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| 1. Die Berufung des Klägers, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig und auch begründet. Seiner Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Anders als das SG ist der Senat der Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung des Beklagten rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. |
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| a) Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zuerkennung (Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen) des Merkzeichens „RF“ in Baden-Württemberg hat das SG zutreffend festgestellt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat hierzu auf das angegriffene Urteil (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen ist lediglich, dass der RGebStV in der vom SG zitierten Fassung nur bis zum 31.12.2012 gegolten hat und nur bis zu diesem Tag das Merkzeichen „RF“ eine volle Befreiung von den Rundfunkgebühren bedingt hat. Seit dem 01.01. dieses Jahres wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland nicht mehr durch Gebühren, sondern durch Beiträge finanziert. Dies regelt nunmehr der Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV) vom 15. bis 21.12.2010, der in Baden-Württemberg durch das Gesetz zum Fünfzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag und zur Änderung medienrechtlicher Vorschriften vom 18.10.2011 (GBl S. 477 ff.) zum 01.01.2013 in Kraft gesetzt worden ist. Nach § 4 Abs. 2 RBStV wird bei gesundheitlichen Einschränkungen keine Befreiung mehr gewährt, es werden lediglich die Rundfunkbeiträge auf ein Drittel ermäßigt. Die medizinischen Voraussetzungen wurden jedoch nicht geändert. Nach wie vor ist in § 4 Abs. 2 Nr. 3 RBStV vorausgesetzt, dass ein behinderter Mensch mit einem GdB von wenigstens 80 wegen seines Leidens ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann. |
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| b) Der Senat ist der Ansicht, dass es dem Kläger unmöglich im Sinne der genannten Vorschriften ist, auch nur zeitweise oder vorübergehend, aber mindestens für 30 min jeweils, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Er ist zwar nicht physisch in einer Weise an das Haus gebunden, wie sie das BSG in dem auch vom SG genannten Urteil vom 09.08.1995 gefordert hat. Aber es ist ihm auf Grund einer Zusammenschau der vorliegenden Beeinträchtigungen, vor allem der Auswirkungen seiner psychischen Erkrankung sowie der notwendigen Medikation, nicht zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen für den genannten Zeitrahmen zu besuchen. |
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| aa) Diese Einschätzung beruht allerdings nicht in erster Linie oder ausschließlich auf den Folgen der entzündlichen Darmerkrankung, der Colitis ulcerosa: |
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| In diesem Bereich steht im Vordergrund der Beeinträchtigungen die Unfähigkeit, Stuhl- von Luftdrang zu unterscheiden. Dies allein schließt den Kläger von öffentlichen Veranstaltungen nicht aus. Soweit er den Drang ggfs. länger als 30 min anhalten könnte, bis er eine Toilette erreicht hat, wäre er überhaupt nicht darin beeinträchtigt, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. |
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| Jedoch kommt eine - partielle - Inkontinenz hinzu. Nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen kann der Kläger den Stuhl- oder Luftdrang oftmals nicht längere Zeit anhalten. So hat insbesondere Dr. v. A. unter dem 27.02.2012 ausgesagt, der Kläger müsse „oft“ die jeweils 50-minütigen Sitzungen unterbrechen und „manchmal“ mehrmals je Stunde die Toilette aufsuchen. In diesem Sinne hat - jetzt - auch Dr. E. in dem Arztbrief vom 24.09.2012 bestätigt, dass eine partielle Inkontinenz vorliege. Dieser Arzt hat auch auf - aktuell - bis zu 35 Stuhlgänge täglich hingewiesen. Zieht man hiervon die zehn nächtlichen Stuhlgänge ab, bleiben 25 am Tag, so dass davon auszugehen ist, dass der Kläger zumindest im Augenblick nicht in der Lage ist, 30 min oder mehr ohne Toilette in erreichbarer Nähe durchzuhalten. |
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| Der Senat lässt offen, ob diese Beeinträchtigungen allein den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen würden. |
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| Das Erfordernis, auch in kürzeren Abständen als 30 min eine Toilette aufzusuchen, ist nicht unzumutbar. Toiletten sind bei vielen öffentlichen Veranstaltungen, seien es z. B. Kino- oder Musikaufführungen, seien es Volks- oder Stadtfeste, vorhanden. Soweit z. B. bei politischen Kundgebungen, die im Rahmen des Merkzeichens „RF“ im Vordergrund stehen dürften, keine besonderen (mobilen) Toiletten gestellt werden, ist es zumindest in größeren Orten möglich, auf kommunale Toilettenanlagen auszuweichen. Auch das Aufsuchen einer Toilette in einer Gaststätte, wofür ggfs. wie bei einer kommunalen Anlage eine Gebühr zu entrichten ist, kann zugemutet werden. Der Kläger ist auch nicht wegen seiner Phobien gehindert, öffentliche Toiletten zu benutzen; dies zeigt sich darin, dass er regelmäßig und ohne Probleme die Toiletten in den Praxen seiner behandelnden Ärztinnen benutzt. Und auch wenn man davon ausgeht, dass es dem Kläger in Ausnahmefällen nicht gelingen könnte, ausreichend schnell eine Toilette aufzusuchen, obwohl keine der gehörten Ärztinnen von solchen Vorfällen berichtet hat, ist es ihm zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Ebenso wie das BSG in dem genannten Urteil hält auch der Senat die Verwendung von Windelhosen für zumutbar, insbesondere liegt in dieser Obliegenheit kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG). Dies gilt auch bei dem 55-jährigen Kläger. Es handelt sich um herkömmliche, durchaus verbreitete und im Pflegebereich eingesetzte Inkontinenzartikel, die unter üblicher, ggfs. etwas weiterer Oberbekleidung nicht zu erkennen sind. |
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| Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Gerüche in die Umgebung entweichen, auch wenn solche Windelhosen verwendet werden. Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18.12.2001 (veröffentlicht u. a. auf www.sozialgerichtsbarkeit.de), das auch der Kläger zitiert hat, eine Unzumutbarkeit angenommen. Allerdings bestand bei dem dortigen Kläger auch die anscheinend konkrete Gefahr einer „Überforderung der Windelkapazität“, die hier so nicht gegeben zu sein scheint. Die weitere Entscheidung, die der Kläger zitiert hat, nämlich das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 29.03.2006 (veröffentlicht in Juris), stützt sein Begehren dagegen eindeutig nicht. Bei der dortigen Klägerin ging bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl ab, außerdem litt sie an einem Diabetes mellitus, sodass ihr auch eine Umstellung der Ernährung zur Verringerung der Stuhlfrequenz bzw. der jeweiligen Stuhlmenge nicht möglich war (a.a.O., Rn. 31, 33). |
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| bb) Zu der tatsächlichen somatischen Erkrankung und den wirklichen Belästigungen der Umgebung kommt allerdings bei dem Kläger eine krankhafte Angst, eine Phobie vor solchen Belästigungen anderer, die ihn nach den Angaben der behandelnden Ärztinnen seit mindestens 2001 vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen abgehalten hat (Aussage von Dr. B. vom 21.02.2011). |
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| Auch solche psychischen Erkrankungen, gerade auch Phobien, können den Besuch öffentlicher Veranstaltungen unmöglich machen. Dies hat - zu einer Klägerin mit amputiertem Unterarm und daraus folgender neurotisch-phobischer Störung - das LSG für das Saarland in seinem Urteil vom 27.01.2000 (L 5b SGB 68/98, Juris Rn. 64 ff.) unter Abgrenzung von den Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 16.03.1994 (9 RVs 3/93, Juris) ausgeführt, das Merkzeichen „RF“ sei nicht allein dann zuzuerkennen, wenn die Anwesenheit bei öffentlichen Veranstaltungen physisch unmöglich sei, sondern auch dann, wenn psychische Gründe den behinderten Menschen von einem solchen Besuch subjektiv zwingend abhielten. Im konkreten Falle spreche es nicht gegen eine solche Unmöglichkeit, dass die dortige Klägerin Ärzte, Rehabilitationseinrichtungen und auch das Versorgungsamt aufsuche. Diese Besuche seien für sie zwingend. Auch gehe sie davon aus, an solchen Orten nur Menschen zu begegnen, die Verständnis für die Auswirkungen der körperlichen Behinderung hätten, was aber bei öffentlichen Veranstaltungen nicht der Fall sei. Diesen Erwägungen folgt der Senat im Allgemeinen und auch bei der Würdigung des Einzelfalls. Eine Ungleichbehandlung zwischen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen ist ausgeschlossen. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen stellt an einen psychisch erkrankten behinderten Menschen andere Anforderungen als Besuche beim Arzt oder bei Bekannten. Das Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Behinderten gegenüber nicht ohne Weiteres wohl gesinnt sind bzw. die Auswirkungen einer Behinderung nicht einordnen können (zu dieser Erwägung LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.) kann besondere Belastungen auslösen, die der (körperlich) behinderte Mensch wegen einer psychischen Erkrankung nicht auf sich nehmen kann. |
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| Dies gilt auch für den Kläger. Die behandelnden Ärztinnen haben glaubhaft seine Phobie geschildert, durch Stuhl- oder Luftabgänge andere zu belästigen und dadurch negativ wahrgenommen zu werden. Außer den Arztbesuchen selbst und den gelegentlichen Gerichtsterminen in Ulm, die der Kläger allerdings als sehr belastend schildert, sind Kontakte zur Öffentlichkeit nicht dokumentiert. |
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| cc) Wie bereits ausgeführt, stützt der Senat seine Einschätzung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch maßgeblich auf die Folgen der Medikation. |
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| Der Kläger nimmt leidensgerecht seit langem Imorek ein. Dr. B. hatte in ihrer Aussage vom 21.02.2011 an das SG von 600 mg am Tag wegen eines akuten Schubs berichtet, nunmehr wird der Kläger nach den Angaben von Dr. E. unter dem 24.09.2012 mit 400 mg am Tag medikamentiert. |
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| Bei Imorek handelt es sich um ein Antisupressivum, das die Immunreaktionen des Körpers schwächt. Die Dosierungen, die dem Kläger verschrieben werden, sind hoch: Nach Nr. 3.2.b des Beipackzettels zu Imurek® 25 mg/-50 mg Filmtabletten (Hersteller: GlaxoSmithKline Consumer Healthcare GmbH & Co. KG) beläuft sich bei Darmerkrankungen die allgemein empfohlene anfängliche Höchstdosis auf 3 mg je kg Körpergewicht (zitiert nach: http://www.apotheken-umschau.de/do/extern/medfinder/medikament-arzneimittel-information-Imurek-25-Filmtabletten-A07358.html, abgerufen am 10.01.2013); dies wären bei dem zurzeit 84 kg schweren Kläger nur 250 mg am Tag. Und Imurek führt zu Blutbildungsstörungen (Mangel an weißen Blutkörperchen) mit erhöhter Infektionsanfälligkeit (Leukopenie) als Nebenwirkungen, wobei dies bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie dem Kläger häufig (weniger als 1 von 10, aber mehr als 1 von 100 Behandelten) und bei Transplantatempfängern und Patienten mit chronischen rheumatischen Gelenkentzündungen (rheumatoide Arthritis) sehr häufig geschieht (Nr. 4.1.a1, a2 des Beipackzettels). |
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| Auch leidet der Kläger konkret unter solchen Nebenwirkungen. Dr. B. hat in ihrer Aussage vom 21.02.2011 auch von „ständigen grippalen Infekten mit schweren Fieberschüben sowie Pilzerkrankungen“ berichtet und diese ausdrücklich als Nebenwirkungen der Behandlung mit Azathioprin, den arzneilich wirksamen Bestandteil von Imorek, zurückgeführt. Konkret hat sie von einem etwa vierzehntätigen schweren Infekt im Januar 2011 mit Fieberschüben bis zu 41°C über drei Tage hinweg berichtet. |
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| Öffentliche Veranstaltungen werden per definitionem von vielen Menschen besucht, sodass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Diese allein kann zwar nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ bedingen. Wenn jedoch die Immunreaktion eines behinderten Menschen erheblich beeinträchtigt ist, kann es ihm unzumutbar sein, solche Veranstaltungen zu besuchen. |
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| dd) Aus einer umfassenden Betrachtung dieser Behinderungsfolgen, insbesondere der phobischen Störung und der Schwächung des Immunsystems, können bei dem Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „RF“ festgestellt werden. Entsprechend war der Beklagte zu verpflichten. |
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| c) Dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ steht auch nicht die Bestandskraft des insoweit ablehnenden Bescheids vom 08.06.2010 entgegen. Zwar war das Merkzeichen Gegenstand des damaligen Antrags- und sodann auch des Klageverfahrens S 14 SB 2936/10. Dort hatten sich die Beteiligten nach dem 30.03.2011 vergleichsweise u. a. dahin geeinigt, dass das Merkzeichen „RF“ nicht zustehe. Den Vergleich hat das LRA sodann unter dem 07.06.2011 ausgeführt. Der Vergleich konnte jedoch nur die Vergangenheit, also die Zeit bis zum Vergleichsschluss und längstens bis zum Erlass des Ausführungsbescheids erfassen. Für die Zeit danach war keine Regelung getroffen. Insofern hat der Kläger zu Recht sein Begehren auf die Zeit ab der diesmaligen Antragstellung am 25.07.2011 beschränkt. |
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| 2. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers beruht auf § 193 SGG. |
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| 3. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich. |
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