Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Urteil, 09. Dez. 2014 - L 2 SB 15/13

ECLI:ECLI:DE:LSGSH:2014:1209.L2SB15.13.0A
bei uns veröffentlicht am09.12.2014

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 11. März 2013 und der Bescheid des beklagten Landes vom 5. September 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2011 abgeändert und das beklagte Land verurteilt, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ ab 8. August 2011 festzustellen.

2. Das beklagte Land trägt die Hälfte der Kosten des Klägers für beide Instanzen.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten – noch – darüber, ob beim Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ vorliegen.

2

Der am … 1981 geborene Kläger leidet an einem erblich bedingten Christ-Siemens-Touraine-Syndrom. Das beklagte Land stellte zuletzt mit Bescheid vom 3. November 1993 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 unter Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigung „Hitzeunverträglichkeit bei hypohidrotischer ektodermaler Dysplasie“ fest. Den Neufeststellungsantrag des Klägers vom 13. Juni 2007 lehnte das beklagte Land mit bestandskräftigem Bescheid vom 31. Juli 2007 ab.

3

Am 8. August 2011 beantragte der Kläger eine Neufeststellung und begehrte einen höheren GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens „G“. Das beklagte Land zog u. a. den Bericht des W…klinikums H… vom 27. Juli 2011 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 27. Juli 2011 bis 1. August 2011 wegen eines Rezidivs eines spontanen Pneumothorax rechts mit Totalkollaps der rechten Lunge und Mediastinalverlagerung nach links zur notfallmäßigen Anlage einer Thorax-drainage bei.

4

Mit Bescheid vom 5. September 2011 lehnte das beklagte Land den Neufeststellungsantrag des Kläger mit der Begründung ab, auch unter Berücksichtigung der festgestellten weiteren Funktionsbeeinträchtigung „Beschwerden nach wiederholtem Pneumothorax“ verbleibe es bei einem GdB von 80, weil insoweit keine wesentlichen zusätzlichen Auswirkungen auf den Gesundheitszustand bestünden. Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens „G“ seien nicht erfüllt, da der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt sei. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 30. September 2011 Widerspruch ein und machte geltend, der Pneumothorax stelle sehr wohl eine zusätzliche Beeinträchtigung dar. Aufgrund der Hitzeunverträglichkeit sei er kompromisslos auf einen klimatisierten Pkw angewiesen, da er ab einer bestimmten Wetterlage nicht in der Lage sei, eine Strecke zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Ihm stehe daher sowohl das Merkzeichen „G“ als auch das Merkzeichen „aG“ zu.

5

Das beklagte Land holte u. a. den Befundbericht des Ärztezentrums P… vom 24. November 2011 sowie die gutachterliche Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. Ha… vom 14. Dezember 2011 ein und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2011 als unbegründet zurück. Ein höherer GdB als 80 lasse sich medizinisch nicht begründen und auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ seien nicht erfüllt. Über den erstmals mit dem Widerspruch gestellten Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ werde ein gesonderter Bescheid erlassen.

6

Am 16. Januar 2012 hat der Kläger beim Sozialgericht Itzehoe Klage erhoben und sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren wiederholt und vertieft. Er leide unter Atembeschwerden, die entgegen der Auffassung des Beklagten zu einer Verstärkung der durch die Hitzeunverträglichkeit bestehenden Einschränkungen führten. Auch sei das Merkzeichen „G“ zuzuerkennen. Zwar liege kein typischer Fall im Sinne der Ziffer D1 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vor. Die bei ihm vorliegenden Beeinträchtigungen seien aber mit den dort aufgeführten Störungen der Bewegungsfähigkeit gleichzusetzen, da es ihm insbesondere bei wärmeren Temperaturen nicht möglich sei, überhaupt Wegstrecken zurückzulegen.

7

Der Kläger hat beantragt,

8

unter Aufhebung des Bescheides des beklagen Landes vom 5. September 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2011 festzustellen, dass bei ihm ein GdB von 90 vorliegt und das Merkzeichen „G“ zuzuerkennen ist.

9

Das beklagte Land hat beantragt,

10

die Klage abzuweisen.

11

Zur Begründung hat es sich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden bezogen.

12

Das Sozialgericht hat den Befundbericht des praktischen Arztes Dr. S… vom 7. Mai 2012 mit weiteren Anlagen sowie das Gutachten des Arztes für Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie und Innere Medizin Dr. L… vom 4. September 2012 und dessen ergänzende Stellungnahme vom 5. November 2012 eingeholt.

13

Mit Gerichtsbescheid vom 11. März 2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf einen höheren GdB als 80 sowie die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“. In den gesundheitlichen Verhältnissen sei gegenüber dem maßgeblichen Bescheid vom 3. November 1993 keine wesentliche Änderung eingetreten. Der nunmehr eingetretene Zustand nach wiederholtem Pneumothorax habe zu einer allenfalls leichten Einschränkung der Lungenfunktion infolge narbiger Veränderungen geführt. Der Einzel-GdB für diese Funktionseinschränkung sei mit 10 zu bewerten. Eine wesentliche Verschlimmerung hinsichtlich des Christ-Siemens-Touraine-Syndroms im Sinne einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie sei ebenfalls nicht eingetreten. Der Kläger leide bereits seit seiner Geburt unter dieser Erkrankung, die mit einer Hitzeunverträglichkeit einhergehe. Eine Veränderung im Ausmaß der Beschwerden sei seit 1993 nicht ersichtlich. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht vor, da die Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr nicht in erheblichem Maße beeinträchtigt sei. Dem stehe nicht entgegen, dass er bei bestimmten Wetterlagen nicht in der Lage sei, eine gewisse Wegstrecke zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Unter Berücksichtigung der anlässlich der Untersuchung bei dem Sachverständigen Dr. L… gezeigten Leistungsfähigkeit mit einer körperlichen Belastbarkeit bis 140 Watt ohne leistungsbegrenzende Parameter einschließlich fieberhafter Temperaturen dürfte es sich hierbei um Ausnahmefälle handeln, so dass nicht generell davon auszugehen sei, dass eine Einschränkung der Gehfähigkeit im Allgemeinen bestehe.

14

Gegen diesen am 18. März 2013 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 4. April 2013 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen und macht insbesondere geltend, das Sozialgericht habe die bei ihm bestehende Hitzeunverträglichkeit nicht ausreichend gewürdigt. Es komme bei ihm immer wieder zu Beeinträchtigungen des Kreislaufs, die schon bei mittelgradiger Belastung im alltäglichen Leben aufträten. Angesichts der bestehenden Hitzeunverträglichkeit und des Fehlens jeglicher Schweißdrüsen seien derartige Beeinträchtigungen unbedingt zu vermeiden, um weitere schwere Folgeerkrankungen zu verhindern. Die außerdem hinzutretenden Beschwerden durch die wiederholten Pneumothoraces seien aufgrund der narbigen Veränderungen der Lunge mit einem Einzel-GdB von 10 ebenfalls zu niedrig bewertet. Das Merkzeichen G sei zuzuerkennen, da er in seiner Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt sei. Er bezieht sich auf Berichte des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein vom 9. November 2011 und des Westenklinikums vom 12. Dezember 2013.

15

Nachdem der Kläger in der Berufungsverhandlung seine Klage auf Zuerkennung eines höheren GdB zurückgenommen hat, beantragt er,

16

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 11. März 2013
und den Bescheid des Beklagten vom 5. September 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2012 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ festzustellen.

17

Das beklagte Land beantragt,

18

die Berufung zurückzuweisen.

19

Es hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

20

Der Senat hat Beweis erhoben und das schriftliche Gutachten des Kinderarztes, Hautarztes, Allergologen Prof. Dr. Hb… eingeholt.

21

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten. Der wesentliche Inhalt dieser Unterlagen ist Gegenstand der Berufungsverhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

22

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. In dem Rechtsstreit geht es, nachdem der Kläger seine weitergehende Klage zurückgenommen hat, noch um Zuerkennung des Merkzeichens „G“. Da das Sozialgericht die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen hat, waren der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts und die angefochtenen Bescheide des beklagten Landes zu ändern und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ war festzustellen.

23

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX). Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, deren Feststellung Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilausgleichen für schwerbehinderte Menschen etwa die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr im Sinne des 13. Kapitels des SGB IX (§§ 145 ff. SGB IX), ist. Nach § 3 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung ist auf dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „G“ einzutragen, wenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne der §§ 145 Abs. 1, 146 Abs. 1 SGB IX ist. Diese Voraussetzungen liegen dann vor, wenn der schwerbehinderte Mensch infolge der Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Hierbei handelt es sich um Wegstrecken von 2 km Länge bei einer Fußwegdauer von etwa einer halben Stunde (BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 -, BSGE 62, 273).

24

§ 146 Abs. 1 SGB IX wird durch die gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX auch für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht geltende Anlage Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungs-Medizinverordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2412) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I 2153) konkretisiert, die wie zuvor bereits die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (herausgegeben vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung bzw. Bundesministerium für Arbeit und Soziales) nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urt. vom 24. April 2008 - B 9/9a SB 10/06 R - Juris; BSG, Beschluss  vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B -) als so genannte antizipierte Sachverständigengutachten im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in ihrer jeweils aktuellen Fassung ( BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VJ 1/10 R -) zu beachten sind.

25

In Teil D, Nr. 1 d der VG sind Regelfälle normiert, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind. Die dort angegebenen Regelbeispiele liegen unstreitig nicht vor, denn bei dem Kläger bestehen weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Auch sind keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von unter 50 vorhanden, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken. Auch Beeinträchtigungen durch innere Leiden (Herzschäden, Lungenfunktionseinschränkungen) oder hirnorganische Anfälle liegen nicht vor.

26

Die Nichterfüllung eines in Teil D, Nr. 1 d bestimmten Regelfalles schließt jedoch die Feststellung des Merkzeichens „G“ nicht aus. Die rechtliche Prüfung eines Anspruchs auf das Merkzeichen „G“ ist nicht darauf zu beschränken, ob der Kläger zu einer der in der VG bzw. in den AHP (vgl. VG D 1; AHP 2004/2005/2008 Punkt 30) genannten Personengruppe gehört. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine abschließende Aufzählung des anspruchsberechtigten Personenkreises, sondern lediglich um Regelbeispiele, die für andere Behinderte als Vergleichsmaßstab dienen (BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Dezember 2008 – L 11 SB 193/08 –, Juris). Bei den beschriebenen Regelfällen handelt es sich um Beispiele, in denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich „G“ als erfüllt anzusehen sind. Aus ihnen ergibt sich, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden kann, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wird durch die Konkretisierung dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filtern die AHP bzw. die VG all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (BSG, Urteil vom 24. April 2008, a.a.O.).

27

Nach diesen Maßstäben sind die beim Kläger vorliegenden Störungen mit denen der in den VG genannten Personengruppen vergleichbar. Der Kläger leidet an einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie (Typ Christ-Siemens-Touraine). Diese Erkrankung ist durch eine Fehl- bzw. Minderanlage von Anhangorganen der Haut und des Ektoderms gekennzeichnet, namentlich einer Verminderung bzw. dem Fehlen von Schweiß- und Talgdrüsen, Haaren und Zähnen. Daraus resultieren eine Neigung zur Trockenheit der Haut und der Schleimhäute und insbesondere eine mangelhafte Temperaturkontrolle. Durch das Fehlen der Schweißdrüsen entfällt die Kühlungsfunktion durch Verdunstung des Schweißes. Nach den überzeugenden und schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. Hb… und Dr. L… führt dies beim Kläger bei warmen Außentemperaturen zu einer extremen Hitzeunverträglichkeit. Die beim Kläger bei Hitze auftretenden Funktionsbeeinträchtigungen sind mit Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 (vgl. VersMedV D 1, Nr.  d; AHP 2004/2005/2008 Punkt 30 Abs.  3) vergleichbar. Von Gruppe 3 erfasst sind Leistungseinschränkungen bereits bei alltäglich leichter Belastung, z. B. spazieren gehen [3 bis 4 km/h], Treppen steigen bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche Arbeit), Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 50 Watt (wenigsten 2 Minuten)“. Bei Wärme kommt es beim Kläger bereits in Ruhe zur raschen Aufwärmung des Körpers, einhergehend mit verminderter Belastbarkeit, beschleunigter Atmung und Schwindelgefühlen. Bei Bewegung insbesondere unter Sonneneinwirkung verstärken sich die Symptome erheblich, leichte körperliche Arbeit kann der Kläger nicht mehr verrichten. Die Gehstrecke ist auf weniger als einen Kilometer eingeschränkt. Der Senat verkennt nicht, dass beim Kläger die oben beschriebenen Symptome nur im Zusammenhang mit warmen Witterungsverhältnissen auftreten. Dafür, dass die als Regelfall aufgeführten Herzschäden zu einer dauernden Einschränkung führen müssen, findet sich in den VG jedoch kein Anhalt. In Teil D, Nr. d wird allein bei Atembehinderungen eine dauernde Einschränkung der Lungenfunktion verlangt, wobei es hingegen bei den übrigen inneren Leiden auf eine erhebliche Beeinträchtigung ankommt. Die Auslegung des Begriffes „erheblich“ ist an der Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes, das die Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft fördern soll, zu orientieren. Wer sich - wie der Kläger - an warmen Tagen, deren Auftreten nicht vorhersehbar ist, nur unter großen Schwierigkeiten bewegen und nur geringe Strecken zurücklegen  kann, ist gegenüber Gesunden in seiner beruflichen und privaten Mobilität erheblich eingeschränkt. Da die Behinderungen witterungsbedingt auftreten, ist es dem Kläger auch nicht möglich, seine Lebensführung so einrichten, dass er notwendige Ortsveränderungen nur in kühlen Zeiten vornimmt. Bei warmen Temperaturen muss der Kläger - ebenso wie ein Herzkranker - damit rechnen, dass er notwendige Wege nicht oder nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen kann (vgl. Hessisches LSG, Urteil vom 17. Februar 1998 – L 4 SB 1351/95 –, Juris). Prof. Hb… hat zwar ausgeführt, dass der Kläger die bei einer hypohidrotischen ektodermalen Dysplasie bestehenden Therapiemöglichkeiten nicht ausgeschöpft hat. Die von ihm aufgezeigten Vermeidungsstrategien wie z. B. eine genaue Vorausplanung des Tagesablaufs hinsichtlich zu erwartender Hitzeexposition, die Vermeidung direkter Sonneneinwirkung, eine Lokalisierung möglicher Schatten-Räume, das Parken in beschatteten Bereichen, das Vorhalten ausreichender Flüssigkeitsmengen, die Benutzung ausschließlich klimatisierter Fahrzeuge sowie Maßnahme zur Kühlung des Körpers, verbessern die Mobilität des Klägers im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers jedoch nicht. Ziel des § 145 SGB IX ist es, die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am öffentlichen Personenverkehr zu fördern. Mobilität ist eine der Grundbedingungen menschlichen Daseins in der neuzeitlichen Gesellschaft. Mit dem Merkzeichen „G“ werden Nachteile des behinderten Menschen im Hinblick auf die "nahezu unbegrenzten Möglichkeiten" und nicht nur die Grundbedürfnisse eines nicht behinderten Menschen ausgeglichen. Es werden nicht nur Mobilitätsdefizite im Nahbereich der Wohnung, sondern darüber hinaus auch solche in Bezug auf Arbeitswege und Freizeitwege jeglicher Art ausgeglichen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Mai 2011 – B 3 KR 7/10 R –, m.w.N., Juris). Die vom Sachverständigen angeführten Maßnahmen sind nicht geeignet, die Mobilität des Klägers im obigen Sinne in ausreichendem Maße zu gewährleisten bzw. zu fördern, sondern sind im Wesentlichen darauf gerichtet, Einwirkungen von Wärme bzw. Hitze zu vermeiden. Damit wäre dem Kläger jedoch die Möglichkeit  der jederzeitigen Teilnahme  am gesellschaftlichen und beruflichen Leben verwehrt.

28

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

29

Die Revision hat der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.


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(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen: 1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist, 2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos

Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB 9 2018 | § 146 Periodizität und Berichtszeitraum


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(1) Im Ausweis sind auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:

1.aGwenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 229 Absatz 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

2.Hwenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist,

3.BIwenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,

4.GIwenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 228 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist,

5.RFwenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt,

6.1. Kl.wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt,
7.Gwenn der schwerbehinderte Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt im Sinne des § 229 Absatz 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist,
8.TBIwenn der schwerbehinderte Mensch wegen einer Störung der Hörfunktion mindestens einen Grad der Behinderung von 70 und wegen einer Störung des Sehvermögens einen Grad der Behinderung von 100 hat.

(2) Ist der schwerbehinderte Mensch zur Mitnahme einer Begleitperson im Sinne des § 229 Absatz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berechtigt, sind auf der Vorderseite des Ausweises das Merkzeichen „B“ und der Satz „Die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson ist nachgewiesen“ einzutragen.

(1) Hilfsmerkmale sind

1.
Name und Anschrift des Auskunftspflichtigen,
2.
Name, Telefonnummer und E-Mail-Adresse der für eventuelle Rückfragen zur Verfügung stehenden Person,
3.
für die Erhebung nach § 143 Nummer 1 die Kennnummer des Leistungsberechtigten.

(2) Die Kennnummern nach Absatz 1 Nummer 3 dienen der Prüfung der Richtigkeit der Statistik und der Fortschreibung der jeweils letzten Bestandserhebung. Sie enthalten keine Angaben über persönliche und sachliche Verhältnisse des Leistungsberechtigten und sind zum frühestmöglichen Zeitpunkt, spätestens nach Abschluss der wiederkehrenden Bestandserhebung, zu löschen.

Die Erhebungen erfolgen jährlich für das abgelaufene Kalenderjahr.

Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.

(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.

(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch

a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung,
b)
eine Kriegsgefangenschaft,
c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit,
d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist,
e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen,
f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.

(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.

(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.

(1) Solange Beschädigte infolge der Schädigung hilflos sind, wird eine Pflegezulage von 376 Euro (Stufe I) monatlich gezahlt. Hilflos im Sinne des Satzes 1 sind Beschädigte, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedürfen. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muß, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Ist die Gesundheitsstörung so schwer, daß sie dauerndes Krankenlager oder dauernd außergewöhnliche Pflege erfordert, so ist die Pflegezulage je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf 642, 916, 1 174, 1 524 oder 1 876 Euro (Stufen II, III, IV, V und VI) zu erhöhen. Für die Ermittlung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage sind die in der Verordnung zu § 30 Abs. 17 aufgestellten Grundsätze maßgebend. Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III. Hirnbeschädigte mit einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 erhalten eine Pflegezulage mindestens nach Stufe I.

(2) Wird fremde Hilfe im Sinne des Absatzes 1 von Dritten aufgrund eines Arbeitsvertrages geleistet und übersteigen die dafür aufzuwendenden angemessenen Kosten den Betrag der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wird die Pflegezulage um den übersteigenden Betrag erhöht. Leben Beschädigte mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft, ist die Pflegezulage so zu erhöhen, dass sie nur ein Viertel der von ihnen aufzuwendenden angemessenen Kosten aus der pauschalen Pflegezulage zu zahlen haben und ihnen mindestens die Hälfte der pauschalen Pflegezulage verbleibt. In Ausnahmefällen kann der verbleibende Anteil bis zum vollen Betrag der pauschalen Pflegezulage erhöht werden, wenn Ehegatten, Lebenspartner oder ein Elternteil von Pflegezulageempfängern mindestens der Stufe V neben den Dritten in außergewöhnlichem Umfang zusätzliche Hilfe leisten. Entstehen vorübergehend Kosten für fremde Hilfe, insbesondere infolge Krankheit der Pflegeperson, ist die Pflegezulage für jeweils höchstens sechs Wochen über Satz 2 hinaus so zu erhöhen, dass den Beschädigten die pauschale Pflegezulage in derselben Höhe wie vor der vorübergehenden Entstehung der Kosten verbleibt. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder Elternteil nicht nur vorübergehend keine Pflegeleistungen erbringt; § 40a Abs. 3 Satz 3 gilt.

(3) Während einer stationären Behandlung wird die Pflegezulage nach den Absätzen 1 und 2 Empfängern von Pflegezulage nach den Stufen I und II bis zum Ende des ersten, den übrigen Empfängern von Pflegezulage bis zum Ablauf des zwölften auf die Aufnahme folgenden Kalendermonats weitergezahlt.

(4) Über den in Absatz 3 bestimmten Zeitpunkt hinaus wird die Pflegezulage während einer stationären Behandlung bis zum Ende des Kalendermonats vor der Entlassung nur weitergezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte erhalten ein Viertel der pauschalen Pflegezulage nach Absatz 1, wenn der Ehegatte, Lebenspartner oder der Elternteil bis zum Beginn der stationären Behandlung zumindest einen Teil der Pflege wahrgenommen hat. Daneben wird die Pflegezulage in Höhe der Kosten weitergezahlt, die aufgrund eines Pflegevertrages entstehen, es sei denn, die Kosten hätten durch ein den Beschädigten bei Abwägung aller Umstände zuzumutendes Verhalten, insbesondere durch Kündigung des Pflegevertrages, vermieden werden können. Empfänger einer Pflegezulage mindestens nach Stufe III erhalten, soweit eine stärkere Beteiligung der schon bis zum Beginn der stationären Behandlung unentgeltlich tätigen Pflegeperson medizinisch erforderlich ist, abweichend von Satz 2 ausnahmsweise Pflegezulage bis zur vollen Höhe nach Absatz 1, in Fällen des Satzes 3 jedoch nicht über den nach Absatz 2 Satz 2 aus der pauschalen Pflegezulage verbleibenden Betrag hinaus.

(5) Tritt Hilflosigkeit im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 gleichzeitig mit der Notwendigkeit stationärer Behandlung oder während einer stationären Behandlung ein, besteht für die Zeit vor dem Kalendermonat der Entlassung kein Anspruch auf Pflegezulage. Für diese Zeit wird eine Pflegebeihilfe gezahlt, soweit dies in den folgenden Sätzen bestimmt ist. Beschädigte, die mit ihren Ehegatten, Lebenspartnern oder einem Elternteil in häuslicher Gemeinschaft leben, erhalten eine Pflegebeihilfe in Höhe eines Viertels der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I. Soweit eine stärkere Beteiligung der Ehegatten, Lebenspartner oder eines Elternteils oder die Beteiligung einer Person, die den Beschädigten nahesteht, an der Pflege medizinisch erforderlich ist, kann in begründeten Ausnahmefällen eine Pflegebeihilfe bis zur Höhe der pauschalen Pflegezulage nach Stufe I gezahlt werden.

(6) Für Beschädigte, die infolge der Schädigung dauernder Pflege im Sinne des Absatzes 1 bedürfen, werden, wenn geeignete Pflege sonst nicht sichergestellt werden kann, die Kosten der nicht nur vorübergehenden Heimpflege, soweit sie Unterkunft, Verpflegung und Betreuung einschließlich notwendiger Pflege umfassen, unter Anrechnung auf die Versorgungsbezüge übernommen. Jedoch ist den Beschädigten von ihren Versorgungsbezügen zur Bestreitung der sonstigen Bedürfnisse ein Betrag in Höhe der Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 100 und den Angehörigen ein Betrag mindestens in Höhe der Hinterbliebenenbezüge zu belassen, die ihnen zustehen würden, wenn Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben wären. Bei der Berechnung der Bezüge der Angehörigen ist auch das Einkommen der Beschädigten zu berücksichtigen, soweit es nicht ausnahmsweise für andere Zwecke, insbesondere die Erfüllung anderer Unterhaltspflichten, einzusetzen ist.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Mai 2010 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

Durch Urteil vom 21.5.2010 hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers von 50 auf 30 wegen Ablaufs einer Heilungsbewährung bestätigt. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

2

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil er den behaupteten Zulassungsgrund nicht so dargelegt hat, wie es § 160a Abs 2 Satz 3 SGG verlangt.

3

Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

4

Der Kläger hält die Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung in ihrem Wortlaut und ihrer Rechtsanwendungspraxis bei karzinogenen Erkrankungen im Einklang mit dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nach wie vor eine Herabstufung unter einen Gesamt-GdB von 50 vorsehen darf. Bei dieser Frage handelt es sich nicht zweifelsfrei um eine reine Rechtsfrage, also eine Frage, die allein unter Anwendung juristischer Methodik beantwortet werden kann.

5

Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10), wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten (s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Für die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung gilt das Gleiche.

6

Die Feststellung des GdB ist dabei in einen rechtlichen Rahmen eingebettet, den das Tatsachengericht zwingend zu beachten hat. Rechtlicher Ausgangspunkt ist stets § 69 Abs 1, 3 und 4 SGB IX(s zuletzt BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). AHP und VG setzen die gesetzlichen Vorgaben um, wobei insbesondere auch medizinische Sachkunde zum Tragen kommt. Es kann hier offenbleiben, inwieweit in diesem Rahmen grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG auftreten können. Jedenfalls hat der Kläger die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargetan.

7

Es wird schon nicht deutlich, auf welche Bestimmung der VG sich die Frage des Klägers bezieht. Sollte er insoweit auf Teil B Nr 1 Buchst c VG Bezug nehmen, so hätte er darlegen müssen, inwieweit sich daraus ergebe, dass eine Herabsetzung des GdB auf unter 50 zwingend vorgesehen sei. Besonderer Ausführungen hätte es schon deshalb bedurft, weil die betreffende Vorschrift an sich nur die pauschal bemessene Höhe des GdB während der Heilungsbewährung regelt. Für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen (vgl dazu Teil A Nr 2 VG). Dabei sind selbstverständlich auch seelische Begleiterscheinungen und erst recht psychische Störungen, auf die der Kläger hinweist, zu berücksichtigen (vgl Teil A Nr 2 Buchst i VG). Insoweit ist nicht klar, inwiefern die VG nach Ansicht des Klägers in diesem Zusammenhang rechtliche Zweifelsfragen aufwerfen.

8

Letztlich zielt die Frage des Klägers offenbar auf eine (möglichst unbeschränkte) Verlängerung der Heilungsbewährungszeit und der damit verbundenen pauschalen GdB-Bemessung. Sicher würde die Regelung in Teil B Nr 1 Buchst c VG gegen § 69 SGB IX verstoßen, wenn sie nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspräche(vgl § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX iVm § 30 Abs 17 BVG; dazu auch § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Da es zu den Aufgaben des beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin gehört, die Fortentwicklung der VG entsprechend dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft vorzubereiten, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen der VG diesem Qualitätsmaßstab entsprechen. Insoweit hätte es näherer Darlegungen des Klägers dazu bedurft, inwiefern aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse eine längere Heilungsbewährungszeit geboten sein könnte. Der Kläger beschränkt sich hingegen auf allgemeine Behauptungen, ohne auf wissenschaftliche Quellen Bezug zu nehmen. Das reicht nicht aus.

9

Soweit der Kläger schließlich die in seinem Fall erfolgte GdB-Bemessung angreift, rügt er im wesentlichen die berufungsgerichtliche Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung, ohne die Beschränkungen zu berücksichtigen, die sich bei behaupteten Verletzungen von § 103 und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG für die Revisionszulassung aus § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ergeben.

10

Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).

11

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger an einem entschädigungspflichtigen Impfschaden leidet.

2

Der Kläger wurde in der 33. Schwangerschaftswoche am 24.10.1985 geboren. Vor und unter der Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel und einer Säureüberladung (perinatale Asphyxie). Am 17.4.1986 erhielt der Kläger die im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfung gegen Diphtherie und Tetanus (Kombination) sowie gegen Poliomyelitis (oral). Zwei Wochen nach dieser Impfung sackte der Kläger im Arm seiner Mutter schlaff zusammen; sein Gesicht war blass, die Augen halb geschlossen; nach einigen Minuten setzte eine Erholung ein; Fieber und Krämpfe traten nicht auf. Nach Angaben seiner Mutter hat sich das Kind nicht mehr vollständig erholt. Ende 1986 wurde beim Kläger eine spastische Tetraplegie mit statomotorischer Entwicklungsverzögerung diagnostiziert. Die beiden weiteren Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis erhielt der Kläger am 12. und 30.4.1987.

3

Der Kläger ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung (GdB) von nunmehr 100 anerkannt.

4

Im März 2001 stellte der Kläger bei dem beklagten Land einen Antrag auf Leistungen wegen eines Impfschadens. Daraufhin holte dieses ein nervenärztliches Gutachten von Dr. D. ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5.9.2002 ab. Auf der Grundlage einer nervenärztlichen Stellungnahme von Dr. M. wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.8.2003 zurück, weil ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der infantilen spastischen Cerebralparese zwar möglich aber nicht wahrscheinlich sei. Überwiegend wahrscheinlich sei, dass für die Erkrankung andere Faktoren, wie die Frühgeburt und Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, ausschlaggebend gewesen seien.

5

Der Kläger hat daraufhin beim Sozialgericht Berlin (SG) Klage erhoben. Dieses hat verschiedene ärztliche Unterlagen sowie von Amts wegen ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. K. vom 2.1.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 14.6.2005 eingeholt. Dieser ist - vorbehaltlich der Richtigkeit der Schilderung der Mutter des Klägers betreffend das Ereignis zwei Wochen nach der Impfung - zu dem Ergebnis gelangt, dass die perinatale Asphyxie (lediglich) zu einem leichten bis mäßigen Hirnschaden geführt habe. Die ab Mai 1986 ersichtlichen schweren neurologischen Störungen (Cerebralparese) seien überwiegend als Impfschadensfolge einzuordnen.

6

Der Beklagte hat demgegenüber ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Prof. Dr. S. Facharzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin - vom 21.2.2005 mit ergänzender Stellungnahme vom 27.2.2006 vorgelegt. Dieser hat die Auffassung vertreten, dass das Krankheitsbild des Klägers plausibel auf die perinatale Sauerstoffmangelsituation zurückzuführen sei und eine ursächliche oder mitursächliche Rolle der Dreifachimpfung höchst unwahrscheinlich sei. Im Anschluss daran hat das SG die Mutter des Klägers als Zeugin über den Zwischenfall zwei Wochen nach dem 17.4.1986 vernommen und danach ein weiteres Gutachten von Amts wegen eingeholt und zwar von Prof. Dr. D. Unter dem 27.11.2006 ist dieser Sachverständige ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die vorliegende Cerebralparese mit bestimmten Störungen bzw Behinderungen überwiegend wahrscheinlich durch die perinatale Asphyxie verursacht worden sei, jedoch keine Wahrscheinlichkeit für eine zusätzliche Impfschädigung bestehe.

7

Durch Urteil vom 10.5.2007 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung verpflichtet, dem Kläger wegen der Impfung vom 17.4.1986 unter Anerkennung der Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung und leichter Sprachbehinderung als Impfschadensfolge ab April 2001 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 65 vH zu gewähren. Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei am 13. oder 14. Tag nach der Impfung auf dem Arm der Mutter plötzlich schlaff geworden und mit halb geschlossenen Augen im Gesicht bleich gewesen, er habe sich danach zwar erholt, aber nicht mehr wie zuvor bewegt. Zur Frage der Verursachung sei der Auffassung von Prof. Dr. K. zu folgen. Die anders lautenden Beurteilungen der übrigen Sachverständigen seien nicht überzeugend. Die MdE von 65 vH ergebe sich daraus, dass der mit 100 vH zu bewertende dauerhafte Gesundheitsschaden des Klägers nach der Beurteilung von Prof. Dr. K. zu zwei Dritteln durch die Impfung am 17.4.1986 verursacht worden sei.

8

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Kläger hilfsweise beantragt, durch Anfrage bei der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Tatsache zu erweisen, dass die heute verwendeten Impfstoffe gegen Polio, Diphtherie und Tetanus nicht identisch sind mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen, sowie zum Beweis der Tatsache, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können, ein medizinisches Sachverständigengutachten eines erfahrenen klinisch tätigen Arztes einzuholen, der über Erfahrungen auch zu Impfungen in den achtziger Jahren verfügt.

9

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11.3.2010). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Anspruchsvoraussetzungen nach den im Wesentlichen inhaltsgleichen Vorschriften des bis zum 31.12.2000 geltenden § 51 Abs 1 Satz 1 Bundesseuchengesetz (BSeuchG) und des am 1.1.2001 in Kraft getretenen § 60 Abs 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) seien nicht erfüllt. Danach sei der Nachweis einer schädigenden Einwirkung (der Impfung), einer gesundheitlichen Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion und der Schädigungsfolgen (Dauerleiden) erforderlich. Für die jeweiligen Kausalzusammenhänge reiche eine Wahrscheinlichkeit aus.

10

Der dauerhafte Gesundheitsschaden in Form einer Cerebralparese sei hier nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzuführen, weil sich ein Impfschaden als Primärschädigung nicht habe nachweisen lassen. Welche Impfreaktionen als Impfschäden anzusehen seien, lasse sich den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung entnehmen. Bezogen auf den Anspruchszeitraum ab Antragstellung im April 2001 sei grundsätzlich die Nr 57 AHP in den Fassungen von 1996, 2004 und 2005 heranzuziehen, die für die einzelnen Schutzimpfungen die üblichen Impfreaktionen von den Impfschäden abgrenze. Eine Änderung sei mit den AHP 2008 eingetreten, in welchen von einer Aufführung der spezifischen Impfschäden Abstand genommen worden sei. Vielmehr habe Nr 57 Satz 1 AHP 2008 auf die im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Arbeitsergebnisse der bei dem Robert-Koch-Institut eingerichteten STIKO verwiesen, die Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Ausmaß hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden) entwickelten. Nach Nr 57 Satz 2 AHP 2008 stellten diese Ergebnisse den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Hieran habe sich auch mit Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) zum 1.1.2009 nichts geändert, denn die Nr 53 bis 143 AHP 2008 behielten auch nach Inkrafttreten der VersmedV weiterhin Gültigkeit als antizipiertes Sachverständigengutachten (BR-Drucks 767/07, S 4 zu § 2 VersMedV).

11

Die aktuellen Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 (EB Nr 25/2007, 209 ff), die zwar in erster Linie Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen von Schutzimpfungen enthielten, seien gleichwohl zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem Impfschaden heranzuziehen. Bei den einzelnen Impfstoffen würden jeweils in dem mit "Komplikationen" bezeichneten Abschnitt in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung beobachtete Krankheiten bzw Krankheitserscheinungen dargestellt, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang als gesichert oder überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei.

12

Im Streit stehe der ursächliche Zusammenhang zwischen der Impfung und der Erkrankung des Klägers im Sinne einer Verschlimmerung, nicht im Sinne der Entstehung. Nach Nr 42 Abs 1 Satz 3 AHP 2008 bzw nach Teil C Nr 7 Buchst a Satz 3 Anlage zur VersMedV komme, sofern zur Zeit der Einwirkung des schädigenden Vorgangs bereits ein einer Gesundheitsstörung zugehöriges pathologisches physisches oder psychisches Geschehen, wenn auch unbemerkt, vorhanden gewesen sei, eine Anerkennung im Sinne der Verschlimmerung in Frage, falls die äußere Einwirkung den Zeitpunkt vorverlegt habe, an dem das Leiden sonst in Erscheinung getreten wäre, oder das Leiden schädigungsbedingt in schwererer Form aufgetreten sei, als es sonst zu erwarten gewesen wäre.

13

Bei dem Kläger liege nach Einschätzung aller Gutachter ein durch die Geburtsasphyxie hervorgerufener Hirnschaden vor. Einigkeit bestehe auch darüber, dass derartige frühkindliche Schäden sich oft verspätet in Gestalt einer Spastik manifestierten. Kern des Rechtsstreits sei die Frage, ob ein bestimmter Anteil der bei dem Kläger vorliegenden Cerebralparese auf die Impfung zurückzuführen sei. Ein derartiger Zusammenhang sei indessen nicht hinreichend wahrscheinlich, weil es am Nachweis eines Impfschadens (atypische Impfreaktion als Primärschädigung) fehle.

14

In den Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 seien für die Verwendung des Diphtherie-Impfstoffs sowie für die Verwendung des Kombinationsimpfstoffs gegen Diphtherie und Tetanus spezifische Komplikationen aufgezählt, die sämtlich beim Kläger nicht aufgetreten seien. Insbesondere habe keiner der Sachverständigen eine Erkrankung des peripheren Nervensystems diagnostiziert.

15

Soweit der Kläger die Mitteilungen der STIKO für nicht maßgebend halte, weil sie sich auf die heute verwendeten Impfstoffe gegen Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus bezögen, die nicht identisch mit den bei ihm verwendeten Impfstoffen seien, komme es auf seinen entsprechenden Beweisantrag nicht an. Selbst wenn man unterstelle, dass die Empfehlungen der STIKO Impfungen mit anderen als den damals bei dem Kläger verwendeten Impfstoffen beträfen, sei der ursächliche Zusammenhang im Sinne der Verschlimmerung weiterhin nicht hinreichend wahrscheinlich.

16

In diesem Fall wären die AHP 2005 heranzuziehen, deren Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nr 57 Abs 12 und 13 AHP 2005 nenne für Diphtherie- und Tetanusschutzimpfungen spezifische Erscheinungen als Impfschäden, die bei dem Kläger nach Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. K. nicht aufgetreten seien. Der von diesem als zentralnervöser Zwischenfall bezeichnete Vorgang zwei Wochen nach der Impfung sei keine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) gewesen. Die von Prof. Dr. S. genannten typischen Merkmale einer schweren ZNS-Erkrankung fehlten beim Kläger. Selbst wenn man die vom Kläger unter Beweis gestellte Behauptung, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten könnten, als wahr unterstellte, ändere dies nichts daran, das vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems gerade nicht positiv festgestellt werden könne. Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge aber für die Anerkennung eines Impfschadens nicht. Der nach den AHP 2005 erforderliche Nachweis einer Antikörperbildung möge heute noch möglich sein, sei aber nicht zielführend, weil hierdurch lediglich eine durchgeführte Impfung bestätigt würde und nicht mehr geklärt werden könne, welche der drei Impfungen des Klägers diesen Zustand herbeigeführt habe. Im Übrigen schieden andere Ursachen der Erkrankung nicht aus. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass die Cerebralparese allein auf die Geburtsasphyxie zurückzuführen sei.

17

Hinsichtlich der Erkrankungen, bei denen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Kenntnisse ein ursächlicher Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutzimpfung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen sei, sei - wovon auch die Beteiligten ausgingen - auf die AHP 2005 abzustellen. Die Mitteilungen der STIKO von Juni 2007 enthielten offensichtlich lediglich Angaben zu Kombinationsimpfungen, die neben Diphtherie-, Tetanus- und Poliomyelitisimpfstoffen weitere Impfstoffe insbesondere gegen Pertussis, Influenza und Hepatitis B, enthielten. Als Impfschäden nach einer Poliomyelitisschutzimpfung seien in Nr 57 Abs 2 AHP 2005 verschiedene Erkrankungen genannt, insbesondere poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer. In keinem der vorliegenden Gutachten sei erwähnt, dass der Kläger an einer derartigen Impfpoliomyelitis erkrankt gewesen sei. Ebenso wenig seien Hinweise auf ein Guillain-Barré-Syndrom vorhanden. Schließlich seien beim Kläger auch weder eine Meningoenzephalitis noch die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens diagnostiziert worden. Die von Prof. Dr. K. angenommene Encephalopathie sei nach den AHP 2005 nur nach Pertussis- und Pockenschutzimpfungen als Impfschaden genannt, die beim Kläger nicht vorgenommen worden seien.

18

Mit der vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe materielles und formelles Recht verletzt.

19

Verletzt sei § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG bzw § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG. Das LSG habe bei ihm das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung durch die Dreifachschutzimpfung, dh eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende gesundheitliche Schädigung und damit einen dauerhaften Impfschaden, zu Unrecht verneint, weil es verkannt habe, dass es für die Anerkennung einer unüblichen Impfreaktion und eines Impfschadens nach einer Dreifachimpfung im Jahre 1986 weiterhin auf den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu unüblichen Impfreaktionen auf die 1986 verwendeten Impfstoffe ankomme. Stattdessen sei das LSG von den Hinweisen der STIKO von 2007 ausgegangen, die über unübliche Impfreaktionen auf die aktuell verwendeten Impfstoffe informierten, ohne aufgeklärt zu haben, ob es sich bei diesen Impfstoffen um die gleichen handele, die bei seiner Dreifachimpfung 1986 verwendet worden seien, oder ob sie sich unterschieden. Außerdem sei das LSG von einem unzutreffenden Verständnis der medizinischen Voraussetzungen, dh der Krankheitsbilder, ausgegangen.

20

Damit habe das LSG die Rechtstatsachen "aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand" sowie die ebenfalls als Rechtstatsachen anzusehenden Krankheitsbegriffe "akut entzündliche Erkrankungen des Zentralen Nervensystems" sowie "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" verkannt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Hinweis auf das Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R -) würden wissenschaftliche Erkenntnisse über medizinische Ursachen- und Wirkungszusammenhänge nicht mehr als Tatsachenfeststellungen iS von § 163 SGG gewertet, weil sie keine Tatsachen des Einzelfalles seien, sondern allgemeine (generelle) Tatsachen, die für alle einschlägigen (dort Berufskrankheiten-) Fälle von Bedeutung seien. Es gehe nicht nur um die Anwendung allgemeiner oder spezieller Erfahrungssätze auf einen konkreten Sachverhalt, sondern um sog Rechtstatsachen, die für die Auslegung dh für die Bestimmung des Inhalts einer Rechtsnorm benötigt würden.

21

Aus den tatsächlichen Feststellungen zu seinem Zusammenbruch Ende April 1986 und zu seiner Entwicklung vor und nach der Impfung folge jedoch, dass es bei ihm zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen sei, nämlich zu einer Enzephalopathie (möglicher Diphtherieimpfschaden gemäß den AHP 1983) bzw zu einer nicht poliomyelitischen Erkrankung am ZNS (möglicher Impfschaden nach der Polio-Schluckimpfung gemäß den AHP 1983) bzw zu einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS (möglicher Impfschaden nach der Diphtherieschutzimpfung gemäß AHP 2005).

22

Das LSG habe die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Bei den Rechtstatsachen "aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand", "akut entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems" und "Ätiologie und Pathogenese der Cerebralparese" handele es sich um allgemeine Erfahrungssätze, deren Verkennung eine Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung beinhalte.

23

Verstoßen habe das LSG gegen den Erfahrungssatz, dass die Impffolgen abhängig von den verwendeten Impfstoffen seien. Zudem habe das LSG bei der Deutung der Krankheitsbilder gegen medizinische Erfahrungssätze verstoßen. Das LSG habe weiter seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen, insbesondere den Sachverhalt nicht vollständig erfasst bzw ermittelt. So habe es sich nicht veranlasst gesehen, seinem - des Klägers - Beweisantrag zum Fehlen einer Identität der 1986 und heute verwendeten Impfstoffe zu folgen. Diesen und den weiteren Beweisantrag zur Möglichkeit einer Erkrankung des ZNS bei immunologisch unreifen Kindern ohne Fieberausbrüche habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, dass eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS nicht festgestellt worden sei. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. K. durchaus eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS bejaht. Schließlich habe das LSG seine Pflicht zur Auseinandersetzung mit (sich) widersprechenden Gutachten dadurch verletzt, dass es dem Gutachten des Prof. Dr. S. hinsichtlich des Nichtvorliegens einer akut entzündlichen ZNS-Erkrankung gefolgt sei, ohne sich mit den gegenteiligen Ausführungen des Prof. Dr. K. auseinander zu setzen und ohne darzulegen, aufgrund welcher Sachkunde es dem Gutachten von Prof. Dr. S. folge und worauf diese Sachkunde beruhe.

24

Auf diesen Verfahrensfehlern beruhe die Entscheidung des LSG, dass ein Zusammenhang des Leidens der Tetraplegie mit der Dreifachimpfung nicht wahrscheinlich sei, weil es am Nachweis eines Impfschadens fehle und im Übrigen andere Ursachen der Erkrankung nicht ausschieden.

25

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2010 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2007 zurückzuweisen.

26

Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

27

Er schließt sich dem angefochtenen Urteil an.

28

Der Senat hat eine Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 mit einer Auflistung der seit 1979 zugelassenen Polio Oral-Impfstoffe sowie der Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus eingeholt und den Beteiligten ausgehändigt.

Entscheidungsgründe

29

1. Die Revision des Klägers ist zulässig.

30

a) Es kann dahinstehen, ob der Kläger mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts gerügt hat, wenn er geltend macht, das LSG habe generelle "Rechtstatsachen" verkannt. Es spricht zunächst nichts dagegen, die in den AHP 1983 bis 2005 unter Nr 57 für Schutzimpfungen ausgeführten Erkenntnisse zu üblichen Impfreaktionen und "Impfschäden" als generelle Tatsachen anzusehen. Zutreffend hat der Kläger insoweit auf das Urteil des 2. Senats des BSG vom 27.6.2006 (BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) zum Berufskrankheitenrecht hingewiesen. Auch der erkennende Senat ist bereits im Bereich des Schwerbehindertenrechts davon ausgegangen, dass generelle Tatsachen vorliegen, soweit es um allgemeine medizinische Erkenntnisse geht (BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 28). Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG führt die Annahme, dass ein bestimmter Umstand nicht (nur) einzelfallbezogene Tatsache ist, sondern eine generelle Tatsache darstellt, indes nur zur Durchbrechung der nach § 163 SGG angeordneten strikten Bindung des Revisionsgerichts an die tatsächlichen Feststellungen des LSG verbunden mit der Befugnis bzw der Aufgabe für das Revisionsgericht, entsprechende generelle Tatsachen selbst zu ermitteln und festzustellen(BSG aaO). Die Nichtberücksichtigung genereller Tatsachen durch das Berufungsgericht bewirkt damit nicht unmittelbar eine Verletzung materiellen Rechts.

31

Ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es um die unterlassene oder die fehlerhafte Berücksichtigung von generellen Rechtstatsachen geht, muss hier nicht entschieden werden. Zwar mag eine im og Sinne generelle Tatsache dann als Rechtstatsache anzusehen sein, wenn sie Gegenstand einer Rechtsnorm ist (vgl BSG SozR 4-2700 § 9 Nr 7; noch nicht differenziert in BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 4). Das BSG ist aber auch im Fall der Annahme einer generellen "Rechtstatsache" bisher ausdrücklich allein von der Durchbrechung der Bindung des § 163 SGG ausgegangen(BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24; BSGE 94, 90 = SozR 3-2500 § 18 Nr 6; s dazu Dreher, Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsprechung des BSG, Festschrift 50 Jahre BSG, 791, 796). Ob eine Erweiterung dieser Rechtsprechung in einem Fall angezeigt ist, in dem es um Inhalt und Reichweite der AHP geht, deren Änderung in der Rechtsprechung des BSG wegen der "rechtsnormähnlichen Qualität" der AHP als Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB X angesehen worden ist(BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5 S 6), kann ebenfalls auf sich beruhen.

32

b) Jedenfalls reicht es zur Zulässigkeit einer Revision aus, wenn der Revisionsführer die berufungsgerichtliche Feststellung genereller Tatsachen mit zulässigen Verfahrensrügen angreift (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das ist hier geschehen. Der Kläger hat insbesondere schlüssig dargetan, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen aufzuklären, ob sich die vom LSG herangezogenen, in den Hinweisen der STIKO von 2007 und den AHP 2005 niedergelegten medizinischen Erkenntnisse auf die Impfstoffe beziehen, die im Jahre 1986 bei ihm (dem Kläger) verwendet worden sind. Dazu hat der Kläger auch hinreichend vorgetragen, dass es - ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG - auf diese Feststellungen ankam, weil nach den AHP 1983 andere Krankheitserscheinungen zur Bejahung eines über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschadens (dort als "Impfschaden" bezeichnet) ausreichten als nach den - insoweit gleichlautenden - AHP 1996 bis 2005. Sollten im vorliegenden Fall die AHP 1983 maßgebend sein, so wäre danach eine für den Kläger günstigere Entscheidung des LSG möglich gewesen. Diese Rüge erfasst den gesamten Gegenstand des Revisionsverfahrens. Sie führt mithin zur unbeschränkten Zulässigkeit der Revision.

33

2. Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.

34

a) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Beschädigtenrente wegen eines Impfschadens nach einer MdE um 65 vH ab April 2001 (ab 21.12.2007: Grad der Schädigungsfolgen von 65). Mit Urteil vom 10.5.2007 hat das SG - entsprechend dem Klageantrag - den Beklagten verpflichtet, dem Kläger wegen der am 17.4.1986 erfolgten Impfung unter Anerkennung der Impfschadensfolge "Cerebralparese mit beinbetonter spastischer Tetraplegie, ataktischer Störung, leichte Sprachstörung" ab April 2001 Versorgung nach dem IfSG iVm dem BVG nach einer MdE von 65 vH zu gewähren. Dieses Urteil hatte der Kläger vor dem LSG erfolglos gegen die Berufung des Beklagten verteidigt. Im Revisionsverfahren erstrebt er die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der - in der Revisionsverhandlung klargestellten - Maßgabe, dass er nicht allgemein Versorgung, sondern Beschädigtenrente begehrt (vgl dazu BSGE 89, 199, 200 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21 S 92 f).

35

           

b) Der Anspruch des Klägers, der für die Zeit ab März 2001 zu prüfen ist, richtet sich nach § 60 Abs 1 IfSG, der am 1.1.2001 in Kraft getreten ist und den bis dahin und auch schon zur Zeit der hier in Rede stehenden Impfung des Klägers im Jahre 1986 geltenden - weitgehend wortlautgleichen (BSGE 95, 66 = SozR 4-3851 § 20 Nr 1, RdNr 6; SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 12) - § 51 Abs 1 BSeuchG abgelöst hat. § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG bestimmt:

Wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die

1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,

2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde,

3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 

4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist,

eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens iS des § 2 Nr 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt.

        

Nach § 2 Nr 11 Halbs 1 IfSG ist im Sinne dieses Gesetzes Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

        
36

aa) Die zitierten Vorschriften des IfSG verlangen für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine unter den Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Satz 1 IfSG - ua zB öffentliche Empfehlung durch eine zuständige Landesbehörde - erfolgteSchutzimpfung, der Eintritt einer über eine übliche Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung, also eine Impfkomplikation, sowie eine - dauerhafte - gesundheitliche Schädigung, also ein Impfschaden, vorliegen (s zur abweichenden Terminologie in der Rechtsprechung des BSG nach dem BSeuchG, wonach als Impfschaden die über die übliche Impfreaktion hinausgehende Schädigung, also das zweite Glied der Kausalkette, bezeichnet wurde: BSG Urteile vom 19.3.1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60, 58, 59 = SozR 3850 § 51 Nr 9 S 46 und - 9a RVi 4/84 - SozR 3850 § 51 Nr 10 S 49; ebenso auch Nr 57 AHP 1983 bis 2005).

37

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein (aber auch im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung) geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist. (s Rohr/Sträßer/Dahm, BVG-Kommentar, Stand 1/11, § 1 Anm 10 mwN; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand 1/11, § 8 SGB VII RdNr 8 mwN).

38

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Impfung und sowohl die als Impfkomplikation in Betracht kommende als auch die dauerhafte Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - im sog Vollbeweis - feststehen müssen und allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit ausreicht (s § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (s BSGE 60, 58 = SozR 3850 § 51 Nr 9; Rohr/Sträßer/Dahm, aaO Anm 11 mwN). Die Feststellung einer Impfkomplikation im Sinne einer impfbedingten Primärschädigung hat mithin grundsätzlich in zwei Schritten zu erfolgen: Zunächst muss ein nach der Impfung aufgetretenes Krankheitsgeschehen als erwiesen erachtet werden. Sodann ist die Beurteilung erforderlich, dass diese Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit auf die betreffende Impfung zurückzuführen sind.

39

bb) Bei der jeweils vorzunehmenden Kausalbeurteilung sind im sozialen Entschädigungsrecht die bis Ende 2008 in verschiedenen Fassungen geltenden AHP anzuwenden und zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei den schon seit Jahrzehnten von einem Sachverständigenbeirat beim zuständigen Bundesministerium (jetzt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ) erarbeiteten und ständig weiterentwickelten AHP insbesondere um eine Zusammenfassung medizinischen Erfahrungswissens und damit um sog antizipierte Sachverständigengutachten (s nur BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Die AHP sind in den Bereichen des sozialen Entschädigungsrechts und im Schwerbehindertenrecht generell anzuwenden und wirken dadurch wie eine Rechtsnorm ("normähnlich"). Für den Fall, dass sie nicht mehr den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, sind sie allerdings nicht anwendbar (BSG aaO). Dann haben Verwaltung und Gerichte auf andere Weise den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zu ermitteln. Die AHP enthalten in allen hier zu betrachtenden Fassungen seit 1983 unter den Nr 53 bis 142/143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen, wobei die Nr 56 Impfschäden im Allgemeinen und die Nr 57 Schutzimpfungen im Einzelnen zum Inhalt haben.

40

           

Die detaillierten Angaben zu Impfkomplikationen (damals noch als "Impfschaden" bezeichnet) bei Schutzimpfungen in Nr 57 AHP 1983 bis 2005 sind allerdings Ende 2006 aufgrund eines Beschlusses des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Versorgungsmedizin" beim BMAS gestrichen und durch folgenden Text ersetzt worden (Rundschreiben des BMAS vom 12.12.2006 - IV.c.6-48064-3; vgl auch Nr 57 AHP 2008):

        

Die beim Robert-Koch-Institut eingerichtete STIKO entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß der Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung (Impfschaden). Die Arbeitsergebnisse der STIKO werden im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht und stellen den jeweiligen aktuellen Stand der Wissenschaft dar.
Die Versorgungsmedizinische Begutachtung von Impfschäden (§ 2 Nr 11 IfSG und Nr 56 Abs 1 AHP) bezüglich Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Kannversorgung ist jedoch ausschließlich nach den Kriterien von §§ 60 f IfSG durchzuführen. Siehe dazu auch Nr 35 bis 52 (Seite 145 bis 169) der AHP.

41

Die seit dem 1.1.2009 an die Stelle der AHP getretene VersMedV ist eine allgemein verbindliche Rechtsverordnung, die indes, sofern sie Verstöße gegen höherrangige, etwa gesetzliche Vorschriften aufweist, jedenfalls durch die Gerichte nicht angewendet werden darf (BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R - SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Anders als die AHP 1983 bis 2008 enthält die VersMedV keine Bestimmungen über die Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitsbildern (s BMAS , Einleitung zur VersMedV, S 5), sodass insoweit entweder auf die letzte Fassung der AHP (2008) zurückgegriffen werden muss oder bei Anzeichen dafür, dass diese den aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nicht mehr beinhalten, andere Erkenntnisquellen, insbesondere Sachverständigengutachten genutzt werden müssen.

42

cc) Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, dass alle medizinischen Fragen, insbesondere zur Kausalität von Gesundheitsstörungen, auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu beantworten sind. Dies entspricht der Rechtsprechung des BSG im Sozialen Entschädigungsrecht, insbesondere im Impfschadensrecht, und Schwerbehindertenrecht (s BSG Urteil vom 17.12.1997 - 9 RVi 1/95 - SozR 3-3850 § 52 Nr 1 S 3, Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25) sowie im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17; Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7). Ein bestimmter Vorgang, der unter Umständen vor Jahrzehnten stattgefunden hat, muss, wenn über ihn erst jetzt abschließend zu entscheiden ist, nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft beurteilt werden. So kann auch die vor Jahrzehnten bejahte Kausalität aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden als fehlend erkannt werden, mit der Folge, dass Anerkennungen unter Umständen zurückzunehmen oder nur aus Gründen des Vertrauensschutzes (§ 45 SGB X) zu belassen sind (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 V 1/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

43

Bei der Anwendung der neuesten medizinischen Erkenntnisse ist allerdings jeweils genau zu prüfen, ob diese sich überhaupt auf den zu beurteilenden, ggf lange zurückliegenden Vorgang beziehen. Da andere Ursachen jeweils andere Folgen nach sich ziehen können, gilt dies insbesondere für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen. Dementsprechend muss im Impfschadensrecht sichergestellt werden, dass die nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall Verwendung gefunden haben.

44

c) Diesen Grundsätzen entspricht das angefochtene Berufungsurteil nicht in vollem Umfang.

45

aa) Zunächst hat das LSG unangegriffen festgestellt, dass der Kläger am 17.4.1986 im Land Berlin öffentlich empfohlene Schutzimpfungen, nämlich gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis, erhalten hat. Sodann ist allerdings unklar, das Auftreten welcher genauen Gesundheitsstörungen das LSG in der Zeit nach diesen Impfungen als bewiesen angesehen hat. Das LSG hat sich darauf beschränkt, das Vorliegen eines "Impfschadens" im Sinne einer primären Schädigung (also einer Impfkomplikation) zu verneinen. Bei der insoweit erfolgten Kausalitätsbeurteilung hat es sich in erster Linie auf die Hinweise der STIKO von Juni 2007 (Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen/Stand: 2007, EB vom 22.6.2007/Nr 25 ) und hilfsweise auch auf die Nr 57 AHP 2005 gestützt, ohne - wie der Kläger zutreffend geltend macht - Feststellungen dazu getroffen zu haben, ob sich die darin zusammengefassten medizinischen Erkenntnisse auch auf die beim Kläger im Jahre 1986 verwendeten Impfstoffe beziehen.

46

Das LSG hat es bereits unterlassen, ausdrücklich festzustellen, welche Impfstoffe dem Kläger am 17.4.1986 verabreicht worden sind. Auch aus den vom LSG allgemein in Bezug genommenen Akten ergibt sich insofern nichts. Der in Kopie vorliegende Impfpass des Klägers enthält für den 17.4.1986 nur den allgemeinen Eintrag "Polio oral, Diphtherie, Tetanus". In der ebenfalls in Kopie vorliegenden Krankenkartei der behandelnden Kinderärztin findet sich unter dem 17.4.1986 die Angabe "DT-Polio".

47

Ermittlungen zu dem im Jahre 1986 beim Kläger verwendeten Impfstoff sowie zu dessen Einbeziehung in die Hinweise der STIKO (EB Nr 25/2007) und - hinsichtlich des oral verabreichten Poliolebendimpfstoffes - in die Nr 57 Abs 2 AHP 2005 hat das LSG offenbar für entbehrlich gehalten. Es hat den Umstand, dass die Impfstoffe im Laufe der Jahre verändert worden sind, hypothetisch als wahr unterstellt und anhand der AHP 2005 unter Auswertung der Sachverständigengutachten den Eintritt von Impfkomplikationen beim Kläger verneint. Dabei hat es jedoch nicht geklärt, ob die AHP 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der im Jahre 1986 vorgenommenen Impfungen auch wirklich uneingeschränkt maßgebend sind.

48

bb) Entsprechende Feststellungen wären sicher dann überflüssig, wenn die Angaben zu Impfkomplikationen nach Schutzimpfungen der beim Kläger vorgenommenen Art von den 1986 noch maßgebenden AHP 1983 bis zu den STIKO-Hinweisen von Juni 2007 gleich geblieben wären. Dann könnte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich weder die Auswirkungen der insoweit gebräuchlichen Impfstoffe noch diesbezügliche wissenschaftliche Erkenntnisse geändert haben. Ebenso könnte auf nähere Feststellungen zu diesem Punkt verzichtet werden, wenn feststünde, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis bei den STIKO-Hinweisen von 2007 oder den Angaben in Nr 57 AHP 2005 Berücksichtigung gefunden haben, sei es, weil die Impfstoffe (jedenfalls hinsichtlich der zu erwartenden Impfkomplikationen) im gesamten Zeitraum im Wesentlichen unverändert geblieben sind, sei es, weil etwaige Unterschiede differenziert behandelt worden sind. Von alledem kann nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht ausgegangen werden.

49

           

aaa) Zunächst lassen sich Unterschiede in den Ausführungen der Nr 57 AHP 1983 und 1996 (letztere sind in die AHP 2004 und 2005 übernommen worden) sowie in den STIKO-Hinweisen von 2007 feststellen:

So enthält die Nr 57 Abs 2 AHP (Poliomyelitis-Schutzimpfung) für die Impfung mit Lebendimpfstoff zwar hinsichtlich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 (2004/2005) im Wesentlichen die gleichen Formulierungen, der Text betreffend "Impfschäden" (im Sinne von Impfkomplikationen) weicht jedoch in beiden Fassungen voneinander ab. In den AHP 1983 heißt es insoweit:

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (21 bis 158 Tage beobachtet). Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralnervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder - sehr selten - eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen stets einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

50

           

Die Fassung der AHP 1996 nennt dagegen als "Impfschäden" (Komplikationen):

        

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens 6 Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. - Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten). Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

51

In den EB 25/2007 finden sich zu einem Poliomyelitisimpfstoff mit Lebendviren, wie er dem Kläger (oral) verabreicht worden ist, keine Angaben. Dies beruht darauf, dass dieser Impfstoff seit 1998 nicht mehr zur Schutzimpfung bei Kleinkindern öffentlich empfohlen ist (vgl dazu BSG SozR 4-3851 § 60 Nr 2 RdNr 16).

52

Für die Diphtherie-Schutzimpfung ist die Nr 57 Abs 12 AHP bezüglich der "üblichen Impfreaktionen" in den Fassungen 1983 und 1996 im Wesentlichen wortlautgleich.

53

           

Die "Impfschäden" (im Sinne von Komplikationen) sind in der Fassung der AHP 1983 beschrieben mit:

        

Sterile Abszesse mit Narbenbildung. Selten in den ersten Wochen Enzephalopathie, Enzephalomyelitis oder Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit). Selten Thrombose, Nephritis.

54

           

Demgegenüber ist Abs 12 der Nr 57 AHP 1996 hinsichtlich der "Impfschäden" (Komplikationen) wie folgt gefasst:

        

Sehr selten akut entzündliche Erkrankungen des ZNS; sie bedürfen einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung kommt in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Sehr selten Neuritis, vor allem der Hirnnerven (wie bei der Krankheit), Thrombose, Nephritis.

55

           

Hinsichtlich der Tetanus-Schutzimpfung sind in Abs 13 der Nr 57 der hier relevanten Fassungen der AHP die "Impfschäden" wie folgt übereinstimmend umschrieben:

        

Sehr selten Neuritis, Guillain-Barré-Syndrom.

56

           

Demgegenüber differiert hier die Beschreibung der "üblichen Impfreaktionen" zwischen den Fassungen 1983 und 1996. Während 1983 als "übliche Impfreaktionen" beschrieben sind:

        

Geringe Lokalreaktion,

57

           

enthält die Fassung der AHP 1996 die Formulierung:

        

Lokalreaktion, verstärkt nach Hyperimmunisierung.

58

           

In den STIKO-Hinweisen von 2007 (EB 25/2007, 211) heißt es zum Diphtherie-Tetanus-Impfstoff (DT-Impfstoff):

        

Lokal- und Allgemeinreaktion
Als Ausdruck der normalen Auseinandersetzung des Organismus mit dem Impfstoff kann es innerhalb von einem bis drei Tagen, selten länger anhaltend, sehr häufig (bei bis zu 20 % der Impflinge) an der Impfstelle zu Rötung, Schmerzhaftigkeit und Schwellung kommen, gelegentlich auch verbunden mit Beteiligung der zugehörigen Lymphknoten. Sehr selten bildet sich ein kleines Knötchen an der Injektionsstelle, ausnahmsweise im Einzelfall mit Neigung zu steriler Abszedierung.

Allgemeinsymptome wie leichte bis mäßige Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptomatik (Frösteln, Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufbeschwerden) oder Magen-Darm-Beschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) treten gelegentlich (1 % der Impflinge) und häufiger (bis 10 %) bei hyperimmunisierten (häufiger gegen Diphtherie und/oder Tetanus geimpften) Impflingen auf.

In der Regel sind diese genannten Lokal- und Allgemeinreaktionen vorübergehender Natur und klingen rasch und folgenlos wieder ab.

Komplikationen
Im Zusammenhang mit einer Fieberreaktion kann es beim Säugling und jungen Kleinkind gelegentlich zu einem Fieberkrampf (in der Regel ohne Folgen) kommen. Komplikationen der Impfung in Form allergischer Reaktionen an der Haut oder an den Atemwegen treten selten auf. Im Einzelfall kann es zu Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- oder Polyneuritiden, Neuropathie) kommen, auch Einzelfälle allergischer Sofortreaktionen (anaphylaktischer Schock) wurden in der medizinischen Fachliteratur beschrieben.

59

           

bb) Der erkennende Senat hat auch keine Veranlassung anzunehmen, dass alle im Jahre 1986 gebräuchlichen Kombinationsimpfstoffe gegen Diphtherie und Tetanus (DT-Impfstoffe) von den STIKO-Hinweisen von 2007 erfasst worden sind. Dafür dass sich diese nur auf im Jahre 2007 gebräuchliche Impfstoffe beziehen, spricht schon der vom LSG selbst erkannte Umstand, dass es sich dabei ausdrücklich um "Hinweise für Ärzte zum Aufklärungsbedarf über mögliche unerwünschte Wirkungen bei Schutzimpfungen Stand: 2007" handelt. Zudem wird in diesen Hinweisen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich die nachfolgende Textfassung sowie das zugehörige Literaturverzeichnis auf alle gegenwärtig (Stand: Juni 2007) in Deutschland zugelassenen Impfstoffe beziehen (s EB Nr 25/2007 S 210 rechte Spalte). Weiter heißt es dort:

        

Auf dem deutschen Markt stehen Impfstoffe unterschiedlicher Hersteller mit zum Teil abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen zur Verfügung, die zur gleichen Anwendung zugelassen sind. Die Umsetzung von STIKO-Empfehlungen kann in der Regel mit allen verfügbaren und zugelassenen Impfstoffen erfolgen. Zu Unterschieden im Spektrum unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist ggf auf die jeweiligen Fachinformationen zu verweisen. Die Aktualisierung der Fachinformationen erfolgt nach Maßgabe der Zulassungsbehörden entsprechend den Änderungsanträgen zur Zulassung. Diese aktualisierten Fachinformationen sind ggf ergänzend zu den Ausführungen in diesen Hinweisen zu beachten.

60

Nach der vom erkennenden Senat eingeholten Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 6.4.2011 waren im Juni 2007 noch drei DT-Impfstoffe zugelassen, deren Zulassung vor 1986 lag. Daneben waren im Juni 2007 und bis heute weitere neun DT-Impfstoffe zugelassen, deren zeitlich früheste Zulassung im Jahr 1997 datiert. Hinzu kommt, dass es nach Angaben des Paul-Ehrlich-Instituts nach Einführung der Zulassungspflicht im Jahre 1978 eine Übergangszeit von mehreren Jahren gab. In dieser Zeit erhielten Impfstoffe nach und nach eine Zulassung im heutigen Sinne. So können Impfstoffe, die erst nach 1986 offiziell zugelassen worden sind, bereits vorher in Deutschland gebräuchlich gewesen sein.

61

Diese Gegebenheiten schließen nach Auffassung des erkennenden Senats - jedenfalls auf der Grundlage der gegenwärtigen Erkenntnisse - eine undifferenzierte Anwendung der STIKO-Hinweise auf die 1986 beim Kläger erfolgten Impfungen aus. Es lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass alle 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe zu den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen gehört haben, auf die sich diese Hinweise nach ihrem Inhalt beziehen. Darüber hinaus werden darin ausdrücklich Unterschiede im Spektrum der unerwünschten Arzneimittelwirkungen angesprochen, die sich aus abweichenden Antigenkonzentrationen und Inhaltsstoffen ergeben können. Ohne nähere Feststellungen zu den Zusammensetzungen der 1986 gebräuchlichen DT-Impfstoffe, insbesondere der beim Kläger verwendeten, lässt sich mithin nicht beurteilen, ob und inwieweit die STIKO-Hinweise von 2007 bei der hier erforderlichen Kausalitätsprüfung zugrunde gelegt werden können.

62

Entsprechend verhält es sich mit den AHP 2005, die das LSG in erster Linie bei der Poliomyelitisimpfung und hilfsweise auch bei der DT-Impfung zur Kausalitätsbeurteilung herangezogen hat. In Nr 56 und 57 AHP 2005, die insoweit mit den AHP 1996 und 2004 übereinstimmen, wird nicht genau angegeben, auf welche Impfstoffe sich die betreffenden Angaben beziehen. Insbesondere wird nicht deutlich, ob diese Angaben auch für die 1986 gebräuchlichen Impfstoffe Geltung beanspruchen. Da das LSG auch nicht festgestellt hat, dass die in Frage kommenden Impfstoffe in ihren Auswirkungen von 1986 bis 1996 gleich geblieben sind, können die AHP 1996/2004/2005 hier nicht ohne Weiteres angewendet werden. Denkbar wäre immerhin, dass für die im Jahre 1986 gebräuchlichen Impfstoffe grundsätzlich noch die AHP 1983 maßgebend sind, ggf ergänzt durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Wirkungen der betreffenden Impfstoffe.

63

d) Zwar könnte der erkennende Senat die danach erforderlichen Feststellungen, soweit sie sich auf allgemeine Tatsachen beziehen, nach entsprechenden Ermittlungen selbst treffen. Eine derartige Vorgehensweise hält er hier jedoch nicht für tunlich.

64

aa) Zur Klärung einer Anwendung der STIKO-Hinweise von 2007 müsste - ohne vorherige Ermittlung der konkret beim Kläger verwendeten Impfstoffe, die der Senat nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG) - allgemein, dh voraussichtlich mit erheblichem Aufwand, geprüft werden, ob alle im April 1986 gebräuchlichen Impfstoffe den im Juni 2007 zugelassenen Impfstoffen derart entsprachen, dass mit denselben Impfkomplikationen zu rechnen war, wie sie in den STIKO-Hinweisen für DT-Impfstoffe aufgeführt werden. Sollte sich dabei kein einheitliches Bild ergeben, könnte auf die Feststellung der tatsächlich angewendeten Impfstoffe wahrscheinlich nicht verzichtet werden.

65

bb) Soweit sich feststellen ließe, dass die AHP 1996/2004/2005 - ggf mit allgemeinen Modifikationen - ohne Feststellung der konkreten Impfstoffe für die Beurteilung des vorliegenden Falles maßgeblich sind, könnte das Berufungsurteil jedenfalls nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Zumindest hinsichtlich der Verneinung einer durch die Diphtherieimpfung verursachten Impfkomplikation beruht die Entscheidung des LSG nämlich sowohl auf einer teilweise unzutreffenden Rechtsauffassung als auch auf Tatsachenfeststellungen, die verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind.

66

Nach der vom LSG (hilfsweise) als einschlägig angesehenen Nr 57 Abs 12 AHP 2005 kommt bei einer Diphtherieschutzimpfung als "Impfschaden" (Komplikation) ua eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" in Betracht, wenn die Erkrankung innerhalb von 28 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, eine Antikörperbildung nachweisbar war und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

67

aaa) Dementsprechend ist zunächst festzustellen, ob eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS im maßgeblichen Zeitraum nach der Impfung eingetreten ist. Soweit das LSG bezogen auf den vorliegenden Fall angenommen hat, eine entsprechende Erkrankung des ZNS lasse sich nicht feststellen, beruht dies - wie der Kläger hinreichend dargetan hat - auf einem Verstoß gegen §§ 103, 128 Abs 1 Satz 1 SGG.

68

Zwischen den Sachverständigen Prof. Dr. K. und Prof. Dr. S. bestand darüber Streit, ob beim Kläger zwei Wochen nach der ersten Impfung eine "akut entzündliche Erkrankung des ZNS" aufgetreten ist. Das LSG hat sich für die Verneinung einer derartigen Erkrankung in erster Linie auf die Auffassung von Prof. Dr. S. gestützt, der als typische Merkmale einer "schweren" ZNS-Erkrankung Fieber, Krämpfe, Erbrechen und längere Bewusstseinstrübung genannt habe. Dagegen hatte der Kläger unter Beweis gestellt, dass Erkrankungen des ZNS gerade bei immunologisch unreifen Kindern auch ohne Fieberausbrüche auftreten können. Diese Behauptung hat das LSG hypothetisch als wahr unterstellt und dazu die Ansicht vertreten, dies ändere "nichts daran, dass vorliegend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS gerade nicht positiv festgestellt werden kann". Die Möglichkeit einer derartigen Erkrankung genüge nicht.

69

Zwar trifft es zu, dass der Eintritt einer akut entzündlichen Erkrankung des ZNS beim Kläger für den relevanten Zeitraum von 28 Tagen nach Impfung bewiesen sein muss. Den Ausführungen des LSG lässt sich jedoch nicht entnehmen, auf welche medizinische Sachkunde es sich bei der Beurteilung gestützt hat, eine positive Feststellung sei im vorliegenden Fall unmöglich. Auf die Ausführungen von Prof. Dr. S. konnte sich das LSG dabei nicht beziehen, da es in diesem Zusammenhang gerade - abweichend von dessen Auffassung - die Möglichkeit einer ohne Fieberausbrüche auftretenden akut entzündlichen Erkrankung des ZNS unterstellt hat. Mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. K., auf die sich der Kläger berufen hatte, hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt. Folglich hätte das LSG entweder zunächst dem auf allgemeine medizinische Erkenntnisse gerichteten Beweisantrag des Klägers nachkommen oder sogleich mit sachkundiger Hilfe (unter Abklärung des medizinischen Erkenntnisstandes betreffend eine akut entzündliche Erkrankung des ZNS) konkret feststellen müssen, ob das (von Prof. Dr. K. als "zentralnervöser Zwischenfall" bezeichnete) Krankheitsgeschehen, das beim Kläger vierzehn Tage nach der Impfung ohne einen Fieberausbruch abgelaufen ist, als akut entzündliche Erkrankung des ZNS anzusehen ist.

70

bbb) Auch (allein) mit dem (bislang) fehlenden Nachweis einer Antikörperbildung hätte das LSG eine Impfkomplikation nicht verneinen dürfen. Seine Begründung, selbst wenn sich noch heute Antikörper feststellen ließen, könnten sie - wegen der im Jahre 1987 erfolgten weiteren Impfungen - nicht mit Sicherheit der am 17.4.1986 vorgenommenen ersten Impfung zugeordnet werden, ist aus Rechtsgründen nicht tragfähig. Der erkennende Senat hält es für unzulässig, eine Versorgung nach dem IfSG an Anforderungen scheitern zu lassen, die im Zeitpunkt der Impfung nicht erfüllt zu werden brauchten und im nachhinein nicht mehr erfüllt werden können (vgl dazu Thüringer LSG Urteil vom 20.3.2003 - L 5 VJ 624/01 - juris RdNr 32; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.7.2006 - L 8 VJ 847/04 - juris RdNr 40). Der Nachweis der Antikörperbildung als Hinweis auf eine Verursachung der Erkrankung des ZNS durch die Impfung ist erstmals in der Nr 57 Abs 12 AHP 1996 enthalten. Die AHP 1983 nannten an entsprechender Stelle als "Impfschäden" (Komplikationen) noch nicht einmal die akut entzündliche Erkrankung des ZNS, sondern andere Erkrankungen, wie zB die Enzephalopathie, ohne einen Antikörpernachweis zu fordern. Nach der am 17.4.1986 erfolgten Impfung bestand somit grundsätzlich keine Veranlassung, die Bildung von Antikörpern zu prüfen. Wenn die Zuordnung von jetzt noch feststellbaren Antikörpern nach den weiteren Impfungen von 1987 aus heutiger Sicht medizinisch nicht möglich sein sollte, verlangte man rechtlich etwas Unmögliches vom Kläger. Demzufolge muss es zur Erfüllung der Merkmale der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 jedenfalls ausreichen, wenn sich heute noch entsprechende Antikörper beim Kläger nachweisen lassen.

71

ccc) Soweit das LSG schließlich im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der Nr 57 Abs 12 AHP 2005 festgestellt hat, dass andere Ursachen der Krankheitszeichen, die beim Kläger zwei Wochen nach der Impfung vom 17.4.1986 aufgetreten sind, nicht ausscheiden, ist auch diese Feststellung - wie vom Kläger zutreffend gerügt - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat insoweit nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigt. Denn es hat sich nicht hinreichend mit der abweichenden medizinischen Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. K. auseinandergesetzt. Neben dem vom LSG erörterten verringerten Schädelwachstum des Klägers hat Prof. Dr. K. in diesem Zusammenhang auch auf einen Entwicklungsknick hingewiesen, der beim Kläger nach dem "zentralnervösen Zwischenfall" eingetreten sei. Es ist jedenfalls nicht ohne Weiteres ersichtlich, wie sich ein solcher Vorgang mit der vom LSG - gestützt auf Prof. Dr. S. angenommenen "allmählichen Manifestation" der Symptome einer Cerebralparese vereinbaren lässt.

72

e) Nach alledem ist es geboten, das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

73

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Hilfsmerkmale sind

1.
Name und Anschrift des Auskunftspflichtigen,
2.
Name, Telefonnummer und E-Mail-Adresse der für eventuelle Rückfragen zur Verfügung stehenden Person,
3.
für die Erhebung nach § 143 Nummer 1 die Kennnummer des Leistungsberechtigten.

(2) Die Kennnummern nach Absatz 1 Nummer 3 dienen der Prüfung der Richtigkeit der Statistik und der Fortschreibung der jeweils letzten Bestandserhebung. Sie enthalten keine Angaben über persönliche und sachliche Verhältnisse des Leistungsberechtigten und sind zum frühestmöglichen Zeitpunkt, spätestens nach Abschluss der wiederkehrenden Bestandserhebung, zu löschen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Juni 2010 geändert und festgestellt, dass der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 1. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2006 rechtswidrig gewesen ist.

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike.

2

Die 1987 geborene Klägerin leidet an einer angeborenen Spaltbildung der Wirbelsäule (spina bifida) mit Paraparese der Beine. Sie ist mit einem manuell zu bewegenden Rollstuhl (Aktivrollstuhl) versorgt. Im Januar 2006 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines vom Sanitätshaus D. erstellten Angebots und einer das Begehren befürwortenden ärztlichen Bescheinigung die Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike zum Preis von 3323,83 Euro. Die Beklagte lehnte den Leistungsantrag mit der Begründung ab, das begehrte Hilfsmittel sei zum Ausgleich einer Behinderung nicht erforderlich (Bescheid vom 1.2.2006; Widerspruchsbescheid vom 11.7.2006).

3

Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin mit einem Hand-Bike gemäß dem Kostenvoranschlag des Sanitätshauses D. vom 31.1.2006 iVm der ärztlichen Verordnung der Dres. B. vom 20.1.2006 zu versorgen (Urteil vom 10.9.2008). Diese Versorgung sei nach dem eingeholten Sachverständigengutachten erforderlich, um einer weiteren Überlastung des Schulter-Ellenbogenbereichs durch die Verwendung des Aktivrollstuhls vorzubeugen. Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10.6.2010): Das Rollstuhl-Bike sei zur Gewährleistung des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Mobilität und auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums iS des in die Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fallenden Basisausgleichs (Nahbereich der Wohnung) nicht erforderlich. Der Nahbereich der Wohnung beschreibe den Radius, den sich ein behinderter Versicherter mittels eines Aktivrollstuhls erschließen können müsse. Dieser Radius könne unter Rückgriff auf den für die rentenversicherungsrechtliche Wegefähigkeit geltenden Grenzwert von 500 m konkretisiert werden. Die Klägerin sei nach den gutachterlichen Feststellungen in der Lage, eine über 500 m liegende Wegstrecke in einem zeitlichen Rahmen von 20 Minuten mit dem Aktivrollstuhl zu bewältigen. Dies sei zur Verwirklichung des Grundbedürfnisses auf Mobilität ausreichend.

4

Die Klägerin hat ihre Mitgliedschaft bei der Beklagten zum 30.6.2010 gekündigt und ist seit dem 1.7.2010 Mitglied der Techniker-Krankenkasse (TKK).

5

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das Rollstuhl-Bike sei im vorliegenden Einzelfall sowohl zur Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 1 SGB V)als auch zum Ausgleich einer Behinderung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGB V)erforderlich, weil durch die Nutzung des Rollstuhl-Bikes zum einen das Fortschreiten der degenerativen Veränderungen im Bereich der oberen Extremitäten verhindert und zum anderen die Erschließung des Nahbereichs und somit die Verwirklichung eines allgemeinen Grundbedürfnisses sichergestellt werde. Der Nahbereich könne mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl nur unter Schmerzen und übermäßigen Anstrengungen erschlossen werden. Die abweichende Beurteilung des Anspruchs durch das LSG beruhe auf einer unzulässigen Übertragung des für die rentenversicherungsrechtliche Wegefähigkeit geltenden Maßstabes. Die Leistungspflicht der Beklagten werde auch nicht durch den nach Abschluss der letzten Tatsacheninstanz vorgenommenen Krankenkassenwechsel (KK-Wechsel) berührt, weil sie das ihr in Bezug auf die Hilfsmittelversorgung zustehende Wahlrecht bereits konkretisiert habe.

6

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Juni 2010 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 10. September 2008 zurückzuweisen;
hilfsweise,
die Techniker-Krankenkasse gemäß § 75 Abs 2, 2. Alt iVm § 168 Satz 1, 2. Alt SGG beizuladen, die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Juni 2010 und des Sozialgerichts Köln vom 10. September 2008 zu ändern und die Beigeladene zu verurteilen, die Klägerin mit einem Rollstuhl-Bike zu versorgen;
weiter hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Juni 2010 zu ändern und festzustellen, dass der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 1. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 2006 rechtwidrig gewesen ist.

7

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Berufungsurteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist nach Maßgabe des zweiten Hilfsantrages begründet (dazu unter C.). Hinsichtlich der mit dem Hauptantrag begehrten Verurteilung der Beklagten zur Gewährung eines Rollstuhl-Bikes als Sachleistung ist die Revision hingegen unbegründet, weil die Beklagte aufgrund des KK-Wechsels ab dem 1.7.2010 nicht mehr zur Leistung verpflichtet ist (dazu unter A.). Bezüglich des ersten Hilfsantrages ist die Revision ebenfalls unbegründet, da die ab dem 1.7.2010 für die Klägerin zuständige TKK nicht zum Verfahren beizuladen war (dazu unter B.).

9

A. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht einen gegen die Beklagte gerichteten Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike abgelehnt. Ausschlaggebend für den fehlenden Leistungsanspruch ist jedoch nicht - wie vom LSG angenommen - das Fehlen der materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V, sondern der Umstand, dass die Leistungspflicht der Beklagten nach Verkündung des LSG-Urteils aufgrund der Kündigung des klägerischen Mitgliedschaftsverhältnisses am 30.6.2010 erloschen ist.

10

Diese Bindung der Leistungspflicht an die Mitgliedschaft ergibt sich aus § 19 Abs 1 Halbs 1 SGB V, wonach der Anspruch auf Leistungen mit dem Ende der Mitgliedschaft erlischt. Die Vorschrift erfasst nicht nur das Ausscheiden aus der GKV schlechthin, sondern auch die Fälle des KK-Wechsels (BSGE 99, 102 = SozR 4-2500 § 19 Nr 4 RdNr 12 mwN). § 19 Abs 1 SGB V gilt auch für einmalige Leistungen(BSGE 90, 220, 229 = SozR 4-2500 § 33 Nr 1 S 11 mwN). Maßgebend für die Leistungspflicht ist in diesen Fällen die im Zeitpunkt der tatsächlichen Leistungserbringung, dh der Abgabe des Hilfsmittels, bestehende Mitgliedschaft (BSGE 90, 220, 229 f = SozR 4-2500 § 33 Nr 1 S 11), so dass die Beklagte vorliegend ab dem 1.7.2010 nicht mehr zur Gewährung des Rollstuhl-Bikes verurteilt werden kann.

11

Für einen Leistungsanspruch nach beendeter Mitgliedschaft (sog nachgehender Leistungsanspruch) bestehen keine gesetzlichen Anknüpfungspunkte. Nachgehende Leistungsansprüche sind als Ausnahme von der das Versicherungsprinzip zum Ausdruck bringenden Regel des § 19 Abs 1 Halbs 1 SGB V grundsätzlich nur zulässig, wenn sie im SGB V bestimmt sind(§ 19 Abs 1 Halbs 2 SGB V). Entsprechende Bestimmungen finden sich ua in § 19 Abs 2 und 3 SGB V, deren Voraussetzungen hier aber nicht vorliegen. Darüber hinaus sind Abweichungen nur gestattet, wenn ein nachgehender Leistungsanspruch zum Schutz des Versicherten erforderlich ist. Eine solche besondere Schutzbedürftigkeit ist allerdings nicht schon dann anzunehmen, wenn der Versicherte sein Wahlrecht auf ein bestimmtes Hilfsmittel konkretisiert und die frühere Krankenkasse (KK) den geltend gemachten Versorgungsanspruch zu Unrecht abgelehnt hat, sich mit der Leistungserbringung also im Verzug befindet. Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom 23.1.2003 (B 3 KR 7/02 R - BSGE 90, 220, 229 f = SozR 4-2500 § 33 Nr 1 S 10 f) in einer entsprechenden Fallkonstellation einen nachgehenden Leistungsanspruch bejaht hat, wird diese Rechtsprechung im Hinblick auf die Zweckbestimmung des § 19 SGB V nicht fortgeführt.

12

Mit der Einführung des § 19 SGB V durch das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988 (BGBl I 2477) wollte der Gesetzgeber die bis zu diesem Zeitpunkt nach den Vorschriften der RVO und deren Auslegung durch die Rechtsprechung bestehende Vielzahl nachgehender Leistungsansprüche (dazu Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, § 19 RdNr 36 f mwN) auf ein "vertretbares Maß" zurückführen (BT-Drucks 11/2237 S 166). Zu diesem Zweck hat er das bis zum 31.12.1988 zugunsten nachgehender Leistungsansprüche bestehende Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt, so dass nunmehr das Versicherungsprinzip gilt (§ 19 Abs 1 Halbs 1 SGB V), von dem nur in eng begrenzten und gesetzlich geregelten Ausnahmefällen (§ 19 Abs 1 Halbs 2 iVm Abs 2 und 3 SGB V) abgewichen werden darf. Von dieser Zielsetzung ausgehend können zusätzlich zu den gesetzlich geregelten, aber vorliegend nicht einschlägigen nachgehenden Leistungsansprüchen nur weitere Ausnahmen vom Versicherungsprinzip anerkannt werden, wenn eine den gesetzlich normierten Ausnahmetatbeständen (§ 19 Abs 2 und 3 SGB V) vergleichbare Interessenlage besteht. Diese ist durch eine Versicherungsnähe in zeitlicher Hinsicht, eine besondere Schutzbedürftigkeit des Versicherten und die Beendigung der Mitgliedschaft durch plötzliche, unvorhersehbare und unvermeidbare Umstände (Noftz aaO RdNr 24 f) gekennzeichnet, wobei die für einen nachgehenden Leistungsanspruch notwendige besondere Schutzbedürftigkeit des Versicherten nur vorliegt, wenn ein solcher Anspruch erforderlich ist, um Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden (BT-Drucks 11/2237 S 166). Bei einem KK-Wechsel besteht - zumindest in den ersten Monaten nach dem Ende der Mitgliedschaft bei der alten KK - noch eine gewisse Nähe zu dem alten Versicherungsverhältnis. Allerdings bedarf der Versicherte in diesen Fällen - anders als in den Fällen der beendeten Mitgliedschaft - nicht des Schutzes durch einen nachgehenden Leistungsanspruch, soweit er die Möglichkeit hat, den primären Anspruch gegenüber der neuen KK geltend zu machen; die Gefahr einer Versicherungslücke besteht dann nicht. Dies gilt auch, wenn das gegen die alte KK gerichtete Leistungsbegehren bereits Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens ist, weil die vom Versicherten erworbenen "Prozessfrüchte" mit einer gegen die alte KK gerichteten Fortsetzungsfeststellungsklage gesichert werden können. Zudem wird die Mitgliedschaft bei einem KK-Wechsel nicht - wie in den Fallkonstellationen des § 19 Abs 2 und 3 SGB V - durch ein unvorhersehbares und unvermeidbares Ereignis beendet, sondern ist in der Regel auf eine bewusste und geplante Entscheidung des Versicherten zurückzuführen.

13

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die der Entscheidung des 3. Senats vom 23.1.2003 (BSGE 90, 220, 229 f = SozR 4-2500 § 33 Nr 1 S 10 f) zugrunde liegende Fallkonstellation vom Gesetzgeber übersehen wurde und somit eine planwidrige Regelungslücke besteht, die im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung geschlossen werden könnte. Die in § 19 Abs 2 und 3 SGB V geregelten Ausnahmetatbestände lassen vielmehr erkennen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer fortwirkenden Leistungspflicht in Erwägung gezogen, sie aber nur in sachlich und zeitlich eng begrenzten Fällen für zulässig erachtet hat.

14

B. Die Klägerin kann im vorliegenden Verfahren auch keinen Anspruch auf die Gewährung eines Rollstuhl-Bikes durch die ab dem 1.7.2010 zuständige TKK geltend machen, weil diese weder am Rechtsstreit beteiligt ist noch - im Wege der notwendigen Beiladung - hätte beteiligt werden müssen.

15

1. Die ab dem 1.7.2010 für die Klägerin zuständige TKK ist nicht im Wege eines gesetzlichen Beteiligtenwechsels an die Stelle der bis zum 30.6.2010 für den klägerischen Anspruch zuständigen Beklagten getreten. Ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel auf Seiten einer juristischen Person oder Behörde (sog Funktionsnachfolge) liegt nur vor, wenn aufgrund eines nach Klageerhebung erfolgten gesetzlichen oder behördlichen Organisationsaktes eine andere als die zunächst beklagte juristische Person bzw Behörde zuständig wird (vgl zur Funktionsnachfolge: BSGE 99, 15 = SozR 4-3300 § 55 Nr 1 RdNr 12; BSGE 62, 269, 270 ff = SozR 1200 § 48 Nr 14 S 71 ff; BVerwGE 44, 148, 150 f; BFHE 200, 521, 523 f). Ein der Funktionsnachfolge vergleichbarer Übergang von Verwaltungsaufgaben liegt dagegen nicht vor, wenn lediglich die Zuständigkeit aufgrund der Ausübung eines dem Versicherten gesetzlich zustehenden Wahlrechts im Einzelfall wechselt.

16

2. Die TKK war auch nicht zum vorliegenden Rechtsstreit notwendig beizuladen. Zwar kommt deren Leistungspflicht für das bei der Beklagten beantragte, aber von dieser tatsächlich nicht gewährte und nach § 19 Abs 1 Halbs 1 SGB V rechtlich auch nicht mehr zu gewährende Rollstuhl-Bike aufgrund des zum 1.7.2010 vorgenommenen KK-Wechsels ernsthaft in Betracht, so dass die Voraussetzungen für eine notwendige unechte Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG grundsätzlich erfüllt sind. Gleichwohl bestand für den Senat keine Veranlassung, die ab dem 1.7.2010 zuständige TKK - mit deren Zustimmung (§ 168 Satz 2 Alt 2 SGG) - im Revisionsverfahren beizuladen. § 168 Abs 2 Alt 2 SGG berechtigt unter Berücksichtigung des Normzwecks nur zur Nachholung einer in der Vorinstanz versäumten notwendigen Beiladung (sog vergessene Beiladung), wohingegen es dem Revisionsgericht verwehrt ist, insoweit Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz entstanden sind und bei fortgesetztem Berufungsverfahren eine notwendige Beiladung bedingt hätten. Denn durch die mit dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl I 50) eingefügte Möglichkeit einer revisionsgerichtlichen Beiladung soll im Interesse der Verfahrenskonzentration die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz allein wegen einer unterbliebenen Beiladung vermieden werden (BT-Drucks 12/1217 S 54).

17

Vor diesem Hintergrund darf das Revisionsgericht eine Beiladung nach § 75 Abs 2 SGG mit Zustimmung des Beizuladenden nur vornehmen, wenn die Beiladung in der Vorinstanz verfahrensfehlerhaft unterblieben ist, denn nur dann wäre eine mögliche Zurückverweisung gerechtfertigt. Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Aufgrund des erst nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG erfolgten KK-Wechsels konnte das LSG die Beiladung weder während des Berufungsverfahrens vornehmen noch durfte es diese nach dem Erlass seines Urteils nachholen. Zwar ist eine Beiladung grundsätzlich in jeder Lage des Verfahrens und somit auch in der Zeit nach der Verkündung des Urteils bis zu seiner Zustellung (BSG SozR 3-5420 § 3 Nr 2 S 7; BSG SozR 1500 § 62 Nr 6 S 5) oder dem Eintritt der Rechtskraft bzw der Einlegung eines Rechtsmittels möglich (BFH Urteil vom 9.7.1992 - IV R 55/90 - BFH/NV 1993, 81 mwN; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl, § 75 RdNr 5b). Ob diese Rechtsauffassung wegen der erforderlichen Gewährung rechtlichen Gehörs in der Tat zutreffend ist, mag bezweifelt werden können; dies braucht aber vorliegend nicht entschieden zu werden. Denn eine Beiladung nach Erlass des Urteils ist bislang höchstrichterlich nur für zulässig erachtet worden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für eine notwendige Beiladung bereits vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung vorgelegen hatten, die rechtzeitige Beiladung mithin pflichtwidrig unterlassen und somit nachgeholt wurde (vgl BSG aaO und BFH aaO). Dies ist vorliegend jedoch gerade nicht der Fall.

18

Eine Beiladung im hiesigen Verfahren würde zudem gegen § 163 SGG verstoßen und somit in einem nicht zulässigen Wertungswiderspruch zu den Grundsätzen des Revisionsverfahrens stehen(vgl dazu BSGE 102, 10 = SozR 4-2500 § 264 Nr 2, RdNr 11). Die Notwendigkeit der Beiladung ergibt sich vorliegend erst aus dem zum 1.7.2010 vorgenommenen KK-Wechsel und somit aus einer Tatsache, die nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz eingetreten und daher vom Revisionsgericht nicht zu berücksichtigen ist. Soweit das LSG den KK-Wechsel in seinem Urteil als Tatsache genannt hat, handelt es sich um eine Feststellung, die es außerhalb des ihm zustehenden Bewertungsrahmens getroffen hat und die das Revisionsgericht nicht bindet, denn das LSG darf bei einer aufgrund mündlicher Verhandlung unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter getroffenen Entscheidung nur den Tatsachenstoff berücksichtigen, der bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden ist (Grundsatz der Unmittelbarkeit, vgl §§ 124 Abs 1 und 129 SGG).

19

Der KK-Wechsel ist letztlich auch keine Tatsache, die der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Von Amts wegen und somit ohne Verstoß gegen § 163 SGG zu berücksichtigen sind generelle und solche Tatsachen, die für die Zulässigkeit der Revision von Bedeutung sind, sowie solche, deren Nichtbeachtung zu einem fortwirkenden Verstoß gegen einen im öffentlichen Interesse liegenden verfahrensrechtlichen Grundsatz führt(Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 163 RdNr 5b und 7 mwN). Zu letzteren zählen ua die Prozessvoraussetzungen betreffende Tatsachen. Daher hat der Senat den KK-Wechsel insoweit zu berücksichtigen, als dieser für die Zulässigkeit der gegen die Beklagte gerichteten Klage (dazu unter C.) und somit für das streitgegenständliche Rechtsverhältnis von Bedeutung ist, nicht hingegen in Bezug auf ein neues und bisher nicht streitgegenständliches Rechtsverhältnis.

20

C. Das mit dem zweiten Hilfsantrag verfolgte Klagebegehren ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig (dazu unter 1. und 2.) und begründet (dazu unter 3.).

21

1. Mit dem KK-Wechsel haben sich die angefochtenen Bescheide der Beklagten auf andere Weise erledigt (§ 131 Abs 1 Satz 3 SGG iVm § 39 Abs 2 SGB X), weil die Beklagte aufgrund der Regelung des § 19 Abs 1 SGB V ab dem 1.7.2010 rechtlich nicht mehr zur Erbringung der von der Klägerin begehrten Leistung verpflichtet ist (vgl unter A.). Daher ist mit dem KK-Wechsel das für die Fortführung der ursprünglich zulässigen Anfechtungs- und Leistungsklage notwendige Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Dem hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat durch eine Umstellung der Klageanträge Rechnung getragen. Die Umstellung einer Anfechtungs- und Leistungsklage auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist keine Klageänderung und daher auch im Revisionsverfahren statthaft - § 99 Abs 3 Nr 3 iVm § 168 Satz 1 Alt 1 SGG (vgl dazu BSGE 99, 145 = SozR 4-2500 § 116 Nr 4, RdNr 14 mwN). § 131 Abs 1 Satz 3 SGG gilt entsprechend für die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (BSGE 78, 243, 249 = SozR 3-2500 § 109 Nr 2 S 18).

22

2. Das für die Fortsetzungsfeststellungsklage erforderliche besondere Interesse der Klägerin an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 1.2.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.7.2006 besteht unter dem Gesichtspunkt der Präjudizialität und der Wiederholungsgefahr. Auf diese Aspekte kann ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse gestützt werden, wenn die begehrte Feststellung unmittelbar bindend für ein anderes gerichtliches oder behördliches Verfahren ist (rechtliche Präjudizialität - vgl dazu Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl 2009 § 113 RdNr 140) bzw ihr eine natürliche Autorität für ein anderes Rechtsverhältnis zukommt (tatsächliche Präjudizialität - Kopp/Schenke aaO; vgl auch BFHE 108, 92, 95) oder wenn die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 7 mwN). Auf diese Weise sollen erreichte Verfahrenergebnisse gesichert und Folgeprozesse vermieden werden (Kopp/Schenke aaO RdNr 96). Vorliegend kann durch die begehrte Feststellung mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Folgeprozess über den Versorgungsanspruch vermieden werden, denn die im hiesigen Verfahren streitige materiell-rechtliche Frage ist auch für das gegenüber der neuen KK bestehende Mitgliedschaftsverhältnis von Bedeutung. Unerheblich ist dabei, dass infolge des erledigenden Ereignisses nunmehr eine andere Behörde für die Entscheidung über einen künftigen Antrag zuständig ist (so auch BVerwG Urteil vom 27.9.1993 - 1 B 73/93 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr 261; BVerwG Urteil vom 31.3.1987 - 1 C 32/84 - NJW 1987, 2179). Vielmehr ist angesichts der Bedeutung höchstrichterlicher Entscheidungen für die Rechtsfortbildung davon auszugehen, dass sich die neue KK als an Recht und Gesetz gebundene Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 4 Abs 1 SGB V iVm Art 20 Abs 3 GG) den Gründen eines obsiegenden Feststellungsurteils nicht verschließen wird. Darüber hinaus haben die Vorinstanzen in Bezug auf den klägerischen Anspruch Tatsachen ermittelt, die als "erworbene Prozessfrüchte" nicht verloren gehen, sondern die Grundlage für eine mit entsprechender "natürlicher Autorität" ausgestatteten Entscheidung bilden sollen.

23

3. Das zulässige Fortsetzungsfeststellungsbegehren ist auch begründet. Die Klägerin hatte unter Zugrundelegung der vom LSG festgestellten Tatsachen bis zum 30.6.2010 einen gegen die Beklagte gerichteten Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike als Hilfsmittel der GKV. Der diesen Anspruch ablehnende Bescheid der Beklagten vom 1.2.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.7.2006 war daher rechtswidrig.

24

a) Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 33 Abs 1 SGB V in der zum Zeitpunkt der Erledigung(zur maßgebenden Sach- und Rechtslage bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 131 RdNr 10i; Kopp/Schenke aaO § 113 RdNr 124, 147) geltenden Fassung des Art 1 Nr 17a Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26.3.2007 (BGBl I 378). Danach haben Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung im Hinblick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die KK gemäß § 12 Abs 1 SGB V nicht bewilligen.

25

Ein gegen die Beklagte gerichteter Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike als Hilfsmittel der GKV (dazu unter b) bestand bis zum 30.6.2010 unter dem Gesichtspunkt des Behinderungsausgleichs (dazu unter d), so dass über die Frage der Erforderlichkeit des Hilfsmittels zur Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung nicht abschließend entschieden werden muss (dazu unter c).

26

b) Dem Rollstuhl-Bike kann in Bezug auf erwachsene Versicherte nicht bereits - wie vom LSG angedeutet, aber mangels Entscheidungsrelevanz offen gelassen - die Eigenschaft als Hilfsmittel abgesprochen werden. Hilfsmittel iS von § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V sind alle sächlichen Mittel, die den Erfolg einer Krankenbehandlung sichern, einer drohenden Behinderung vorbeugen oder eine bestehende Behinderung ausgleichen, selbst dann, wenn ihre Anwendung durch den Versicherten selbst sicherzustellen ist(BSGE 88, 204 = SozR 3-2500 § 33 Nr 41; BSGE 87, 105, 108 f = SozR 3-2500 § 139 Nr 1 S 5; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 39 S 220). Diese Voraussetzungen erfüllt das Rollstuhl-Bike, denn die Hilfsmitteleigenschaft wird allein nach objektiven Kriterien bestimmt. Personenbezogene Merkmale - wie zB das Alter des Versicherten - sind hierfür nicht maßgeblich. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der Senatsentscheidung vom 16.9.1999 (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31), wonach "ein Rollstuhl-Bike für Personen im Erwachsenenalter kein Hilfsmittel der gesetzlichen KV" ist. Mit dieser Aussage wollte der Senat nicht die Hilfsmitteleigenschaft des Rollstuhl-Bikes für erwachsene Versicherte in Frage stellen, sondern dessen Eignung und Erforderlichkeit zur Erreichung der Versorgungsziele des § 33 SGB V im Einzelfall beurteilen.

27

c) Ob das Rollstuhl-Bike als Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 1 SGB V) erforderlich war, kann anhand der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden.

28

Der Sicherung des Erfolges einer Krankenbehandlung dient ein sächliches Mittel, soweit es spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird, um zu ihrem Erfolg beizutragen. Dabei kommt nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation ein Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung iS von § 27 SGB V zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche oder ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung iS der Behandlungsziele des § 27 SGB V als erforderlich anzusehen sind(BSG vom 7.10.2010 - B 3 KR 5/10 R - Therapiedreirad - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 21). Diese Voraussetzungen liegen bei einer Hilfe zur körperlichen Betätigung vor, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat und die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann (BSG aaO). Bei der Klägerin bestehen neben der Gehbehinderung degenerativ bedingte Beschwerden und Funktionsstörungen im Bereich der oberen Extremitäten, die krankengymnastisch behandelt werden. Die Frage, ob diese Krankengymnastik durch die Verwendung eines Rollstuhl-Bikes wesentlich gefördert oder die Behandlungsfrequenz reduzieren wird, kann anhand der getroffenen Feststellungen nicht abschließend beantwortet werden. Zwar hat das LSG festgestellt, dass die verordnete Krankengymnastik im Vergleich zu den mit der Nutzung des Rollstuhl-Bikes verbundenen gesundheitlichen Vorteilen ausreichend und sogar besser geeignet ist, um Verbesserungen der körperlichen und seelischen Verfassung eines behinderten Menschen zu erreichen. Allerdings bleibt offen, auf welche medizinische Tatsachen das LSG diese Feststellung stützt, zumal sie im Widerspruch zu den gutachterlichen Feststellungen steht. Nach Auffassung des Sachverständigen ersetzt ein Rollstuhl-Bike zwar nicht die aufgrund der degenerativen Erkrankung der oberen Extremitäten erforderliche Krankengymnastik, ermöglicht aber wegen der Verringerung der Schmerzsituation im Bereich des Schultergürtels dessen intensivere krankengymnastische Beübung und kann ein Fortschreiten der Veränderungen erheblich verringern. Soweit das LSG diesen medizinischen Tatsachen offensichtlich nicht folgt, wären weitere Ermittlungen erforderlich gewesen.

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d) Diese unzureichenden Ermittlungen führen gleichwohl nicht zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, weil der von der Klägerin geltend gemachte Versorgungsanspruch unter dem Gesichtspunkt des Behinderungsausgleichs (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGB V) begründet ist. Zwar ist ein Rollstuhl-Bike grundsätzlich nicht zum Ausgleich einer Behinderung erforderlich, weil es dem Versicherten eine Mobilität ermöglicht, die über den durch Leistungen der GKV zu gewährleistenden Bereich der medizinischen Rehabilitation hinausgeht. Allerdings bestand gleichwohl ein entsprechender Versorgungsanspruch, weil die Behinderung im vorliegenden Einzelfall nicht auf andere Weise zumutbar ausgeglichen werden kann.

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aa) Der Behinderungsausgleich nach § 33 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGB V umfasst zwei Zielrichtungen:

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Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem sog unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts (stRspr, BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 24 RdNr 18 mwN - Badeprothese). Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSG aaO; vgl auch BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8, RdNr 4 mwN - C-leg-Prothese). Die Prüfung, ob mit der vorgesehenen Verwendung ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt in den Fällen der Erst- und Ersatzausstattung, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 24 RdNr 18 - Badeprothese).

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Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen. Im Rahmen dieses sog mittelbaren Behinderungsausgleichs geht es nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl § 1 SGB V, § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (zum mittelbaren Behinderungsausgleich zuletzt: BSG Urteil vom 7.10.2010 - B 3 KR 13/09 R - Scalamobil, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 18 mwN). Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist daher von der GKV nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (stRspr, zuletzt BSG Urteil vom 10.3.2011 - B 3 KR 9/10 R - Barcodelesegerät, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 13 ff mwN). Nach stRspr gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (vgl zuletzt BSG Urteil vom 10.3.2011 aaO und Urteil vom 7.10.2010 - B 3 KR 13/09 R aaO, jeweils mwN).

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Nach Maßgabe dieser Grundsätze handelt es sich im vorliegenden Fall um den mittelbaren Behinderungsausgleich, weil durch das begehrte Hilfsmittel nicht das Gehen selbst ermöglicht wird, sondern lediglich die Folgen einer Funktionsbeeinträchtigung der Beine - hier in Form des eingeschränkten Geh- und Stehvermögens - ausgeglichen werden sollen.

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bb) Das hier betroffene Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich (BSG Urteil vom 7.10.2010 - B 3 KR 13/09 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, RdNr 20 ff mwN - Scalamobil). Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 27 RdNr 15 - Elektrorollstuhl). Dies entspricht dem Umkreis, der mit einem vom behinderten Menschen selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreicht werden kann (vgl zu diesem Maßstab BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 28 S 163 - Therapie-Tandem II; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 25 S 141 - Therapie-Tandem I; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 S 26 - Rollstuhl-Boy). Die in früheren Entscheidungen angedeutete Möglichkeit, dass "zwischen dem durch einen Selbstfahrrollstuhl regelmäßig eröffneten Freiraum und den Entfernungen, die ein Gesunder auch bei eingeschränktem Gesundheitszustand vor allem im ländlichen Bereich zu Fuß zurücklegt, eine Lücke besteht, die ebenfalls noch den Grundbedürfnissen zuzurechnen ist" (so noch BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 S 27 - Rollstuhl-Boy), hat der Senat nicht weiter verfolgt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 187 - Rollstuhl-Bike II).

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cc) Für die Bestimmung des Nahbereichs gilt ein abstrakter, von den Besonderheiten des jeweiligen Wohnortes unabhängiger Maßstab (BSGE 102, 90 = SozR 4-2500 § 33 Nr 21, RdNr 14 - Kraftknoten; BSGE 98, 213 = SozR 4-2500 § 33 Nr 15, RdNr 17 - behinderungsgerechter Pkw). Dem steht weder entgegen, dass nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V Hilfsmittel zu gewähren sind, wenn sie "im Einzelfall erforderlich sind", noch dass nach § 33 SGB I bei der Ausgestaltung von Rechten nach dem SGB "die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten" berücksichtigt werden müssen. Die Frage, ob ein Hilfsmittel der Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse dient, betrifft dessen Eignung und Erforderlichkeit zur Erreichung der in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V genannten Versorgungsziele. Diese Eignung und Erforderlichkeit zählt ebenso wie die Hilfsmitteleigenschaft und das Nichtvorliegen der in § 33 Abs 1 Satz 1 Halbs 2 SGB V formulierten Ausschlusstatbestände zu den objektiven, dh unabhängig vom konkreten Einzelfall zu beurteilenden Anspruchsvoraussetzungen. Hierfür ist allein die Zielsetzung des § 33 SGB V und somit die Abgrenzung der Leistungspflicht der GKV von der anderer Träger nach einem abstrakt-aufgabenbezogenen Maßstab ausschlaggebend. Die Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung "im Einzelfall" ist dagegen - ebenso wie deren Wirtschaftlichkeit - eine subjektbezogene Anspruchsvoraussetzung, die nach einem konkret-individuellen Maßstab beurteilt wird. Der in § 33 SGB I normierte Individualisierungsgrundsatz ist für den die Anspruchsvoraussetzungen des § 33 SGB V betreffenden Nahbereich bereits deshalb ohne Bedeutung, weil er ausschließlich für die Ausgestaltung sozialer Rechte gilt, seine Anwendung mithin auf die Rechtsfolgenseite einer im SGB geregelten Anspruchsgrundlage beschränkt ist(BSG SozR 4-7610 § 362 Nr 1 RdNr 11 f).

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dd) Der Nahbereich wurde in der bisherigen Senatsrechtsprechung nicht im Sinne einer Mindestwegstrecke bzw einer Entfernungsobergrenze festgelegt, sondern lediglich beispielhaft im Sinne der Fähigkeit konkretisiert, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (stRspr, erstmals BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 187 - Rollstuhl-Bike II; zuletzt BSG Urteil vom 10.3.2011 - B 3 KR 9/10 R -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 15 - Barcodelesegerät), wobei allerdings die Fähigkeit, eine Wegstrecke von 100 m (BSG Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R, RdNr 16 - Therapie-Tandem IV) bzw 200 m (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 12 RdNr 15 f - Liegedreirad) zurückzulegen, nicht als ausreichend zur Erschließung des Nahbereichs angesehen worden ist. Dagegen umfasst der von der GKV zu gewährleistende Basisausgleich nicht die Fähigkeit, weitere Wegstrecken, vergleichbar einem Radfahrer, Jogger oder Wanderer, zu bewältigen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 186 - Rollstuhl-Bike II). An diesen Grundsätzen hält der Senat weiterhin fest. Eine weitere Konkretisierung des Nahbereichs im Sinne einer Mindestwegstrecke ist vor dem Hintergrund des sich wandelnden Mobilitätsverhaltens (vgl Kurzfassung des Ergebnisberichts "Mobilität in Deutschland 2008", abrufbar unter www.mobilitaet-in-deutschland.de - recherchiert am 16.5.2011) weder tatsächlich möglich noch zur sachgerechten Anwendung des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V notwendig.

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ee) Für die Bestimmung des durch Hilfsmittel der GKV zu erschließenden Nahbereichs ist allein der Zweck des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V maßgebend. Dieser liegt in der Sicherstellung der in Satz 1 formulierten Versorgungsziele. Dabei soll mit dem Versorgungsziel des Behinderungsausgleichs (§ 33 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGB V) grundsätzlich eine Gleichstellung des behinderten Menschen mit Nichtbehinderten erreicht werden, wobei allerdings im Bereich des mittelbaren Behinderungsausgleichs kein Gleichziehen mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zu gewährleisten ist, sondern lediglich ein Aufschließen zu den Grundbedürfnissen eines nicht behinderten Menschen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 31 S 185 - Rollstuhl-Bike II), um die Zuständigkeit der GKV von der anderer Träger abzugrenzen. Von dieser Zielsetzung ausgehend sind dem der Zuständigkeitsabgrenzung der GKV von anderen Rehabilitationsträgern dienenden Nahbereich beim mittelbaren Behinderungsausgleich solche Wege zuzuordnen, die räumlich einen Bezug zur Wohnung und sachlich einen Bezug zu den Grundbedürfnissen der physischen und psychischen Gesundheit bzw der selbständigen Lebensführung aufweisen. In räumlicher Hinsicht ist der Nahbereich auf den unmittelbaren Umkreis der Wohnung des Versicherten beschränkt (vgl zum Zusammenhang zwischen dem Grundbedürfnis auf Mobilität und dem Grundbedürfnis des selbständigen Wohnens: BSG Urteil vom 10.3.2011 - B 3 KR 9/10 R - Barcodelesegerät - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 15). Diese ist Ausgangs- und Endpunkt der zum Nahbereich zählenden Wege, so dass die Mobilität für den Hin- und Rückweg durch Leistungen der GKV sicherzustellen ist. Hierfür sind allerdings nicht die konkreten Wohnverhältnisse des behinderten Menschen maßgebend, weil der Nahbereich ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens konkretisiert und somit die Eignung und Erforderlichkeit des Hilfsmittels als objektive Anspruchsvoraussetzung betrifft. Sachlich umfasst der Nahbereich gesundheitserhaltende Wege, Versorgungswege sowie elementare Freizeitwege. Zu den gesundheitserhaltenden Wegen zählen Entfernungen, die zur Aufrechterhaltung der physischen und psychischen Existenz zurückgelegt werden (zB Besuch von Ärzten und Therapeuten, Aufsuchen der Apotheke). Der Versorgungsweg umschreibt dagegen die Fähigkeit, die Wohnung zu verlassen, um die für die Grundbedürfnisse der selbständigen Existenz und des selbständigen Wohnens notwendigen Verrichtungen und Geschäfte (Einkauf, Post, Bank) wahrnehmen zu können. Die Mobilität für Freizeitwege ist in Abgrenzung zu der durch andere Leistungsträger sicherzustellenden Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft jedoch nur durch Leistungen der GKV abzudecken, wenn (und soweit) diese Wege von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit sind. In diesem Sinne zählen zu den Freizeitwegen Entfernungen, die bewältigt werden, um die körperlichen Vitalfunktionen aufrechtzuerhalten (kurzer Spaziergang an der frischen Luft) und um sich einen für die seelische Gesundheit elementaren geistigen Freiraum zu erschließen (zB Gang zum Nachbarn zur Gewährleistung der Kommunikation, Gang zum Zeitungskiosk zur Wahrnehmung des Informationsbedürfnisses).

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ff) Dagegen sind die zur rentenversicherungsrechtlichen Wegefähigkeit und zum Nachteilsausgleich "G" entwickelten Maßstäbe aufgrund ihrer abweichenden Zweckbestimmung nicht geeignet, den für das Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums relevanten Nahbereich näher bzw in anderer Weise zu bestimmen.

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Die Wegefähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung, dh das gesundheitliche Vermögen, viermal am Tag eine Wegstrecke von 500 m in einem Zeitraum von 20 Minuten zurückzulegen (vgl BSG SozR 4-2600 § 43 Nr 8 RdNr 15; BSG Urteil vom 28.8.2002 - B 5 RJ 12/02 R - RdNr 13 und 15), ist ein wesentliches Kriterium für die Erwerbsfähigkeit. Sie betrifft Voraussetzungen für die Gewährung der Versicherungsleistung Rente. Bereits aus diesem Grund ist der für die rentenversicherungsrechtliche Wegefähigkeit geltende Maßstab nicht zur Bestimmung der Leistungspflicht im Bereich der GKV-Rehabilitationsleistungen geeignet. Soweit entsprechend dem Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" (§ 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI) zum Ausgleich einer eingeschränkten Wegefähigkeit Leistungen des Rentenversicherungsträgers zur (beruflichen) Rehabilitation erbracht werden, dienen diese Leistungen dem Zweck, die Erwerbsfähigkeit zu erhalten bzw gesundheitlich bedingte Erwerbshindernisse zu beseitigen, und verfolgen daher einen erwerbsbezogenen Rehabilitationsansatz (§ 9 Abs 1 SGB VI; § 6 Abs 1 Nr 4 iVm § 5 Nr 1, 2 SGB IX). Dagegen liegt den von der GKV zu erbringenden Leistungen der medizinischen Rehabilitation ein gesundheitsbezogener Rehabilitationsansatz zugrunde. Mit diesen Leistungen soll eine durch Krankheit bedingte Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abgewendet, beseitigt, gemildert, ausgeglichen, ihre Verschlimmerung verhütet oder ihre Folgen gemildert werden (§ 11 Abs 2 Satz 1 SGB V; § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 SGB IX). In diesem Sinne erschließen die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dem Versicherten die Möglichkeiten - im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs allerdings nur in Bezug auf seine Grundbedürfnisse - eines nicht behinderten Menschen. Maßstab ist daher weder der erwerbsfähige noch der aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen ggf an der Grenze zur aufgehobenen Erwerbsfähigkeit stehende Versicherte, sondern der nichtbehinderte Mensch, so dass die Bestimmung des Nahbereichs anhand der zur rentenversicherungsrechtlichen Wegefähigkeit entwickelten Kriterien den Leistungsumfang des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V in einer mit der Zweckrichtung der Norm nicht zu vereinbarenden Weise verkürzen würde.

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Der für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs mit dem Merkzeichen "G" geltende (Mobilitäts-)Maßstab kann aufgrund seiner abweichenden Zweckbestimmung ebenfalls nicht zur Konkretisierung des Nahbereichs herangezogen werden. Das Merkzeichen "G" wird zuerkannt, wenn infolge einer Einschränkung des Gehvermögens Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren bewältigt werden können (§ 146 Abs 1 Satz 1 SGB IX), wobei die "Wegstrecken im Ortsverkehr" von der Rechtsprechung im Sinne einer Länge von bis zu 2 km bei einer Gehdauer von 30 Minuten konkretisiert worden sind (so schon BSGE 62, 273, 274 ff = SozR 3870 § 60 Nr 2 S 3 ff). Mit dem Merkzeichen "G" sollen Mehraufwendungen ausgeglichen werden, die einem gehbehinderten Menschen dadurch entstehen, dass er öfter als ein nicht behinderter Mensch - nämlich auch für kürzere und üblicherweise zu Fuß zu bewältigende Wegstrecken - auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen ist (BT-Drucks 8/2453, S 11 zu § 59 SchwbG; BSGE 62, 273, 276 f = SozR 3870 § 60 Nr 2 S 4; Dreher, ZfS 1986, 65, 67). Maßstab für die Gewährung des Nachteilsausgleichs ist damit zwar - ebenso wie bei den von der GKV zu erbringenden Leistungen - der nichtbehinderte Mensch. Allerdings gehen die mit der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" verbundenen Vergünstigungen (unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr - § 145 iVm § 147 Abs 1 SGB IX) über den engeren Umkreis der Wohnung des behinderten Menschen hinaus, weil zum einen die den Ausgleich begründenden Wegstrecken nicht zwingend von der eigenen Wohnung ausgehen bzw zu ihr hinführen (Dreher, ZfS 1986, 65, 67) und zum anderen mit dem Merkzeichen "G" nicht nur Mobilitätsdefizite im Nahbereich der Wohnung, sondern darüber hinaus auch solche in Bezug auf Arbeitswege und Freizeitwege jeglicher Art ausgeglichen werden. Mit dem Merkzeichen "G" werden Nachteile des behinderten Menschen im Hinblick auf die "nahezu unbegrenzten Möglichkeiten" und nicht nur die Grundbedürfnisse eines nicht behinderten Menschen ausgeglichen. Für die Zuerkennung dieses Merkzeichens ist ein über den gesundheitsbezogenen Ansatz des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V hinausgehender teilhabebezogener Rehabilitationsansatz maßgebend. Infolge dessen ist im Rahmen des Nachteilsausgleichs "G" die Wegstrecke und somit die Entfernung im Sinne einer Mindestwegstrecke für die Leistungspflicht ausschlaggebend (Dreher, ZfS 1986, 65, 68 f), während im Anwendungsbereich des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V die Wegeart, dh der mit der Zurücklegung des Weges verbundene Zweck im Sinne des Mobilitätsziels, leistungsrechtlich von Bedeutung ist.

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gg) Hiervon ausgehend eröffnet das Rollstuhl-Bike dem behinderten Menschen grundsätzlich eine dem Radfahren vergleichbare und somit über den nach den dargelegten Grundsätzen (vgl unter ee) bestimmten Nahbereich hinausgehende Mobilität. Denn mit dem Rollstuhl-Bike können nicht nur die im Nahbereich der Wohnung liegenden Ziele erreicht, sondern darüber hinaus auch Arbeits- und Freizeitwege jeglicher Art bewältigt werden. Allerdings sind Hilfsmittel, die dem Versicherten eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität ermöglichen, im Einzelfall gleichwohl von der KK zu gewähren, wenn besondere qualitative Momente dieses "Mehr" an Mobilität erfordern. Solche besonderen qualitativen Momente liegen zB vor, wenn der Nahbereich ohne das begehrte Hilfsmittel nicht in zumutbarer Weise erschlossen werden kann oder wenn eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität zur Wahrnehmung eines anderen Grundbedürfnisses notwendig ist. So ist etwa die Erschließung des Nahbereichs ohne das begehrte Hilfsmittel unzumutbar, wenn Wegstrecken im Nahbereich nur unter Schmerzen oder nur unter Inanspruchnahme fremder Hilfe bewältigt werden können (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 27 RdNr 24 - Elektrorollstuhl)oder wenn die hierfür benötigte Zeitspanne erheblich über derjenigen liegt, die ein nicht behinderter Mensch für die Bewältigung entsprechender Strecken zu Fuß benötigt. Andere Grundbedürfnisse, die eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität erfordern, sind vom Senat in der Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 10 RdNr 16 - Reha-Kinderwagen; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 46 S 258 f - Therapiedreirad; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 S 158 f - Rollstuhl-Bike I) sowie in der Erreichbarkeit von Ärzten und Therapeuten bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation (BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7, RdNr 13 ff - schwenkbarer Autositz II)gesehen worden. Zur Beantwortung der Frage, ob besondere qualitative Umstände ausnahmsweise die Gewährung eines Rollstuhl-Bikes erfordern, sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls maßgebend.

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hh) Im vorliegenden Fall kann offen gelassen werden, ob das vom LSG festgestellte gesundheitliche Vermögen der Klägerin, sich mit dem vorhandenen Aktivrollstuhl etwa zehn Minuten in langsamen Fußgängertempo fortzubewegen und diese Fortbewegung nach einer zwei- bis dreiminütigen Pause in entsprechender Weise fortzuführen, ausreicht, um den Nahbereich der Wohnung zu erschließen, weil jedenfalls die Bedingungen, unter denen dies möglich ist, nicht zumutbar sind und somit besondere qualitative Momente bestehen, die das mit der Gewährung eines Rollstuhl-Bikes verbundene "Mehr an Mobilität" in den Hintergrund treten lassen.

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Ausgehend von den Feststellungen des LSG haben sich bei der Klägerin die degenerativen Veränderungen und die hierdurch bedingten Funktionsstörungen und Beschwerden im Bereich der oberen Extremitäten in der Zeit zwischen der erst- und zweitinstanzlichen Begutachtung verschlechtert. Nunmehr treten bereits nach einer zehnminütigen Fortbewegung mit dem Aktivrollstuhl Schmerzen auf, die zur Einlegung einer Pause zwingen. Diese degenerativen Veränderungen werden nach den gutachterlichen Feststellungen bei der weiteren Verwendung des Aktivrollstuhls fortschreiten und die dadurch bedingten Beschwerden zunehmen, wohingegen die Progredienz der degenerativen Veränderungen durch die Verwendung des Rollstuhl-Bikes erheblich vermindert werden kann. Die Wahrnehmung eines Grundbedürfnisses unter Inkaufnahme gesundheitlicher Einschränkungen und verbunden mit der Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist nicht zumutbar. Aus diesem Grund erfordert die besondere gesundheitliche Situation der Klägerin die Versorgung mit einem Rollstuhl-Bike.

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ii) Das Rollstuhl-Bike ist auch nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (§ 33 Abs 1 Satz 1, letzter Halbs SGB V) von der Sachleistungspflicht der GKV ausgenommen. Es handelt sich um eine speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen entwickelte Zusatzausrüstung für einen Aktivrollstuhl, die von gesunden Menschen nicht genutzt werden kann.

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jj) Gegen die Versorgung der Klägerin mit einem Rollstuhl-Bike sprechen auch keine Kostengesichtspunkte. Es handelt sich um eine wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung (§ 12 Abs 1 SGB V). Insbesondere kann die Klägerin nicht alternativ auf einen restkraftunterstützenden Greifreifenantrieb verwiesen werden. Zwar bietet dieser möglicherweise dem Rollstuhl-Bike vergleichbare Erleichterungen, weil der behinderte Mensch in die Lage versetzt wird, beim Auftreten von Schmerz- oder Erschöpfungszuständen individuell über eine Fernbedienung den zusätzlichen Antrieb zuzuschalten. Aufgrund der bei voller Aufladung des Antriebs ermöglichten Reichweite von 25 km ist die Erschließung des Nahbereichs in jedem Fall sichergestellt. Allerdings belaufen sich die Kosten für den Zusatzantrieb auf 3500 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer - bezogen auf einen Gewährleistungszeitraum von 60 Monaten - und liegen damit über den für ein Rollstuhl-Bike aufzuwendenden Kosten. Zudem würde die Vergütungspauschale nach dem Ablauf des Gewährleistungszeitraums erneut anfallen.

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D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.