf § 48 Abs 3 SGB X basierenden "Abschmelzungsbescheid" erteilt hätte, was hier nicht geschehen sei. Dass § 48 Abs 3 SGB X auch für Feststellungen zur Höhe des GdB gelte, habe das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 19.9.2000 - B 9 SB 3/00 R entschieden.

15

Mit Beschluss vom 24.10.2012, zugestellt am 5.11.2012, hat das SG die Sprungrevision gegen das Urteil vom 30.5.2012 zugelassen.

16

Am 15.11.2012 hat der Beklagte beim BSG Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 48 Abs 3 SGB X. Entgegen der Auffassung des SG finde § 48 Abs 3 SGB X auf die Feststellung des GdB im Schwerbehindertenrecht nur entsprechend in dem Sinne Anwendung, dass die Verwaltung insofern auch ohne ausdrückliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts nach § 48 Abs 3 SGB X berechtigt und verpflichtet sei, bei einer nachträglichen Änderung der bei Erlass der rechtswidrigen, bestandskräftig gewordenen Entscheidung zur Höhe des GdB maßgebend gewesenen Verhältnisse, den nunmehr tatsächlich vorliegenden GdB festzustellen. Dies ergebe sich insbesondere aus § 69 Abs 1 S 3 SGB IX, wonach die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt würden. Er - der Beklagte - gehe davon aus, dass es mit dieser Vorschrift grundsätzlich unvereinbar sei, einen GdB festzustellen oder zu belassen, der die vorliegenden Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft übersteige.

17

Das BSG habe in dem durch das SG angeführten Urteil vom 19.9.2000 - B 9 SB 3/00 R - im Hinblick auf die Berücksichtigung eines fehlerhaft festgestellten GdB bei der Ermittlung des neuen, aufgrund des Hinzutritts eines Leidens zu beurteilenden Gesamt-GdB unter anderem ausgeführt, dass es sich bei einer derartigen Neufestsetzung im Rahmen einer auf § 48 Abs 1 SGB X gestützten Aufhebung wegen einer Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen nicht um eine reine Hochrechnung des im alten Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Leiden handele. An anderer Stelle weise das BSG im gleichen Urteil darauf hin, dass das Gesetz die Möglichkeit der Korrektur eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung jedenfalls ausdrücklich nur mit dem in § 48 Abs 3 SGB X geregelten Verfahren bereitstelle. Das BSG beziehe sich dabei auf die Entscheidung vom 22.10.1986 - 9a RVs 55/85 -, in der das BSG ebenfalls bereits auf die entsprechende Anwendung von § 48 Abs 3 SGB X auch im Schwerbehindertenrecht verwiesen habe.

18

Keine Aussage finde sich in den genannten Urteilen des BSG zu der Frage, ob die Feststellung des tatsächlich vorliegenden GdB in entsprechender Anwendung von § 48 Abs 3 SGB X einen ausdrücklich auf dieser Vorschrift basierenden Abschmelzungsbescheid voraussetze. Die Antwort auf diese Rechtsfrage ergebe sich nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz. Sie stehe auch praktisch nicht außer Zweifel. Allerdings werde die Auffassung des SG, wie von diesem ausgeführt, auch durch das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8.9.2004 - L 10 SB 82/03 - vertreten.

19

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Frankfurt/Oder vom 30. Mai 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

20

Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

21

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

22

Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 3.4.2013 darauf hingewiesen, dass der Bescheid des Beklagten vom 1.3.2007 den Satz enthält: "Die Bescheide vom 05.11.2002 sowie vom 10.03.2005 sind rechtswidrig, da mit ihnen ein GdB von 30 bzw. 40 festgestellt wurde."

Entscheidungsgründe

23

Die Revision des Beklagten ist zulässig. Sie ist aufgrund ihrer Zulassung durch den Beschluss des SG vom 24.10.2012 statthaft und vom Beklagten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revisionsbegründung genügt zudem inhaltlich den Anforderungen gemäß § 164 Abs 2 S 3 SGG.

24

Die Revision ist im Sinne einer Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das SG begründet.

25

Der Sachentscheidung durch das Revisionsgericht stehen keine Hindernisse entgegen. Insbesondere ist die Klage zulässig. Sie ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 1 S 1 SGG statthaft(s BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 9 S 21 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 12 RdNr 11). Sie richtet sich gegen den Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 und weiter in der Fassung des Bescheides vom 1.3.2007. Soweit der Beklagte mit dem Bescheid vom 1.3.2007 den Bescheid vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben hat, als darin ein GdB von mehr als 30 zuerkannt war, hat der Kläger nach dem Hinweis des SG in der mündlichen Verhandlung die ursprünglich auch dagegen gerichtete Klage nicht weiter aufrechterhalten, denn er hat seinen Klageantrag danach nur noch auf eine "teilweise" Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte und auf die Verurteilung des Beklagten zur Änderung des Bescheides vom 5.11.2002 dahin gerichtet, dass der GdB ab 10.7.2007 (wieder) mit 40 festzustellen sei.

26

Gegenstand der Klage ist danach ein Anspruch auf Feststellung des GdB mit 40 ab Juli 2007 aufgrund einer Veränderung (Verschlimmerung) desjenigen Gesundheitszustandes, der dem Bescheid vom 5.11.2002 zugrunde gelegen hat. Diesem Anspruch steht der Bescheid des Beklagten vom 10.3.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 und weiter in der Fassung des Bescheides vom 1.3.2007 entgegen, sodass der Kläger iS des § 54 Abs 1 S 2 SGG beschwert ist.

27

Soweit der Beklagte auf den Änderungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 2.2.2009 entschieden hat, dass der Bescheid vom 10.3.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 8.12.2005 und des Bescheides vom 1.3.2007 nicht geändert werde, ist dieser Verwaltungsakt, wie das SG zutreffend erkannt hat, nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Denn er enthält gerade keine Änderung oder Ersetzung der bereits angefochtenen Verwaltungsakte. Zwar wäre er wohl nach der zu § 96 SGG in der bis zum 31.3.2008 geltenden Fassung ergangenen Rechtsprechung des BSG als Gegenstand des Klageverfahrens anzusehen gewesen; dies gilt jedoch nicht nach der zum 1.4.2008 erfolgten Einschränkung der Anwendbarkeit ("nur dann") der Vorschrift (vgl BSG Beschluss vom 30.9.2009 - B 9 SB 19/09 B - juris).

28

Unabhängig davon hindert es der Bescheid vom 2.2.2009 nicht, den Beklagten auf die gegen die Bescheide vom 10.3.2005 und 1.3.2007 gerichtete Anfechtungs- und Verpflichtungsklage wegen einer im Juli 2007 eingetretenen Änderung der Verhältnisse zur Feststellung eines höheren GdB zu verurteilen. Der Bescheid vom 2.2.2009 entfaltet insoweit keine Sperrwirkung. Seine Erteilung war entbehrlich, weil der im Juli 2007 gestellte Änderungsantrag des Klägers wegen des anhängigen Klageverfahrens nicht erforderlich war. Denn das Tatsachengericht hat bei einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage grundsätzlich alle bis zum Zeitpunkt seiner Entscheidung eintretenden entscheidungsrelevanten neuen Tatsachen zu berücksichtigen (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 54 RdNr 34 mwN). Dies gilt auch hinsichtlich der Feststellung des GdB nach dem Schwerbehindertenrecht. Daran ändert ein zwischenzeitlich ergangener Verwaltungsakt nichts, der einen Neufeststellungsantrag ablehnt. Anders verhält es sich allerdings dann, wenn der Kläger sein Klagebegehren daraufhin zeitlich begrenzt. Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall.

29

Ob die angefochtenen Bescheide vom 10.3.2005 und 1.3.2007 rechtswidrig sind, weil der Kläger eine Erhöhung des GdB auf 40 ab Juli 2007 beanspruchen kann, vermag der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Hierzu bedarf es weiterer Tatsachenfeststellungen des SG. Entgegen der Auffassung des SG hat der Kläger nicht schon deswegen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 40, weil der mit Bescheid vom 5.11.2002 bindend festgestellte GdB von 30 infolge des im Juli 2007 hinzugekommenen Lungenleidens entsprechend zu erhöhen wäre.

30

Grundlage für die beanspruchte teilweise Aufhebung des Bescheides vom 5.11.2002 mit Wirkung ab Juli 2007 ist § 48 Abs 1 S 1 SGB X. Danach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (eingehend hierzu für das Schwerbehindertenrecht BSG Urteil vom 12.11.1996 - 9 RVs 5/95 - BSGE 79, 223, 225 = SozR 3-1300 § 48 Nr 57). Von einer solchen Änderung ist im vorliegenden Zusammenhang bei einer Verschlechterung im Gesundheitszustand des Klägers auszugehen, wenn aus dieser die Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl BSG Urteil vom 11.11.2004 - B 9 SB 1/03 R - juris RdNr 12). Das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 bleibt allerdings regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB (BSG Urteil vom 24.6.1998 - B 9 SB 18/97 - juris). Gemäß § 48 Abs 1 S 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt(§ 48 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB X).

31

Bei dem Bescheid vom 5.11.2002 über die Feststellung eines GdB von 30 nach dem Schwerbehindertenrecht handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (vgl Oppermann in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 69 SGB IX RdNr 10; stRspr des BSG s Urteil vom 22.10.1986 - 9a RVs 55/85 - BSGE 60, 287 = SozR 1300 § 48 Nr 29; Urteil vom 19.9.2000 - B 9 SB 3/00 R - BSGE 87, 126 = SozR 3-1300 § 45 Nr 43; BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2 und BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, ist nach den Feststellungen des SG eine Änderung eingetreten. Denn der Kläger ist seit Juli 2007 zusätzlich und dauerhaft an einem Lungenleiden erkrankt, und dieses ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Die insoweit vom SG festgestellten Tatsachen, die gemäß § 161 Abs 4 SGG im Rahmen der Sprungrevision nicht angegriffen werden können, werden vom Beklagten als solche nicht in Zweifel gezogen. Ob diese Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen rechtlich wesentlich iS des § 48 Abs 1 SGB X ist, kann der Senat derzeit nicht beurteilen.

32

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist zunächst rechtlich davon auszugehen, dass mit dem Bescheid vom 5.11.2002 ein Gesamt-GdB von 30 auf Dauer festgestellt worden ist. Hieran ist auch der Beklagte gebunden, und zwar innerhalb des durch § 39 SGB X und § 77 SGG gesetzten Rahmens in seiner Eigenschaft als Träger des Verwaltungsverfahrens(von Wulffen in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 12 RdNr 4) und als zuständige Stelle für den Erlass des Verwaltungsakts. Das bedeutet, dass die Regelung des Verwaltungsakts für die erlassende Behörde und die Beteiligten iS des § 12 SGB X grundsätzlich verbindlich ist(Roos in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, vor § 39 RdNr 3 mwN). § 39 Abs 2 SGB X bestimmt, dass ein - gemäß § 39 Abs 1 SGB X wirksam erlassener - Verwaltungsakt wirksam bleibt, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Nach § 77 SGG ist, wenn der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird, der Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (materielle Bestandskraft). Gerade wegen der Schutzwirkungen, die sich aus der Bindungswirkung für die von dem Verwaltungsakt betroffenen Person ergeben, muss die den Verwaltungsakt erlassende Stelle ebenfalls daran gebunden sein.

33

Vorschriften, die die Bindungswirkung eines Verwaltungsakts (materielle Bestandskraft) iS des § 77 SGG durchbrechen ("soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist"), enthält das SGB X im 2. Titel des 3. Abschnitts ("Bestandskraft des Verwaltungsaktes"). Diese sehen die Rücknahme (§§ 44, 45), den Widerruf (§§ 46, 47) und die Aufhebung (§ 48) eines Verwaltungsaktes vor (s auch § 39 Abs 2 SGB X). Hinzu kommen vereinzelte speziell auf Verwaltungsakte ausgerichtete Vorschriften in anderen Gesetzen, wie zB § 60 Abs 4 Bundesversorgungsgesetz, die hier jedoch nicht einschlägig sind.

34

§ 69 SGB IX, der durchaus auch verfahrensrechtliche Regelungen über die Feststellung der Behinderung und die Ausstellung der Ausweise enthält (zB das jeweilige Antragserfordernis), trifft indes keinerlei verfahrensrechtliche Bestimmungen über die Rücknahme, den Widerruf oder die Aufhebung der in § 69 Abs 1 S 1 SGB IX vorgeschriebenen Feststellungen über das Vorliegen einer Behinderung und des GdB. Er lässt auch nicht erkennen, dass er die Regelungen im SGB X ganz oder teilweise verdrängt.

35

Speziell zum Verwaltungsakt über die Feststellung des GdB und zu dessen Bindungswirkung bei späterem Hinzutreten einer dauerhaften Gesundheitsstörung (Behinderung gemäß § 2 SGB IX) hat das BSG schon unter Geltung des Schwerbehindertengesetzes entschieden, dass eine ursprünglich unrichtige Entscheidung unter Beachtung ihrer Bestandskraft grundsätzlich nicht korrigiert werden darf, vielmehr hierbei die Vorschriften der §§ 48 und 45 SGB X maßgeblich sind(Urteil vom 22.10.1986 - 9a RVs 55/85 - BSGE 60, 287 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Durch § 48 Abs 3 SGB X ist nach diesem Urteil die Verwaltung auch im Recht der sozialen Entschädigung und im Recht der Schwerbehinderten ermächtigt worden, anlässlich einer nachträglichen Änderung eines Teils der maßgebend gewesenen Verhältnisse möglicherweise bestandskräftig gewordene Feststellungen über Schädigungsfolgen oder Behinderungen und über ihre Auswirkungen mit der wirklichen Sachlage in Einklang zu bringen(BSGE 60, 287, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29 S 89). Mit Urteil vom 19.9.2000 (- B 9 SB 3/00 R - BSGE 87, 126 = SozR 3-1300 § 45 Nr 43)hat das BSG bekräftigt, dass ein Feststellungsbescheid, der rechtswidrigerweise den GdB zu hoch festgestellt hat, entweder nach § 45 SGB X - teilweise - zurückzunehmen ist, oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, gemäß § 48 Abs 3 SGB X "abgeschmolzen" werden kann. Wird diese Möglichkeit der Abschmelzung nicht wahrgenommen, kann die unterbliebene Abschmelzung nicht bei einer zukünftigen Änderung der Verhältnisse nachgeholt werden (BSGE 87, 126, 130 = SozR 3-1300 § 45 Nr 43 S 146; s auch Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Dezember 2012, § 48 SGB X RdNr 29 mwN).

36

Dem Beklagten ist zuzugeben, dass das BSG bisher nicht ausdrücklich entschieden hat, dass über die Abschmelzung eines überhöht festgestellten GdB gemäß oder entsprechend § 48 Abs 3 SGB X durch Verwaltungsakt zu entscheiden ist. Andererseits ist es offensichtlich, dass die nach § 48 Abs 3 SGB X gesetzlich erlaubten Rechtswirkungen im Einzelfall(s § 31 SGB X) durch Verwaltungsakt zu regeln sind. Dies ergibt sich zwingend aus der Rechtsnatur der Abschmelzung als Eingriff in einen durch Verwaltungsakt bindend zuerkannten Rechtszustand - hier die Höhe des festgestellten GdB. Für zu hoch berechnete Sozialleistungen ist schon seit der Entscheidung des BSG vom 22.6.1988 (- 9/9a RV 46/86 - BSGE 63, 266 = SozR 3642 § 9 Nr 3) geklärt, dass sie erst dann von der Erhöhung durch ein Anpassungsgesetz (als wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse) ausgespart werden dürfen, wenn durch Verwaltungsakt wirksam festgestellt ist, dass die ursprüngliche Leistungsbewilligung rechtswidrig ist. Was für eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse gilt, hat gleichermaßen auch für eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu gelten. Ebenso besteht im Rahmen des § 48 Abs 1 SGB X kein Unterschied zwischen der rechtswidrigen Gewährung überhöhter Leistungen und der Feststellung eines zu hohen GdB.

37

Die Korrektur der Folgen eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 48 Abs 3 SGB X setzt mithin eine entsprechende ausdrückliche Verwaltungsentscheidung voraus. Die Vorschrift ist wegen der erforderlichen konstitutiven Feststellung durch die Verwaltung auch nicht eigenständig durch die Gerichte dergestalt anwendbar, dass diese eine Klage auf eine höhere Leistung oder auf Feststellung eines höheren GdB von sich aus unter Hinweis auf § 48 Abs 3 SGB X abweisen dürften(Steinwedel, aaO, RdNr 29 und 69). Dementsprechend darf die Verwaltung § 48 Abs 3 SGB X nicht stillschweigend ("freihändig") anwenden, sondern muss eine förmliche Entscheidung in Gestalt eines Verwaltungsaktes treffen, der seinerseits angefochten werden kann.

38

Konstitutiv für eine Entscheidung nach § 48 Abs 3 SGB X ist die durch Verwaltungsakt vorzunehmende Feststellung, dass und in welchem Umfang die ursprüngliche Bewilligung oder Feststellung rechtswidrig ist(Steinwedel, aaO, RdNr 67, 68 mwN; vgl insbesondere BSGE 63, 266 = SozR 3642 § 9 Nr 3; BSGE 94, 133 = SozR 4-3200 § 81 Nr 2, RdNr 7). Die Entscheidung über eine Ablehnung der Erhöhung der Leistung oder der Erhöhung des GdB kann - aus gegebenem Anlass - später getroffen werden.

39

Obwohl der Beklagte - zu Unrecht - die Auffassung vertritt, § 48 Abs 3 SGB X auch ohne die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ursprungsbescheides anwenden zu können, hat er eine entsprechende Entscheidung im angefochtenen Bescheid vom 1.3.2007 getroffen. Darin hat er nämlich wörtlich erklärt, dass die Bescheide vom 5.11.2002 und 10.3.2005 rechtswidrig seien, da mit ihnen ein GdB von 30 bzw 40 festgestellt worden sei und die bestehenden Beeinträchtigungen nur einen GdB von 10 rechtfertigten. Obwohl sich diese Erklärungen des Beklagten im Begründungsteil des Bescheides vom 1.3.2007 befinden, handelt es sich um eine Regelung iS des § 31 SGB X, denn der Beklagte wollte den Kläger verbindlich auf die Rechtswidrigkeit der im Bescheid vom 5.11.2002 getroffenen Feststellung des GdB auf 30 hinweisen. Zudem konnte der Kläger als Adressat des Bescheides vom 1.3.2007 die Regelungsabsicht des Beklagten auch eindeutig und ohne Weiteres erkennen. Es war klar, dass der Beklagte in Zukunft davon ausgehen wollte, dass der Bescheid vom 5.11.2002 rechtswidrig sei, soweit darin ein GdB festgestellt worden ist. Nach seiner Beurteilung lag beim Kläger nur ein GdB von 10 vor, der keine Feststellung nach § 69 SGB IX ermöglichte.

40

Diese im Bescheid vom 1.3.2007 enthaltene Feststellung ist vom Kläger in vollem Umfang angefochten worden und damit Gegenstand des Klageverfahrens. Insofern unterliegt es der gerichtlichen Entscheidung, ob der Beklagte zu Recht eine entsprechende Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 5.11.2002 angenommen hat. Da das SG von der Bindung des Bescheides vom 5.11.2002 hinsichtlich der Feststellung des GdB mit 30 ausgegangen ist, hat es zur zutreffenden Höhe des GdB zu diesem Zeitpunkt keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Auf diese Feststellungen kommt es hier an. Sofern nämlich der Verwaltungsakt des Beklagten über die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 5.11.2002 Bestand hat, ermöglicht er die Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X bei der Berücksichtigung der im Juli 2007 eingetretenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers in der Weise, dass die Feststellung eines GdB von 40 nur dann in Betracht käme, wenn dies nach der tatsächlichen Teilhabebeeinträchtigung des Klägers gerechtfertigt wäre.

41

Da dem Revisionsgericht die fehlenden Feststellungen nicht möglich sind (§ 163 SGG), muss die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen werden. Das SG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. Verringerung der Rundfunkbeitragspflicht) festzustellen.

2. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Der am … 1957 geborene Kläger hatte am 15.02.2010 die Erhöhung des bei ihm bislang anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 100 sowie die Zuerkennung diverser Merkzeichen, darunter „RF“, beantragt. Als Behinderungen waren damals anerkannt eine Colitis ulcerosa (Einzel-GdB 70), eine posttraumatische Belastungsstörung mit Persönlichkeitsstörung und Depression (Einzel-GdB 30) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (20). Den Antrag lehnte das Versorgungsamt beim Landratsamt Göppingen (LRA) mit Bescheid vom 08.06.2010 insgesamt ab. Im Widerspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die psychische Erkrankung des Klägers als Folge einer Inhaftierung in der früheren DDR nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt und als solche mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 (insgesamt 50 unter Einschluss einer Erhöhung um 10 Punkte wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) bewertet worden war. Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 29.07.2010 einen Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid, mit dem er den Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 auf 90 anhob und den Widerspruch im Übrigen, auch hinsichtlich der Merkzeichen, zurückwies. In dem anschließenden Klageverfahren (S 14 SB 2936/10) holte das Sozialgericht Ulm (SG) schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärztinnen Dr. B. vom 21.02.2011 und Dr. v. A. vom 10.03.2011 ein. Dr. B. sagte dort aus, der Kläger könne nicht zwischen Stuhl- und Luftdrang unterscheiden, er sei daher ständig darauf bedacht, dass eine Toilette unmittelbar erreichbar sei und folge dem nicht differenzierbaren Drang panisch. Insbesondere nach Durchfall-Episoden mit Stuhlinkontinenz und Erbrechen habe sich bei ihm eine sehr krankhafte phobische Zwang- und Angstreaktion entwickelt. Er habe sein Leben um erreichbare Toiletten herum organisiert. Er vermeide Aktivitäten mit unklarer Erreichbarkeit von Toiletten. Oft rufe schon der Gedanke, eine Toilette sei nicht in kürzester Zeit erreichbar, massiven Stuhldrang hervor. Im Nachgang hierzu verglichen sich die Beteiligten dahin, dass der Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 100 betrage, jedoch keine Merkzeichen beständen. Dem entsprechenden Angebot des beklagten Landes hatte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C. vom 29.03.2011 zu Grunde gelegen, worin bei gleichbleibenden Einzel-GdB ein Gesamt-GdB von 100 vorgeschlagen und zum Merkzeichen „RF“ ausgeführt worden war, bei öffentlichen Veranstaltungen sei „in der Regel“ eine Toilette ständig erreichbar. Den Ausführungsbescheid zu diesem Vergleich erließ das LRA am 07.06.2011. Darin ist auch ausgeführt, das bereits zuvor zuerkannte Merkzeichen „G“ (gehbehindert) bleibe zuerkannt.
Am 25.07.2011 beantragte der Kläger bei dem LRA erneut die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“. Er berief sich auf die schriftlichen Aussagen seiner behandelnden Ärzte in dem vorangegangenen Klageverfahren. Er trug vor, Dr. C.s Annahmen zum Merkzeichen „RF“ in der Stellungnahme vom 29.03.2011 seien völlig lebensfremd. Mit Bescheid des LRA vom 28.07.2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts des beklagten Landes vom 16.08.2011 wurde der Antrag abgelehnt.
Am 28.08.2011 hat der Kläger Klage zum SG erhoben. Er wolle sich selbst nicht zumuten, in einem Konzert neben sich zu sitzen. Nicht immer sei eine Toilette unmittelbar erreichbar. Es komme vor, dass er auf dem Weg zur Toilette ungewollt Stuhl oder stinkende Luft verliere. Dr. B. und Dr. v. A. hätten eindeutig bestätigt, dass ihm - dem Kläger - das Merkzeichen „RF“ zuerkannt werden müsse.
Das SG hat die beiden genannten Ärztinnen erneut als Zeugen vernommen. Dr. B. hat unter dem 12.12.2011 bekundet, sie behandle den Kläger seit 1990 hausärztlich; der Kläger wirke auf seine Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend, z. B. durch Geruchsbelästigungen durch Stuhlinkontinenz und unkontrollierten Abgang von Blähungen; es beständen eine schwere Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung und zwanghafte Phobien; der Kläger erscheine in ihrer Praxis allein. Dr. v. A. hat in ihrer Aussage vom 27.12.2011 angegeben, sie behandle den Kläger seit 2004 psychotherapeutisch, die Sitzungen fänden wegen des Gesundheitszustandes des Klägers in größeren Abständen statt; der Kläger habe Stuhlinkontinenzen und unkontrollierten Abgang von Luft, ferner unter anderem eine zwanghafte Phobie vor öffentlichen Toiletten, er komme zu den therapeutischen Sitzungen allein.
Die Angabe der Zeugin Dr. B., er sei - immer - allein in ihrer Praxis erschienen, hat der Kläger unter dem 05.01.2012 bestritten, er komme regelmäßig mit seinem Lebenspartner, der ebenfalls bei Dr. B. in Behandlung sei.
Auf Nachfrage des SG haben die beiden Ärztinnen erneut ausgesagt. Dr. v. A. hat unter dem 27.02.2012 bekundet, der Kläger warte in der Wartezone für durchschnittlich fünf bis zehn Minuten; eine Toilette sei in der Praxis frei zugänglich; er begegne in der Praxis sowohl Mitarbeitern als auch Mitpatienten; eine Sitzung dauere 50 min, der Kläger halte diese Zeit oft nicht durch und müsse zwischendurch zur Toilette gehen; der Kläger unterliege dem Zwang, dass eine Toilette ständig erreichbar sein müsse, ansonsten entwickelten sich massive Ängste, die ihn dazu brächten, die Veranstaltung zu verlassen oder gar nicht erst hinzugehen. Dr. B. hat mit Schreiben vom 01.03.2012 mitgeteilt, der Kläger warte durchschnittlich 15 min im Wartezimmer; die Toilette sei frei zugänglich; er begegne Mitarbeitern und anderen Patienten; die Termine dauerten 15 bis 20 min; der Kläger gehe zur Toilette, wenn er in die Praxis komme und bevor er sie verlasse, zum Teil auch zwischendurch; er könne wegen seiner Phobien an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen; die Colitis ulcerosa werde richtlinienkonform mit Imurek, Azulfidine und während eines Schubs mit Cortison behandelt.
Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 02.05.2012 ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Das Merkzeichen „RF“ sei nicht zuzuerkennen, dies gelte auch im Hinblick auf die Benutzung von Windelhosen; eine diesbezügliche Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch den Sozialstaatsgrundsatz.
Diesen Ausführungen Dr. D. ist der Kläger unter dem 22.05.2012 entgegengetreten. Insbesondere hat er ausgeführt, auch Windelhosen hielten gegen Gerüche und ggfs. Fäkalien nicht dicht.
10 
Mit Urteil im schriftlichen Verfahren vom 15.08.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt:
11 
Die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ seien nach § 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gelte. Die Voraussetzungen des § 6 Nr. 7 RGebStV (Blindheit, Hörbehinderung) lägen nicht vor. Der Nachteilsausgleich stehe nach § 6 Nr. 8 RGebStV aber auch schwerbehinderten Menschen zu, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen sei; er müsse praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen könne, sei er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (Verweis u. a. auf BSG, Urt. v. 11.01.1991, 9a/9 RVs 15/89, Juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2011, L 8 SB 2294/10, Juris Rn. 35 ff.).
12 
Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Die wesentliche Beeinträchtigung folge insoweit aus der Colitis ulcerosa. Der Kläger könne zwar Stuhl- und Luftabgänge nicht unterscheiden. Auch leide er an Phobien. Er sei daher zwar in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Jedoch sei er nicht vollends an seine Wohnung gebunden. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen benutze der Kläger in den Praxen die dortigen Toiletten, die auch andere Patienten benutzt hätten. Auch könnten diese Toiletten aktuell von anderen Patienten besetzt sein. Trotzdem könne der Kläger mehr als 30 min in den Praxen verbringen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen seien Toiletten (in gleichem Maße) jederzeit erreichbar. Ferner stehe der unkontrollierte Abgang von Luft oder Stuhl der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegen. Beide Ärztinnen hätten insoweit keine Beeinträchtigungen durch den Kläger bekundet. Die Sitzungen bei Dr. v. A. dauerten sogar 50 min. Die Ärztinnen hätten lediglich diesbezügliche Befürchtungen des Klägers geschildert, jedoch kein tatsächliches Auftreten. Im Übrigen sei es behinderten Menschen mit Inkontinenzen stets zumutbar, Hilfsmittel zu verwenden, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Damit sei nicht zwingend eine Geruchsbelästigung verbunden. Der Kläger könne auch auf Veranstaltungen eine Toilette aufsuchen und die Einlagen bzw. Windelhosen wechseln. Dies sei zwar bei Veranstaltungen, auf denen längere Zeit gesessen werde, nur eingeschränkt möglich. Bei Zoo- oder Museumsbesuchen, Sport- oder Stadtfesten könne ein solcher Wechsel der Hilfsmittel aber zugemutet werden (Verweis auf Bayerisches LSG, Urt. v. 19.04.2011, L 15 SB 95/08, Juris Rn. 41 m.w.N.). Diese Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch das Sozialstaatsprinzip (Verweis auf BSG, Urt. v. 09.08.1995, 9 RVs 3/95, Juris Rn. 12). Die funktionsgerechte Benutzung eines üblichen Hilfsmittels mildere im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen der Behinderung.
13 
Gegen dieses Urteil, das ihm am 17.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.09.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe vor 2001 versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen und dabei Stuhlinkontinenzen gehabt. Es sei ihm als 55-jährigem nicht zumutbar, Windelhosen zu benutzen; diese schützen ohnehin nicht vor Gestank. Er behauptet, er habe seit Anfang Juli einen akuten Schub der seit 1991 bekannten Colitis ulcerosa mit 35 Stuhlabgängen, davon 10 des nachts, und ungewollten Urinabgängen, vermischt mit Blut und Schleim, sehr dünnflüssig, gehabt. Hinzu kämen starke Schmerzen bei Stuhl- und Luftabgängen mit Erbrechen. Er habe - ausgehend von 95 kg bei 190 m Körpergröße - in kurzer Zeit 15 kg Körpergewicht verloren. Er habe zunächst täglich 280 mg Cortison, 400 mg Imurek, 4 x 2 Azulfidine und Ferro Sanol genommen. Seit dem 08.09.2012 nehme er 55 mg Cortison täglich. Er habe zwischenzeitlich wieder 5 kg zugenommen. Hierzu legt der Kläger Arztbriefe des Gastroenterologen Dr. E. vom 24.09.2012 und des Pathologen Dr. O. vom 20.09.2012 vor. Der Kläger trägt weiter vor, wegen des Imureks sei er extrem infektanfällig, auch deswegen müsse er öffentliche Veranstaltungen meiden. Er verweist auf die Urteile der Landessozialgerichte Rheinland-Pfalz (L 4 SB 224/05 v. 29.03.2006) und Niedersachsen-Bremen (L 9 SB 97/99 v. 18.12.2001).
14 
Der Kläger beantragt,
15 
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 zu verpflichten, bei ihm ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festzustellen.
16 
Der Beklagte beantragt,
17 
die Berufung zurückzuweisen.
18 
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
19 
Der Kläger hat sich zuletzt mit Schriftsatz vom 26.09.2012, der Beklagte unter dem 25.10.2012 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Gründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens RF.

2

Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München II/Außenstelle Regensburg - Versorgungsamt - vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt - vom 18.2.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, Bl, H, RF, Gl, 1. Kl. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach Schleswig-Holstein bat der Kläger das dortige Landesamt für soziale Dienste im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 SGB X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 SGB X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 abgelehnt wurde.

3

Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF gerichteten Klage hat das Sozialgericht Itzehoe (SG) - nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem GdB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):

4

Das Gutachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen Grundlage das SG den GdB des Klägers mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen sozialen Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

5

Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8ÄndG SH) vom 3.1.2005 (GVBl S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer Kraft getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF jedoch gleich geblieben. Befreit würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.

6

Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF von einem Mindest-GdB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.

7

Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die Grundvoraussetzung eines GdB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des Klägers ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich RF unabhängig von einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-GdB von 80 die Grundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die Grundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des Klägers erweise sich dagegen die Grundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die Gewährung von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.

8

Zur Begründung seiner vom Bundessozialgericht (BSG) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: Gerügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 Nr 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RdFunkGebStVtr) idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8. Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen RF nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein GdB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LSG verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 RdFunkVtr8ÄndG SH sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-GdB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht zwingend ausschließen.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13.4.2010 und des SG Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

11

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunkGebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der Gebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen.

14

In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichens RF dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des LSG ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 SGB IX).

15

Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006) beschiedenen Antrag des Klägers handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 SGB X enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 als rechtmäßig erweist, in der Zeit danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das LSG - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers in der Zeit ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des Klägers von Bayern nach Schleswig-Holstein - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.

16

Der insoweit einschlägige § 44 SGB X bestimmt in seinen Abs 1 und 2:

(1)     

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2)     

Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

17

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 5.1.2005 erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 SGB X. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 SGB X nicht anwendbar ist(vgl Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 SGB X ist(vgl BSGE 69, 14, 16 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von bayerischen Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).

18

§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl BSGE 88, 75, 81 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 136; BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84).

19

Bei Bekanntgabe des in Bayern erlassenen Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 richtete sich die Zuerkennung des Merkzeichens RF nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606) treffen die (für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX). Nach § 70 SGB IX ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

20

Seinerzeit galt in Bayern noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RdFunkGebBefrV BY) vom 21.7.1992 (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 Nr 3 wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien(§ 2 RdFunkGebBefrV BY). Der vom LSG im Hinblick auf Umzug des Klägers nach Schleswig-Holstein angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8 vom 15.10.2004, dem Schleswig-Holstein durch das RdFunkVtr8ÄndG SH vom 3.1.2005 (GVBl S 14) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer Kraft getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der RdFunkGebBefrV BY kann der Senat als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 102).

21

§ 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum RdFunkÄndVtr8, LT-Drucks BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum RdFunkVtr8ÄndG SH, LT-Drucks SH 15/3747 S 57) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die AHP ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.

22

Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der Mindest-GdB von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des Mindest-GdB grundsätzlich entfallen kann.

23

Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 RdFunkGebBefrV BY eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen(vgl dazu allgemein auch BVerfG <2. Kammer des Ersten Senats> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu BSG SozR 3-3100 § 89 BVG Nr 3 S 8; BSGE 59, 111, 115 f = SozR 1300 § 48 Nr 19 S 39 f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris RdNr 25).

24

Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 RdFunkGebBefrV BY die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen(§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY, sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 RdFunkGebBefrV BY erfüllte.

25

Die für die Zuerkennung des Merkzeichens RF im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des BSG (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 3 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 103 f) -gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl II 2008, 1419), das seit dem 26.3.2009 in Deutschland in Kraft ist (vgl Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen Telefontarifen (zB Sozialtarif der Deutschen Telekom) ermöglicht (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 104; BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 RdNr 29 ff).

26

Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das Merkzeichen RF zustand, vermag der erkennende Senat nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des LSG zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Das LSG hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 S 65 f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der Senat die hier erforderlichen, vom LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 SGG), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

27

Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006. Auch auf diesem Wege gelangt der Senat nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der Zeit zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 und dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die RdFunkGebBefrV BY gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am 9.2.2005 in Bayern bekannt gemachten Art 5 Nr 10 RdFunkÄndVtr8 (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des Klägers nach Schleswig-Holstein dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des RdFunkVtr8ÄndG SH anzuwenden war. § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 RdFunkGebBefrV BY. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 SGB X, die bei der Bescheiderteilung im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 SGB X zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.

28

Sollte das LSG bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die Zeit ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu BSG SozR 1300 § 48 Nr 31) beschränkt wäre oder sich - wie das SG angenommen hat - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom Ersten des Monats an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der Landesrundfunkanstalt (bzw bei der von den Landesrundfunkanstalten beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird(vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.

29

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.

(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch

a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung,
b)
eine Kriegsgefangenschaft,
c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit,
d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist,
e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen,
f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.

(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.

(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.

(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.

(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn

1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann,
2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder
3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.

(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.

(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.

(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.

(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.

(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen

1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert,
2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
gemindert wird. Im übrigen gelten 50 vom Hundert des Vergleichseinkommens als dessen Nettobetrag.

(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem

1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird,
2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres,
3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und
4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
In den Fällen des Absatzes 11 tritt an die Stelle des Nettoeinkommens im Sinne des Satzes 1 der nach Absatz 7 ermittelte Nettobetrag des Durchschnittseinkommens.

(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.

(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.

(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.

(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.

(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.

(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:

a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist,
b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist,
c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte,
d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden,
e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.

(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.

(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.

(1) Solange Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sind, wird eine Pflegezulage von 376 Euro (Stufe I) monatlich gezahlt. Hilflos im Sinne des Satzes 1 sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muß, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf 642, 916, 1 174, 1 524 oder 1 876 Euro (Stufen II, III, IV, V und VI) zu erhöhen. Für die Ermittlung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage sind die in der Verordnung zu § 30 Abs. 17 aufgestellten Grundsätze maßgebend. Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III. Hirnbeschädigte mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 erhalten eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I.

(2) Wird fremde Hilfe im Sinne des Absatzes 1 von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt. In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten. Entstehen vorübergehend Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson, ist die Pflegezulage für jeweils höchstens sechs Wochen über Satz 2 hinaus so zu erhöhen, dass den Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der vorübergehenden Entstehung der Kosten verbleibt. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend keine Pflegeleistungen erbringt; § 40a Abs. 3 Satz 3 gilt.

(3) Während einer stationären Behandlung wird die Pflegezulage nach den Absätzen 1 und 2 Empfängern von Pflegezulage nach den Stufen I und II bis zum Ende des ersten, den übrigen Empfängern von Pflegezulage bis zum Ablauf des zwölften auf die Aufnahme folgenden Kalendermonats weitergezahlt.

(4) Über den in Absatz 3 bestimmten Zeitpunkt hinaus wird die Pflegezulage während einer stationären Behandlung bis zum Ende des Kalendermonats vor der Entlassung nur weitergezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte erhalten ein Viertel der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder der Elternteil bis zum Beginn der stationären Behandlung zumindest einen Teil der Pflege wahrgenommen hat. Daneben wird die Pflegezulage in Höhe der Kosten weitergezahlt, die aufgrund eines Pflegevertrages entstehen, es sei denn, die Kosten hätten durch ein den Beschädigten bei Abwägung aller Umstände zuzumutendes Verhalten, insbesondere durch Kündigung des Pflegevertrages, vermieden werden können. Empfänger einer Pflegezulage mindestens nach Stufe III erhalten, soweit eine stärkere Beteiligung der schon bis zum Beginn der stationären Behandlung unentgeltlich tätigen Pflegeperson medizinisch erforderlich ist, abweichend von Satz 2 ausnahmsweise Pflegezulage bis zur vollen Höhe nach Absatz 1, in Fällen des Satzes 3 jedoch nicht über den nach Absatz 2 Satz 2 aus der pauschalen Pflegezulage verbleibenden Betrag hinaus.

(5) Tritt Hilflosigkeit im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 gleichzeitig mit der Notwendigkeit stationärer Behandlung oder während einer stationären Behandlung ein, besteht für die Zeit vor dem Kalendermonat der Entlassung kein Anspruch auf Pflegezulage. Für diese Zeit wird eine Pflegebeihilfe gezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte, die mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft leben, erhalten eine Pflegebeihilfe in Höhe eines Viertels der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I. Soweit eine stärkere Beteiligung der Ehegatten, Lebenspartner oder eines Elternteils oder die Beteiligung einer Person, die den Beschädigten nahesteht, an der Pflege medizinisch erforderlich ist, kann in begründeten Ausnahmefällen eine Pflegebeihilfe bis zur Höhe der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I gezahlt werden.

(6) Für Beschädigte, die infolge der Schädigung dauernder Pflege im Sinne des Absatzes 1 bedürfen, werden, wenn geeignete Pflege sonst nicht sichergestellt werden kann, die Kosten der nicht nur vorübergehenden Heimpflege, soweit sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich notwendiger Pflege umfassen, unter Anrechnung auf die Versorgungsbezüge übernommen. Jedoch ist den Beschädigten von ihren Versorgungsbezügen zur Bestreitung der sonstigen Bedürfnisse ein Betrag in Höhe der Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 und den Angehörigen ein Betrag mindestens in Höhe der Hinterbliebenenbezüge zu belassen, die ihnen zustehen würden, wenn Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben wären. Bei der Berechnung der Bezüge der Angehörigen ist auch das Einkommen der Beschädigten zu berücksichtigen, soweit es nicht ausnahmsweise für andere Zwecke, insbesondere die Erfüllung anderer Unterhaltspflichten, einzusetzen ist.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. April 2010 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betrifft.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", also die Zuerkennung des Merkzeichens RF.

2

Bei dem 1973 geborenen Kläger wurde durch Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung München II/Außenstelle Regensburg - Versorgungsamt - vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung - Landesversorgungsamt - vom 18.2.2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Darüber hinaus enthält dieser Verwaltungsakt die Aussage, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G, aG, Bl, H, RF, Gl, 1. Kl. nicht vorliegen. Nach seinem Umzug nach Schleswig-Holstein bat der Kläger das dortige Landesamt für soziale Dienste im Juli 2005 um eine Überprüfung dieser Feststellungen. Mit Bescheid vom 23.9.2005 lehnte dieses Amt eine Neufeststellung nach § 44 Abs 2 SGB X ab. Den Widerspruchsbescheid vom 1.2.2006 stützte es auch auf § 48 SGB X. Am 12.4.2006 beantragte der Kläger erneut eine Überprüfung, die vom beklagten Land durch Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 abgelehnt wurde.

3

Der sodann vom Kläger erhobenen, auf Feststellung eines GdB von 80 und der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF gerichteten Klage hat das Sozialgericht Itzehoe (SG) - nach Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens vom 18.6.2007 sowie weiterer Stellungnahmen vom 25.10.2007 und 13.10.2008 des Sachverständigen Dr. S. durch Urteil vom 17.10.2008 insoweit stattgegeben, als der Beklagte verpflichtet worden ist, die bei dem Kläger vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab 12.4.2006 mit einem GdB von 70 zu bewerten. Im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung ist vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht (LSG) im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen worden (Urteil vom 13.4.2010):

4

Das Gutachten des Sachverständigen Dr. S., auf dessen Grundlage das SG den GdB des Klägers mit 70 bewertet habe, sei in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Es bestehe kein Zweifel daran, dass bei dem Kläger infolge seiner Erkrankung mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten bestünden, da er nicht über hinreichende Anpassungsmöglichkeiten verfüge, um beruflich eingegliedert werden zu können, und zudem auch weitgehend in seinen sozialen Kontakten eingeschränkt sei. Andererseits überzeuge es, wenn der Sachverständige gleichwohl schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten verneine, weil der Kläger noch zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage sei.

5

Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF. Anspruchsgrundlage hierfür sei § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sei die einschlägige landesrechtliche Vorschrift Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 Achter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 15.10.2004 (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag - RdFunkÄndVtr8) in der Fassung des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zum RdFunkÄndVtr8 (RdFunkVtr8ÄndG SH) vom 3.1.2005 (GVBl S 14), mit dessen Inkrafttreten zum 1.4.2005 die Rundfunkgebührenbefreiungsverordnungen der Länder außer Kraft getreten seien. Dabei seien die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF jedoch gleich geblieben. Befreit würden danach unter anderem behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten.

6

Soweit die einschlägige Regelung die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF von einem Mindest-GdB von 80 abhängig mache, verstoße sie nicht gegen höherrangiges Recht. Dies gelte insbesondere auch, soweit sie im Einzelfall dazu führe, dass der Nachteilsausgleich nicht zuerkannt werden könne, obwohl die weiteren Voraussetzungen hierfür vorlägen, weil der Betroffene aufgrund der bei ihm bestehenden Funktionsstörungen dauernd faktisch an das Haus gebunden sei. Letzteres habe Dr. S. bei dem Kläger bejaht, weil aufgrund der bei diesem bestehenden Wahnvorstellungen der Kontakt mit Menschen in größerer Zahl zu Verunsicherung und Bedrohungsgefühl führe, was erwarten lasse, dass er Veranstaltungen durch unangemessenes und auch offen aggressives Verhalten stören würde. Ob der Kläger damit im Sinne der Rechtsprechung in dem Sinne umfassend von allen öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme, bedürfe keiner Entscheidung.

7

Unterstelle man, dass bei dem Kläger zwar die Grundvoraussetzung eines GdB von 80 fehle, die weiteren Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs RF dagegen vorlägen, führe dies nicht dazu, dass die einschlägige Vorschrift gegen höherrangiges Recht verstoße bzw im Falle des Klägers ermächtigungskonform so zu interpretieren wäre, dass ihm der Nachteilsausgleich RF unabhängig von einem GdB von mindestens 80 zuzuerkennen wäre. Zwar dürfte der Normgeber davon ausgegangen sein, dass der Mindest-GdB von 80 die Grundvoraussetzung, die faktische Bindung an das Haus eine spezielle, die Grundvoraussetzung weiter einschränkende Regelung beinhalte. In dem speziellen Fall des Klägers erweise sich dagegen die Grundvoraussetzung als die eigentlich einschränkende Regelung. Es entspreche jedoch dem Wesen typisierender und generalisierender Regelungen, wie sie auch die Regelungen über die Gewährung von Nachteilsausgleichen nach dem SGB IX darstellten, dass sie nicht jeden Einzelfall erfassen könnten. Dass es sich hier um einen atypischen Einzelfall handele, sei insbesondere der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. S. vom 13.10.2008 zu entnehmen, in der dieser nochmals herausstelle, dass bei dem Kläger die - besondere - Konstellation vorliege, dass er - wenn auch mit deutlichen Einschränkungen - aufgrund seines Leidens zwar zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage sei, gerade an öffentlichen Veranstaltungen aber nicht teilnehmen könne.

8

Zur Begründung seiner vom Bundessozialgericht (BSG) - beschränkt auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF - zugelassenen Revision trägt der Kläger unter anderem vor: Gerügt werde eine Verletzung von § 69 Abs 4 SGB IX iVm § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV iVm § 6 Abs 1 Nr 8 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RdFunkGebStVtr) idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8. Zwar sei ihm bei strenger Wortlautauslegung das Merkzeichen RF nicht zuzuerkennen, weil bei ihm lediglich ein GdB von 70 vorliege. Hier handele es sich jedoch um eine besondere Konstellation, also um einen atypischen Fall. Das LSG verkenne, dass Art 5 § 6 Abs 1 Nr 6 bis 8 RdFunkVtr8ÄndG SH sogenannte generalisierende Tatbestände enthalte. Dementsprechend seien diese Vorschriften nicht als abschließende Regelung anzusehen. Die Benennung eines willkürlichen Mindest-GdB von 80 solle zwar eine erste Einordnung einer Erkrankung ermöglichen, jedoch in atypischen Fällen die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht zwingend ausschließen.

9

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 13.4.2010 und des SG Itzehoe vom 17.10.2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 17.5.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006 insoweit aufzuheben, als die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen RF betroffen ist, und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 bzw des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF festzustellen.

10

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

11

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bringt ergänzend vor: Entgegen der Ansicht des Klägers sei die Aufzählung in § 6 Abs 1 RdFunkGebStVtr abschließend. Anderenfalls würde sich die Härteregelung in Abs 3 der Vorschrift erübrigen. Diese stelle weitere Befreiungen von der Gebührenpflicht in das Ermessen der Rundfunkanstalten.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

Entscheidungsgründe

13

Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur (teilweisen) Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen.

14

In der Sache begehrt der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des landesrechtlich geregelten Nachteilsausgleichs "Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht", die im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichens RF dokumentiert wird. Entgegen der Auffassung des LSG ist also nicht das Merkzeichen selbst der Nachteilsausgleich; vielmehr verhilft es dem schwerbehinderten Menschen lediglich dazu, eine Rundfunkgebührenbefreiung zu erlangen (vgl § 69 Abs 5 Satz 2 SGB IX).

15

Bei dem durch den angefochtenen Verwaltungsakt (Bescheid vom 17.5.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.7.2006) beschiedenen Antrag des Klägers handelt es sich - soweit es hier darauf ankommt - um ein Überprüfungsbegehren nach § 44 SGB X. Es ist in erster Linie auf eine entsprechende Rücknahme des Bescheides vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 gerichtet. Zumindest hilfsweise wird auch die Rücknahme des Bescheides vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 begehrt. Eine Überprüfung dieses Verwaltungsakts, der auch die Ablehnung einer Neufeststellung nach § 48 SGB X enthält, kommt in Betracht, wenn sich der Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 als rechtmäßig erweist, in der Zeit danach jedoch eine für den Kläger möglicherweise günstige Änderung eingetreten ist. Zwar ist das LSG - vom Kläger insoweit unangegriffen - davon ausgegangen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers in der Zeit ab Januar 2005 nicht wesentlich geändert haben, es könnte jedoch - auch infolge des Umzuges des Klägers von Bayern nach Schleswig-Holstein - eine wesentliche Änderung des maßgeblichen Landesrechts eingetreten sein.

16

Der insoweit einschlägige § 44 SGB X bestimmt in seinen Abs 1 und 2:

(1)     

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

(2)     

Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

17

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Rücknahme der mit Bescheid vom 5.1.2005 erfolgten Feststellung, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF nicht vorliegen, ist § 44 Abs 2 SGB X. Dabei handelt es sich um einen "Auffangtatbestand" für Fälle, in denen § 44 Abs 1 SGB X nicht anwendbar ist(vgl Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 4 f, 46). So verhält es sich hier, da die streitige Feststellung nach dem Schwerbehindertenrecht insbesondere keine Sozialleistung iS des § 44 Abs 1 SGB X ist(vgl BSGE 69, 14, 16 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 S 8 ff). Für die Zuständigkeit des Beklagten ist es unerheblich, dass der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, von bayerischen Behörden erlassen worden ist (§ 44 Abs 3 SGB X).

18

§ 44 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (vgl BSGE 88, 75, 81 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 20 S 136; BSG Urteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 27/98 R, juris RdNr 15), wobei neuere rechtliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84).

19

Bei Bekanntgabe des in Bayern erlassenen Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 richtete sich die Zuerkennung des Merkzeichens RF nach folgenden Bestimmungen: Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606) treffen die (für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs 1 SGB IX, soweit neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie im Falle des Abs 4 über weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs 5 Satz 1 SGB IX). Nach § 70 SGB IX ist die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeit und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Auf dieser Grundlage sieht § 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV in der bis zum 11.12.2006 geltenden Fassung vom 27.12.2003 (BGBl I 3022) vor, dass im Ausweis auf der Rückseite das Merkzeichen RF einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.

20

Seinerzeit galt in Bayern noch die Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (RdFunkGebBefrV BY) vom 21.7.1992 (GVBl S 254). Nach deren § 1 Abs 1 Nr 3 wurden von der Rundfunkgebührenpflicht Behinderte befreit, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Unbeschadet der Gebührenbefreiung nach § 1 konnte die Rundfunkanstalt in besonderen Härtefällen von der Rundfunkgebührenpflicht befreien(§ 2 RdFunkGebBefrV BY). Der vom LSG im Hinblick auf Umzug des Klägers nach Schleswig-Holstein angewendete § 6 RdFunkGebStVtr vom 31.8.1991 idF des Art 5 Nr 6 RdFunkÄndVtr8 vom 15.10.2004, dem Schleswig-Holstein durch das RdFunkVtr8ÄndG SH vom 3.1.2005 (GVBl S 14) zugestimmt hat, gilt erst ab 1.4.2005. Gleichzeitig sind die RdFunkGebBefrV der Länder außer Kraft getreten (§ 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr). Über die Auslegung und Anwendung der RdFunkGebBefrV BY kann der Senat als Revisionsgericht entscheiden, weil sie - wie durch den RdFunkGebStVtr aller Bundesländer beabsichtigt - mit den landesrechtlichen Regelungen anderer Bundesländer übereinstimmt (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 102).

21

§ 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY enthält eine abschließende Aufzählung der Personengruppen, die von der Rundfunkgebührenpflicht befreit werden. Weder der Wortlaut noch sonstige Anhaltspunkte (vgl dazu allgemein den Antrag der Bayerischen Staatsregierung zum RdFunkÄndVtr8, LT-Drucks BY 15/1921 S 21; Gesetzentwurf zum RdFunkVtr8ÄndG SH, LT-Drucks SH 15/3747 S 57) deuten darauf hin, dass es sich nur um eine Auflistung typischer Fälle handelt. Selbst wenn die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP, in der hier maßgeblichen Fassung von 2005) insoweit - wie der Kläger annimmt - missverständliche Formulierungen enthalten sollten, lässt sich daraus kein abweichendes Auslegungsergebnis herleiten, weil die AHP ihrem Charakter als antizipierte Sachverständigengutachten entsprechend nicht geeignet sind, die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen authentisch zu interpretieren.

22

Nach dem hier anwendbaren § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY mussten Behinderte zwei gesonderte (kumulative) Voraussetzungen erfüllen: Bei ihnen musste ein GdB von 80 vorliegen. Darüber hinaus war es erforderlich, dass sie wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Die Regelung lässt es nicht zu, auf das Vorliegen eines GdB von 80 zu verzichten, wenn allein das zweite Merkmal (Nicht-Teilnehmen-Können an öffentlichen Veranstaltungen) gegeben ist. Daran ändert es nichts, dass nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist, warum die betroffenen Personen von einer Gebührenbefreiung ausgeschlossen werden sollten. Jedenfalls ist es fraglich, ob der Mindest-GdB von 80 insoweit eine sachgerechte Schranke bildet. Allerdings dient er immerhin der Verwaltungsvereinfachung, wenn die Prüfung des zweiten Merkmals bei Fehlen des Mindest-GdB grundsätzlich entfallen kann.

23

Ob diese Bestimmung für sich genommen in jeder Hinsicht mit höherrangigem Recht vereinbar war, braucht hier nicht näher geprüft zu werden, denn der Verordnungsgeber hatte durch die Härtefallregelung in § 2 RdFunkGebBefrV BY eine hinreichende Möglichkeit geschaffen, um bei der Rechtsanwendung zu sachgerechten Ergebnissen zu gelangen(vgl dazu allgemein auch BVerfG <2. Kammer des Ersten Senats> Beschluss vom 30.11.2011 - 1 BvR 3269/08 und 1 BvR 656/10 - Umdruck S 7 f). Danach wurde die Gebührenbefreiung in besonderen Härtefällen einer Ermessensentscheidung der Rundfunkanstalt überlassen. Es kann hier offen bleiben, ob es sich bei dem Merkmal eines besonderen Härtefalls generell um eine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die der Rundfunkanstalt obliegende Ermessensentscheidung handelt (vgl allgemein dazu BSG SozR 3-3100 § 89 BVG Nr 3 S 8; BSGE 59, 111, 115 f = SozR 1300 § 48 Nr 19 S 39 f). Dies trifft jedenfalls für Härtefälle zu, die allein auf den gesundheitlichen Gegebenheiten des Menschen mit Behinderung beruhen. Das Vorliegen eines gesundheitlich bedingten Härtefalls gehört zu den gesundheitlichen Merkmalen, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "Rundfunkgebührenbefreiung" sind. Gemäß § 69 Abs 4 SGB IX obliegt die Feststellung eines solchen Härtefalls mithin den für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden. Es ist auch sachgerecht, die insoweit erforderlichen Feststellungen einer dafür ausgestatteten, fachkundigen Stelle zu überlassen (vgl allgemein dazu BSG Urteil vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81, juris RdNr 25).

24

Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt ein gesundheitlich bedingter Härtefall regelmäßig dann vor, wenn eine Person mit einem GdB von weniger als 80 wegen eines besonderen psychischen Leidens ausnahmsweise an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann. Dabei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um eine außergewöhnliche, atypische Konstellation. Dies rechtfertigt es, unter Berücksichtigung des § 2 RdFunkGebBefrV BY die landesrechtlichen Voraussetzungen für eine - hier allerdings in das Ermessen der Rundfunkanstalt gestellte - Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht als erfüllt anzusehen(§ 3 Abs 1 Nr 5 SchwbAwV). Demnach war in einem solchen Fall das Merkzeichen RF zuzuerkennen. Da in dem betreffenden Schwerbehindertenausweis ein GdB von unter 80 eingetragen ist, wurde für jeden deutlich, dass der Inhaber nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY, sondern nur die eines gesundheitlich bedingten Härtefalls nach § 2 RdFunkGebBefrV BY erfüllte.

25

Die für die Zuerkennung des Merkzeichens RF im Februar 2005 einschlägigen Vorschriften sind auch sonst mit höherrangigem Recht vereinbar. Zwar sind - auch in früheren Entscheidungen des BSG (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 S 3 f; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 103 f) -gegen die Befreiung der in § 1 Abs 1 RdFunkGebBefrV BY aufgeführten Menschen mit Behinderung von der Rundfunkgebührenpflicht rechtliche Bedenken geäußert worden. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob daran auch unter Berücksichtigung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BGBl II 2008, 1419), das seit dem 26.3.2009 in Deutschland in Kraft ist (vgl Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812), festgehalten werden kann. Jedenfalls wirken sich solche Bedenken nicht auf die Rechtmäßigkeit der Vorschriften über die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF aus, zumal dieses auch den Zugang zu günstigen Telefontarifen (zB Sozialtarif der Deutschen Telekom) ermöglicht (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26 S 104; BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2 RdNr 29 ff).

26

Ob dem Kläger danach im Februar 2005 das Merkzeichen RF zustand, vermag der erkennende Senat nicht abschließend zu entscheiden. Dazu fehlt es an hinreichenden Tatsachenfeststellungen des LSG zu den damaligen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers und deren Auswirkungen bezogen auf die Frage, ob er aufgrund seines Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen konnte. Zunächst ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens RF auch allein aufgrund einer psychischen Störung erfüllt sein können (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 26). Das LSG hat sodann ausgeführt, es bedürfe keiner Entscheidung, ob der Kläger - wie von der Rechtsprechung gefordert (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 S 65 f mwN) - unter Berücksichtigung seines von dem Sachverständigen Dr. S. festgestellten Gesundheitszustandes in dem Sinne umfassend von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen sei, dass nur noch eine nicht ins Gewicht fallende Zahl von Veranstaltungen in Betracht komme. Da der Senat die hier erforderlichen, vom LSG aufgrund seiner Rechtsauffassung unterlassenen tatrichterlichen Feststellungen im Revisionsverfahren nicht treffen kann (§ 163 SGG), ist die Sache insoweit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

27

Eine Zurückverweisung erübrigt sich nicht im Hinblick auf die vom Kläger (hilfsweise) ebenfalls begehrte Überprüfung des Bescheides des Beklagten vom 23.9.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006. Auch auf diesem Wege gelangt der Senat nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung. Zwar sind in der Zeit zwischen dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 und dem Erlass des Widerspruchsbescheides vom 1.2.2006 insoweit Rechtsänderungen eingetreten, als die RdFunkGebBefrV BY gemäß § 10 Abs 2 RdFunkGebStVtr idF des am 9.2.2005 in Bayern bekannt gemachten Art 5 Nr 10 RdFunkÄndVtr8 (GVBl S 27) ab 1.4.2005 nicht mehr galt und infolge des Umzuges des Klägers nach Schleswig-Holstein dann § 6 RdFunkGebStVtr idF des RdFunkVtr8ÄndG SH anzuwenden war. § 6 Abs 1 Nr 8 RdFunkGebStVtr stimmt jedoch inhaltlich im Wesentlichen mit § 1 Abs 1 Nr 3 RdFunkGebBefrV BY überein. Entsprechendes gilt auch für die Härtefallregelungen in § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr und § 2 RdFunkGebBefrV BY. Folglich ergeben sich aus dieser Änderung für die Beurteilung des vorliegenden Falles keine neuen Gesichtspunkte. Es handelt sich mithin nicht um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 SGB X, die bei der Bescheiderteilung im Februar 2006 iS von § 44 Abs 2 SGB X zu Unrecht außer Acht gelassen worden wäre.

28

Sollte das LSG bei seiner weiteren Prüfung zu der Beurteilung gelangen, dass der Kläger im Februar 2005 die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF erfüllte, ist der Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 5.1.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.2.2005 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X), soweit darin das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint worden ist. Ob eine Rücknahme danach auf die Zeit ab der Bekanntgabe des Bescheides vom 17.5.2006 (vgl dazu BSG SozR 1300 § 48 Nr 31) beschränkt wäre oder sich - wie das SG angenommen hat - auf den Zeitpunkt der Antragstellung (12.4.2006) beziehen kann (vgl dazu Steinwedel in Kasseler Komm, Stand Oktober 2011, § 44 SGB X RdNr 46), ist höchstrichterlich noch nicht eindeutig entschieden (vgl dazu BSG SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 5). Auf diese Frage dürfte es hier allerdings praktisch kaum ankommen, da eine Rundfunkgebührenbefreiung gemäß § 6 Abs 5 RdFunkGebStVtr ohnehin nur vom Ersten des Monats an festgestellt wird, der dem Monat folgt, in dem der Befreiungsantrag bei der Landesrundfunkanstalt (bzw bei der von den Landesrundfunkanstalten beauftragten Gebühreneinzugszentrale) gestellt wird(vgl § 6 Abs 4 RdFunkGebStVtr). Bei der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Zukunft wäre dann § 6 Abs 3 RdFunkGebStVtr in der ab 1.4.2005 geltenden Fassung zugrunde zu legen.

29

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 verpflichtet, bei dem Kläger für die Zeit ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht bzw. Verringerung der Rundfunkbeitragspflicht) festzustellen.

2. Der Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen.

Tatbestand

 
Der Kläger begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) des Merkzeichens (Nachteilsausgleichs) „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Der am … 1957 geborene Kläger hatte am 15.02.2010 die Erhöhung des bei ihm bislang anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 100 sowie die Zuerkennung diverser Merkzeichen, darunter „RF“, beantragt. Als Behinderungen waren damals anerkannt eine Colitis ulcerosa (Einzel-GdB 70), eine posttraumatische Belastungsstörung mit Persönlichkeitsstörung und Depression (Einzel-GdB 30) und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden (20). Den Antrag lehnte das Versorgungsamt beim Landratsamt Göppingen (LRA) mit Bescheid vom 08.06.2010 insgesamt ab. Im Widerspruchsverfahren stellte sich heraus, dass die psychische Erkrankung des Klägers als Folge einer Inhaftierung in der früheren DDR nach dem Häftlingshilfegesetz anerkannt und als solche mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 (insgesamt 50 unter Einschluss einer Erhöhung um 10 Punkte wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) bewertet worden war. Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 29.07.2010 einen Teil-Abhilfe- und Widerspruchsbescheid, mit dem er den Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 auf 90 anhob und den Widerspruch im Übrigen, auch hinsichtlich der Merkzeichen, zurückwies. In dem anschließenden Klageverfahren (S 14 SB 2936/10) holte das Sozialgericht Ulm (SG) schriftliche Zeugenaussagen der behandelnden Ärztinnen Dr. B. vom 21.02.2011 und Dr. v. A. vom 10.03.2011 ein. Dr. B. sagte dort aus, der Kläger könne nicht zwischen Stuhl- und Luftdrang unterscheiden, er sei daher ständig darauf bedacht, dass eine Toilette unmittelbar erreichbar sei und folge dem nicht differenzierbaren Drang panisch. Insbesondere nach Durchfall-Episoden mit Stuhlinkontinenz und Erbrechen habe sich bei ihm eine sehr krankhafte phobische Zwang- und Angstreaktion entwickelt. Er habe sein Leben um erreichbare Toiletten herum organisiert. Er vermeide Aktivitäten mit unklarer Erreichbarkeit von Toiletten. Oft rufe schon der Gedanke, eine Toilette sei nicht in kürzester Zeit erreichbar, massiven Stuhldrang hervor. Im Nachgang hierzu verglichen sich die Beteiligten dahin, dass der Gesamt-GdB des Klägers ab dem 30.07.2008 100 betrage, jedoch keine Merkzeichen beständen. Dem entsprechenden Angebot des beklagten Landes hatte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C. vom 29.03.2011 zu Grunde gelegen, worin bei gleichbleibenden Einzel-GdB ein Gesamt-GdB von 100 vorgeschlagen und zum Merkzeichen „RF“ ausgeführt worden war, bei öffentlichen Veranstaltungen sei „in der Regel“ eine Toilette ständig erreichbar. Den Ausführungsbescheid zu diesem Vergleich erließ das LRA am 07.06.2011. Darin ist auch ausgeführt, das bereits zuvor zuerkannte Merkzeichen „G“ (gehbehindert) bleibe zuerkannt.
Am 25.07.2011 beantragte der Kläger bei dem LRA erneut die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“. Er berief sich auf die schriftlichen Aussagen seiner behandelnden Ärzte in dem vorangegangenen Klageverfahren. Er trug vor, Dr. C.s Annahmen zum Merkzeichen „RF“ in der Stellungnahme vom 29.03.2011 seien völlig lebensfremd. Mit Bescheid des LRA vom 28.07.2011, bestätigt durch Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts des beklagten Landes vom 16.08.2011 wurde der Antrag abgelehnt.
Am 28.08.2011 hat der Kläger Klage zum SG erhoben. Er wolle sich selbst nicht zumuten, in einem Konzert neben sich zu sitzen. Nicht immer sei eine Toilette unmittelbar erreichbar. Es komme vor, dass er auf dem Weg zur Toilette ungewollt Stuhl oder stinkende Luft verliere. Dr. B. und Dr. v. A. hätten eindeutig bestätigt, dass ihm - dem Kläger - das Merkzeichen „RF“ zuerkannt werden müsse.
Das SG hat die beiden genannten Ärztinnen erneut als Zeugen vernommen. Dr. B. hat unter dem 12.12.2011 bekundet, sie behandle den Kläger seit 1990 hausärztlich; der Kläger wirke auf seine Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend, z. B. durch Geruchsbelästigungen durch Stuhlinkontinenz und unkontrollierten Abgang von Blähungen; es beständen eine schwere Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung und zwanghafte Phobien; der Kläger erscheine in ihrer Praxis allein. Dr. v. A. hat in ihrer Aussage vom 27.12.2011 angegeben, sie behandle den Kläger seit 2004 psychotherapeutisch, die Sitzungen fänden wegen des Gesundheitszustandes des Klägers in größeren Abständen statt; der Kläger habe Stuhlinkontinenzen und unkontrollierten Abgang von Luft, ferner unter anderem eine zwanghafte Phobie vor öffentlichen Toiletten, er komme zu den therapeutischen Sitzungen allein.
Die Angabe der Zeugin Dr. B., er sei - immer - allein in ihrer Praxis erschienen, hat der Kläger unter dem 05.01.2012 bestritten, er komme regelmäßig mit seinem Lebenspartner, der ebenfalls bei Dr. B. in Behandlung sei.
Auf Nachfrage des SG haben die beiden Ärztinnen erneut ausgesagt. Dr. v. A. hat unter dem 27.02.2012 bekundet, der Kläger warte in der Wartezone für durchschnittlich fünf bis zehn Minuten; eine Toilette sei in der Praxis frei zugänglich; er begegne in der Praxis sowohl Mitarbeitern als auch Mitpatienten; eine Sitzung dauere 50 min, der Kläger halte diese Zeit oft nicht durch und müsse zwischendurch zur Toilette gehen; der Kläger unterliege dem Zwang, dass eine Toilette ständig erreichbar sein müsse, ansonsten entwickelten sich massive Ängste, die ihn dazu brächten, die Veranstaltung zu verlassen oder gar nicht erst hinzugehen. Dr. B. hat mit Schreiben vom 01.03.2012 mitgeteilt, der Kläger warte durchschnittlich 15 min im Wartezimmer; die Toilette sei frei zugänglich; er begegne Mitarbeitern und anderen Patienten; die Termine dauerten 15 bis 20 min; der Kläger gehe zur Toilette, wenn er in die Praxis komme und bevor er sie verlasse, zum Teil auch zwischendurch; er könne wegen seiner Phobien an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen; die Colitis ulcerosa werde richtlinienkonform mit Imurek, Azulfidine und während eines Schubs mit Cortison behandelt.
Unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 02.05.2012 ist der Beklagte der Klage entgegengetreten. Das Merkzeichen „RF“ sei nicht zuzuerkennen, dies gelte auch im Hinblick auf die Benutzung von Windelhosen; eine diesbezügliche Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch den Sozialstaatsgrundsatz.
Diesen Ausführungen Dr. D. ist der Kläger unter dem 22.05.2012 entgegengetreten. Insbesondere hat er ausgeführt, auch Windelhosen hielten gegen Gerüche und ggfs. Fäkalien nicht dicht.
10 
Mit Urteil im schriftlichen Verfahren vom 15.08.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt:
11 
Die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ seien nach § 69 Abs. 5 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweis-Verordnung (SchwbAwV) landesrechtlich und daher in Baden-Württemberg in § 6 Abs. 1 Nrn. 7 und 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (RGebStV) vom 15.10.2004 geregelt, der ab dem 01.04.2005 in der Fassung des Gesetzes vom 17.03.2005 (GBl. S. 189) und seit dem 01.01.2009 in der Fassung des Zwölften Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 18.12.2008 (GBl. 2009, S. 131) gelte. Die Voraussetzungen des § 6 Nr. 7 RGebStV (Blindheit, Hörbehinderung) lägen nicht vor. Der Nachteilsausgleich stehe nach § 6 Nr. 8 RGebStV aber auch schwerbehinderten Menschen zu, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 betrage und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei zu fordern, dass der behinderte Mensch wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch solcher, länger als 30 min andauernder Veranstaltungen ausgeschlossen sei; er müsse praktisch ans Haus gebunden sein. Solange er mit technischen Mitteln oder mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise auch nur einzelne öffentliche Veranstaltungen aufsuchen könne, sei er an einer Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht gehindert (Verweis u. a. auf BSG, Urt. v. 11.01.1991, 9a/9 RVs 15/89, Juris; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 09.05.2011, L 8 SB 2294/10, Juris Rn. 35 ff.).
12 
Diese Voraussetzungen lägen bei dem Kläger nicht vor. Die wesentliche Beeinträchtigung folge insoweit aus der Colitis ulcerosa. Der Kläger könne zwar Stuhl- und Luftabgänge nicht unterscheiden. Auch leide er an Phobien. Er sei daher zwar in seiner Mobilität erheblich eingeschränkt. Jedoch sei er nicht vollends an seine Wohnung gebunden. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen benutze der Kläger in den Praxen die dortigen Toiletten, die auch andere Patienten benutzt hätten. Auch könnten diese Toiletten aktuell von anderen Patienten besetzt sein. Trotzdem könne der Kläger mehr als 30 min in den Praxen verbringen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen seien Toiletten (in gleichem Maße) jederzeit erreichbar. Ferner stehe der unkontrollierte Abgang von Luft oder Stuhl der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht entgegen. Beide Ärztinnen hätten insoweit keine Beeinträchtigungen durch den Kläger bekundet. Die Sitzungen bei Dr. v. A. dauerten sogar 50 min. Die Ärztinnen hätten lediglich diesbezügliche Befürchtungen des Klägers geschildert, jedoch kein tatsächliches Auftreten. Im Übrigen sei es behinderten Menschen mit Inkontinenzen stets zumutbar, Hilfsmittel zu verwenden, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Damit sei nicht zwingend eine Geruchsbelästigung verbunden. Der Kläger könne auch auf Veranstaltungen eine Toilette aufsuchen und die Einlagen bzw. Windelhosen wechseln. Dies sei zwar bei Veranstaltungen, auf denen längere Zeit gesessen werde, nur eingeschränkt möglich. Bei Zoo- oder Museumsbesuchen, Sport- oder Stadtfesten könne ein solcher Wechsel der Hilfsmittel aber zugemutet werden (Verweis auf Bayerisches LSG, Urt. v. 19.04.2011, L 15 SB 95/08, Juris Rn. 41 m.w.N.). Diese Empfehlung verstoße weder gegen die Würde des Menschen noch das Sozialstaatsprinzip (Verweis auf BSG, Urt. v. 09.08.1995, 9 RVs 3/95, Juris Rn. 12). Die funktionsgerechte Benutzung eines üblichen Hilfsmittels mildere im Rahmen des Möglichen die Auswirkungen der Behinderung.
13 
Gegen dieses Urteil, das ihm am 17.08.2012 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.09.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er habe vor 2001 versucht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen und dabei Stuhlinkontinenzen gehabt. Es sei ihm als 55-jährigem nicht zumutbar, Windelhosen zu benutzen; diese schützen ohnehin nicht vor Gestank. Er behauptet, er habe seit Anfang Juli einen akuten Schub der seit 1991 bekannten Colitis ulcerosa mit 35 Stuhlabgängen, davon 10 des nachts, und ungewollten Urinabgängen, vermischt mit Blut und Schleim, sehr dünnflüssig, gehabt. Hinzu kämen starke Schmerzen bei Stuhl- und Luftabgängen mit Erbrechen. Er habe - ausgehend von 95 kg bei 190 m Körpergröße - in kurzer Zeit 15 kg Körpergewicht verloren. Er habe zunächst täglich 280 mg Cortison, 400 mg Imurek, 4 x 2 Azulfidine und Ferro Sanol genommen. Seit dem 08.09.2012 nehme er 55 mg Cortison täglich. Er habe zwischenzeitlich wieder 5 kg zugenommen. Hierzu legt der Kläger Arztbriefe des Gastroenterologen Dr. E. vom 24.09.2012 und des Pathologen Dr. O. vom 20.09.2012 vor. Der Kläger trägt weiter vor, wegen des Imureks sei er extrem infektanfällig, auch deswegen müsse er öffentliche Veranstaltungen meiden. Er verweist auf die Urteile der Landessozialgerichte Rheinland-Pfalz (L 4 SB 224/05 v. 29.03.2006) und Niedersachsen-Bremen (L 9 SB 97/99 v. 18.12.2001).
14 
Der Kläger beantragt,
15 
das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15. August 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. August 2011 zu verpflichten, bei ihm ab dem 25. Juli 2011 die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festzustellen.
16 
Der Beklagte beantragt,
17 
die Berufung zurückzuweisen.
18 
Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.
19 
Der Kläger hat sich zuletzt mit Schriftsatz vom 26.09.2012, der Beklagte unter dem 25.10.2012 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
22 
b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
23 
aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
24 
In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
25 
Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
26 
Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
27 
Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
28 
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
29 
bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
30 
Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
31 
Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
32 
cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
33 
Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
34 
Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
35 
Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
36 
Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
37 
dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
39 
2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
40 
3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Gründe

 
20 
1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
21 
a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann.
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b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen.
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aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa:
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In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
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Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten.
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Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden.
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Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind.
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Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33).
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bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011).
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Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann.
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Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert.
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cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation.
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Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert.
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Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels).
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Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet.
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Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen.
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dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten.
38 
c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt.
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2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG.
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3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist für Versicherte, Leistungsempfänger einschließlich Hinterbliebenenleistungsempfänger, behinderte Menschen oder deren Sonderrechtsnachfolger nach § 56 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch kostenfrei, soweit sie in dieser jeweiligen Eigenschaft als Kläger oder Beklagte beteiligt sind. Nimmt ein sonstiger Rechtsnachfolger das Verfahren auf, bleibt das Verfahren in dem Rechtszug kostenfrei. Den in Satz 1 und 2 genannten Personen steht gleich, wer im Falle des Obsiegens zu diesen Personen gehören würde. Leistungsempfängern nach Satz 1 stehen Antragsteller nach § 55a Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative gleich. § 93 Satz 3, § 109 Abs. 1 Satz 2, § 120 Absatz 1 Satz 2 und § 192 bleiben unberührt. Die Kostenfreiheit nach dieser Vorschrift gilt nicht in einem Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2).

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt.

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes

1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.