Bundessozialgericht Urteil, 16. Juni 2015 - B 13 R 27/13 R

bei uns veröffentlicht am16.06.2015

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Mai 2013 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24. August 2012 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für alle Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten besteht Streit, ob die Klägerin Anspruch auf Altersrente für Frauen ohne Kürzung der nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzurechnenden Entgeltpunkte (EP) für ihre in Polen zurückgelegten Beschäftigungszeiten um 40 % hat.

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Die im Jahr 1948 in Polen geborene Klägerin war dort seit 1966 zunächst als Hilfsschwester in einem Krankenhaus, seit 1968 als Telefonistin und Arbeiterin in einem Bergwerk beschäftigt. Im Juni 1989 siedelte sie nach Deutschland über und wurde hier als Vertriebene (Vertriebenenausweis A) mit deutscher Staatsangehörigkeit durch Aufnahme als Aussiedler anerkannt. Sie ließ sich im Großraum Aachen nieder, wo sie bis zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben im Jahr 2009 durchgehend in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt war. Im September 1994 verlegte sie ihren Wohnsitz nach K. (Niederlande) und setzte von dort aus als Grenzgängerin ihre Berufstätigkeit in Deutschland fort; im Dezember 1999 zog sie nach A. zurück.

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Der beklagte Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin ab 1.7.2009 Altersrente für Frauen mit einem monatlichen Zahlbetrag von zunächst 811,46 Euro (Rentenbescheid vom 16.6.2009). Dabei verminderte er die nach dem FRG zu berücksichtigenden EP für die in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten von Dezember 1966 bis Juni 1989 um 40 % (Faktor 0,6). Den hiergegen und gegen die Zuordnung der Zeit von Juni 1975 bis Juni 1989 zur Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum SGB VI gerichteten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 19.10.2010).

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Das SG Aachen hat den Bescheid vom 16.6.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.10.2010 geändert und die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden (die Zuordnung zu den Qualifikationsgruppen betreffenden) Klage verurteilt, die Altersrente der Klägerin ohne Multiplikation der für den Zeitraum vom 21.12.1966 bis zum 7.6.1989 ermittelten EP mit dem Faktor 0,6 neu zu berechnen (Urteil vom 24.8.2012). Die Kürzungsvorschrift in § 22 Abs 4 FRG sei im Fall der Klägerin aufgrund der Ausnahmeregelung in Art 6 § 4 Abs 5 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) nicht anwendbar, weil diese nach Maßgabe des Abkommens vom 8.12.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit (Abk Polen SozSich) noch eine Anwartschaft auf der Grundlage des Abkommens vom 9.10.1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abk Polen RV/UV) habe. Aufgrund einer unionsrechtskonformen Auslegung unter Berücksichtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 AEUV) sei davon auszugehen, dass die Klägerin trotz Verlegung ihres Wohnorts von 1994 bis 1999 in die Niederlande ihren Wohnsitz iS von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich in Deutschland beibehalten habe.

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Die Beklagte hat gegen die Entscheidung des SG Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat sie auf Anforderung des Gerichts eine Probeberechnung der Rente der Klägerin unter Berücksichtigung der in Polen zurückgelegten Zeiten nach dem Abk Polen RV/UV erstellt. Dabei hat sich ein um ca 125 Euro höherer monatlicher Zahlbetrag ergeben. Das LSG hat die Entscheidung des SG geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 28.5.2013 idF des Berichtigungsbeschlusses vom 11.10.2013). Es hat im Wesentlichen ausgeführt, die Anwendung der Kürzungsregelung nach § 22 Abs 4 FRG sei im Fall der Klägerin nicht aufgrund der Übergangsbestimmung in Art 6 § 4 Abs 5 FANG ausgeschlossen. Weil diese sich nicht ununterbrochen in Deutschland aufgehalten, sondern ihren Wohnsitz zeitweise in die Niederlande verlegt habe, habe sie ihre Rechtsposition aus Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich dauerhaft verloren, selbst wenn sie weiterhin in Deutschland gearbeitet habe. Vorrangige europarechtliche Vorschriften stünden diesem Ergebnis nicht entgegen. Die Anwendung europäischen Primärrechts auf einen nicht dem europäischen Recht unterliegenden, sondern vielmehr wirksam abweichend geregelten Sachverhalt sei ausgeschlossen. Im Übrigen sei das Recht auf Freizügigkeit hier gar nicht berührt, weil die Weitergeltung des Abk Polen RV/UV nur solche Personen betreffe, die ihren Wohnsitz seit dem 1.1.1991 beibehalten und damit gerade keinen Gebrauch von ihrem Recht auf Freizügigkeit gemacht hätten. Ungeachtet dessen sei die nur beschränkte Weitergeltung der günstigen Regelungen des Abk Polen RV/UV für einen begrenzten Personenkreis mit den in den europäischen Verträgen allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten vereinbar, weil damit in geeigneter und nicht unverhältnismäßiger Weise ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt werde. Es sei nicht erforderlich, zugunsten von Personen mit Anwartschaften aus dem Abk Polen RV/UV, die nach dem 31.12.1990 von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, von dem Recht der sozialrechtlichen Koordinierung abzuweichen, das für alle übrigen Unionsbürger bei Wahrnehmung der Freizügigkeit gelte.

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Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine fehlerhafte Anwendung des § 22 Abs 4 FRG sowie der Begriffe "Wohnort beibehalten" in Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich. Maßgebend für deren Auslegung sei nicht nur der Wortlaut, sondern auch der Sinn und Zweck der Regelung. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin zwischen 1994 und 1999 nur in geringem Maß in den Niederlanden, überwiegend jedoch in Deutschland aufgehalten habe, wo sie ihre gesamten sozialen Kontakte gepflegt habe. Zudem habe sie ihre Berufstätigkeit in Deutschland und damit die Einbindung in das hiesige Sozialversicherungssystem nie aufgegeben. Die vom LSG vorgenommene Auslegung führe hingegen zu einer Verletzung des Primärrechts der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 AEUV, wie es in der Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert worden sei (Hinweis auf das Urteil vom 18.12.2007 - C-396/05 ua , Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2). Mit Rücksicht darauf sei zu gewährleisten, dass Personen, die bereits vor dem 1.1.1991 in Deutschland oder Polen gewohnt hätten, ihre Rechte aus dem Abk Polen RV/UV bei Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts nicht verlören, solange sie dem Sozialversicherungssystem des betreffenden Staates unterworfen blieben. Deshalb sei die Klägerin wie ein Arbeitnehmer zu behandeln, der seinen Wohnsitz auch nach dem 31.12.1990 in Deutschland beibehalten habe.

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Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Mai 2013 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24. August 2012 zurückzuweisen.

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Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

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Sie hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend. Ergänzend führt sie aus, dass sich das Urteil des EuGH vom 18.12.2007 ausschließlich mit der Frage des Leistungsexports von FRG-Renten in Staaten der Europäischen Union befasse, das bilaterale Abk Polen RV/UV jedoch nicht berühre.

Entscheidungsgründe

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Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Altersrente für Frauen (§ 237a SGB VI) ohne den Abschlag von 40 % auf nach dem FRG zu berücksichtigende EP für ihre in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten. Die Kürzungsregelung in § 22 Abs 4 FRG kommt in ihrem Fall gemäß der Übergangsbestimmung in Art 6 § 4 Abs 5 FANG nicht zur Anwendung, weil der Klägerin bei Beginn ihrer Altersrente nach Maßgabe von Art 27 Abk Polen SozSich noch eine Rentenanwartschaft auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV zustand. Aus der gebotenen europarechtskonformen Anwendung des Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich folgt, dass diese Rentenanwartschaft nicht unterging, während die Klägerin zeitweilig von 1994 bis 1999 als Grenzgängerin in den Niederlanden wohnte. Dementsprechend war das Urteil des LSG aufzuheben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen (§ 170 Abs 2 S 1 SGG).

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1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 und Abs 4 iVm § 56 SGG)gegen den eine höhere Altersrente für Frauen versagenden Rentenbescheid vom 16.6.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.10.2010 nur noch insoweit, als die Anwendung der Kürzungsregelung des § 22 Abs 4 FRG im Streit steht. Soweit sich die Klägerin vor dem SG auch noch gegen die Zuordnung ihrer Beschäftigungen in Polen von Juni 1975 bis Juni 1989 zur Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum SGB VI gewandt hat, hat sie - nach diesbezüglicher Abweisung der Klage durch das SG - diesen Gesichtspunkt weder im Berufungsverfahren noch in ihrer Revisionsbegründung weiter verfolgt. Damit hat sie den Streitgegenstand des Verfahrens auf einen abtrennbaren, tatsächlich und rechtlich selbständigen Teil des ursprünglich umfassend geltend gemachten Anspruchs auf höhere Rente beschränkt. Diese Beschränkung ist auch vom Revisionsgericht zu beachten (vgl BSG Urteil vom 18.5.2006 - B 9a V 2/05 R - SozR 4-3100 § 1 Nr 3 RdNr 17 f; BSG Urteil vom 27.6.2012 - B 5 R 88/11 R - BSGE 111, 107 = SozR 4-2600 § 233 Nr 2, RdNr 12; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 11).

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2. Rechtsgrundlage für das Verlangen der Klägerin auf Nichtanwendung der Kürzungsanordnung in § 22 Abs 4 FRG ist die Übergangsvorschrift in Art 6 § 4 Abs 5 FANG(idF von Art 4 Nr 2 Buchst b des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25.9.1996 - BGBI I 1461). Nach dieser Vorschrift findet § 22 Abs 4 FRG in der ab 1.1.1992 sowie in der vom 7.5.1996 an geltenden Fassung keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abk Polen SozSich Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV haben.

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Dabei bezieht sich die Kürzungsregelung in § 22 Abs 4 FRG auf alle nach § 22 Abs 1 und 3 FRG maßgeblichen EP, mithin auf diejenigen EP, welche für Zeiten der in §§ 15 und 16 FRG genannten Art zu ermitteln sind. Die Klägerin hat als in der Bundesrepublik Deutschland anerkannte Vertriebene (§ 1 Buchst a FRG iVm § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG, s hierzu BSG Urteil vom 17.10.2006 - B 5 RJ 21/05 R - SozR 4-5050 § 15 Nr 3 RdNr 21) bereits in unmittelbarer Anwendung von § 15 FRG - und somit unabhängig von der Frage, ob ihr auch nach zwischenstaatlichem Recht gemäß dem Abk Polen RV/UV Rentenleistungen entsprechend den Regelungen des FRG zustehen - Anspruch auf Berücksichtigung ihrer beim Rentenversicherungsträger in Polen zurückgelegten Beitragszeiten als Zeiten, die in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) gemäß § 55 Abs 1 S 2 SGB VI den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Schon aufgrund dieser allein auf innerstaatlichem Recht beruhenden "Eingliederung" (auch "reine" FRG-Zeiten genannt, vgl Poletzky/Pflaum, Sozialversicherungsabkommen zwischen Deutschland und Polen vom 9.10.1975, Nachtrag zur 2. Aufl der Polenbroschüre, Stand 31.12.1998, Teil C Abschn 7 Ziff 7.2.6) ist ihre Rente im Grundsatz so zu berechnen, als ob sie ihr gesamtes Erwerbsleben - also auch die in Polen absolvierten Zeiten - rentenrechtlich in Deutschland zurückgelegt hätte. Allerdings ist für sie, da ihre Altersrente im Jahr 2009 und somit sowohl nach dem 30.9.1996 als auch nach Auslaufen der Übergangsregelung am 30.6.2000 begann (vgl Art 6 § 4c Abs 1 und 2 FANG - s hierzu BSG Urteil vom 25.2.2010 - B 13 R 61/09 R - SozR 4-5050 § 22 Nr 10 RdNr 19 ff, sowie BVerfG Beschluss vom 15.7.2010 - 1 BvR 1201/10 - SozR 4-5050 § 22 Nr 11), der Umfang dieser Eingliederung aufgrund des nunmehr voll wirksamen Abschlags nach § 22 Abs 4 FRG grundsätzlich um 40 % zurückgenommen(zur historischen Entwicklung s BVerfG Beschluss vom 13.6.2006 - 1 BvL 9/00 ua - BVerfGE 116, 96, 97 ff = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 2 ff). Von dieser Leistungsabsenkung für "reine" FRG-Zeiten bleiben jedoch Inhaber von Ansprüchen und Anwartschaften nach dem FRG, die (auch) auf dem Abk Polen RV/UV gründen, gemäß Art 6 § 4 Abs 5 FANG mit Rücksicht auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Gegenseitigkeit verschont(zur Vereinbarkeit dieser privilegierenden Regelung mit Art 3 Abs 1 GG s BVerfG Beschluss vom 13.6.2006 - 1 BvL 9/00 ua - BVerfGE 116, 96, 130 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5, RdNr 97).

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3. Die Klägerin erfüllt die in Art 6 § 4 Abs 5 FANG genannten Voraussetzungen für die Nichtanwendung der Kürzungsvorschrift in § 22 Abs 4 FRG. Bei Beginn ihrer Altersrente für Frauen am 1.7.2009 stand ihr mit Rücksicht auf europarechtliche Vorgaben nach Maßgabe des Abk Polen SozSich weiterhin eine Rentenanwartschaft auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV zu.

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a) Zunächst hatte die Klägerin ab dem Zeitpunkt ihrer Übersiedlung nach Deutschland im Juni 1989 aufgrund der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV (s insbesondere Art 4 Abs 1 bis 3) nur noch eine Anwartschaft auf Rentenleistungen gegenüber einem deutschen Rentenversicherungsträger nach den für diesen maßgeblichen Vorschriften. Nach Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (AbkG - idF vom 12.3.1976, BGBl II 393) waren hierfür Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen GRV in entsprechender Anwendung des FANG vom 25.2.1960 zu berücksichtigen, "solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnt".

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b) Mit Inkrafttreten des Abk Polen SozSich vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743), das nunmehr auch im Verhältnis zwischen Polen und Deutschland das im Bereich des europäischen koordinierenden Sozialrechts für Geldleistungen normierte Leistungsexportprinzip (anteilige Rentenzahlung aus jeder nationalen Rentenkasse bei Zusammenrechnung der für eine Rentenleistung erforderlichen Versicherungszeiten, vgl Art 10 Abs 1, Art 44 ff EWGV 1408/71) einführte, verlor die Klägerin die Rentenanwartschaft in der deutschen GRV nach den noch dem Eingliederungsprinzip verpflichteten Regelungen des Abk Polen RV/UV nicht. Vielmehr blieb aufgrund der Übergangs- und Schlussbestimmungen des neuen Abk Polen SozSich das bisherige Abk Polen RV/UV unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin anwendbar. Insbesondere bestimmte Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich, dass vor dem 1.1.1991 aufgrund des Abk Polen RV/UV von Personen in einem Vertragsstaat erworbene Ansprüche und Anwartschaften durch die neuen Regelungen des Abk Polen SozSich nicht berührt werden, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten. Hiernach war die Klägerin auch nach Inkrafttreten des Abk Polen SozSich zum 1.10.1991 (BGBl II 1991, 1072) weiterhin Berechtigte einer Rentenanwartschaft auf der Grundlage des Abk Polen RV/UV.

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c) Dieser Rentenanwartschaft steht nicht entgegen, dass die Klägerin im September 1994 in den zu den Niederlanden gehörenden Teil der Grenzregion nach K. umzog, wo sie mit ihrer Familie bis zum Rückumzug nach A. im Dezember 1999 wohnte, während sie ihrer versicherungspflichtigen Beschäftigung weiterhin in Deutschland - in dieser Zeit nunmehr als sog Grenzgängerin - nachging.

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aa) Allerdings blieb die Rentenanwartschaft nach dem Abk Polen RV/UV gemäß dem Wortlaut der Übergangsvorschrift in Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich nur unberührt, solange die begünstigte Person "auch nach dem 31. Dezember 1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten" hat. In gleicher Weise bestimmte auch Art 2 Abs 1 S 1 AbkG Polen RV/UV (nunmehr in der ab 23.6.1991 geltenden Fassung von Art 2 Nr 1 des Gesetzes vom 18.6.1991 zum Abk Polen SozSich, BGBl II 741), dass nach polnischem Rentenrecht maßgebliche Zeiten bei der Feststellung einer Rente aus der deutschen GRV in Anwendung des FRG und des FANG zu berücksichtigen sind, "solange der Berechtigte im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach dem Stand vom 2. Oktober 1990 wohnt". Dabei ist unter den Begriffen "Wohnort" bzw "wohnen" im Sinne dieser Regelungen in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zu verstehen (vgl Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich bzw Art 1 Nr 2 Abk Polen RV/UV - s hierzu näher Senatsurteil vom 16.6.2015 - B 13 R 36/13 R - Juris RdNr 21 ff), wie er in § 30 Abs 3 S 2 SGB I näher umschrieben ist.

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Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, welche die Klägerin als solche nicht mit Revisionsgründen angegriffen hat (sie wendet sich gegen deren rechtliche Einordnung durch das Berufungsgericht) und die somit für den Senat bindend sind (§ 163 SGG),hatte die Klägerin im Zeitraum von 1994 bis 1999 ihren Wohnort bzw gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden begründet, wo sie ihre Wohnung hatte, gemeldet war und wohin sie gewöhnlich täglich zurückkehrte. Weiterhin hat das LSG festgestellt, dass es während dieser Zeit keinen Ort in Deutschland gab, an dem sie sich nicht lediglich vorübergehend - etwa am Arbeitsplatz - aufhielt. Aufgrund dieser Umstände steht in tatsächlicher Hinsicht fest, dass die Klägerin im Jahr 1994 ihren Wohnort in Deutschland aufgab und in den Niederlanden neu begründete, ehe sie ihn im Jahr 1999 erneut nach Deutschland verlegte.

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bb) Der (tatsächliche) Wohnsitz in den Niederlanden ist in der vorliegenden Fallgestaltung unter Beachtung europarechtlicher Vorgaben jedoch so zu behandeln, als habe die Klägerin auch in dieser Zeit in Deutschland gewohnt und somit ihren Wohnort hier beibehalten. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

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(1) Die europarechtlich verbürgte Unionsbürgerschaft (Art 17 EGVtr, nunmehr Art 20 AEUV) garantiert insbesondere das Recht auf Freizügigkeit (Art 18 EGVtr, nunmehr Art 21 AEUV), mithin das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unter den im Vertrag sowie den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses allgemeine Freizügigkeitsrecht hat in den speziellen Bestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 39 ff EGVtr, nunmehr Art 45 ff AEUV) eine besondere Ausprägung erfahren (vgl EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 67). Nähere Bedingungen für die Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit enthalten die auf der Grundlage von Art 42 EGVtr (nunmehr Art 48 AEUV) erlassenen sekundärrechtlichen Regelungen zur Koordinierung der innerstaatlichen Vorschriften über soziale Sicherheit in der EWGV 1408/71 (s hierzu den ersten Erwägungsgrund in der Präambel zur EWGV 1408/71; vgl auch EuGH Urteil vom 23.11.2000 - C-135/99 , Slg 2000, I-10409 RdNr 35 = SozR 3-2600 § 56 Nr 14 S 78 f). Deren Bestimmungen sind im Lichte der Art 39, 42 EGVtr so auszulegen, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EGVtr verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (EuGH Urteil vom 20.5.2008 - C-352/06 , Slg 2008, I-3827 = ZESAR 2008, 455, RdNr 29).

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(2) Den Mitgliedstaaten kommt allerdings nach wie vor die Befugnis zu, die näheren Voraussetzungen für den Erwerb von Rentenanwartschaften und Ansprüchen im nationalen Recht festzulegen (EuGH Urteil vom 3.3.2011 - C-440/09 , Slg 2011, I-1033 RdNr 23 f). Hierbei sind sie jedoch nicht völlig frei, sondern verpflichtet, das Unionsrecht und insbesondere das mit der EWGV 1408/71 verfolgte Ziel sowie die Grundsätze zu beachten, auf die diese Verordnung gestützt ist (EuGH Urteil vom 3.3.2011 , aaO RdNr 27; EuGH Urteil vom 18.4.2013 - C-548/11 , ZESAR 2013, 331 RdNr 38). Dazu gehört vor allem auch der Grundsatz, dass Geldleistungen ua für den Fall des Alters, auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats ein Anspruch besteht, nicht deshalb gekürzt oder entzogen werden dürfen, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt - es sei denn, in der Verordnung selbst wäre anderes bestimmt (Art 10 Abs 1 EWGV 1408/71 - nunmehr Art 7 EGV 883/2004). Die Mitgliedstaaten haben im Rahmen ihrer Gesetzgebung somit insbesondere die Gleichbehandlung aller in ihrem Gebiet erwerbstätigen Arbeitnehmer bestmöglich zu gewährleisten und Nachteile für diejenigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, abzuwenden (EuGH Urteil vom 18.12.2014 - C-523/13 , NZS 2015, 102 RdNr 49). Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, bei der Anwendung innerstaatlichen Rechts dieses so weit wie möglich in einer dem Unionsrecht entsprechenden Weise auszulegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (EuGH Urteil vom 18.12.2014 - C-523/13 , aaO RdNr 44; zum Anwendungsvorrang des europäischen Rechts s auch BVerfG Beschluss vom 6.7.2010 - 2 BvR 2661/06 - BVerfGE 126, 286, 301 ff; BVerfG Beschluss vom 14.1.2014 - 2 BvR 2728/13 ua - BVerfGE 134, 366 RdNr 17 ff).

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(3) Die genannten europarechtlichen Vorgaben stehen somit im Grundsatz einer Vorschrift des nationalen Rechts entgegen, die Nachteile - hier: eine Kürzung von Rentenleistungen - allein daran knüpft, dass der Berechtigte von seinem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch macht. Eine solche nationale Regelung lässt sich nach dem Unionsrecht nur dann rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem vom nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (EuGH Urteil vom 21.7.2011 - C-503/09 , Slg 2011, I-6497 = ZESAR 2012, 92 RdNr 86 f; EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 70; s auch EuGH Urteil vom 18.12.2014 - C-523/13 , NZS 2015, 102 RdNr 56 ff sowie Leitsatz 2). Dies zu beurteilen ist allein Sache des nationalen Gerichts (EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 71).

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(4) Die Klägerin konnte sich auf die Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 39 EGVtr nach Maßgabe der Bedingungen der EWGV 1408/71 berufen, als sie im Jahr 1994 ihren Wohnort in die Niederlande verlegte. Die Ansicht des Berufungsgerichts, das Recht auf Freizügigkeit sei in ihrem Fall nicht berührt, weil kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorgelegen habe, trifft nicht zu. Die Klägerin kam als deutsche Staatsangehörige in den Genuss der Rechte aus der Unionsbürgerschaft (Art 17 Abs 1 S 2 EGVtr) und unterfiel als Arbeitnehmerin hinsichtlich der Leistungen bei Alter dem persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der EWGV 1408/71 (dort Art 2 Abs 1 sowie Art 4 Abs 1 Buchst c). Der Umstand, dass sie aus berufsfremden Gründen - im Hinblick auf günstigere Immobilienpreise - ihren Wohnort in den Niederlanden nahm, den Arbeitsplatz aber durchgängig in Deutschland beibehielt, rechtfertigt es nicht, ihr die Eigenschaft als Wanderarbeitnehmerin abzusprechen. Vielmehr machte sie mit der Verlegung ihres Wohnsitzes in die Niederlande bei weiterer - von da an grenzüberschreitender - Berufstätigkeit in Deutschland von ihrem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer umfassend Gebrauch (vgl EuGH Urteil vom 18.7.2007 - C-212/05 , Slg 2007, I-6303 = ZESAR 2008, 93 RdNr 18). Sie war nunmehr als "Grenzgängerin" (vgl die Definition in Art 1 Buchst b EWGV 1408/71 bzw in Art 1 Buchst f EGV 883/2004) tätig.

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(5) Für die Klägerin galt deshalb während der gesamten Dauer ihres Wohnsitzes in den Niederlanden (1994 bis 1999) aufgrund ihrer Tätigkeit als Grenzgängerin gemäß Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71 (nunmehr Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004) die Regel, dass sie nur den sozialrechtlichen Vorschriften jenes Mitgliedstaats unterlag, in dem sie ihre Beschäftigung ausübte (vgl EuGH Urteil vom 5.2.2015 - C-655/13 , NZS 2015, 261 RdNr 19). Das war durchgängig das Recht der Bundesrepublik Deutschland. In einer solchen Konstellation schließt es die zentrale Vorschrift in Art 10 Abs 1 EWGV 1408/71 ("Aufhebung der Wohnortklauseln" - nunmehr Art 7 EGV 883/2004) aber grundsätzlich aus, dass Geldleistungen bei Alter, auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats - hier: Deutschlands - Anspruch besteht, nur deshalb gekürzt, zum Ruhen gebracht oder entzogen werden, weil der Berechtigte zeitweilig im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung der Altersrente verpflichtete Träger seinen Sitz hat (s hierzu auch die sechste Erwägung in der Präambel zur EWGV 1408/71: "Die Koordinierungsregeln sollen Arbeitnehmern und Selbständigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sowie ihren Angehörigen und Hinterbliebenen die Wahrung erworbener Ansprüche und Vorteile sowie der Anwartschaften ermöglichen"). Auch der EuGH hat in diesem Sinne wiederholt zu rentenrechtlichen Sachverhalten entschieden, dass der Zweck der Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit verfehlt würde, wenn Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, allein wegen der Verlegung ihres Wohnorts in einen anderen Mitgliedstaat nach nationalem Recht eingeräumte Vorteile automatisch verlieren würden (EuGH Urteil vom 23.11.2000 - C-135/99 , Slg 2000, I-10409 RdNr 34 = SozR 3-2600 § 56 Nr 14 S 79; EuGH Urteil vom 18.4.2013 - C-548/11 , ZESAR 2013, 331 RdNr 45).

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(6) Die Regelung in Art 6 § 4 Abs 5 FANG würde bei wortlautgetreuer Anwendung im Zusammenwirken mit Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich und Art 2 Abs 1 S 1 AbkG Polen RV/UV dazu führen, dass eine Berechtigte mit Rentenanwartschaften nach dem FRG wie die Klägerin, der diese Anwartschaften nach Übergangsrecht zugleich auch noch auf Grundlage des Abk Polen RV/UV zustand, die diesem Personenkreis gewährte Freistellung der FRG-Rentenanwartschaften von dem Abschlag um 40 % automatisch auch dann verlieren würde, wenn sie von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch macht und ihren Wohnort zeitweilig in einen anderen Mitgliedstaat verlagert. Hierfür kann der Senat eine tragfähige Rechtfertigung, die - wie oben unter (3) ausgeführt - nach vorrangigem Europarecht erforderlich ist, jedenfalls in der hier zu beurteilenden Konstellation nicht erkennen. Diese Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Sozialrechtsstatut - die Maßgeblichkeit deutschen Sozialrechts - aufgrund der nur vorübergehenden Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat nicht geändert hat und die Klägerin auch im Alter wieder hier wohnt, sodass ein Export der Rentenleistung in einen anderen Mitgliedstaat von vornherein nicht in Betracht kommt.

27

Bei dem in Rede stehenden Kürzungsmechanismus handelt es sich nicht um eine an sich zulässige Antikumulierungsvorschrift wegen des Zusammentreffens mit Leistungen nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats. Antikumulierungsregelungen sind nach Maßgabe von Art 46a ff EWGV 1408/71 (nunmehr in Art 53 ff EGV 883/2004) als iS von Art 10 Abs 1 EWGV 1408/71 (bzw Art 7 EGV 883/2004) "andere Bestimmungen" ausdrücklich erlaubt (s hierzu EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 60 ff; vgl auch Bokeloh, ZESAR 2012, 121, 124 f). Eine solche Regelung enthält vielmehr - unabhängig von der hier zu untersuchenden Kürzungsanordnung in § 22 Abs 4 FRG iVm Art 6 § 4 Abs 5 FANG - die Vorschrift des § 31 FRG(s hierzu BSG Urteil vom 11.5.2011 - B 5 R 8/10 R - BSGE 108, 152 = SozR 4-5050 § 31 Nr 1).

28

Jedenfalls in Bezug auf einen Grenzgänger, der aufgrund von Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71 (nunmehr Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004) während der gesamten Dauer seines Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat in das Sozial- und insbesondere Rentenversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland integriert - gleichsam "eingegliedert" - bleibt, ist kein im Allgemeininteresse liegendes Ziel erkennbar, das allein wegen des vorübergehenden Wohnortwechsels in Ausübung des Freizügigkeitsrechts die Absenkung der FRG-Leistungen rechtfertigen könnte. Soweit das LSG darauf abstellt, dass die noch auf dem Eingliederungsprinzip des Abk Polen RV/UV gründenden Rentenanwartschaften nach dem übereinstimmenden Willen Deutschlands und Polens auch nach Einführung des Leistungsexportprinzips durch das Abk Polen SozSich jedenfalls für diejenigen Personen fortgelten sollten, die bereits vor dem Stichtag 1.1.1991 in einem der beiden Länder wohnten, solange sie dort ansässig bleiben und damit dem Einkommens- und Preisniveau dieses Landes unterliegen (s hierzu BSG Urteil vom 10.7.2012 - B 13 R 17/11 R - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 51), trägt dies in der hier zu beurteilenden Konstellation nicht. Die Situation eines an seinem Arbeitsplatz in dem Land, in dem er vor dem 1.1.1991 wohnte, verbleibenden und weiterhin in dessen Sozialversicherungssystem integrierten Grenzgängers, der nach diesem Stichtag lediglich den Wohnort vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlagert, unterscheidet sich insoweit nicht wesentlich von einer Person, die in dem ursprünglichen Land ununterbrochen wohnen bleibt und damit keinen grenzüberschreitenden Bezug aufweist (vgl EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 71).

29

Soweit mit der Ausgestaltung der Übergangsregelung in Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich jedoch eine erhebliche finanzielle Belastung insbesondere der Republik Polen durch umfangreiche Leistungsexporte an Berechtigte in Deutschland aufgrund früherer Beschäftigungszeiten in Polen vermieden werden sollte (s hierzu BSG Urteil vom 10.7.2012 - B 13 R 17/11 R - aaO), ist dieser Gesichtspunkt von vornherein nicht geeignet, eine Kürzung der Leistungen der deutschen GRV für ohnehin nach dem FRG zu berücksichtigende polnische Beitragszeiten infolge einer Wahrnehmung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu rechtfertigen. Überdies steht der Export einer von Polen zu zahlenden Rente nach Deutschland nicht im Raum, wenn eine bereits vor dem 1.1.1991 in Deutschland wohnende Berechtigte nach dem Abk Polen RV/UV ihren Wohnort vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlagert, aber aufgrund ihrer Tätigkeit als Grenzgängerin in das deutsche Sozialversicherungssystem eingegliedert bleibt und hier auch als Rentnerin lebt. Schließlich vermag die Überlegung, dass die Beendigung der weiteren Anwendung des Abk Polen RV/UV im hier zu beurteilenden Fall eines nur vorübergehenden Wohnortwechsels in einen anderen Mitgliedstaat und Tätigkeit als Grenzgängerin lediglich zu einer Rechtslage führen würde, wie sie - als kollisionsrechtlicher "Normalzustand" - für alle übrigen die Freizügigkeitsrechte wahrnehmenden Unionsbürger gilt, die hier im Streit stehende Leistungskürzung für FRG-Zeiten nicht zu begründen. Die weitere - wenn auch wertmäßig geringere - Berücksichtigung der in Polen zurückgelegen Zeiten in der deutschen GRV nach § 15 FRG setzt gerade nicht das im Rahmen der sozialrechtlichen Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten der Union grundsätzlich anzuwendende Leistungsexportprinzip um.

30

(7) Im Ergebnis ist somit Art 6 § 4 Abs 5 FANG aufgrund der genannten europarechtlichen Vorgaben so auszulegen, dass die Kürzung der EP für in Polen zurückgelegte FRG-Zeiten um 40 % gemäß § 22 Abs 4 FRG auch dann keine Anwendung findet, wenn eine Berechtigte mit Rentenanwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, aufgrund einer fortgeführten Beschäftigung als Grenzgängerin in Deutschland für sie aber weiterhin allein deutsches Rentenrecht anzuwenden und die Rente auch nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu exportieren ist.

31

d) An dieser Rechtslage hat sich mit dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union zum 1.5.2004 nichts geändert. Ab diesem Zeitpunkt ist allerdings auch für die sozialrechtliche Koordinierung zwischen Deutschland und Polen grundsätzlich die EWGV 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (vom 14.6.1971, ABl L 149 vom 5.7.1971, S 2, geändert durch den Vertrag über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003 - Abschn B Anh II Nr 2 "Freizügigkeit" Abschn A "Soziale Sicherheit" Nr 1, s auch EU-Beitrittsgesetz vom 18.9.2003, BGBl II 1408 iVm Anlageband 1 S 158), zugrunde zu legen. Dasselbe gilt nach den - soweit hier von Bedeutung - weitgehend inhaltsgleichen Bestimmungen der ab 1.5.2010 wirksamen EGV 883/2004 (vom 29.4.2004, ABl EU Nr L 166 vom 30.4.2004 - s dazu Senatsurteil vom 10.7.2012 - B 13 R 17/11 R - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 26 ff, 41; zum zeitlichen Anwendungsbereich s Art 87 Abs 1, 3 und 5 EGV 883/2004).

32

Nach Art 6 Buchst a EWGV 1408/71 ist diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit getreten. Dies betrifft auch die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen SozSich und das Abk Polen RV/UV. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die wie das Abk Polen RV/UV von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung der EWGV 1408/71 geschlossen wurden, bleiben nach Art 7 Abs 2 Buchst c EWGV 1408/71 jedoch weiterhin anwendbar, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen ferner in Anhang III aufgeführt sein. Die genannten Voraussetzungen für eine Fortgeltung von Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich - und in diesem Umfang mithin auch des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV - sind erfüllt. Insbesondere ist auch in Anhang III Teil A EWGV 1408/71 (idF des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003) unter der Überschrift "Bestimmungen aus Abkommen über soziale Sicherheit, die ungeachtet des Artikels 6 der Verordnung weiterhin anzuwenden sind (Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe c der Verordnung)" in Ziff 84 "Deutschland - Polen" unter Buchst a das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens vom 8. Dezember 1990 über soziale Sicherheit festgelegten Bedingungen" aufgeführt (zu den ebenfalls erfüllten materiellen Voraussetzungen für eine Fortgeltung vgl Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 19 ff; zur Rechtslage nach der EGV 883/2004 s auch Bokeloh, NZS 2015, 321, 325 f). Die Europäische Kommission akzeptierte die Aufnahme der weiteren Anwendung des Abk Polen RV/UV in Anhang III der EWGV 1408/71 insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt, dass dies keinerlei Auswirkungen auf die künftige Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch Arbeitnehmer haben werde (so Bokeloh, DRV 2002, 438, 443).

33

Die aufgrund der Regelung in Art 7 Abs 2 EWGV 1408/71 unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichte weitere - vorrangige - Anwendung des Abk Polen RV/UV darf ihrerseits jedoch nicht mit tragenden Grundsätzen des Unionsrechts kollidieren, die der Regelung, zu der sie gehört, zugrunde liegen (vgl EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , ZESAR 2013, 456 RdNr 37). Dazu zählt vor allem der Grundsatz der Freizügigkeit, der auf dem fundamentalen Prinzip beruht, dass die Tätigkeit der Union insbesondere die Beseitigung von Hindernissen für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfasst (EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , aaO RdNr 39). An diesen Grundsätzen des Primärrechts sind folglich sowohl die näheren Bestimmungen des Sekundärrechts zu messen, nach denen altes bilaterales Abkommensrecht weiterhin maßgeblich ist bzw dessen weitere Anwendung wegfällt, als auch die in diesem Kontext heranzuziehenden Vorschriften des nationalen Rechts (EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , aaO RdNr 38, 63 f). Auch insoweit gilt, dass das Unionsrecht jeder nationalen Maßnahme entgegensteht, die - selbst wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist - geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch Unionsangehörige zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, sofern die Maßnahme nicht durch ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel gerechtfertigt ist und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist (EuGH Urteil vom 16.5.2013 - C-589/10 , aaO RdNr 69 f).

34

Mithin zwingt das ab dem 1.5.2004 auch im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen unmittelbar anwendbare europäische Recht zu keiner abweichenden Bewertung. Vielmehr gilt auf dieser Grundlage aus den oben (unter 3. c) näher dargelegten Gründen in gleicher Weise, dass die Kürzung der EP für in Polen zurückgelegte FRG-Zeiten um 40 % gemäß § 22 Abs 4 FRG aufgrund vorrangigen europäischen Rechts keine Anwendung finden kann, wenn eine Berechtigte mit Rentenanwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV nach dem 31.12.1990 in Ausübung des Freizügigkeitsrechts ihren Wohnort vorübergehend in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, aufgrund der fortgeführten Beschäftigung als Grenzgängerin in Deutschland für sie aber weiterhin allein deutsches Rentenrecht anzuwenden und die Rente auch nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu exportieren ist.

35

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundessozialgericht Urteil, 16. Juni 2015 - B 13 R 27/13 R

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(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen ha

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Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

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(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision eb

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(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlag

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(1) Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt g

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Fremdrentengesetz - FRG | § 16


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(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Frem

Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz - FANG | § 4c


(1) Für Berechtigte, die vor dem 7. Mai 1996 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente vor dem 1. Oktober 1996 beginnt, sind für die Berechnung dieser Rente das § 22 Abs. 3 des Fremdrentenge

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Tatbestand 1 Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Altersrente für Frauen ohne Kürzung der nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzurec

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(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) Versicherte Frauen haben Anspruch auf Altersrente, wenn sie

1.
vor dem 1. Januar 1952 geboren sind,
2.
das 60. Lebensjahr vollendet,
3.
nach Vollendung des 40. Lebensjahres mehr als zehn Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und
4.
die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt
haben.

(2) Die Altersgrenze von 60 Jahren wird bei Altersrenten für Frauen für Versicherte, die nach dem 31. Dezember 1939 geboren sind, angehoben. Die vorzeitige Inanspruchnahme einer solchen Altersrente ist möglich. Die Anhebung der Altersgrenzen und die Möglichkeit der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrenten bestimmen sich nach Anlage 20.

(3) Die Altersgrenze von 60 Jahren bei der Altersrente für Frauen wird für Frauen, die

1.
bis zum 7. Mai 1941 geboren sind und
a)
am 7. Mai 1996 arbeitslos waren, Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus, Vorruhestandsgeld oder Überbrückungsgeld der Seemannskasse bezogen haben oder
b)
deren Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 7. Mai 1996 erfolgt ist, nach dem 6. Mai 1996 beendet worden ist,
2.
bis zum 7. Mai 1944 geboren sind und aufgrund einer Maßnahme nach Artikel 56 § 2 Buchstabe b des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-V), die vor dem 7. Mai 1996 genehmigt worden ist, aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden sind oder
3.
vor dem 1. Januar 1942 geboren sind und 45 Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben, wobei § 55 Abs. 2 nicht für Zeiten anzuwenden ist, in denen Versicherte wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe versicherungspflichtig waren,
wie folgt angehoben:
Versicherte Geburtsjahr GeburtsmonatAnhebung um Monateauf Altervorzeitige Inanspruchnahme möglich ab Alter
JahrMonatJahrMonat
vor 19410600600
1941
Januar-April1601600
Mai-August2602600
September-Dezember3603600
1942
Januar-April4604600
Mai-August5605600
September-Dezember6606600
1943
Januar-April7607600
Mai-August8608600
September-Dezember9609600
1944
Januar-April106010600
Mai116011600

Einer vor dem 7. Mai 1996 abgeschlossenen Vereinbarung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses steht eine vor diesem Tag vereinbarte Befristung des Arbeitsverhältnisses oder Bewilligung einer befristeten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme gleich. Ein bestehender Vertrauensschutz wird insbesondere durch die spätere Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses oder den Eintritt in eine neue arbeitsmarktpolitische Maßnahme nicht berührt.

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Ist die Revision unbegründet, so weist das Bundessozialgericht die Revision zurück. Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Gesetzesverletzung, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision ebenfalls zurückzuweisen.

(2) Ist die Revision begründet, so hat das Bundessozialgericht in der Sache selbst zu entscheiden. Sofern dies untunlich ist, kann es das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverweisen, welches das angefochtene Urteil erlassen hat.

(3) Die Entscheidung über die Revision braucht nicht begründet zu werden, soweit das Bundessozialgericht Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Dies gilt nicht für Rügen nach § 202 in Verbindung mit § 547 der Zivilprozeßordnung und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.

(4) Verweist das Bundessozialgericht die Sache bei der Sprungrevision nach § 161 zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, so kann es nach seinem Ermessen auch an das Landessozialgericht zurückverweisen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Für das Verfahren vor dem Landessozialgericht gelten dann die gleichen Grundsätze, wie wenn der Rechtsstreit auf eine ordnungsgemäß eingelegte Berufung beim Landessozialgericht anhängig geworden wäre.

(5) Das Gericht, an das die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts zugrunde zu legen.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Mehrere Klagebegehren können vom Kläger in einer Klage zusammen verfolgt werden, wenn sie sich gegen denselben Beklagten richten, im Zusammenhang stehen und dasselbe Gericht zuständig ist.

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2011 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten auch des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Kosten des Beigeladenen.

Der Streitwert wird auf 5000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten zuletzt noch darüber, ob sich der Kläger hinsichtlich der Zahlung von Nachversicherungsbeiträgen für den Beigeladenen auf Verjährung berufen darf.

2

Der 1948 geborene Beigeladene nahm vom 1.4.1965 bis 30.9.1970 bei der Landesforstverwaltung des Klägers an der Ausbildung für die gehobene Forstlaufbahn teil, zuletzt ab 1.10.1968 als Revierförsteranwärter. In der Zeit vom 8.4.1969 bis 30.9.1970 war er zur Ableistung des Wehrdienstes ohne Bezüge beurlaubt.

3

Nach einem Antrag des Beigeladenen auf Kontenklärung im Januar 2008 teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 14.3.2008 mit, für den Beigeladenen sei für die Zeit vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 eine Nachversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung durchzuführen, und bat ihn, den Nachversicherungsbetrag zu überweisen. Mit Schreiben vom 9.7.2008 teilte der Kläger mit, in der Personalakte des Beigeladenen gebe es weder einen Vorgang bezüglich einer Nachversicherung noch eine Aufschubbescheinigung. Besoldungsunterlagen lägen nicht vor. Schließlich erhob er bezüglich der Nachversicherung die Einrede der Verjährung gemäß § 25 Abs 1 SGB IV.

4

Mit Bescheid vom 8.8.2008 forderte die Beklagte den Kläger auf, die Nachversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 gemäß § 233 Abs 1 SGB VI iVm § 9 Abs 1 AVG zu überweisen. Die Erhebung der Verjährungseinrede durch den ehemaligen Dienstherrn in Bezug auf Nachversicherungsbeiträge verstoße gegen Treu und Glauben und stelle unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht aus dem Beamtenverhältnis eine unzulässige Rechtsausübung dar.

5

Mit Urteil vom 14.1.2011 hat das SG Koblenz diesen Bescheid aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz das Urteil des SG Koblenz aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.6.2011). Hierzu hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Durchführung der Nachversicherung gemäß § 233 Abs 1 S 1 SGB VI seien erfüllt. Zwar seien die Nachversicherungsbeiträge zum Zeitpunkt der erstmaligen Geltendmachung durch die Beklagte bereits gemäß § 25 Abs 1 SGB IV verjährt gewesen, da die Nachversicherungsbeiträge am 30.9.1970 fällig geworden seien. Die Verjährung stehe indessen der Geltendmachung der Nachversicherungsbeiträge nicht entgegen, da dem Kläger eine Berufung auf die Einrede der Verjährung nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt sei. Der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung stehe der Verjährungseinrede dann entgegen, wenn der Schuldner den Gläubiger von der rechtzeitigen Geltendmachung eines Rechts bzw von verjährungsunterbrechenden oder -hemmenden Handlungen abgehalten und dadurch bei ihm den Glauben hervorgerufen habe, dass er sich nicht auf den Ablauf der Verjährungsfrist berufen werde. Auch eine bloße Untätigkeit könne zu einer Rechtsmissbräuchlichkeit der Einrede der Verjährung führen. Dies sei dann der Fall, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln bestanden habe. Diese Pflicht könne sich aus der vormaligen Fürsorgepflicht als Ausfluss des Beamtenrechtsverhältnisses ergeben. Der Dienstherr habe im Rahmen des Dienst- und Treueverhältnisses für das Wohl des Beamten und seiner Familie auch für die Zeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses zu sorgen. Der Kläger sei mit Ausscheiden des Beigeladenen aus dem Dienst grundsätzlich verpflichtet gewesen, die Nachversicherung durchzuführen oder eine Aufschubbescheinigung zu erteilen. Dieser Verpflichtung sei er nicht nachgekommen. Somit seien eine Berufung des Klägers auf den Eintritt der Verjährung und die daraus folgende Weigerung, die Nachversicherungsbeiträge zu entrichten, rechtsmissbräuchlich.

6

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 25 Abs 1 SGB IV. Die Geltendmachung der Verjährungseinrede sei zulässig. Ein Fall der unzulässigen Rechtsausübung liege nicht vor, da Voraussetzung hierfür sei, dass derjenigen Partei des Rechtsverhältnisses, die ein Recht geltend mache, eine Pflichtverletzung zur Last zu legen sei. Diese Pflichtverletzung müsse mit der geltend gemachten Rechtsposition oder zumindest mit dem Rechtsverhältnis, in dem die Position erwachsen sei, zusammenhängen. Eine Pflichtverletzung des Klägers gegenüber der Beklagten mit einem ausreichenden Bezug zur Verjährung des Anspruchs sei aber nicht ersichtlich. Der Kläger habe lediglich die Pflicht zur Durchführung der Nachversicherung verletzt. Eine darüber hinausgehende Pflichtverletzung, die ihm die Erhebung der Verjährungseinrede ermöglicht oder erleichtert hätte, liege nicht vor. Das bloße Unterlassen der Nachversicherung stelle kein aktives Verhalten des Klägers dar, das die Beklagte davon abgehalten haben könnte, die Nachversicherungsbeiträge geltend zu machen. Während des gesamten Zeitraums habe es zwischen dem Kläger und der Beklagten keine Kontakte gegeben. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben resultiere auch nicht aus einer etwaigen Verletzung der Fürsorgepflicht des Klägers als ehemaligem Dienstherrn des Beigeladenen, da diese keine Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen den Beteiligten habe. Es komme allein auf Pflichtverletzungen im Rechtsverhältnis zwischen Beitragsschuldner und -gläubiger an.

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. Juni 2011 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 14. Januar 2011 zurückzuweisen, soweit dieses die Durchsetzbarkeit des Zahlungsgebots im Bescheid vom 8. August 2008 beseitigt hat.

8

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

10

Der Beigeladene war im Verfahren vor dem BSG nicht vertreten (§ 73 Abs 4 SGG).

Entscheidungsgründe

11

Die auf die Frage der Verjährung beschränkte Revision ist unbegründet. Insofern hat das LSG im Ergebnis zutreffend das Urteil des SG aufgehoben und die zulässige Anfechtungsklage abgewiesen. Die Geltendmachung der Verjährungseinrede durch den Kläger ist rechtsmissbräuchlich.

12

Gegenstand des Verfahrens (§ 95 SGG) ist der Bescheid der Beklagten vom 8.8.2008, mit dem die Beklagte den Kläger zur Zahlung der Nachversicherungsbeiträge für die Beschäftigung des Beigeladenen in der Zeit vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 aufgefordert hat. Revisionsrechtlicher Streitgegenstand ist insofern allein die Erhebung der Verjährungseinrede durch den Kläger. Dies ist zulässig, weil es sich insofern um einen (ab-)trennbaren Streitgegenstand im revisionsrechtlichen Sinne handelt (BSG SozR 4-2600 § 233a Nr 1 RdNr 23; BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3, RdNr 10; BSG SozR 4-2400 § 27 Nr 2 RdNr 11; BGH Urteile vom 11.1.1974 - I ZR 89/72 - MDR 1974, 558, 559 und vom 12.7.1989 - VIII ZR 286/88 - BGHZ 108, 256, 259). Da der Kläger sein Revisionsbegehren in dieser Weise beschränkt hat, ist das Urteil des LSG im Übrigen rechtskräftig (§ 141 Abs 1 SGG) und der angegriffene Bescheid vom 8.8.2008 insoweit bestandskräftig geworden (§ 77 SGG). Damit steht die Pflicht des Klägers, die Nachversicherung für den beigeladenen Versicherten für die Zeit vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 durchzuführen, dem Grunde nach zwischen den Beteiligten fest. Der revisionsgerichtlichen Prüfung unterliegt allein die Durchsetzbarkeit einer hieraus folgenden Beitragsforderung.

13

In der Sache kann die Revision des Klägers keinen Erfolg haben. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend festgestellt, dass der Anspruch der Beklagten auf Entrichtung von Beiträgen für eine Nachversicherung des Beigeladenen in der gesetzlichen Rentenversicherung für den Zeitraum vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 durchsetzbar ist. Zwar ist dieser Beitragsanspruch verjährt, doch kann sich der Kläger hierauf nicht berufen. Die Erhebung der Verjährungseinrede durch ihn ist rechtsmissbräuchlich.

14

Das LSG hat für den erkennenden Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, dass der Beigeladene mit Ablauf des 30.9.1970 unversorgt aus einer versicherungsfreien Beschäftigung bei dem Kläger ausgeschieden ist. Mit Entfallen der Versicherungsfreiheit waren daher am 1.10.1970 die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Nachversicherung im Zeitraum 1.10.1968 bis 7.4.1969 erfüllt. In Ermangelung eines Aufschubgrundes (§ 125 Abs 1 AVG)war damit der Anspruch der Beklagten auf die Nachversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1.10.1968 bis 7.4.1969 in gesetzlicher Höhe entstanden und gleichzeitig fällig.

15

Dieser Beitragsanspruch der Beklagten ist verjährt. Entgegen der Auffassung des LSG richtet sich die Verjährung des Anspruchs auf Nachversicherungsbeiträge im vorliegenden Fall zunächst noch nach § 205 AVG iVm § 29 Abs 1 RVO und nur bei Geltung der dreißigjährigen Verjährungsfrist zusätzlich nach § 25 Abs 1 SGB IV.

16

Die mit Wirkung vom 1.7.1977 (Art II § 21 Abs 1 SGB IV) durch § 25 Abs 1 SGB IV neu geordnete Verjährung von Beitragsansprüchen gilt nach den Überleitungsbestimmungen in Art II § 15 aaO auch für die schon vorher fällig gewordenen, noch nicht verjährten Beitrags- und Erstattungsansprüche. Nicht verjährt in diesem Sinne sind diejenigen vor dem 1.7.1977 fällig gewordenen Beitragsansprüche, hinsichtlich derer die bis dahin in § 205 AVG iVm § 29 Abs 1 RVO festgelegte Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war(vgl BSG vom 24.3.1983 - 1 RA 71/82 - Juris RdNr 20 mwN). Nach der Vorschrift des § 29 Abs 1 RVO verjährte der Anspruch auf rückständige Beiträge in zwei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres der Fälligkeit, "soweit die nicht absichtlich hinterzogen worden sind". Im Falle eines absichtlichen Hinterziehens galt in entsprechender lückenfüllender Anwendung der die Verjährung betreffenden Vorschriften des BGB (vgl BSG vom 24.3.1983 - 1 RA 71/82 - Juris RdNr 21; BSGE 35, 236, 238 = SozR Nr 26 zu § 29 RVO)eine Verjährungsfrist von 30 Jahren (§ 195 BGB in der bis 31.12.2001 geltenden Fassung). Fällig geworden war der Beitragsanspruch zur Nachversicherung des Beigeladenen nach dessen unversorgtem Ausscheiden aus dem versicherungsfreien Beschäftigungsverhältnis am 1.10.1970. Der Umstand, dass der Anspruch zu diesem Zeitpunkt noch nicht bezifferbar war, hindert Beginn und Ablauf der Verjährung nicht (vgl BGH vom 19.1.1978 - VII ZR 304/75 - WM 1978, 496, Juris RdNr 16 und vom 22.2.2006 - XII ZR 48/03 - NJW 2006, 1963, 1965 mwN). Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, ob der Kläger die Nachversicherungsbeiträge absichtlich hinterzogen hat; hierauf kommt es jedoch auch nicht an. Denn lägen die Voraussetzungen für ein absichtliches Hinterziehen nicht vor, hätte die zweijährige Regelverjährung gemäß § 29 Abs 1 RVO am 1.1.1971 begonnen und zum 31.12.1972 geendet. Anderenfalls wäre die dreißigjährige Verjährungsfrist am 1.7.1977 noch nicht abgelaufen gewesen, so dass sich ab diesem Zeitpunkt die Verjährung nach § 25 Abs 1 SGB IV gerichtet hätte. Auch die hiernach geltenden Verjährungsfristen waren jedoch abgelaufen, als die Beklagte im März 2008 ein Verwaltungsverfahren zur Prüfung der Nachversicherung einleitete.

17

Trotz Verjährung ist der Kläger hinsichtlich der Nachversicherungsbeiträge nicht zur Leistungsverweigerung berechtigt. Die Berufung auf diese Einrede stellt sich nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), als rechtsmissbräuchlich und damit als unzulässige Rechtsausübung dar.

18

Das Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung wegen Rechtsmissbrauchs ist eine aus dem Grundsatz von Treu und Glauben iS des § 242 BGB abgeleitete, der gesamten Rechtsordnung immanente Schranke, die auch im Bereich des Sozialrechts zu beachten ist(vgl BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6 S 27; SozR 3-2200 § 543 Nr 1 S 5; BSGE 43, 227, 232 = SozR 3100 § 21 Nr 1 S 6; BSGE 46, 187, 189 = SozR 2200 § 315a Nr 7 S 18; BSGE 62, 96, 98 = SozR 1200 § 14 Nr 26 S 72 f). Die Verjährung hingegen dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit des Rechtsverkehrs (BGHZ 59, 72, 74). Dieser Zweck gebietet es, strenge Maßstäbe anzulegen und den Einwand der unzulässigen Rechtausübung nur gegenüber einem wirklich groben Verstoß gegen Treu und Glauben durchgreifen zu lassen (BGH NJW-RR 1989, 215, 217; BSG USK 77190 S 780). Die Berufung auf Verjährung wird daher grundsätzlich nur dann als unzulässige Rechtsausübung angesehen, wenn der Verpflichtete den Berechtigten, wenn auch unabsichtlich, durch sein Verhalten von der rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs abgehalten oder ihn auf sonstige Weise nach objektiven Maßstäben zu der Annahme veranlasst hat, es werde auch ohne Rechtsstreit eine vollständige Befriedigung seines Anspruchs zu erreichen sein (BGH NJW 1988, 2245, 2247; BGHZ 93, 64, 66; BAG vom 4.11.1992 - 5 AZR 75/92 - Juris RdNr 23 mwN; BAG AP Nr 12 zu § 4 BAT Bl 373; BVerwG vom 15.6.2006 - 2 C 14/05 - Juris RdNr 23 mwN). Auch im Sozialrecht und insbesondere im Beitragsrecht steht der gesetzlich zugelassenen Verjährungseinrede (§ 25 SGB IV) der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs entgegen, wenn der Gläubiger im Vertrauen auf ein konkretes, ihm gegenüber an den Tag gelegtes Verhalten des Beitragsschuldners die Ansprüche nicht innerhalb der Verjährungsfrist verfolgt hat (BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6 S 27; SozR 2200 § 182 Nr 113 S 255; BSG USK 82182 S 825 und USK 77190 S 780).

19

Daraus ergibt sich als regelmäßige Voraussetzung für den Einwand unzulässiger Rechtsausübung, dass der Schuldner eine Tätigkeit entfaltet und Maßnahmen trifft, die den Gläubiger veranlassen, verjährungsunterbrechende Schritte zu unterlassen, sei es auch nur, weil ihm infolge eines solchen Tuns Ansprüche unbekannt geblieben sind. Die Untätigkeit des Gläubigers muss gerade auf das Verhalten des Schuldners zurückzuführen sein (BAG vom 4.11.1992 - 5 AZR 75/92 - Juris RdNr 23). Nur zu eigenem Tun wird sich der Schuldner grundsätzlich durch Erhebung der Verjährungseinrede in einen gegen Treu und Glauben verstoßenden Widerspruch setzen können, indem er aus der von ihm selbst veranlassten Untätigkeit des Gläubigers einen Vorteil für sich ableiten will. Jedoch kann auch ein qualifiziertes, dh ein pflichtwidriges Unterlassen (Grothe in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl 2012, RdNr 19 vor § 194)gebotener Maßnahmen durch die zuständige Behörde die spätere Berufung auf die Verjährungseinrede als rechtsmissbräuchlich erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere, wenn allein dieses objektiv pflichtwidrige Unterlassen ursächlich dafür ist, dass der Gläubiger keine Kenntnis von seinem Anspruch erlangt hat. Auch durch ein solches Unterlassen hat der Schuldner den Gläubiger von der Geltendmachung seines Anspruchs "abgehalten" mit der Folge, dass die Einrede der Verjährung durch den Schuldner eine unzulässige Rechtsausübung darstellt (vgl BVerwGE 66, 256, 259 sowie BVerwGE 97, 1, 11; BAG vom 4.11.1992 - 5 AZR 75/92 - Juris RdNr 23; zum Abhalten von der Klageerhebung durch unabsichtliches Verschweigen relevanter Tatsachen betreffend die Person des Schuldners: BGH NJW 2002, 3110, 3111; zur unterlassenen Belehrung über das Bestehen eines Erstattungsanspruchs, die Notwendigkeit eines schriftlichen Antrags sowie dessen Modalitäten: BSGE 99, 271 = SozR 4-2400 § 27 Nr 3, RdNr 14). Diese Voraussetzungen für eine unzulässige Rechtsausübung sind im vorliegenden Fall erfüllt.

20

Es kann offenbleiben, ob - wie das LSG annimmt - für den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs auf das beamtenrechtliche Fürsorgeverhältnis zwischen dem Beitragsschuldner und dem ehemaligen Beschäftigten abzustellen ist bzw ob sich aus diesem Fürsorgeverhältnis eine Handlungspflicht des Beitragsschuldners gegenüber dem Beitragsgläubiger ergeben kann. Denn auf die Einrede der Verjährung kann sich der Kläger schon deshalb nicht berufen, weil er nach dem Ausscheiden des Beigeladenen seine rentenrechtliche Pflicht zur Entrichtung der Nachversicherungsbeiträge verletzt hat. Zu diesem Unterlassen der Durchführung der Nachversicherung - gleich aus welchem Grunde - setzt sich der Kläger mit dem späteren Einwand der Verjährung in einen gegen Treu und Glauben verstoßenden Widerspruch. Denn das Nachversicherungsverhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass es grundsätzlich allein der Nachversicherungsschuldner in der Hand hat, ob der Nachversicherungsgläubiger überhaupt von seinem Anspruch erfährt. Unterrichtet nicht ausnahmsweise der zuvor versicherungsfrei Beschäftigte den Rentenversicherungsträger - wozu er generell nicht verpflichtet ist und wofür es vorliegend an Anhaltspunkten fehlt -, ist der Rentenversicherungsträger rechtlich grundsätzlich und faktisch in aller Regel darauf angewiesen, dass der Nachversicherungsschuldner von sich aus die Nachversicherungsbeiträge ermittelt, zahlt sowie eine entsprechende Bescheinigung erteilt (vgl § 124 Abs 1, 2, 6 AVG, § 185 Abs 1 und 3 SGB VI). Bei Verletzung dieser Pflicht bleibt dem Gläubiger sein Beitragsanspruch mit der Folge unbekannt, dass er zulasten der Versichertengemeinschaft von der Geltendmachung seines Anspruchs sowie von sonstigen verjährungshemmenden Handlungen abgehalten wird (vgl LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.1.2006 - L 3 R 3/05 - Juris RdNr 38; im Ergebnis ebenso, jedoch - zumindest auch - auf das beamtenrechtliche Fürsorgeverhältnis abstellend LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.1.2007 - L 13 R 117/05 - Juris RdNr 42 f; aA die Entscheidungen des LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 22.1.2010 - L 4 R 1764/09 - sowie vom 13.4.2011 - L 5 R 1663/10 - und des LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 5.10.2010 - L 18 R 247/09 - jeweils nicht veröffentlicht; ebenfalls aA LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.10.2010 - L 8 R 181/09 - Juris RdNr 29).

21

Bei der Beurteilung des Verhaltens des Klägers müssen auch Sinn und Zweck der Nachversicherung sowie der systematische Zusammenhang zwischen der Nachversicherung und den Tatbeständen der Versicherungsfreiheit bzw der Befreiung von der Versicherungspflicht beachtet werden. Eine Nachversicherung findet statt bei Personen, die in einer Beschäftigung versicherungsfrei waren oder von der Versicherungspflicht befreit worden sind, wenn sie aus dieser Beschäftigung unversorgt ausgeschieden sind. Insbesondere für die Personengruppe der versicherungsfreien Beschäftigten (vgl § 8 Abs 2 S 1 Nr 1 bis 3 SGB VI iVm § 5 Abs 1 SGB VI)ist zu berücksichtigen, dass die Vorschrift des § 5 Abs 1 SGB VI die Versicherungsfreiheit als Ausnahme von der grundsätzlichen Versicherungspflicht für die betreffenden, eigentlich die Versicherungspflicht begründenden Beschäftigungen anordnet(vgl Gürtner in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 5 SGB VI RdNr 2 ff, Stand April 2009). Der Eintritt von Versicherungsfreiheit setzt voraus, dass dem Grunde nach ein Sachverhalt vorliegt, der nach den §§ 1 bis 4 SGB VI Versicherungspflicht begründet(vgl BSG SozR 4-2600 § 210 Nr 2 RdNr 23; BSGE 41, 297, 299 = SozR 2200 § 1399 Nr 4 S 8; BSG SozR 2200 § 172 Nr 19 S 40). Aufgrund ihrer Beschäftigung wäre diese Personengruppe also grundsätzlich versicherungspflichtig; das Gesetz stellt sie in dieser Beschäftigung jedoch ausnahmsweise von der Versicherungspflicht frei, da bereits eine anderweitige Absicherung vorliegt, so dass eine Einbeziehung dieser Personen in den Schutzbereich der gesetzlichen Rentenversicherung entbehrlich ist. Scheidet jedoch der Beschäftigte aus dieser versicherungsfreien Beschäftigung unversorgt aus, so ist der Grund für die Versicherungsfreiheit, nämlich die fehlende Schutzbedürftigkeit aufgrund einer anderweitigen Absicherung, nachträglich entfallen. Um diese Versorgungslücke zu schließen, soll mithilfe der Nachversicherung im Nachhinein eine soziale Sicherung dergestalt hergestellt werden, wie sie bestanden hätte, wenn der Beschäftigte in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert gewesen wäre. Daher entsteht mit dem unversorgten Ausscheiden des Beschäftigten die Pflicht des Arbeitgebers, die Nachversicherungsbeiträge sofort abzuführen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1232 Nr 2 S 6 mwN). Die Pflicht zur Zahlung der Nachversicherungsbeiträge tritt kraft Gesetzes ein, ohne dass es eines Bescheides des zuständigen Rentenversicherungsträgers bedarf (vgl BSG SozR 3-2600 § 8 Nr 6 S 20 f). Erst mit der wirksamen Zahlung der Nachversicherungsbeiträge erwirbt der zuvor versicherungsfrei Beschäftigte den Versichertenstatus und damit den Versicherungsschutz (vgl BSGE 100, 19 = SozR 4-2600 § 281 Nr 1, RdNr 23; BSG SozR 3-2200 § 1232 Nr 2 S 5). Mit der Durchführung der Nachversicherung kommt aber nicht nur dem Nachversicherten der jedem versicherten Beschäftigten aufgrund seiner Arbeit zustehende Schutz der Rentenversicherung zugute; die Nachversicherungsbeiträge dienen zudem in dem im Umlageverfahren finanzierten System der gesetzlichen Rentenversicherung dazu, die Solidarlast zu tragen (vgl Finke in Hauck/Haines, SGB VI, K § 8 RdNr 7, Stand Juni 2009). Die Pflicht zur rechtzeitigen, also unverzüglichen Zahlung der Nachversicherungsbeiträge steht demnach nicht nur im Interesse des einzelnen Beschäftigten, sondern auch im Interesse der Solidargemeinschaft der Versicherten. Verletzt ein - zumal wie hier öffentlich-rechtlicher - Arbeitgeber diese Beitragspflicht, ist ihm grundsätzlich und in aller Regel allein wegen dieses Unterlassens die Verjährungseinrede verwehrt.

22

Der Kläger geht schließlich unter Hinweis auf unveröffentlichte Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg irrigerweise davon aus, die Erhebung der Verjährungseinrede könne sich nur dann als rechtsmissbräuchlich darstellen, wenn der Schuldner im Verhältnis zum Gläubiger eine aktive Pflichtverletzung begangen habe. Indessen ist bereits durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts (Urteile vom 2.6.1934 - V 10/34 - RGZ 144, 378, 381 und vom 27.10.1934 - V 353/34 - RGZ 145, 239, 244) und ihm folgend des BVerwG (Urteil vom 26.1.1966 - VI C 112.63 - BVerwGE 23, 166, 171 und vom 9.7.1973 - VIII C 4.73 - BVerwGE 42, 353 ff), des BGH (Urteile vom 3.2.1953 - I ZR 61/52 - BGHZ 9, 1, 5, vom 7.5.1991 - XII ZR 146/90 - NJW-RR 1991, 1033 - Juris RdNr 18 und vom 12.6.2002 - VIII ZR 187/01 - NJW 2002, 3110, 3111) und des BAG (Urteil vom 25.2.1987 - 4 AZR 239/86 - Juris RdNr 22, 23) geklärt, dass eine Rechtsmissbräuchlichkeit der Verjährungseinrede nicht nur dann in Betracht kommt, wenn der Berufung des Schuldners auf Verjährung eigenes positives Tun entgegensteht, durch das er seinen Gläubiger von der rechtzeitigen gerichtlichen Durchsetzung einer diesem bekannten Forderung trotz der drohenden Verjährung abgehalten hat. Vielmehr liegt ein "Abhalten von der Klageerhebung" auch dann vor, wenn der Gläubiger von der rechtzeitigen verjährungsunterbrechenden Geltendmachung seines Anspruchs durch das Verhalten des Schuldners abgehalten worden ist, indem der Schuldner bewirkt hat, dass dem Gläubiger sein Anspruch nicht bekannt geworden ist. Ein entsprechender Sachverhalt liegt hier vor. Allein der Kläger hat durch sein objektiv gesetzwidriges Verhalten bewirkt, dass der Beklagten ihre Beitragsansprüche unbekannt geblieben sind und sie infolge dieser Unkenntnis nicht rechtzeitig verjährungsunterbrechende Maßnahmen eingeleitet hat. Da demnach das eigene pflichtwidrige Verhalten des Klägers dafür ursächlich ist, dass die Verjährungsfrist für die Ansprüche der Beklagten abgelaufen ist, kann sich der Kläger nach Treu und Glauben auf den Ablauf der Verjährungsfrist nicht berufen, weil dies mit seinem eigenen Verhalten nicht im Einklang stehen würde. Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es auf ein Verschulden des Klägers nicht an (vgl insgesamt BVerwGE 23, 166, 171).

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG, da die Beteiligten nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehören. Dem Kläger waren gemäß §§ 154 Abs 1, 162 VwGO iVm § 197a Abs 1 SGG die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen, da er hinsichtlich seines Begehrens, die Durchsetzbarkeit der Beitragsforderung zu beseitigen, vollständig unterlegen ist. Die Kosten des Beigeladenen hat der Kläger nicht zu tragen, da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist.

24

Die endgültige Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 47 Abs 1 S 1 und Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 2 GKG, da der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des genauen Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte bietet.

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Sind die Beiträge auf Grund einer abhängigen Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit entrichtet, so steht die ihnen zugrunde liegende Beschäftigung oder Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes gleich. Für Personen, die zum Personenkreis des § 1 Buchstabe b gehören, werden rentenrechtliche Zeiten bis zum 8. Mai 1945 berücksichtigt.

(2) Als gesetzliche Rentenversicherung im Sinne des Absatzes 1 ist jedes System der sozialen Sicherheit anzusehen, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind, um sie und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch die Gewährung regelmäßig wiederkehrender Geldleistungen (Renten) zu sichern. Wird durch die Zugehörigkeit zu einer Einrichtung dem Erfordernis, einem der in Satz 1 genannten Systeme anzugehören, Genüge geleistet, so ist auch die betreffende Einrichtung als gesetzliche Rentenversicherung anzusehen, und zwar auch für Zeiten bis zum 31. Dezember 1890 zurück, in denen es ein System der in Satz 1 genannten Art noch nicht gegeben hat. Als gesetzliche Rentenversicherung gelten nicht Systeme, die vorwiegend zur Sicherung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst geschaffen sind.

(3) Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Als Beitragszeiten gelten die Zeiten, in denen der Versicherte nach dem 8. Mai 1945 im Herkunftsgebiet den gesetzlichen Grundwehrdienst geleistet hat. Als Beitragszeiten gelten nicht Zeiten,

a)
die ohne Beitragsleistung rückwirkend in ein System der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden sind,
b)
die außerhalb der Herkunftsgebiete ohne Beitragsleistung an den Träger im Herkunftsgebiet oder in einem System nach Absatz 2 Satz 3 zurückgelegt worden sind,
c)
für die Entgeltpunkte nicht ermittelt werden,
d)
die von Zeit- oder Berufssoldaten oder vergleichbaren Personen zurückgelegt worden sind.

(1) Eine nach vollendetem 17. Lebensjahr vor der Vertreibung in Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien, China, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion verrichtete Beschäftigung steht, soweit sie nicht in Gebieten zurückgelegt wurde, in denen zu dieser Zeit die Sozialversicherung nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze durchgeführt wurde, einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, für die Beiträge entrichtet sind, gleich, wenn sie nicht mit einer Beitragszeit zusammenfällt. Dies gilt nur, wenn die Beschäftigung nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht Versicherungspflicht in den gesetzlichen Rentenversicherungen begründet hätte, wenn sie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verrichtet worden wäre; dabei sind Vorschriften über die Beschränkung der Versicherungspflicht nach der Stellung des Beschäftigten im knappschaftlichen Betrieb, nach der Höhe des Arbeitsverdienstes, wegen der Gewährleistung von Versorgungsanwartschaften oder wegen der Eigenschaft als Beamter oder Soldat nicht anzuwenden. Satz 1 wird nicht für Zeiten angewendet, für die Beiträge erstattet worden sind.

(2) Absatz 1 gilt auch für Zeiten einer Beschäftigung von Zeit- oder Berufssoldaten und vergleichbaren Personen.

(1) Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat. Bei mehrfachem Wohnsitz muss derjenige Wohnsitz verloren gegangen sein, der für die persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen bestimmend war. Als bestimmender Wohnsitz im Sinne des Satzes 2 ist insbesondere der Wohnsitz anzusehen, an welchem die Familienangehörigen gewohnt haben.

(2) Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger

1.
nach dem 30. Januar 1933 die in Absatz 1 genannten Gebiete verlassen und seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches genommen hat, weil aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen gegen ihn verübt worden sind oder ihm drohten,
2.
auf Grund der während des zweiten Weltkrieges geschlossenen zwischenstaatlichen Verträge aus außerdeutschen Gebieten oder während des gleichen Zeitraumes auf Grund von Maßnahmen deutscher Dienststellen aus den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten umgesiedelt worden ist (Umsiedler),
3.
nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt, es sei denn, dass er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler),
4.
ohne einen Wohnsitz gehabt zu haben, sein Gewerbe oder seinen Beruf ständig in den in Absatz 1 genannten Gebieten ausgeübt hat und diese Tätigkeit infolge Vertreibung aufgeben musste,
5.
seinen Wohnsitz in den in Absatz 1 genannten Gebieten gemäß § 10 des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch Eheschließung verloren, aber seinen ständigen Aufenthalt dort beibehalten hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste,
6.
in den in Absatz 1 genannten Gebieten als Kind einer unter Nummer 5 fallenden Ehefrau gemäß § 11 des Bürgerlichen Gesetzbuchs keinen Wohnsitz, aber einen ständigen Aufenthalt hatte und diesen infolge Vertreibung aufgeben musste.

(3) Als Vertriebener gilt auch, wer, ohne selbst deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger zu sein, als Ehegatte eines Vertriebenen seinen Wohnsitz oder in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 5 als Ehegatte eines deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen den ständigen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten verloren hat.

(4) Wer infolge von Kriegseinwirkungen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten genommen hat, ist jedoch nur dann Vertriebener, wenn es aus den Umständen hervorgeht, dass er sich auch nach dem Kriege in diesen Gebieten ständig niederlassen wollte oder wenn er diese Gebiete nach dem 31. Dezember 1989 verlassen hat.

(1) Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Sind die Beiträge auf Grund einer abhängigen Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit entrichtet, so steht die ihnen zugrunde liegende Beschäftigung oder Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes gleich. Für Personen, die zum Personenkreis des § 1 Buchstabe b gehören, werden rentenrechtliche Zeiten bis zum 8. Mai 1945 berücksichtigt.

(2) Als gesetzliche Rentenversicherung im Sinne des Absatzes 1 ist jedes System der sozialen Sicherheit anzusehen, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind, um sie und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch die Gewährung regelmäßig wiederkehrender Geldleistungen (Renten) zu sichern. Wird durch die Zugehörigkeit zu einer Einrichtung dem Erfordernis, einem der in Satz 1 genannten Systeme anzugehören, Genüge geleistet, so ist auch die betreffende Einrichtung als gesetzliche Rentenversicherung anzusehen, und zwar auch für Zeiten bis zum 31. Dezember 1890 zurück, in denen es ein System der in Satz 1 genannten Art noch nicht gegeben hat. Als gesetzliche Rentenversicherung gelten nicht Systeme, die vorwiegend zur Sicherung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst geschaffen sind.

(3) Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Als Beitragszeiten gelten die Zeiten, in denen der Versicherte nach dem 8. Mai 1945 im Herkunftsgebiet den gesetzlichen Grundwehrdienst geleistet hat. Als Beitragszeiten gelten nicht Zeiten,

a)
die ohne Beitragsleistung rückwirkend in ein System der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden sind,
b)
die außerhalb der Herkunftsgebiete ohne Beitragsleistung an den Träger im Herkunftsgebiet oder in einem System nach Absatz 2 Satz 3 zurückgelegt worden sind,
c)
für die Entgeltpunkte nicht ermittelt werden,
d)
die von Zeit- oder Berufssoldaten oder vergleichbaren Personen zurückgelegt worden sind.

(1) Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Als Beitragszeiten gelten auch Zeiten, für die Entgeltpunkte gutgeschrieben worden sind, weil gleichzeitig Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung oder Zeiten der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes für mehrere Kinder vorliegen.

(2) Soweit ein Anspruch auf Rente eine bestimmte Anzahl an Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit voraussetzt, zählen hierzu auch

1.
freiwillige Beiträge, die als Pflichtbeiträge gelten, oder
2.
Pflichtbeiträge, für die aus den in § 3 oder § 4 genannten Gründen Beiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten, oder
3.
Beiträge für Anrechnungszeiten, die ein Leistungsträger mitgetragen hat.

(1) Für Berechtigte, die vor dem 7. Mai 1996 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente vor dem 1. Oktober 1996 beginnt, sind für die Berechnung dieser Rente das § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab dem 1. Januar 1992 geltenden Fassung sowie § 4 Abs. 5 und 7 in der am 6. Mai 1996 geltenden Fassung anzuwenden.

(2) Für Berechtigte,

1.
die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben,
2.
deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt und
3.
über deren Rentenantrag oder über deren bis 31. Dezember 2004 gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheides am 30. Juni 2006 noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist,
wird für diese Rente einmalig zum Rentenbeginn ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten ermittelt. Der Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten ergibt sich aus der Differenz zwischen der mit und ohne Anwendung von § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes ermittelten Summe aller persönlichen Entgeltpunkte. Dieser Zuschlag wird monatlich für die Zeit des Rentenbezuges
vom 1. Oktober 1996 bis 30. Juni 1997 voll,
vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 zu drei Vierteln,
vom 1. Juli 1998 bis 30. Juni 1999 zur Hälfte und
vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2000 zu einem Viertel
gezahlt. Für die Zeit des Rentenbezuges ab 1. Juli 2000 wird der Zuschlag nicht gezahlt. § 88 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch findet keine Anwendung. § 44 Abs. 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch findet Anwendung.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Altersrente für Frauen ohne Kürzung der nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anzurechnenden Entgeltpunkte (EP) zusteht.

2

Die 1937 geborene Klägerin war in Rumänien von September 1955 bis Juli 1982 als Erzieherin bzw Grundschullehrerin tätig. Im November 1983 siedelte sie als Spätaussiedlerin in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie ist Inhaberin des Vertriebenenausweises A.

3

Auf ihren Antrag vom November 1996 bewilligte die Beklagte ihr mit Bescheid vom 26.2.1997 - ersetzt durch Bescheid vom 23.5.1997 - Altersrente für Frauen ab 1.5.1997. Bei der Berechnung kürzte sie in Anwendung des durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.9.1996 (BGBl I 1461) eingefügten § 22 Abs 4 FRG die EP für die nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten der Klägerin vom 1.9.1955 bis 1.7.1982 um 40 vH durch Multiplikation mit dem Faktor 0,6. Für die Klägerin ergaben sich 31,0474 persönliche EP. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2.9.1997; Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.7.1998).

4

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Beschluss vom 30.10.1998 das Ruhen des Berufungsverfahrens angeordnet.

5

Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 13.6.2006 (1 BvL 9/00 ua - BVerfGE 116, 96 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5) hat die Beklagte in Anwendung der auf diese Entscheidung ergangenen Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) den Rentenbescheid vom 26.2.2008 erlassen, und die Beteiligten haben das Verfahren fortgeführt.

6

Die Beklagte hat in dem Bescheid vom 26.2.2008 einen Zuschlag in Höhe von 12,9957 EP bis 30.6.1997 voll, anschließend bis 30.6.1998 zu drei Vierteln, danach bis 30.6.1999 zur Hälfte und anschließend bis 30.6.2000 zu einem Viertel bewilligt. Es ergab sich für die Zeit vom 1.5.1997 bis 30.6.2000 eine Nachzahlung (einschließlich Zinsen) von 8.095,92 Euro.

7

Mit Urteil vom 16.6.2009 hat das LSG die Klage gegen den Rentenbescheid vom 26.2.2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Bescheid vom 26.2.2008, der gemäß §§ 153 Abs 1, 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) allein Gegenstand des Berufungsverfahrens sei, sei rechtmäßig. Die Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG idF des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 20.4.2007 (BGBl I 554) (im Folgenden: Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007) sei verfassungsgemäß. Die Vorschrift entspreche den Vorgaben des BVerfG.

8

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin einen Verstoß der Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 gegen das Grundgesetz (GG). Aufgrund der Vorgaben des BVerfG stehe fest, dass dem Gesetzgeber bezüglich der Ausgestaltung der übergangsrechtlichen Regelung ein weites Ermessen zugestanden habe. Dieses Ermessen werde jedoch durch das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip eingeschränkt. Die Betroffenen müssten sich in angemessener Zeit darauf einstellen können, dass ihnen deutlich niedrigere Renten zustünden. Das Einsparungsziel sei dabei eher nachrangig. Diese Anforderungen erfülle die Übergangsregelung nicht. Die vom Gesetzgeber gewählte schrittweise Anwendung des Abschlags in einem Zeitraum von vier Jahren werde den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausprägung "Vertrauensschutz" bzw "Zumutbarkeit" nicht gerecht. Bei der Abwägung der individuellen, vertrauensgeschützten Interessen mit dem öffentlichen Sparinteresse müsse der Gesetzgeber den Betroffenen aufgrund der Eingriffsschwere durch die Schaffung einer Übergangsregelung ermöglichen, dass sie sich mittel- bis langfristig auf die Kürzungen einstellen können. Ein Zeitraum von nicht einmal vier Jahren reiche hierfür nicht aus. Eine Übergangsregelung, nach der ihre monatliche Rente innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren und zwei Monaten schrittweise um mehr als 300,00 Euro abgesenkt werde, sei nicht zumutbar.

9

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 16.6.2009 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Rentenbescheids vom 26.2.2008 zu verurteilen, ihr ab 1.5.1997 höhere Altersrente für Frauen ohne Vervielfältigung der für die Beitragszeiten im Herkunftsgebiet vom 1.9.1955 bis 1.7.1982 ermittelten EP mit dem Faktor 0,6 zu gewähren.

10

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

11

Sie ist der Ansicht, dass die Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Insbesondere habe sich der Gesetzgeber in den vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 13.6.2006 abgesteckten Grenzen bewegt.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG) .

Entscheidungsgründe

13

Die Revision ist nicht begründet.

14

1. Mit ihrer Revision begehrt die Klägerin inhaltlich, das Urteil des LSG aufzuheben und ihr ab 1.5.1997 höhere Altersrente für Frauen ohne Multiplikation der für ihre nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten vom 1.9.1955 bis 1.7.1982 ermittelten EP mit dem Faktor 0,6 zu gewähren.

15

Gegenstand des Rechtsstreits ist ausschließlich der während des Berufungsverfahrens ergangene Bescheid der Beklagten vom 26.2.2008. Hiermit wurde der Klägerin - übergangsweise - bis zum 30.6.1997 die begehrte "volle" Rente (ohne Kürzung der auf FRG-Zeiten beruhenden EP) gewährt und sodann die Rente bis zum 30.6.2000 stufenweise bis zur vollen Kürzung (Kürzungsfaktor 0,6) herabgesetzt. Dieser Bescheid hat den ursprünglich mit der Klage angefochtenen Rentenbescheid vom 23.5.1997 - der den Rentenbescheid vom 26.2.1997 ersetzt hatte - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.9.1997 hinsichtlich des streitgegenständlichen Begehrens der Klägerin auf Gewährung einer Rente ohne Kürzung der EP nach § 22 Abs 4 FRG vollumfänglich ersetzt, sodass das LSG zu Recht über ihn nicht auf Berufung, sondern erstinstanzlich "auf Klage" entschieden hat(§§ 153 Abs 1, 96 SGG; vgl stRspr, zB BSG vom 30.1.1963 - BSGE 18, 231, 234 f = SozR Nr 17 zu § 96 SGG; BSG vom 27.1.1999 - SozR 3-2400 § 18b Nr 1 S 3; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 9. Aufl 2008, § 96 RdNr 7 mwN) .

16

2. Die Abweisung der Klage durch das LSG ist nicht zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 26.2.2008 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

17

Allerdings hätte das LSG die Klage wegen fehlender Beschwer als unzulässig abweisen müssen, soweit die Klägerin auch für die Zeit ihres Rentenbezugs vom 1.5. bis 30.6.1997 die Gewährung der Rente ohne Absenkung der EP für ihre nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten um 40 vH begehrt; denn eine Kürzung der EP erfolgte für diesen Zeitraum nicht.

18

Die von der Beklagten bei der Rentenberechnung ab 1.7.1997 vorgenommene Absenkung der EP für die nach dem FRG anerkannten Beitragszeiten der Klägerin um 40 vH nach § 22 Abs 4 FRG unter zeitweiser Gewährung eines Zuschlags ist gesetzeskonform (dazu unter a) und verfassungsgemäß (dazu unter b).

19

a) Gemäß § 22 Abs 4 FRG in der hier maßgeblichen Fassung des Art 3 Nr 4 Buchst b WFG sind die nach § 22 Abs 1 und 3 FRG maßgeblichen EP mit dem Faktor 0,6 zu vervielfältigen, also um 40 vH abzusenken.

20

Als Übergangsregelung hierzu hat der Gesetzgeber durch Art 16 Nr 2 des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20.4.2007 (BGBl I 554) rückwirkend zum 1.10.1996 (Art 27 Abs 2 aaO) die Bestimmung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 angefügt. Zuvor hatte das BVerfG im bereits erwähnten Beschluss entschieden, dass es mit Art 2 Abs 1 GG iVm dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip unvereinbar ist, dass § 22 Abs 4 FRG auf Berechtigte, die vor dem 1.1.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30.9.1996 begonnen hat, ohne eine Übergangsregelung für die zum damaligen Zeitpunkt rentennahen Jahrgänge zur Anwendung kommt.

21

Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 lautet:

"(2) Für Berechtigte,

1.   

die vor dem 1. Januar 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben,

2.   

deren Rente nach dem 30. September 1996 beginnt und

3.   

über deren Rentenantrag oder über deren bis 31. Dezember 2004 gestellten Antrag auf Rücknahme des Rentenbescheides am 30. Juni 2006 noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist,

wird für diese Rente einmalig zum Rentenbeginn ein Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten ermittelt. Der Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten ergibt sich aus der Differenz zwischen der mit und ohne Anwendung von § 22 Abs 4 des Fremdrentengesetzes ermittelten Summe aller persönlichen Entgeltpunkte. Dieser Zuschlag wird monatlich für die Zeit des Rentenbezuges
vom 1. Oktober 1996 bis 30. Juni 1997 voll,

vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 zu drei Vierteln,

vom 1. Juli 1998 bis 30. Juni 1999 zur Hälfte und

vom 1. Juli 1999 bis 30. Juni 2000 zu einem Viertel

gezahlt. Für die Zeit des Rentenbezuges ab 1. Juli 2000 wird der Zuschlag nicht gezahlt. § 88 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch findet keine Anwendung. § 44 Abs 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch findet Anwendung."

22

Die Beklagte hat sowohl § 22 Abs 4 FRG als auch Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 rechtsfehlerfrei angewandt und der Klägerin für ihre Rente einen einmaligen Zuschlag an persönlichen EP gewährt. Denn sie hatte vor dem 1.1.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen (November 1983), ihre Rente begann nach dem 30.9.1996 (1.5.1997), und über ihren Rentenantrag war noch nicht rechtskräftig entschieden worden. Den Zuschlag an persönlichen EP, der sich aus der Differenz zwischen der mit und ohne Anwendung von § 22 Abs 4 FRG ermittelten Summe aller persönlichen EP zum Rentenbeginn ergibt, hat die Beklagte im Bescheid vom 26.2.2008 zutreffend mit 12,9957 berechnet (44,0431 persönliche EP ohne Absenkung für FRG-Zeiten nach § 22 Abs 4 FRG abzüglich 31,0474 persönliche EP, die der bisherigen Berechnung im Rentenbescheid vom 23.5.1997 - also mit Absenkung für FRG-Zeiten nach § 22 Abs 4 FRG - zu Grunde lagen) und der Klägerin entsprechend der gesetzlichen Staffelung in vier abgestuft sinkenden Beträgen für die Zeit des Rentenbezugs vom 1.5.1997 bis 30.6.2000 in Form eines einmaligen Nachzahlungsbetrags gewährt.

23

Entgegen der Auffassung der Klägerin beträgt die für die Zuschlagsermittlung maßgebliche Differenz der bisher berücksichtigten persönlichen EP zu den persönlichen EP, die sich ohne eine Absenkung der nach dem FRG bewerteten Zeiten ergeben, nicht - wie von ihr zur Darstellung ihrer persönlichen (finanziellen) Einbuße vorgetragen - 12,4126 (45,5305 persönliche EP ohne Absenkung abzüglich 33,1179 persönliche EP mit Absenkung). Unabhängig davon, dass diese Berechnung einen - für die Klägerin im Ergebnis nachteiligen - niedrigeren Zuschlag im Vergleich zu dem von der Beklagten errechneten ergibt, bezieht sie bei ihrer Berechnung des Zuschlags die pauschale Erhöhung der EP für Kindererziehungszeiten nach - den in Ausführung der Entscheidung des BVerfG vom 12.3.1996 (BVerfGE 94, 241 = SozR 3-2200 § 1255a Nr 5) durch das Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999) vom 16.12.1997 (BGBl I 2998) mit Wirkung vom 1.7.1998 als Übergangsregelung zu § 70 Abs 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) idF des RRG 1999 in das SGB VI eingefügten und wegen Zeitablaufs durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21.7.2004 (BGBl I 1791) aufgehobenen - §§ 256d, 307d (entsprechend Anlage 6 Seite 2 des Rentenbescheids vom 26.2.2008) mit ein. Diese Änderung bei den persönlichen EP trat jedoch erst nach dem für die Zuschlagsermittlung maßgeblichen Beginn der Rente der Klägerin (1.5.1997) ein. Die pauschalen (zusätzlichen) EP für Kindererziehungszeiten bleiben deshalb für die Ermittlung des Zuschlags nach Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 außer Betracht(so ausdrücklich auch der Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz BT-Drucks 16/3794, S 48 zu Art 16 <= Art 6 § 4c FANG 2007>: "… Die Zuschlagsermittlung erfolgt einmalig zum Rentenbeginn und nach der endgültigen Feststellung der unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte. Veränderungen bei den persönlichen Entgeltpunkten, die nach Rentenbeginn eintreten [z. B. §§ 256d, 307d SGB VI, Zu- bzw Abschläge aus einem Versorgungsausgleich], bleiben unberücksichtigt. …") .

24

b) Der Ansicht der Klägerin, die Vorschrift des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 sei verfassungswidrig, vermag der Senat nicht zu folgen. Die Bestimmung genügt den Anforderungen, die das BVerfG unter Berücksichtigung des Art 2 Abs 1 GG und des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips an eine Übergangsregelung für FRG-Berechtigte, die vor dem 1.1.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30.9.1996 begonnen hat, gestellt hat (s ebenso bereits BSG <5. Senat> vom 20.10.2009 - B 5 R 38/08 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

25

aa) Soweit die Klägerin auf den Umfang der sie insgesamt und auf Dauer treffenden (erheblichen) Rentenkürzung hinweist, die eine Aufrechterhaltung ihres bisherigen Lebensstandards in Frage stelle, und die Argumentation der Revision darauf abzielt, der Klägerin auf Dauer die Absenkung der EP nach § 22 Abs 4 FRG zu ersparen, ist dies von vornherein unbeachtlich. Denn dass die entsprechende Rentenkürzung selbst weder gegen Art 14 Abs 1 GG noch gegen Art 3 GG verstößt, hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 13.6.2006 näher ausgeführt (BVerfGE 116, 96, 120 bis 130 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 77 bis 98).

26

Das BVerfG hat ferner entschieden, dass es verfassungsrechtlich unbedenklich war, mit der durch Art 4 Nr 4 WFG eingeführten Übergangsregelung des Art 6 § 4c FANG (im Folgenden: Art 6 § 4c FANG 1996) zu bestimmen, dass § 22 Abs 4 FRG auf Berechtigte Anwendung findet, deren Rente nach dem 30.9.1996 beginnt. Dies gilt auch insoweit, als Art 6 § 4c FANG 1996 Berechtigte, die bereits vor dem 1.1.1991 zugezogen sind, nicht allgemein von der Kürzung der EP um 40 vH ausschließt. Denn ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, dass allein die nach dem 31.12.1990 in die Bundesrepublik Deutschland zugezogenen, nach dem FRG Berechtigten "die Last der Sanierung der gesetzlichen Rentenversicherung" auf Dauer zu tragen hätten, konnte sich nicht bilden. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist ferner nicht, dass durch Art 6 § 4 Abs 5 FANG idF des Art 4 Nr 2 Buchst b WFG die Inhaber von Ansprüchen und Anwartschaften, die dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen unterfallen, von der Kürzung der EP ausgenommen worden sind(vgl BVerfGE 116, 96, 130 bis 133 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 97, 100 bis 105) .

27

bb) Durch die Entscheidung des BVerfG ist auch geklärt, dass sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Übergangsregelung (allein) aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip ergeben (BVerfGE 116, 96, 130 f = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 99) .

28

Das BVerfG hat das Fehlen einer Übergangsregelung für zum damaligen Zeitpunkt "rentennahe Jahrgänge" beanstandet, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland vor dem 1.1.1991 genommen haben und deren Rente nach dem 30.9.1996 begonnen hat, weil diese nach der bis zur Verkündung des WFG geltenden Rechtslage eine ungeschmälerte Rente aus Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem FRG beanspruchen konnten. Für den genannten Personenkreis hätte der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zwar keine Regelung vorsehen müssen, die es ihnen erlaubt hätte, die durch § 22 Abs 4 FRG bewirkte Verringerung ihrer Rente durch eine Maßnahme der zusätzlichen und insbesondere privaten Altersvorsorge auszugleichen; die Annahme entsprechender Möglichkeiten hat das BVerfG als "lebensfremd" bezeichnet. Eine Übergangsregelung für diesen Personenkreis hätte die Betroffenen jedoch in die Lage versetzen müssen, in angemessener Zeit ihre Lebensführung auf deutlich niedrigere Renten einzustellen. Bei einer schrittweisen Anwendung des Abschlags auf die EP wäre es ihnen beispielsweise möglich gewesen, von mittel- und langfristig wirkenden finanziellen Dispositionen abzusehen oder diese der verringerten Rente anzupassen (BVerfGE 116, 96, 133 f = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 108) .

29

Die nähere Ausgestaltung der erforderlichen Übergangsregelung hat das BVerfG ausdrücklich dem Gesetzgeber überlassen. Dabei hat es in das (sachgerechte) Ermessen des Gesetzgebers gestellt, ob er sich zu einer gestuften Übergangsregelung entschließt, in welchem Zeitraum und in welchen Zeitstufen die Anpassung erfolgen soll, und wie er den Kreis der Berechtigten ("die rentennahen Jahrgänge") bestimmt, um dem dargestellten legitimen Interesse der Betroffenen zu genügen (BVerfGE 116, 96, 134 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 109) .

30

cc) Den sich aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip ergebenden Anforderungen wird Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 gerecht(s bereits BSG <5. Senat> vom 20.10.2009 - B 5 R 38/08 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen) .

31

Der weite gesetzgeberische Gestaltungsspielraum ist im Hinblick auf Art und Ausmaß vertrauensschützender Übergangsregelungen nicht unbegrenzt. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht aber auch nicht so weit, den einzelnen Versicherten vor jeder Enttäuschung zu bewahren. Zwischen der sofortigen, übergangslosen Inkraftsetzung des neuen Rechts und dem ungeschmälerten Fortbestand begründeter subjektiver Rechte sind vielfache Abstufungen denkbar. Übergangsregelungen sollen das Ausmaß des Vertrauensschadens der von der Rechtsänderung Betroffenen mindern. Sie sollen etwaige Härten vermeiden oder zumindest gering halten; dass diese nicht völlig ausgeschlossen sind, liegt in der Natur jeder Rechtsänderung, die in bestehende Lebensplanungen eingreift. Dabei muss der Gesetzgeber nicht jedem Einzelfall und nicht jeder konkreten Disposition Rechnung tragen. Vielmehr ist er auch bei Übergangsregelungen befugt, zu typisieren und von untypischen Ausnahmefällen abzusehen (vgl BVerfG vom 5.5.1987 - BVerfGE 75, 246, 282) . Maßgeblich ist allein, ob der Gesetzgeber bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe unter Berücksichtigung aller Umstände die Grenze der Zumutbarkeit nicht überschritten hat (vgl BVerfG vom 4.2.2010 - 1 BvR 2918/09 - Juris RdNr 18; BVerfG vom 8.2.1977 - BVerfGE 43, 242, 288 f; s allgemein zu Übergangsrecht und Vertrauensschutz Schlegel, VSSR 2004, 313 ff) .

32

Diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe hat der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG in seiner Entscheidung vom 13.6.2006 (aaO) bei der Ausgestaltung der Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 hinreichend beachtet.

33

Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 erhöht die Rente für nach dem FRG Berechtigte, die vor dem 1.1.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30.9.1996 begonnen hat, vorübergehend um einen monatlichen Ausgleichsbetrag in Form eines zeitlich befristeten Zuschlags an persönlichen EP, dessen Ausgangswert der Kürzung der EP um 40 vH entspricht und der in vier abgestuft sinkenden Beträgen für Rentenbezugszeiträume von jeweils neun bzw zwölf Monaten ab dem 1.10.1996 bis zum 30.6.2000 gezahlt wird . Das BVerfG selbst hat auf die Möglichkeit "einer schrittweisen Anwendung des Abschlags auf die Entgeltpunkte" hingewiesen (BVerfGE 116, 96, 134 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 108) , was der Gesetzgeber durch die Gewährung des nachlassenden Zuschlags in Form von persönlichen EP aufgegriffen hat. Dieses Verfahren ist nicht zu beanstanden (vgl hierzu - gesetzestechnisch - den Zuschlag nach § 24 des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch, der den Wechsel von Arbeitslosengeld zum Alg II finanziell abfedert und im ersten Jahr zwei Drittel, im zweiten Jahr ein Drittel der Differenz ausgleicht). Es liegt im Wesen einer Übergangsregelung, einen vorgefundenen Rechtszustand gleitend in eine neue gesetzgeberische Konzeption zu überführen (hier: Rückführung der Leistungen nach dem FRG und Abkehr vom Eingliederungsprinzip, s hierzu BVerfGE 116, 96, 100 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 12 ). Zudem dient das gewählte Verfahren der Verwaltungsvereinfachung (vgl Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz BT-Drucks 16/3794, S 48 zu Art 16 <= Art 6 § 4c FANG 2007>) und ermöglicht zugleich eine zügige Feststellung eines unter Berücksichtigung des individuellen Versicherungsverlaufs ermittelten Ausgleichsbetrags für den von der Übergangsregelung erfassten Versichertenkreis. Dass im Falle einer vom BVerfG nachträglich angeordneten Übergangsregelung eine zeitnahe und wirkliche Anpassung der Lebensführung an die geänderten finanziellen Verhältnisse durch die von ihr erfassten Versicherten nicht mehr erfolgen kann, liegt in der Natur der Sache begründet und ist hinzunehmen. Daher ist auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber als Inhalt der rückwirkend eingeführten Übergangsregelung des Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 die Nachzahlung eines "einmaligen" Ausgleichsbetrags vorgesehen hat(vgl aaO BT-Drucks 16/3794, S 48) . Auch für die Beurteilung der Übergangsregelung ist schließlich zu beachten, dass die von der Kürzung der EP betroffenen Zeiten nicht auf eigenen Beitragsleistungen beruhen, sondern "ein Akt besonderer staatlicher Fürsorge" bzw "Ausdruck besonderer Vergünstigungen" sind (vgl BVerfGE 116, 96, 122, 129 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 82, 93) .

34

Die Abstufung von einem vollständigen bis hin zu einem 25-prozentigen Ausgleich in Form eines zeitlich befristeten Zuschlags an persönlichen EP, der sich aus der Differenz zwischen der mit und ohne Anwendung von § 22 Abs 4 FRG ermittelten Summe aller persönlichen EP ergibt, innerhalb eines zeitlichen Rahmens von knapp vier Jahren lässt erkennen, dass der Gesetzgeber entsprechend den Vorgaben des BVerfG das individuelle Schutzbedürfnis des von der EP-Kürzung betroffenen Versicherten vor plötzlichen und nachhaltigen Veränderungen der Lebensgrundlage in vertretbarem Umfang gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an einer funktionsfähigen gesetzlichen Rentenversicherung und hier speziell dem Gemeinwohlzweck der Stabilisierung ihrer Finanzen abgewogen hat. Denn auch durch die neue Übergangsregelung, bei der als solcher der Einsparungseffekt eher nachrangig ist, wird nicht in Frage gestellt, dass der Kürzungsfaktor 0,6 mittel- und langfristig regelmäßig bei den nach dem FRG Berechtigten greift, die vor dem 1.1.1991 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Damit aber hat der Gesetzgeber die mit dem Erlass des § 22 Abs 4 FRG beabsichtigten Einsparungen in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht(vgl hierzu BVerfGE 116, 96, 126 f, 134 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 90, 108).

35

Die Begrenzung des Anpassungs- und Ausgleichs(nach)zahlungszeitraums auf den 30.6.2000 in Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 ist vom Gesetzgeber nicht willkürlich gewählt.

36

Zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte darf der Gesetzgeber Stichtage einführen, auch wenn jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt (stRspr, vgl zB BVerfG vom 27.2.2007 - BVerfGE 117, 272, 301 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7 RdNr 73). Er muss lediglich den ihm bei der Stichtagsregelung zukommenden Gestaltungsfreiraum in sachgerechter Weise genutzt und die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt haben, sodass sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt und nicht als willkürlich erscheint (stRspr, zB BVerfG vom 11.11.2008 - 1 BvL 3/05 - Juris RdNr 73 unter Hinweis auf BVerfGE 80, 297, 311 = SozR 5795 § 4 Nr 8 S 27).

37

Der in Art 6 § 4c Abs 2 FANG 2007 enthaltene Stichtag des 30.6.2000 hat eine doppelte Funktion:

38

Zum einen soll er die "rentennahen Jahrgänge" für die von der Kürzung der EP betroffenen Versicherten bestimmen, für die der Gesetzgeber aus Gründen des Vertrauensschutzes verpflichtet war, eine Übergangsregelung zu schaffen. Dass er dabei die Bestimmung der von der Übergangsregelung erfassten "rentennahen Jahrgänge" - entgegen dem eigentlichen Wortsinn - allein nach der zeitlichen Nähe ihres Rentenbeginns zur Gesetzesänderung des § 22 Abs 4 FRG und nicht aufgrund ihrer (Geburts-)Jahrgänge vorgenommen hat, ist nicht zu beanstanden. Denn welche Jahrgänge "rentennah" sind, muss im Lichte dessen bewertet werden, was nach der Entscheidung des BVerfG Ziel einer auf Vertrauensschutz beruhenden Übergangsregelung zu § 22 Abs 4 FRG sein soll, nämlich die Möglichkeit, dass sich die von der Kürzung der EP Betroffenen auf die dauerhafte Absenkung ihrer Rente in angemessener Zeit einstellen können. Der 5. Senat weist in seiner Entscheidung vom 20.10.2009 (B 5 R 38/08 R - Juris RdNr 25) zu Recht darauf hin, dass eine Bestimmung der von der Übergangsregelung in ihrem Vertrauen geschützten "rentennahen Jahrgänge" allein nach Geburtsjahrgängen möglicherweise zu einer verfassungsrechtlich problematischen Differenzierung zwischen Alters- und Erwerbsminderungsrentnern geführt hätte.

39

Zum anderen bestimmt der Stichtag des 30.6.2000 den Zeitraum, in dem es der Gesetzgeber für zumutbar hält, dass sich FRG Berechtigte, die vor dem 1.1.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland genommen haben und deren Rente nach dem 30.9.1996 begonnen hat, auf die durch § 22 Abs 4 FRG abgesenkte Rente hätten einstellen können. Danach wird die Phase, die für die Betroffenen vorgesehen ist, um sich in ihrer Lebensführung auf die dauerhaft ungünstigeren finanziellen Verhältnisse einzustellen, auf knapp vier Jahre erstreckt. In diesem Zeitraum wird die Minderung des Rentenbetrags auf den unter Anwendung von § 22 Abs 4 FRG dauerhaft zustehenden Monatsbetrag schrittweise vorgenommen und dadurch erreicht, dass der Zuschlag an persönlichen EP in vier abgestuften Teilschritten erfolgt. Die von der EP-Kürzung betroffenen Personen werden durch die gestufte Übergangsregelung rückwirkend so gestellt, dass sie ab deren Inkrafttreten (1.10.1996) 45 Monate zur Verfügung gehabt hätten, um sich auf die neue, ihre Rentenanwartschaften verschlechternde Lage einzustellen.

40

Der erkennende Senat stimmt mit dem 5. Senat (B 5 R 38/08 R - Juris RdNr 21, 26) darin überein, dass dieser ("Anpassungs-")Zeitraum unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG angemessen ist und es den Betroffenen innerhalb dieses Zeitraums möglich gewesen wäre, von mittel- und langfristig wirkenden finanziellen Dispositionen abzusehen und die bisherigen Kosten der Lebensführung schrittweise (entsprechend der sich verringernden Zuschlagszahlung) der neuen dauerhaft abgesenkten Rente anzupassen. In diesem Zusammenhang ist nochmals hervorzuheben, dass Ziel der Übergangsregelung zu § 22 Abs 4 FRG nicht die Möglichkeit zur Schaffung eines privaten adäquaten Ausgleichs im Sinne einer Sicherung des bisher erwarteten Lebensstandards als Rentner durch eine entsprechende ergänzende Altersvorsorge, sondern lediglich die Einstellung der Lebensführung auf die sich ändernden finanziellen Verhältnisse sein sollte, und dass das BVerfG den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum für die nähere Ausgestaltung einer Übergangsregelung besonders betont hat(BVerfGE 116, 96, 134 = SozR 4-5050 § 22 Nr 5 RdNr 109) .

41

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und 4 SGG.

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Mai 2013 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten besteht Streit, ob die der Klägerin bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung noch gemäß dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (Abk Polen RV/UV) nach dem sog "Eingliederungsprinzip" zu berechnen ist.

2

Die im Mai 1959 in Warschau geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie war zunächst in Polen beschäftigt, ehe sie nach Berlin (West) übersiedelte. Dort war sie von Dezember 1988 bis Februar 1989 in Berlin-Neukölln polizeilich gemeldet, anschließend wieder in Polen und sodann ab dem 15.9.1990 in Berlin-Kreuzberg, wo sie bereits mit ihrem jetzigen Ehemann zusammenlebte. Nach Scheidung von ihrem ersten Ehemann in Polen am 29.5.1991 heiratete sie am 24.7.1992 ihren jetzigen Ehemann, einen in Berlin lebenden österreichischen Staatsangehörigen. Im April 1994 beantragte sie erstmalig eine Aufenthaltsgenehmigung, die ihr zunächst befristet und im Jahr 1999 unbefristet erteilt wurde. Zuvor war sie in Berlin ausländerrechtlich überhaupt nicht registriert, hatte mithin weder Asyl beantragt noch war ihr eine Duldung erteilt worden, sodass sie über keinerlei ausländerrechtlichen Status verfügte.

3

Der beklagte Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin aufgrund eines im Mai 2007 geschlossenen gerichtlichen Vergleichs zunächst befristet für den Zeitraum 1.6.2005 bis 31.1.2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung (Bescheid vom 7.8.2007). Die Beklagte ermittelte die Rentenhöhe nach einer "zwischenstaatlichen Berechnung" gemäß den Regelungen der EWGV 1408/71. Dabei ergaben sich 4,5975 persönliche Entgeltpunkte (pEP) und 0,0188 pEP (Ost) sowie ein monatlicher Zahlbetrag von ca 120 Euro. Den Widerspruch der Klägerin, die sich auf fehlende polnische Zeiten berief, wies die Beklagte zurück, weil alle vom polnischen Versicherungsträger gemeldeten Zeiten berücksichtigt worden seien (Widerspruchsbescheid vom 18.3.2008).

4

Die Klägerin hat erstmals mit ihrer Klage ausdrücklich geltend gemacht, sie habe Anspruch auf Berechnung der Rente nach den Vorschriften des Abk Polen RV/UV. Nach einer von der Beklagten durchgeführten Probeberechnung würde sich auf dieser Grundlage ein monatlicher Rentenzahlbetrag von ca 500 Euro ergeben. Während des Klageverfahrens hat die Beklagte die Rente wegen Erwerbsminderung zunächst weiterhin bis Januar 2011 und sodann auf Dauer bewilligt (Bescheide vom 14.2.2008 und vom 13.1.2011).

5

Das SG hat die gegen die erste - befristete - Rentenbewilligung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 18.5.2011). Die Klägerin habe sich zwar seit dem 15.9.1990 in Deutschland aufgehalten, hier aber noch nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Zu den dafür maßgeblichen tatsächlichen Umständen könne bei Ausländern auch deren ausländerrechtlicher Status gehören. Entscheidend sei aber nicht der formale ausländerrechtliche Titel, sondern wie sich die Aufenthaltslage nach den erteilten Bescheinigungen der Ausländerbehörde, deren Praxis und der gegebenen Rechtslage darstelle. Ein gewöhnlicher Aufenthalt sei anzunehmen, wenn der Ausländer die Gewissheit habe, im Inland bleiben zu dürfen und nicht abgeschoben zu werden (Hinweis auf das Urteil des Senats vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris). Eine solche Gewissheit habe die Klägerin weder bis zum 31.12.1990 noch bis zum 30.6.1991 haben können, weil sie über keinerlei aufenthaltsrechtlichen Status verfügt habe. Zwar seien nach einer Weisung des Berliner Senators für Inneres vom 12.6.1987 polnische Staatsangehörige selbst nach negativem Abschluss eines Asylverfahrens unbegrenzt in Berlin geduldet oder es sei ihnen auch ohne Asylverfahren eine auf ein Jahr begrenzte Duldung erteilt worden, sofern sie ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe sichern konnten. Dies komme der Klägerin aber nicht zugute, weil ihr Aufenthaltsstatus durch keinerlei Entscheidung der Ausländerbehörde legalisiert und damit von vornherein unsicher gewesen sei.

6

Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28.2.2013). Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Anwendung der Regelungen des Abk Polen RV/UV, denn sie habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht bis zum 31.12.1990 bzw bis zum 30.6.1991 in die Bundesrepublik Deutschland verlegt und seitdem ununterbrochen beibehalten. Auch wenn sie sich seit dem 15.9.1990 tatsächlich in Berlin aufgehalten und mit ihrem jetzigen Ehemann zusammengelebt habe, fehle es doch, wie das SG zutreffend dargestellt habe, an der erforderlichen rechtlichen Komponente zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts. Dass die Klägerin keinen gesicherten und zukunftsoffenen Aufenthalt in Berlin gehabt habe, zeige sich insbesondere auch darin, dass sie und ihr späterer Ehemann Anfang 1991 einen Rechtsanwalt mit der Prüfung der Möglichkeiten für eine Legalisierung ihres Aufenthalts beauftragt hätten, sie sich mithin der Illegalität des Aufenthalts bewusst gewesen seien.

7

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 63 ff SGB VI iVm Art 27 Abs 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) und Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV. Die Ansicht der Vorinstanzen, sie habe wegen eines fehlenden Aufenthaltstitels oder einer vergleichbaren ausländerrechtlichen Absicherung keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin begründen können, stehe im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des BSG (Hinweis auf Urteile vom 16.12.1987 - 11a REg 3/87 - SozR 7833 § 1 Nr 4; vom 30.9.1993 - 4 RA 49/92 - SozR 3-6710 Art 1 Nr 1; vom 9.8.1995 - 13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15; vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris). Der Begründung eines gewöhnlichen, rechtmäßig unbefristeten Aufenthalts stünden keine Hindernisse entgegen, wenn keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen würden oder zu erwarten seien. Auf Grundlage der Weisungen des Berliner Innensenators vom 12.6.1987 habe sie darauf vertrauen können, dass sie in Berlin dauerhaft geduldet und nicht nach Polen abgeschoben werde. Da aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht zu erwarten gewesen seien, sei von einem zukunftsoffenen gewöhnlichen Aufenthalt auszugehen. Abweichend hiervon hätten SG und LSG zu Unrecht ausschließlich auf die rechtliche Komponente des ausländerrechtlichen Status bzw auf eine formale Entscheidung der Ausländerbehörde abgestellt.

8

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Februar 2013 sowie des Sozialgerichts Berlin vom 18. Mai 2011 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 7. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. März 2008 zu verurteilen, der Klägerin im Zeitraum vom 1. Juni 2005 bis zum 31. Januar 2008 höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Anwendung der Regelungen des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 zu gewähren.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Sie hält das angegriffene Urteil des LSG für zutreffend. Die von der Klägerin herangezogene Rechtsprechung sei auf ihren Fall nicht anwendbar, weil sie überhaupt keinen Aufenthaltstitel aufzuweisen gehabt und einen solchen nicht einmal beantragt habe. Das BSG habe im Urteil vom 9.8.1995 (13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 - Juris RdNr 31 f) offengelassen, ob die zum 1.7.1990 in Kraft getretene Ergänzung von Art 1a des Gesetzes zum Abk Polen RV/UV um das ausdrückliche Erfordernis eines unbefristet rechtmäßigen Aufenthalts lediglich eine Klarstellung oder eine gegenüber § 30 SGB I spezialgesetzliche Sonderregelung enthalte. Im Fall der Klägerin sei nunmehr über einen Sachverhalt nach Inkrafttreten dieser Regelung zu befinden. Die Weisung der Berliner Senatsverwaltung für Inneres vom 12.6.1987 sei mit Schreiben vom 18.2.1990 für nach dem 1.12.1989 eingereiste Ausländer aus Polen aufgehoben worden. Für Personen wie die Klägerin hätten dann nur noch die allgemeinen ausländer- und asylrechtlichen Bestimmungen gegolten, sodass diese aufgrund ihrer Einreise im September 1990 grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet gewesen sei und das Abk Polen RV/UV auf sie keine Anwendung finde.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne einer Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Die bislang vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung des Senats, ob der Klägerin höhere Rente wegen Erwerbsminderung zusteht, nicht aus.

12

1. Als Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch kommt nur Art 4 Abs 2 des Abk Polen RV/UV iVm Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (vom 12.3.1976 - BGBl II 393, insoweit zuletzt geändert durch Art 2 Nr 1 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 8.12.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 18.6.1991 - BGBl II 741) in Betracht.

13

a) Nach Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV sind Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, auf der Grundlage von Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrentengesetzes (FRG) und des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach dem Stand vom 2.10.1990 "wohnt". Das FRG bestimmt insoweit, dass Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen (§ 15 Abs 1 S 1 FRG - s hierzu auch § 55 Abs 1 S 2 SGB VI). Aufgrund dieser "Eingliederung" werden die Renten davon Begünstigter im Ergebnis so berechnet, als ob sie ihr gesamtes Erwerbsleben - also auch die in Polen absolvierten Zeiten - rentenrechtlich in Deutschland zurückgelegt hätten.

14

b) Die Anwendung des Eingliederungsprinzips bei der Rentenberechnung auf Grundlage des Abk Polen RV/UV wurde durch das spätere Abk Polen SozSich vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743), welches nunmehr auch im Verhältnis zwischen Polen und Deutschland das im Bereich des europäischen koordinierenden Sozialrechts seit jeher angewandte Leistungsexportprinzip (anteilige Rentenzahlung aus jeder nationalen Rentenkasse bei Zusammenrechnung der für eine Rentenleistung erforderlichen Versicherungszeiten) einführte, nicht ausnahmslos verdrängt. Nach den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Abk Polen SozSich ist das Abk Polen RV/UV unter den Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich weiterhin anwendbar (hierzu sowie zum Folgenden zuletzt eingehend Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 15 ff).

15

c) An dieser Rechtslage hat sich mit dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union zum 1.5.2004 nichts geändert. Ab diesem Zeitpunkt ist auch für die sozialrechtliche Koordinierung zwischen Deutschland und Polen die EWGV 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (vom 14.6.1971, ABl L 149 vom 5.7.1971, S 2, geändert durch den Vertrag über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003 - Abschn B Anh II Nr 2 "Freizügigkeit" Abschn A "Soziale Sicherheit" Nr 1, s auch EU-Beitrittsgesetz vom 18.9.2003, BGBl II 1408 iVm Anlageband 1 S 158), zugrundezulegen. Die - soweit hier von Bedeutung - weitgehend inhaltsgleichen Bestimmungen der ab 1.5.2010 wirksamen EGV 883/2004 (vom 29.4.2004, ABl EU Nr L 166 vom 30.4.2004 - s dazu Senatsurteil vom 10.7.2012 - B 13 R 17/11 R - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 26 ff, 41) finden auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt hingegen noch keine Anwendung (Art 87 Abs 1 EGV 883/2004).

16

Nach Art 6 Buchst a) EWGV 1408/71 ist diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs zwar an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit getreten. Dies betrifft auch die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen SozSich und das Abk Polen RV/UV. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die wie das Abk Polen RV/UV von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung der EWGV 1408/71 geschlossen wurden, bleiben nach Art 7 Abs 2 Buchst c) EWGV 1408/71 jedoch weiterhin anwendbar, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen ferner in Anhang III aufgeführt sein. Die genannten Voraussetzungen für eine Fortgeltung von Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich - und in diesem Umfang mithin auch des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV - sind erfüllt. Insbesondere ist auch in Anhang III Teil A EWGV 1408/71 (idF des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003) unter der Überschrift "Bestimmungen aus Abkommen über soziale Sicherheit, die ungeachtet des Artikels 6 der Verordnung weiterhin anzuwenden sind (Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe c der Verordnung)" in Ziff 84 "Deutschland - Polen" unter Buchst a) das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens vom 8. Dezember 1990 über soziale Sicherheit festgelegten Bedingungen" aufgeführt (zu den ebenfalls erfüllten materiellen Voraussetzungen für eine Fortgeltung vgl Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 19 ff; zur Rechtslage nach der EGV 883/2004 s auch Bokeloh, NZS 2015, 321, 325 f).

17

2. Nach der Übergangsbestimmung in Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich werden die vor dem 1.1.1991 (das im Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 23 insoweit genannte Datum "1.1.1990" ist offenkundig fehlerhaft) aufgrund des Abk Polen RV/UV von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche und Anwartschaften durch das Abk Polen SozSich nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten; für die Ansprüche dieser Personen in der Rentenversicherung gelten weiterhin die Bestimmungen des Abkommens von 1975. Zudem können gemäß Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV auch noch Personen erwerben, die zwar bis zum 31.12.1990 noch keinen Wohnort im anderen Vertragsstaat begründet haben, aber vor dem 1.1.1991 in den anderen Vertragsstaat eingereist sind, bis zu diesem Zeitpunkt die Verlegung des Wohnorts in den anderen Vertragsstaat beantragt haben und sich dort seitdem ununterbrochen aufhalten, sofern sie im Zeitpunkt des Versicherungsfalls, spätestens vom 30.6.1991 an, in diesem Vertragsstaat auch "wohnen". Schließlich können nach Art 27 Abs 4 Abk Polen SozSich Personen auch dann noch Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV erwerben, wenn sie zumindest vor dem 1.7.1991 ihren Wohnort in den anderen Vertragsstaat verlegt haben und eine Verlegung des Wohnorts vor dem 1.1.1991 aus Gründen unterblieben ist, die sie nicht zu vertreten haben.

18

Damit hängt die Anwendung des Abk Polen RV/UV bei der Berechnung der Rente der Klägerin zunächst entscheidend davon ab, ob diese bis spätestens am 31.12.1990 ihren Wohnort in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) begründet hat (zur Anwendung im Land Berlin s Art 17 Abk Polen RV/UV sowie Art 7 des Gesetzes zum Abk Polen RV/UV). War dies nicht der Fall, ist ergänzend zu untersuchen, ob sie jedenfalls spätestens seit dem 30.6.1991 hier gewohnt hat. Bejahendenfalls ist das Vorliegen der in Art 27 Abs 3 bzw Abs 4 Abk Polen SozSich genannten weiteren Voraussetzungen - im Fall des Abs 3 ein Antrag auf Verlegung des Wohnorts in den anderen Vertragsstaat und die Einreise dort vor dem 1.1.1991 sowie seither ein ununterbrochener Aufenthalt, im Fall des Abs 4 das "nicht vertreten müssen" des Unterbleibens einer Verlegung des Wohnorts bis zum 31.12.1990 - zu prüfen.

19

a) Für die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" in Art 27 Abk Polen SozSich ist nach der bisherigen Rechtsprechung die Definition im Abk Polen RV/UV maßgeblich (so Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 25 unter Hinweis auf BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 13; Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 f, und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 32 f). Nach Art 1 Nr 2 Spiegelstrich 1 Abk Polen RV/UV versteht man hierunter - für die Bundesrepublik Deutschland - "den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts oder sich gewöhnlich aufhalten". Ergänzend bestimmt Art 1a des deutschen Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (AbKG), der nachträglich mit Wirkung vom 1.7.1990 eingefügt wurde (Art 20 Nr 1, Art 85 Abs 6 Rentenreformgesetz 1992 vom 18.12.1989 - BGBl I 2261), dass einen gewöhnlichen Aufenthalt iS des Art 1 Nr 2 Abk Polen RV/UV im Geltungsbereich des Gesetzes nur hat, "wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält". Eine inhaltsgleiche Regelung enthält auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich.

20

Die Bedeutung dieser einschränkenden Regelung, die für die Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch die materielle Rechtmäßigkeit des Aufenthalts verlangt (s hierzu allgemein Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2011, § 30 RdNr 50 f), wurde in der Rechtsprechung des BSG allerdings relativiert. Dies betraf in erster Linie das Merkmal "unbefristet". Insoweit hat der 4. Senat des BSG entschieden, die Regelung sei völkerrechtsfreundlich so auszulegen, dass sie die Rechtslage gemäß der bisherigen Rspr des BSG lediglich klarstelle und somit bedeute, dass "ein endgültiges Ende noch nicht bindend bestimmt" sein dürfe (BSG Urteil vom 30.9.1993 - 4 RA 49/92 - SozR 3-6710 Art 1 Nr 1 - Juris RdNr 22 ff). Dem haben sich der 5. Senat (Urteile vom 14.9.1994 - 5 RJ 10/94 - Juris RdNr 16 am Ende; vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 21) und der 8. Senat (Urteil vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 19) angeschlossen. Der 13. Senat hat hingegen in erster Linie darauf abgestellt, dass in dem Fall der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts bis zum 30.6.1990 dieser weder durch das Inkrafttreten von Art 1a AbkG Polen RV/UV zum 1.7.1990 noch durch den zum 1.10.1991 in Kraft getretenen Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich wieder weggefallen sei (Urteile vom 9.8.1995 - 13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 - Juris RdNr 31; vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 33). Sachverhalte, bei denen die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts erst nach dem 30.6.1990 in Betracht kam, waren bislang nicht Gegenstand der Rspr des BSG. Allerdings hat der 13. Senat im Urteil vom 4.11.1998 (aaO RdNr 32) betont, dass Art 1a AbkG Polen RV/UV eine grundsätzlich gegenüber § 30 Abs 3 SGB I vorrangige Spezialregelung enthalte. Im Urteil vom 9.8.1995 hat er zudem in einem obiter dictum (aaO RdNr 41) festgestellt, dass Art 1a AbkG Polen RV/UV insofern einen realen Anwendungsbereich habe, als die Vorschrift sicherstelle, dass bei nach dem 1.12.1989 eingereisten polnischen Asylbewerbern, die nicht unter die "Ostblockregelung" der Ausländerbehörden fielen, auch bei längerer Dauer des Asylverfahrens nicht von einem unbefristeten rechtmäßigen Aufenthalt ausgegangen werden könne.

21

Der vorliegende Fall gibt Veranlassung, diese Rechtsprechung zu präzisieren. Dabei ist davon auszugehen, dass die in der Übergangsvorschrift des Art 27 Abk Polen SozSich verwendeten Begriffe "Wohnort" und "wohnen" grundsätzlich mit der Bedeutung anzuwenden sind, wie sie in diesem Abkommen definiert ist, mithin nach Maßgabe des Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um einen unbefristeten rechtmäßigen Aufenthalt handeln muss. Das ist insbesondere bedeutsam für die Frage, ob nach Maßgabe des Art 27 Abs 3 und 4 des am 8.12.1990 abgeschlossenen Abk Polen SozSich diejenigen Personen, die erst nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort in das Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaats verlegen (und für deren Ansprüche gemäß Art 27 Abs 1 S 2 deshalb grundsätzlich die materiellen Regelungen des nach Art 29 Abs 1 ab 1.1.1991 wirksamen Abk Polen SozSich Anwendung finden sollen), ausnahmsweise und in begrenztem Umfang noch Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV erwerben können. Gerade für diesen Personenkreis ist auch in der Denkschrift zum Abk Polen SozSich ausgeführt, dass sie spätestens vom 30.6.1991 an in dem Vertragsstaat "wohnen (unbefristet rechtmäßig aufhalten)" müssen (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Abk Polen SozSich vom 3.5.1991, BT-Drucks 12/470 S 24).

22

Abweichendes gilt allerdings, soweit in Art 27 Abk Polen SozSich ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist. Dies ist bei den Sachverhalten der Fall, die von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich erfasst werden. In dieser Übergangsbestimmung für bereits während der Geltungsdauer des alten Abk Polen RV/UV erworbene Ansprüche und Anwartschaften ist in S 2 geregelt, dass für Ansprüche von Personen mit nach dem 31.12.1990 beibehaltenem Wohnort im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats "weiterhin die Bestimmungen des Abkommens von 1975" gelten. Für Personen mit bereits nach altem Recht erworbenen Ansprüchen und Anwartschaften soll demnach auch die - nicht um die zusätzlichen Merkmale eines unbefristeten und rechtmäßigen Aufenthalts eingegrenzte - Begriffsdefinition des alten Rechts in Art 1 Nr 2 Abk Polen RV/UV weiterhin maßgeblich sein. Da auch diese Bestimmung des Abk Polen SozSich durch Gesetz vom 18.6.1991 (BGBl II 741) in innerstaatliches Recht transformiert wurde, folgt daraus nach der "lex posterior"-Regel, dass der - noch vor Abschluss des neuen polnisch-deutschen Sozialversicherungsabkommens zum 1.7.1990 allein durch nationale Gesetzgebung eingefügte - Art 1a AbkG Polen RV/UV (idF von Art 20 Nr 1 RRG 1992 vom 18.12.1989, BGBl I 2261) für die von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich erfassten Fallgestaltungen nicht anwendbar ist, weil insoweit im neuen Abkommensrecht eine vorrangige (Abgrenzungs-)Regelung getroffen wurde.

23

b) Über die soeben beschriebenen allgemeinen Definitionen hinaus sind sowohl im Abk Polen RV/UV als auch im Abk Polen SozSich die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" nicht näher bestimmt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland insoweit auf den innerstaatlichen (deutschen) Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthalts verwiesen werden sollte, wie er für die gesetzliche Rentenversicherung als Teil des SGB in § 30 Abs 3 S 2 SGB I geregelt ist(Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 25 mwN - stRspr). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

24

Die Frage des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs 3 S 2 SGB I ist anhand einer dreistufigen Prüfung zu klären. Ausgangspunkt ist ein "Aufenthalt". Es sind sodann die mit dem Aufenthalt verbundenen "Umstände" festzustellen. Diese sind schließlich daraufhin zu würdigen, ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende am Aufenthaltsort oder im Aufenthaltsgebiet "nicht nur vorübergehend verweilt" (vgl Senatsurteile vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 24, und vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 27).

25

aa) Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält oder nur vorübergehend dort verweilt, lässt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) entscheiden (s hierzu Senatsurteile vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 25 ff, und vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 28 ff - jeweils mwN). Die Prognose hat alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen; dies können subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein. Es kann demnach nicht allein auf den Willen des Betroffenen ankommen, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (sog Domizilwille: BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17); dies gilt insbesondere dann, wenn er nicht mit den tatsächlichen objektiven Umständen übereinstimmt (vgl BSG vom 22.3.1988 - 8/5a RKn 11/87 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183). Ist nach der Prognose davon auszugehen, dass die betreffende Person zukunftsoffen "bis auf Weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird, so hat sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt, wobei kein dauerhafter (unbegrenzter) Aufenthalt erforderlich ist. Dem vorübergehenden Aufenthalt wohnt dagegen als zeitliches Element eine Beendigung von vornherein inne.

26

bb) Bei Ausländern ist im Rahmen der Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen (exemplarisch Senatsurteil vom 9.8.1995 - 13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 30 - stRspr), ohne dass diese aber allein Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts sein kann (vgl auch BVerfG Beschluss vom 6.7.2004 - 1 BvR 2515/95 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG Beschluss vom 10.7.2012 - 1 BvL 2/10 ua - BVerfGE 132, 72 RdNr 28). Dabei wird die Aufenthaltsposition wesentlich durch den Inhalt der von der Ausländerbehörde erteilten Bescheinigungen bestimmt, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstellt (Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 32 mwN). Zu den Tatsachen, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs 3 S 2 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören aber auch eventuelle Hindernisse, die der Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen(BSG Urteil vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 - BSGE 65, 84, 87 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; Senatsurteil vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 31 - bezüglich "Rechtshindernissen"; zur Berücksichtigung auch tatsächlicher Abschiebehindernisse s Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2011, § 30 RdNr 58). Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers stehen danach grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen oder zu erwarten sind. Davon ist ua auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund besonderer ausländer- bzw aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen oder behördlicher Praxis auch bei endgültiger Ablehnung eines Antrags auf ein dauerhaftes Bleiberecht (zB Asyl) nicht mit einer Abschiebung zu rechnen braucht (vgl BSG Urteil vom 23.2.1988 - 10 RKg 17/87 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39). Hierbei kann auch die familiäre Situation, etwa der Aufenthaltsstatus des Ehegatten, eine Rolle spielen (vgl BSG vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 - BSGE 65, 84, 88 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 19).

27

cc) Verfahrensrechtlich bedeutet das Erstellen der erforderlichen Prognose die Feststellung einer hypothetischen Tatsache (Senatsurteile vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27, und vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 33 - jeweils mwN). Es ist allein Aufgabe der Tatsachengerichte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und daraus die Prognose abzuleiten. Wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung entscheidet das Gericht auch bei einer Prognose nach freier Überzeugung. Dabei gehören die Prognose und die Feststellung der für ihre Erstellung notwendigen Tatsachen nicht zur Rechtsanwendung; sie können deshalb vor dem Revisionsgericht nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl Senatsurteile vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27, und vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 34 - jeweils mwN). Verfahrensrügen, welche die Feststellung der für eine vorausschauende Betrachtung - nach damaligem Erkenntnisstand bis zu dem hier maßgeblichen Stichtag - erforderlichen Tatsachen betreffen, hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht erhoben, sodass die Feststellungen des LSG insoweit für den Senat bindend sind (§ 163 SGG).

28

Das Revisionsgericht hat jedoch auch ohne Verfahrensrüge zu prüfen, ob das LSG für seine Prognose sachgerechte Kriterien gewählt hat oder ob die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (Senatsurteile vom 31.10.2012 - B 13 R 1/12 R - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 28 mwN, und vom 10.12.2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 RdNr 35).

29

3. Bei Anwendung dieser Maßstäbe kann der Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt bis spätestens am 31.12.1990 nach Berlin (West) verlegt und damit eine Anwartschaft auf Rentenleistungen noch nach den Regelungen des Abk Polen RV/UV erworben hat.

30

a) Dem Urteil des LSG kann allerdings - durch Bezugnahme auf das SG-Urteil (§ 153 Abs 2 SGG) - die Feststellung entnommen werden, dass die Klägerin bis zur erstmaligen Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung im April 1994 keinerlei durch Entscheidungen der Ausländerbehörde formal gestalteten und legalisierten ausländerrechtlichen Status innehatte, sich mithin illegal in Berlin aufhielt (vgl § 3 Abs 1, § 42 Abs 1, § 58 Abs 1 Nr 1 iVm § 92 Abs 1 Nr 1, 6 AuslG vom 9.7.1990, BGBl I 1354, in Kraft ab 1.1.1991). Nach den oben dargestellten Grundsätzen kann schon allein deshalb ein "wohnen" iS von Art 27 Abs 3 und 4 iVm Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich bis spätestens am - insoweit maßgeblichen - Stichtag 30.6.1991 ausgeschlossen werden, denn dies erfordert einen rechtmäßigen Aufenthalt.

31

b) Anders verhält es sich jedoch hinsichtlich der Frage, ob die Klägerin möglicherweise bereits am Stichtag 31.12.1990 ihren Wohnort iS von Art 27 Abs 2 S 1 und 2 Abk Polen SozSich iVm Art 1 Nr 2, Art 7 Abk Polen RV/UV in Berlin (West) hatte. Das LSG hat insoweit ausgeführt, es stehe zu seiner Überzeugung fest, dass die Klägerin sich seit dem 15.9.1990 tatsächlich in Berlin aufgehalten und mit ihrem jetzigen Ehemann zusammengelebt habe. Einen gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin (West) bis zum 31.12.1990 hat es allein deshalb verneint, weil die erforderliche rechtliche Komponente - die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts - gefehlt habe; weitere Feststellungen zu den mit dem Aufenthalt der Klägerin in Berlin verbundenen sonstigen Umständen hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Es hat damit seine Prognose auf rechtsfehlerhaften Erwägungen aufgebaut.

32

Wie bereits dargelegt ist für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts iS von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich zum Stichtag 31.12.1990 die materielle Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht absolut zwingend. Zwar ist anerkannt, dass in die erforderliche Gesamtschau aller Umstände auch rechtliche Gesichtspunkte einfließen können. Steht etwa fest, dass ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet ist und seiner Abschiebung weder rechtliche noch tatsächliche Hindernisse und auch die Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, kann ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland nicht begründet werden (vgl Senatsurteil vom 9.8.1995 - 13 RJ 59/93 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 30; s auch Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2011, § 30 RdNr 56). Vorliegend hat sich das LSG insbesondere mit der konkreten Verwaltungspraxis der Berliner Ausländerbehörde im Umgang mit sich hier illegal aufhaltenden polnischen Staatsangehörigen im Zeitraum bis zum 31.12.1990 nicht befasst (s hierzu bereits Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 41). Auch das Urteil des SG enthält dazu keine Feststellungen; dort ist lediglich ausgeführt, es sei "nicht bekannt", ob sich die Weisungslage in Berlin bis Ende 1990 gegenüber der "Ostblockregelung" geändert habe.

33

Entsprechende Feststellungen wird das LSG nunmehr nachzuholen und auf deren Grundlage - gegebenenfalls ergänzt um weitere Umstände der damaligen persönlichen Situation der Klägerin wie etwa noch bestehende eheliche Bindungen nach Polen, die Ausgestaltung der Befugnis zur (Mit-)Benutzung der Wohnung oder auch die Art der Sicherstellung des Lebensunterhalts (vgl hierzu Wendtland, ZESAR 2013, 435, 438) - eine abschließende Entscheidung zu treffen haben. Es wird dabei auch die von der Beklagten erstmals im Revisionsverfahren vorgelegte Modifikation der sog "Ostblockregelung" durch die Weisung der Senatsverwaltung für Inneres vom 18.2.1990 zu würdigen haben.

34

4. Der Senat kann diese Entscheidung treffen, ohne zuvor das Verfahren nach § 41 SGG durchzuführen. Zwar hat der 8. Senat des BSG als damals für die knappschaftliche Rentenversicherung zuständiger Fachsenat im Urteil vom 9.5.1995 (8 RKn 2/94 - Juris RdNr 18) ausgeführt, bei Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich sei "allein der ausländerrechtliche Status im Leistungszeitraum" entscheidend, denn "ein grundsätzlich kraft Gesetzes (…) zur Ausreise in sein Heimatland verpflichteter Ausländer kann überhaupt nur dann im Inland einen 'gewöhnlichen Aufenthalt' innehaben, solange er sich hier berechtigterweise aufhält". Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen tragenden Rechtssatz, weil sich die Klägerin des dort entschiedenen Falls auf der Grundlage einer befristeten Aufenthaltserlaubnis legal in Deutschland aufgehalten hatte (aaO RdNr 1; zum Erfordernis einer Gesamtwürdigung aller entscheidungserheblichen Tatsachen s auch aaO RdNr 17). Eine Divergenz iS von § 41 Abs 2 SGG liegt somit nicht vor.

35

5. Das LSG wird abschließend auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

(1) Die Vorschriften dieses Gesetzbuchs gelten für alle Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Geltungsbereich haben.

(2) Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt.

(3) Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Das Bundessozialgericht ist an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, außer wenn in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind.

Gründe

A.

I.

1

Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen der Automobilzulieferung. Sie beschäftigt in ihrer Produktionsstätte in Schleswig-Holstein über 1.200 Arbeitnehmer. Mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens schloss sie am 18. Februar 2003 für den Zeitraum vom 19. Februar 2003 bis zum 31. März 2004 einen sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrag. Der Kläger wurde als Aushilfe in der Produktion von Bremsbelägen eingesetzt. Insgesamt wurden zu diesem Zeitpunkt von der Beschwerdeführerin 56 befristete Arbeitsverträge mit zuvor arbeitslosen Personen abgeschlossen, um Produktionsspitzen abzudecken. Von diesen 56 neuen Mitarbeitern hatten 13 Arbeitnehmer - unter ihnen der Kläger des Ausgangsverfahrens - das 52. Lebensjahr bereits vollendet. Die zusätzlichen Arbeitnehmer wurden nach den Angaben der Beschwerdeführerin bewusst auf der Grundlage des Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz - TzBfG) eingestellt, um Rechtssicherheit vor Entfristungsklagen zu erlangen. Solche Entfristungsklagen seien in der Vergangenheit gegen die Beschwerdeführerin erhoben worden und hätten im Erfolgsfall zu Verwerfungen bei der Personalplanung geführt.

2

Der Kläger machte gegenüber der Beschwerdeführerin kurze Zeit später die Unwirksamkeit der Befristung seines Arbeitsvertrags geltend. Er berief sich auf die Unvereinbarkeit der Befristung auf der Grundlage von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl Nr. L 175/43) sowie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl Nr. L 303/16). Das Arbeitsgericht Lübeck wies seine Klage auf Feststellung des Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses und auf Weiterbeschäftigung mit Urteil vom 11. März 2004 ab. Der Kläger könne sich nicht auf eine unmittelbare Wirkung der Richtlinien im Verhältnis unter Privaten berufen. Die Berufung des Klägers wies das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 22. Juni 2004 zurück. Neben dem Hinweis auf die Nichtanwendbarkeit von Richtlinien in privatrechtlichen Verhältnissen verwies das Landesarbeitsgericht zusätzlich auf die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit und Unbedingtheit der Richtlinien. Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Revision an das Bundesarbeitsgericht. Die Revision hatte in der Sache Erfolg.

II.

3

1. § 14 TzBfG lautete in seiner ursprünglichen Fassung vom 21. Dezember 2000 (BGBl I S. 1966) auszugsweise:

4

(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. […]

5

(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; […] Eine Befristung nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. […]

6

(3) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf keines sachlichen Grundes, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 58. Lebensjahr vollendet hat. Die Befristung ist nicht zulässig, wenn zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher enger sachlicher Zusammenhang ist insbesondere anzunehmen, wenn zwischen den Arbeitsverträgen ein Zeitraum von weniger als sechs Monaten liegt.

7

(4) […]

8

Der Gesetzgeber erweiterte den personellen Anwendungsbereich des § 14 TzBfG im Dezember 2002 (Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002, BGBl I S. 4607). Für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 wurde die Altersgrenze einer sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit vom vollendeten 58. auf das vollendete 52. Lebensjahr abgesenkt. Zu diesem Zweck wurde ein vierter Satz in § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt:

9

Bis zum 31. Dezember 2006 ist Satz 1 mit der Maßgabe anzuwenden, dass an die Stelle des 58. Lebensjahres das 52. Lebensjahr tritt.

10

Mit dieser Änderung, die Bestandteil der Arbeitsmarktreformen war, verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, die statistisch deutlich erhöhte Arbeitslosigkeit unter älteren Menschen durch niedrigere Barrieren für deren Wiedereintritt in das Berufsleben zu verringern. Die über 50-Jährigen seien nicht nur länger arbeitslos als andere Altersgruppen, sondern sie stellten auch einen deutlich größeren Anteil der Langzeitarbeitslosen. Der Gesetzgeber verwies darauf, dass die geringe Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber im Wesentlichen auf eine "psychologische Einstellungsbarriere" zurückzuführen sei, die ihre Ursache in der unzutreffenden Überzeugung habe, ältere Arbeitnehmer könnten bei einem späteren Personalabbau nicht mehr entlassen werden (BTDrucks 15/25, S. 40). Da die Erfahrung gezeigt habe, dass die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen die Einstellungsbereitschaft anhebe und die befristeten Arbeitsverhältnisse im Durchschnitt etwa zur Hälfte in unbefristete Beschäftigungen einmündeten, sei § 14 Abs. 3 TzBfG entsprechend zu erweitern.

11

Der Gesetzgeber hielt die mit dieser Regelung verbundene Ungleichbehandlung älterer Arbeitssuchender mit Blick auf das beschäftigungspolitische Ziel, die Chancen älterer Menschen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern, für gerechtfertigt. Dies entspreche auch einem wichtigen Ziel der europäischen Beschäftigungspolitik (BTDrucks 15/25, S. 40). Deutschland sei mit Beschluss 2001/63/EG des Rates vom 19. Januar 2001 über die Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (ABl Nr. L 22/18) ausdrücklich aufgefordert worden, Hindernisse und negative Faktoren für die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitsloser zu verbessern.

12

2. a) Art. 19 Abs. 1 AEUV (ehemals Art. 13 Abs. 1 EGV) ermächtigt den Rat, im Zuständigkeitsbereich der Union Regelungen unter anderem gegen altersbezogene Diskriminierungen zu erlassen. Ein unmittelbar wirkendes Diskriminierungsverbot enthält die Bestimmung nicht (vgl. Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 13 EGV Rn. 17; Epiney, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 13 EGV Rn. 1). Art. 19 Abs. 1 AEUV lautet:

13

Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.

14

Demgegenüber enthält Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta - GRCh) ein Diskriminierungsverbot aufgrund des Alters, dem unmittelbare Wirkung zukommt. Die Vorschrift lautet in der überarbeiteten Fassung vom 12. Dezember 2007 (ABl Nr. C 303/1; BGBl 2008 II S. 1165):

15

(1) Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.

16

(2) Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.

17

Die Grundrechtecharta war in dem entscheidungserheblichen Zeitraum noch nicht rechtsverbindlich. Sie wurde den Verträgen erst mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007 (Vertrag von Lissabon - ABl Nr. C 306/10; BGBl 2008 II S. 1038) rechtlich gleichgestellt (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV).

18

b) Mit der Richtlinie 1999/70/EG soll die zwischen europäischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden getroffene Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge durchgeführt werden (Art. 1 der Richtlinie 1999/70/EG). Der Vereinbarung zufolge, die als Anhang Bestandteil der Richtlinie ist, gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer der Grundsatz der Nichtdiskriminierung; der Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge ist zu vermeiden (vgl. im Einzelnen §§ 4, 5 des Anhangs der Richtlinie 1999/70/EG). Das Teilzeit- und Befristungsgesetz wurde vom deutschen Gesetzgeber im Jahr 2000 erlassen, um diese Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen.

19

Die Richtlinie 2000/78/EG soll unter anderem Diskriminierungen aufgrund des Alters verhindern. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG legt den Zweck des Rechtsaktes dahingehend fest, dass ein allgemeiner Rahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf, unter anderem wegen des Alters, zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten geschaffen werden soll. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wird als Verbot bestimmter unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierungen definiert (Art. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Der Anwendungsbereich der Richtlinie erstreckt sich insbesondere auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen in einem Mitgliedstaat, unabhängig von der Existenz eines grenzüberschreitenden Sachverhalts (Art. 3 der Richtlinie 2000/78/EG). Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie sieht ferner vor, dass eine Ungleichbehandlung wegen des Alters gerechtfertigt sein kann. Die Vorschrift lautet:

20

Artikel 6 - Gerechtfertigte Ungleichbehandlung wegen des Alters

21

(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

22

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

23

a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;

24

b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;

25

c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.

26

[…]

27

Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie lief am 2. Dezember 2003 ab (Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Mitgliedstaaten konnten im Hinblick auf Ungleichbehandlungen wegen des Alters eine Zusatzfrist von drei Jahren bis zum 2. Dezember 2006 in Anspruch nehmen (Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG). Die Europäische Kommission war von der Inanspruchnahme dieser verlängerten Umsetzungsfrist in Kenntnis zu setzen. Ihr war zudem während dieses Zeitraums jährlich Bericht über die ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung und über die Fortschritte, die bei der Umsetzung der Richtlinie erzielt werden konnten, zu erstatten. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Zusatzfrist in Anspruch genommen. Die verlängerte Umsetzungsfrist endete am 2. Dezember 2006.

28

3. a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (jetzt Gerichtshof der Europäischen Union) stellte in seinem Urteil vom 22. November 2005 in der Rechtssache Mangold (Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981) fest, dass Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG einer nationalen Regelung wie der des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG entgegenstünden. Es obliege dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lasse, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen sei.

29

Zur Begründung führte der Gerichtshof unter anderem aus, dass eine derartige Regelung zwar das legitime Ziel verfolge, ältere Arbeitnehmer wieder in das Berufsleben einzugliedern. Sie gehe aber über das erforderliche und angemessene Maß hinaus, weil sie allein auf das Alterskriterium abstelle und andere Umstände wie die Struktur des jeweiligen Arbeitsmarktes und die persönliche Situation des Betroffenen unberücksichtigt lasse.

30

Einem Verstoß gegen die Richtlinie 2000/78/EG stehe nicht entgegen, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei. Erstens dürfe ein Mitgliedstaat schon während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen, die geeignet seien, die Erreichung des in einer Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Im vorliegenden Fall habe die Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus von der Möglichkeit einer dreijährigen Fristverlängerung nach Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG Gebrauch gemacht. Diese Vorschrift impliziere durch Berichtspflichten an die Kommission, dass ein Mitgliedstaat in diesem Zeitraum schrittweise konkrete Maßnahmen ergreife, um seine Rechtsordnung dem Richtlinienziel anzunähern. Dieser Verpflichtung würde jegliche praktische Wirksamkeit genommen, wenn dem Mitgliedstaat gestattet wäre, während der Umsetzungsfrist Maßnahmen zu erlassen, die mit deren Zielen unvereinbar seien. Zweitens sei das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen. Der Gerichtshof begründete die Existenz dieses neuen Grundsatzes mit dem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG, die ihrerseits auf verschiedene völkerrechtliche Verträge und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten verwiesen.

31

Die vorliegende nationale Regelung falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, weil § 14 Abs. 3 TzBfG als Maßnahme zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG ergangen und im Jahre 2002 um § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ergänzt worden sei.

32

b) Nach Eingang der Verfassungsbeschwerde wurde die Frage, ob das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters einer nationalen Vorschrift entgegensteht, in den Rechtssachen Palacios (Urteil vom 16. Oktober 2007, Rs. C-411/05, Slg. 2007, S. I-8531), Bartsch (Urteil vom 23. September 2008, Rs. C-427/06, Slg. 2008, S. I-7245) und Kücükdeveci (Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07, NJW 2010, S. 427) erneut vor dem Gerichtshof aufgeworfen. In der Kücükdeveci-Entscheidung bestätigte der Gerichtshof die Mangold-Entscheidung im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der jede Diskriminierung aufgrund des Alters verbiete, und wies zur Begründung auf Art. 21 Abs. 1 GRCh hin.

III.

33

Das Bundesarbeitsgericht stellte mit dem angegriffenen Urteil vom 26. April 2006 fest, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht mit Ablauf des 31. März 2004 durch Befristung geendet habe. Es begründete dies unter anderem mit dem Argument, die Beschwerdeführerin könne sich zur Rechtfertigung der Befristung nicht auf § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG berufen. Zwar lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm vor. Die Vorschrift sei aber mit Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren und dürfe daher von den nationalen Gerichten nicht angewendet werden. Dies folge aus der Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs.

34

Der Senat sei an den Ausspruch der Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG durch den Gerichtshof gebunden, den dieser mit einem Verstoß gegen das Ziel der Richtlinie 2000/78/EG und mit einem Verstoß gegen das auf allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts beruhende Verbot der Altersdiskriminierung doppelt begründet habe. Die Entscheidung des Gerichtshofs beruhe auf der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen eines Vorlageverfahrens nach Art. 234 Abs. 1 Buchstabe a EGV (jetzt Art. 267 Abs. 1 Buchstabe a AEUV) und halte sich im Rahmen der dem Gerichtshof nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG übertragenen Zuständigkeiten.

35

Der vom Gerichtshof festgestellte Grundsatz der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, der einer Diskriminierung wegen der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG genannten Merkmale entgegenstehe, sei als Unterfall des allgemeinen Grundsatzes der Gleichheit und Nichtdiskriminierung anzusehen, der zu den Gemeinschaftsgrundrechten gehöre. Dieser Grundsatz, auf den sich auch eine Privatperson vor einem nationalen Gericht berufen könne, begrenze den nationalen Gesetzgeber bei der Normsetzung, soweit dessen Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz falle in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts, da es der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diene. Zwar möge es zutreffen, dass das Verbot der Altersdiskriminierung bisher weder in verbindlich geltenden völkerrechtlichen Verträgen noch in einer nennenswerten Anzahl von Verfassungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich genannt sei. Dennoch sei eine Herleitung aus offen formulierten Tatbeständen und im Wege partieller Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen.

36

Auch soweit der Gerichtshof die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus der Richtlinie 2000/78/EG herleite, habe er seine Kompetenzen nicht überschritten. Die Begründung des Gerichtshofs sei dahingehend zu verstehen, dass ein während der Umsetzungsfrist einer Richtlinie erlassenes nationales Gesetz unanwendbar sei, wenn sein Inhalt im Widerspruch zu dem Richtlinienziel stehe und keine gemeinschaftskonforme Auslegung möglich sei. Rechtsgrundlage für diese Annahme von Vorwirkungen bilde der Grundsatz der Vertragstreue der Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 2 und Art. 249 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV und Art. 288 Abs. 3 AEUV).

37

Die Entscheidung sei jedenfalls im Ergebnis unmissverständlich; es bedürfe deshalb keiner erneuten Vorlage an den Gerichtshof zur Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG mit Gemeinschaftsrecht.

38

Das Bundesarbeitsgericht lehnte es ferner ab, § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG aus Gründen des gemeinschaftsrechtlichen oder nationalen Vertrauensschutzes auf eine vor dem 22. November 2005 getroffene Befristungsabrede anzuwenden. Zur zeitlichen Begrenzung der Unanwendbarkeit einer gegen Primärrecht der Gemeinschaft verstoßenden nationalen Norm sei allein der Gerichtshof zuständig. Eine solche Begrenzung sei in der Mangold-Entscheidung jedoch nicht enthalten. Der Senat sah sich auch nicht verpflichtet, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen, weil die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine derartige zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht vorlägen. Selbst wenn der Senat nach einem Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs befugt wäre, Vertrauensschutz nach nationalem Verfassungsrecht zu gewähren und damit dessen zeitliche Wirkung einzuschränken, bestehe kein Vertrauensschutz zugunsten der Beschwerdeführerin. Denn bis zum Abschluss des befristeten Arbeitsvertrags mit dem Kläger habe es keine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Zulässigkeit einer allein auf das Lebensalter gestützten sachgrundlosen Befristung gegeben; darüber hinaus sei diese im arbeitsrechtlichen Schrifttum umstritten gewesen.

IV.

39

Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 (1.) und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (2.).

40

1. Die Beschwerdeführerin macht eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln geltend. Eine Verletzung ergebe sich zunächst daraus, dass das Bundesarbeitsgericht die angegriffene Entscheidung zur Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG maßgeblich auf die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs gestützt habe. Wenn diese Entscheidung so zu verstehen sei, wie sie das Bundesarbeitsgericht in dem angegriffenen Urteil verstanden und angewandt habe, liege eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs vor. Soweit das Bundesarbeitsgericht darauf abstelle, dass der Gerichtshof sich auf einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts stütze, sei schon zweifelhaft, ob die Benennung und Anwendung eines Verbots der Altersdiskriminierung nicht in einem untrennbaren funktionalen Zusammenhang mit den Ausführungen zu Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG stehe. Darüber hinaus besitze der Gerichtshof keine Kompetenz zur Prüfung einer innerstaatlichen arbeitsrechtlichen Gesetzgebung bezüglich der Rechtsbeziehung zwischen Privaten. Die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sei nicht als Durchführung von Gemeinschaftsrecht zu qualifizieren. Ferner betreibe der Gerichtshof durch die Postulierung eines unmittelbar anwendbaren allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung unzulässige Rechtsfortbildung. Außerdem führe die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2000/78/EG zu einer von den Verträgen nicht gedeckten Vor- und Drittwirkung von Richtlinien.

41

Eine Verletzung ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgt nach Ansicht der Beschwerdeführerin des Weiteren daraus, dass das Bundesarbeitsgericht keinen hinreichenden verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz gewährt und die Revision zurückgewiesen habe. Auch nach Gemeinschaftsrecht sei dem Bundesarbeitsgericht nicht versagt gewesen, Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes zu berücksichtigen, da Fragen des Vertrauensschutzes im Mangold-Verfahren weder aufgeworfen noch entschieden worden seien. Der Unanwendbarkeitsausspruch des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold könne insoweit nicht als absolut und unbedingt geltend verstanden werden. Anders als vom Bundesarbeitsgericht angenommen, habe die Beschwerdeführerin sich darauf verlassen dürfen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nicht an der noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gemessen werde.

42

2. Die Beschwerdeführerin trägt weiter vor, dass sie auch in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt sei. Das Bundesarbeitsgericht habe seine nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt 267 Abs. 3 AEUV) bestehende Vorlagepflicht willkürlich verletzt, weil es den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe. Unterstelle man eine Bindung des Bundesarbeitsgerichts an die Mangold-Entscheidung, hätte das Bundesarbeitsgericht dem Gerichtshof die Frage vorlegen müssen, ob auch Vertragsverhältnisse erfasst seien, die vor der Mangold-Entscheidung abgeschlossen wurden, oder ob nicht Grundsätze des gemeinschaftsrechtlichen oder des nationalen Vertrauensschutzes eine zeitliche Einschränkung geböten. Dass der Gerichtshof eine zeitliche Begrenzung seiner Entscheidungswirkungen nur im Ausnahmefall ausspreche, beziehe sich lediglich auf die finanziellen Auswirkungen für die Mitgliedstaaten, nicht aber auf die vorliegende Fallgestaltung. Die fehlende zeitliche Begrenzung in der Mangold-Entscheidung selbst sei darauf zurückzuführen, dass dort keinerlei Veranlassung zu einer zeitlichen Begrenzung bestanden habe.

V.

43

Der Zweite und der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts sowie der Zweite und der Sechste Senat des Bundessozialgerichts haben Stellung genommen.

B.

44

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

I.

45

Das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist als eine Maßnahme der deutschen öffentlichen Gewalt tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Wahrung des Grundgesetzes besteht gegenüber allen Maßnahmen der deutschen öffentlichen Gewalt, grundsätzlich auch solchen, die die innerstaatliche Geltung von Gemeinschafts- und Unionsrecht begründen (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 123, 267 <329>), Gemeinschafts- und Unionsrecht umsetzen (vgl. BVerfGE 113, 273 <292>; 118, 79 <94>; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 2. März 2010 - 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 -, NJW 2010, S. 833 <835>) oder vollziehen. Ob und inwieweit die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt ist, ist eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, soweit wie hier diesbezüglich offene Fragen zu klären sind.

II.

46

Die Begründung der Verfassungsbeschwerde genügt den Anforderungen der § 92, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Nach den Darlegungen der Beschwerdeführerin erscheint es insbesondere möglich, dass das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts die Beschwerdeführerin in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, weil es zum einen auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht, die nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland nicht anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 89, 155 <188>; 123, 267 <353 f.>), und weil es zum anderen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz nicht gewährt.

47

Die Beschwerdeführerin legt ausreichend dar, warum der Gerichtshof mit der Entscheidung in der Rechtssache Mangold die Grenzen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts überschritten und das Gemeinschaftsrecht in einer Weise fortgebildet habe, die von den Kompetenzen der Gemeinschaft nicht mehr gedeckt sei. Dabei setzt sie sich mit der bis zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenzkontrolle, der für kompetenzwidrig gehaltenen Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs und den hierzu ergangenen kritischen Anmerkungen in der Literatur auseinander. Die Beschwerdeführerin war nicht gehalten, antizipierend auf vom Bundesverfassungsgericht erst noch zu präzisierende Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen auf die Beachtung der Grenzen ihrer Kompetenzen einzugehen.

C.

48

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I.

49

Die Beschwerdeführerin ist nicht deswegen in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt, weil das angegriffene Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf einer unzulässigen Rechtsfortbildung des Gerichtshofs beruht.

50

1. a) Sowohl die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie als auch die Garantie der freien Berufsausübung nach Art. 12 Abs. 1 GG schließen das Recht ein, Arbeitsverhältnisse durch die Abgabe übereinstimmender Willenserklärungen zu begründen, auszugestalten und zu befristen (vgl. allgemein für die Gestaltung von Arbeitsverträgen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. November 2006 - 1 BvR 1909/06 -, NJW 2007, S. 286). Die Vertragsfreiheit als wesentlicher Ausdruck der Privatautonomie wird allgemein durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt (vgl. BVerfGE 72, 155 <170>; 81, 242 <254 ff.>; 89, 214 <231 ff.>; 103, 89 <100 f.>). Geht es um die Handlungsfreiheit gerade im Bereich der beruflichen Betätigung, die ihre spezielle Gewährleistung in Art. 12 Abs. 1 GG findet, scheidet die gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiäre allgemeine Handlungsfreiheit als Prüfungsmaßstab allerdings aus (vgl. BVerfGE 89, 1 <13>; 117, 163 <181>). Dies gilt insbesondere im Bereich des Individualarbeitsvertragsrechts (vgl. BVerfGE 57, 139 <158>; BVerfGK 4, 356 <363 f.>).

51

Die Privatrechtsordnung ist gesetzlich gestaltet. Gesetze regeln die Ausübung der Vertragsfreiheit nicht nur zu ihrem institutionellen Schutz, sondern auch um soziale Belange strukturell schwächerer Marktteilnehmer zu wahren. Aus diesem Grund wird der Abschluss befristeter Arbeitsverträge nicht vollständig in die Dispositionsfreiheit der Vertragsparteien gelegt, sondern traditionell an Voraussetzungen gebunden, die die Arbeitnehmer schützen sollen. Denn für Arbeitnehmer ist die Erwerbsarbeit regelmäßig alleinige Existenzgrundlage. Durch Befristung wird zwar den Flexibilitätsbedürfnissen rentabler Unternehmensführung entsprochen. Für die davon betroffenen Arbeitnehmer bedeutet ein befristetes Arbeitsverhältnis aber nicht nur die Chance auf Erwerbsarbeit, sondern ist auch mit Unsicherheit über den Fortbestand des Erwerbseinkommens verbunden. Der insoweit schützende staatliche Eingriff in die Privatautonomie bei der Ausgestaltung befristeter Arbeitsverhältnisse bedarf einer gesetzlichen Grundlage, die sich ihrerseits als verfassungsgemäß erweisen muss.

52

Die für das Verfassungsbeschwerdeverfahren maßgebliche Vorschrift des einfachen Rechts ist § 14 TzBfG in der vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2006 geltenden Fassung. Von dem Grundsatz, dass es zur Begründung befristeter Arbeitsverhältnisse eines sachlichen Grundes bedarf, konnte nach § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG abgewichen werden, wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat. Diese Ausnahmeregelung hat indes zum Nachteil der Beschwerdeführerin unangewendet zu bleiben, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) verstößt.

53

b) Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt zwar nicht dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht nichtig wäre. Mitgliedstaatliches Recht kann vielmehr weiter seine Geltung entfalten, wenn und soweit es jenseits des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts einen sachlichen Regelungsbereich behält. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts dagegen ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251 Rn. 12). Der Anwendungsvorrang entspricht auch der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, wonach Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden können (vgl. BVerfGE 31, 145 <174>; 123, 267 <402>). Art. 23 Abs. 1 GG erlaubt mit der Übertragung von Hoheitsrechten - soweit vertraglich vorgesehen und gefordert - zugleich deren unmittelbare Ausübung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er enthält somit ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen, dem der unionsrechtliche Anwendungsvorrang entspricht.

54

c) aa) Anders als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang, wie ihn Art. 31 GG für die deutsche Rechtsordnung vorsieht, kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein (vgl. BVerfGE 73, 339 <375>; 123, 267 <398>).

55

Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Übertragung und Ermächtigung abhängig. Die Unionsorgane bleiben für die Erweiterung ihrer Befugnisse auf Vertragsänderungen angewiesen, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der für sie jeweils geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorgenommen und verantwortet werden (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <187 f., 192, 199>; 123, 267 <349>; vgl. auch BVerfGE 58, 1 <37>; 68, 1 <102>; 77, 170 <231>; 104, 151 <195>; 118, 244 <260>). Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Das Bundesverfassungsgericht ist deshalb berechtigt und verpflichtet, Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen darauf zu überprüfen, ob sie aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen oder aufgrund von Kompetenzausübungen im nicht übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG) erfolgen (vgl. BVerfGE 75, 223 <235, 242>; 89, 155 <188>; 113, 273 <296>; 123, 267 <353 f.>), und gegebenenfalls die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung festzustellen.

56

bb) Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, ist mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV).

57

Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. Dass in den - wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten - seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267 <370 f.>). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.

58

cc) Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>).

59

(1) Die Union versteht sich als Rechtsgemeinschaft; sie ist insbesondere durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Grundrechte gebunden und achtet die Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten (vgl. im Einzelnen Art. 4 Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 EUV). Nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts anzuerkennen und zu gewährleisten, dass die dem Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich vorbehaltenen Kontrollbefugnisse nur zurückhaltend und europarechtsfreundlich ausgeübt werden.

60

Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen (vgl. BVerfGE 123, 267 <353>).

61

Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 <353, 400>). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (vgl. zur Formulierung "hinreichend qualifiziert" als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt (vgl. Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union - zum Vertrag von Maastricht, AöR 1994, S. 207 <220>: "erhebliche Kompetenzüberschreitungen" und <233>: "drastische" Ultra-vires-Akte; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 238 für eine Evidenzkontrolle; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte - offener Dissens, in: Festschrift Stern, 1997, S. 1239 <1255>: "im Falle krasser und evidenter Kompetenzüberschreitung"; Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Bd. II, Art. 23 Rn. 32: "schwerwiegend, evident und generell"; Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 2007, S. 361 <377>: Rechtsprechung des Gerichtshofs sei verbindlich, "sofern sie sich nicht völlig von den vertraglichen Grundlagen ablöst"; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 40 : "offensichtlich, anhaltend und schwerwiegend").

62

(2) Der Auftrag, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV), beschränkt den Gerichtshof nicht darauf, über die Einhaltung der Vertragsbestimmungen zu wachen. Dem Gerichtshof ist auch die Rechtsfortbildung im Wege methodisch gebundener Rechtsprechung nicht verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Befugnis stets ausdrücklich anerkannt (vgl. BVerfGE 75, 223 <242 f.>; BVerfGE 123, 267 <351 f.>). Ihr stehen insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die Struktur des unionalen Staatenverbundes nicht entgegen. Vielmehr kann die - in den ihr gesetzten Grenzen wahrgenommene - Rechtsfortbildung gerade auch im supranationalen Verbund zu einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung zu den Regelungsbefugnissen des Unionsgesetzgebers beitragen.

63

Das Primärrecht sieht an einzelnen Stellen ausdrücklich vor, dass die Unionsorgane auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze handeln sollen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 340 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV). Zur Aufgabe des Gerichtshofs gehört es insoweit, die Rechtlichkeit der Union im Sinne der gemeinsamen europäischen Verfassungstraditionen zu sichern. Maßstab ist sowohl das geschriebene Primär- und Sekundärrecht als auch die ungeschriebenen allgemeinen Grundsätze, wie sie aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten unter ergänzender Heranziehung der völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten abgeleitet werden (vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 220 EGV Rn. 38 m.w.N. zu den allgemeinen Grundsätzen im Völkerrecht Gaja, General Principles of Law, in: Wolfrum, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://www.mpepil.com, Rn. 7 ff., 17 ff.). Bereits die unter anderem vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Notwendigkeit, einen dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz auszubilden (vgl. BVerfGE 37, 271 <285>), war seit den 1970er Jahren nur rechtsfortbildend über die Methode der wertenden Rechtsvergleichung möglich (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125 Rn. 4; EuGH, Urteil vom 14. Mai 1974, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 13).

64

Rechtsfortbildung ist allerdings keine Rechtsetzung mit politischen Gestaltungsfreiräumen, sondern folgt den gesetzlich oder völkervertraglich festgelegten Vorgaben. Sie findet hier Gründe und Grenzen. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird. Rechtsfortbildung überschreitet diese Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft. Dies ist vor allem dort unzulässig, wo Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus politische Grundentscheidungen trifft oder durch die Rechtsfortbildung strukturelle Verschiebungen im System konstitutioneller Macht- und Einflussverteilung stattfinden.

65

Eine wesentliche Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auf Unionsebene ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EUV). Es gewinnt seine Bedeutung vor dem Hintergrund der stark föderalisierten und kooperativen Organisationsstruktur der Europäischen Union, die in vielen Bereichen sowohl im Umfang der Kompetenzen als auch in der Organisationsstruktur und den Verfahren zwar staatsanalog, aber nicht bundesstaatlich geprägt ist. Die Mitgliedstaaten haben nur jeweils begrenzte Hoheitsrechte übertragen. Generalermächtigungen und die Kompetenz, sich weitere Kompetenzen zu verschaffen, widersprechen diesem Prinzip und würden die verfassungsrechtliche Integrationsverantwortung der Mitgliedstaaten untergraben (vgl. BVerfGE 123, 267 <352 f.>). Dies gilt nicht nur, wenn sich eigenmächtige Kompetenzerweiterungen auf Sachbereiche erstrecken, die zur verfassungsrechtlichen Identität der Mitgliedstaaten rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen (vgl. BVerfGE 123, 267 <357 f.>), allerdings wiegen hier Kompetenzüberschreitungen besonders schwer.

66

(3) Soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen, muss die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend ausgeübt werden. Da es in jedem Fall einer Ultra-vires-Rüge auch über eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu befinden hat, sind Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren. Dies bedeutet zum einen, dass die unionseigenen Methoden der Rechtsfindung, an die sich der Gerichtshof gebunden sieht und die der "Eigenart" der Verträge und den ihnen eigenen Zielen Rechnung tragen (vgl. EuGH, Gutachten 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079 Rn. 51), zu respektieren sind. Zum anderen hat der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz. Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen. Hinzunehmen sind auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen, die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen.

67

2. Gemessen an diesen Maßstäben hat das Bundesarbeitsgericht die Tragweite der Vertragsfreiheit der Beschwerdeführerin nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht verkannt. Das angegriffene Urteil erweist sich als verfassungsgemäß, soweit es die Unanwendbarkeit von § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG angenommen hat.

68

Im Hinblick auf die zugrundegelegte Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Rechtsfortbildung ultra vires, die zur - allein vom Bundesverfassungsgericht feststellbaren (vgl. BVerfGE 123, 267 <354>) - Unanwendbarkeit der betreffenden Rechtsgrundsätze in Deutschland führen müsste, nicht ersichtlich. Es kann dahinstehen, ob sich das in der Mangold-Entscheidung gefundene Ergebnis durch anerkannte juristische Auslegungsmethoden noch gewinnen lässt und ob gegebenenfalls bestehende Mängel offenkundig wären. Jedenfalls handelt es sich um keine das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in offensichtlicher und strukturwirksamer Weise verletzende Überschreitung der durch Zustimmungsgesetz auf die Europäische Union übertragenen Hoheitsrechte.

69

a) Der Gerichtshof kam in der Mangold-Entscheidung zu dem Ergebnis, eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verstoße gegen Gemeinschaftsrecht und müsse unangewendet bleiben (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981 Rn. 77 f.). Diese Aussage wurde mit zwei Argumenten begründet, deren Beziehung zueinander unklar bleibt (vgl. Thüsing, Europarechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz als Bindung des Arbeitgebers?, ZIP 2005, S. 2149 <2150 f.>). Die Regelung stehe sowohl im Widerspruch zu Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG als auch zu einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der Diskriminierungen aus Gründen des Alters untersage.

70

Während eine Stelle in der englischen und französischen Sprachfassung der Mangold-Entscheidung darauf hindeutet, dass sich der Gerichtshof insbesondere auf das allgemeine Diskriminierungsverbot zu stützen scheint (vgl. EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 74: "[z]weitens" , "[i]n the second place and above all" , "[e]n second lieu et surtout" ), könnte eine andere Stelle für das Gegenteil sprechen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 78: "insbesondere Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2000/78"). Dem entspricht die Vermutung, dass die Mangold-Entscheidung, obwohl die Richtlinie 2000/78/EG für Deutschland innerhalb der noch laufenden Umsetzungsfrist noch nicht anwendbar war, die deutsche Befristungsregel am Maßstab dieser Richtlinie prüfte, weil die Richtlinie nur das konkretisiere, was durch den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung ohnehin und unabhängig von der Richtlinie gelte (vgl. Skouris, Methoden der Grundrechtsgewinnung in der EU, in: Merten/Papier, HGRe, Bd. VI/1, 2010, § 157 Rn. 24).

71

b) Ein hinreichend qualifizierter Verstoß des Gerichtshofs gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung lässt sich nicht feststellen. Weder die Öffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2000/78/EG auf Fälle, die gerade einer beruflichen Eingliederung von älteren Langzeitarbeitslosen dienen sollten (aa), noch die vom Gerichtshof angenommene Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG (bb) noch die Herleitung eines allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung (cc) hat zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen geführt.

72

aa) Der Gerichtshof hielt den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung in der Rechtssache Mangold für anwendbar, weil der Sachverhalt grundsätzlich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG falle (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 51, 64, 75). Diese Weichenstellung war die Voraussetzung dafür, dass eine nationale Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG überhaupt am Gemeinschaftsrecht - und also auch an dessen allgemeinen Grundsätzen - gemessen werden konnte. Die Beschwerdeführerin hat dagegen vorgetragen, dass die einschlägige Vorschrift des Teilzeit- und Befristungsgesetzes der Beschäftigungspolitik gedient habe, welche weiterhin in der mitgliedstaatlichen Zuständigkeit liege.

73

Ob eine bestimmte Maßnahme eines Mitgliedstaates in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, bestimmt der Gerichtshof jeweils im Einzelfall nach der inhaltlichen Tragweite der Maßnahme in Bezug auf die Sachmaterie und die beteiligten Personen. Auch eine Richtlinie kann den Anwendungsbereich der Verträge eröffnen und so dazu führen, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts in das mitgliedstaatliche Recht einwirken (vgl. von Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, S. 697 <704>). Ob eine Richtlinie den Anwendungsbereich der Verträge eröffnet, wird nach ihren Zielen bestimmt (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 1998, Rs. C-226/97, Lemmens, Slg. 1998, S. I-3711 Rn. 25 und 35 f.). Dagegen kann der nationale Gesetzgeber nicht den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts ausschließen, indem er mit einer Maßnahme auch Ziele - wie etwa die Beschäftigungspolitik (vgl. die beschränkten Handlungskompetenzen nach Art. 145 bis Art. 150 AEUV) - verfolgt, zu deren Regelung die Union nicht befugt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 24. November 1998, Bickel und Franz, Rs. C-274/96, Slg. 1998, S. I-7637 Rn. 17; stRspr). Der Gerichtshof rechtfertigt dies mit dem Hinweis, dass die Mitgliedstaaten andernfalls durch unterschiedliche Zielsetzungen die einheitliche Wirkung des Unionsrechts beeinträchtigen könnten.

74

Im konkreten Fall begründete der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts und damit des allgemeinen Verbots der Altersdiskriminierung damit, dass mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz ursprünglich die Richtlinie 1999/70/EG habe umgesetzt werden sollen (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 75). Dagegen kann eingewendet werden, dass nur der ursprüngliche Erlass des Teilzeit- und Befristungsgesetzes im Jahr 2000 der Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG diente, nicht aber das Änderungsgesetz, mit dem Satz 4 in den bestehenden § 14 Abs. 3 TzBfG eingefügt wurde (vgl. zum fehlenden Verweis auf das Gemeinschaftsrecht BTDrucks 15/25, S. 40). Entscheidende Erwägung, die aus der Binnenlogik des Unionsrechts heraus nicht vollständig zurückgewiesen werden kann, ist jedoch die sachliche Reichweite der Richtlinie 1999/70/EG, insbesondere deren Verschlechterungsverbot (§ 8 Abs. 3 der Richtlinie 1999/70/EG). Sie ist das maßgebende Argument, nicht die jeweilige Zielsetzung des nationalen Gesetzgebers.

75

bb) Eine im Hinblick auf das Ersichtlichkeitskriterium gravierende, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzende Rechtsfortbildung durch die Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs ist auch nicht wegen der vom Gerichtshof angenommenen Vorwirkung der in Deutschland noch umzusetzenden Richtlinie 2000/78/EG gegeben.

76

Der Gerichtshof ging davon aus, dass einem Verstoß einer nationalen Regelung wie § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG nicht entgegenstehe, dass deren Umsetzungsfrist zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht abgelaufen gewesen sei (EuGH, Urteil vom 22. November 2005, a.a.O., Rn. 70 ff.). Der während der Umsetzungsfrist bestehende Handlungs- und Konkretisierungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland wurde dadurch jedoch nicht so verkürzt, dass eine strukturwirksame Kompetenzverschiebung angenommen werden müsste. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer in Kraft getretenen Richtlinie keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Dezember 1997, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, S. I-7411 Rn. 45; EuGH, Urteil vom 8. Mai 2003, Rs. C-14/02, ATRAL, Slg. 2003, S. I-4431 Rn. 58).

77

Die Mangold-Entscheidung lässt sich in die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur innerstaatlichen Wirkung von Richtlinien einordnen. Obwohl der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, dass eine Richtlinie "nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist" (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, verb. Rs. C-397-403/01, Pfeiffer, Slg. 2004, S. I-8835 Rn. 108), hat der Gerichtshof anerkannt, dass richtlinienwidrig erlassene innerstaatliche Normen in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet bleiben müssen (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 30. April 1996, Rs. C-194/94, CIA Security, Slg. 1996, S. I-2201; EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-443/98, Unilever, Slg. 2000, S. I-7535 Rn. 49 ff.). Mit der in der Mangold-Entscheidung angenommenen Vorwirkung von Richtlinien schafft der Gerichtshof eine weitere Fallgruppe für die sogenannte "negative" Wirkung von Richtlinien. Diese dient wie die Rechtsprechung zur "negativen" Wirkung von Richtlinien insgesamt lediglich der Effektuierung bestehender Rechtspflichten der Mitgliedstaaten, schafft aber keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten.

78

cc) Es kann dahinstehen, ob sich ein allgemeiner Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten ableiten ließe, obwohl nur zwei der zum Zeitpunkt der Mangold-Entscheidung 15 Verfassungen der Mitgliedstaaten ein besonderes Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters zu entnehmen war (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mazák vom 15. Februar 2007, Rs. C-411/05, Palacios, Slg. 2007, S. I-8531 Rn. 88; Hölscheidt, in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 15) und auch die völkerrechtlichen Verträge, auf die sich der Gerichtshof mit seinem Hinweis auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2000/78/EG bezogen hatte, kein spezielles Diskriminierungsverbot enthielten. Denn zu einem ersichtlichen Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung würde auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung des Gerichtshofs erst dann, wenn sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte. Mit dem in der Ableitung aus den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen umstrittenen allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung wurde aber weder ein neuer Kompetenzbereich für die Union zulasten der Mitgliedstaaten begründet noch eine bestehende Kompetenz mit dem Gewicht einer Neubegründung ausgedehnt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ohne den Erlass eines - hier als vorwirkend angesehenen - Sekundärrechtsaktes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Bürgern durch Rechtsfortbildung begründet würden, die sich sowohl als Grundrechtseingriffe als auch als Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten erweisen würden. Allgemeine Grundsätze dürfen, auch wenn sie den Grundrechtsschutz auf Unionsebene gewährleisten, nicht den Ge-staltungsbereich des Unionsrechts über die eingeräumten Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnen oder gar neue Aufgaben und Zuständigkeiten begründen (vgl. Art. 51 Abs. 2 GRCh).

79

Hier liegt der Fall jedoch anders, weil die an der auf Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV) gestützten Rechtsetzung beteiligten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters im Rat - und nicht Richter im Zuge der Rechtsfortbildung - den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragsrechtliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet haben (vgl. insoweit oben aa).

II.

80

Die Beschwerdeführerin ist auch nicht dadurch in ihrer Vertragsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, dass das angegriffene Urteil keinen Vertrauensschutz gewährt hat.

81

1. a) Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips zählt die Rechtssicherheit. Der rechtsunterworfene Bürger soll nicht durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden (vgl. BVerfGE 45, 142 <167>; 72, 175 <196>; 88, 384 <403>; 105, 48 <57>).

82

Das Vertrauen in den Fortbestand eines Gesetzes kann nicht nur durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 99, 341 <359 f.>), sondern auch durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtanwendbarkeit durch den Gerichtshof berührt werden. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein unionsrechtswidriges Gesetz bestimmt sich insbesondere danach, inwieweit vorhersehbar war, dass der Gerichtshof eine derartige Regelung als unionsrechtswidrig einordnet. Es ist ferner von Belang, dass eine Disposition im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage vorgenommen, das Vertrauen mit anderen Worten betätigt wurde (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>).

83

b) Die Möglichkeiten mitgliedstaatlicher Gerichte zur Gewährung von Vertrauensschutz sind unionsrechtlich vorgeprägt und begrenzt. Entscheidungen des Gerichtshofs im Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV wirken grundsätzlich ex tunc. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof ist deshalb von den mitgliedstaatlichen Gerichten auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor Erlass der Vorabentscheidung begründet wurden. Der Gerichtshof schränkt nur ausnahmsweise in Anbetracht der erheblichen Schwierigkeiten, die seine Entscheidung bei in gutem Glauben begründeten Rechtsverhältnissen für die Vergangenheit hervorrufen kann, die Rückwirkungen seiner Entscheidung ein (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, Rs. C-61/79, Denkavit, Slg. 1980, S. 1205 Rn. 16 f.; stRspr).

84

Vertrauensschutz kann von den mitgliedstaatlichen Gerichten demnach nicht dadurch gewährt werden, dass sie die Wirkung einer Vorabentscheidung zeitlich beschränken, indem sie die nationale Regelung, deren Unvereinbarkeit mit Unionsrecht festgestellt wurde, für die Zeit vor Erlass der Vorabentscheidung anwenden. Eine solche primärwirksame Wirkung des Vertrauensschutzes lässt der Gerichtshof regelmäßig nicht zu, da er im Hinblick auf die einheitliche Geltung des Unionsrechts davon ausgeht, dass nur er selbst die Wirkung der in seinen Entscheidungen vorgenommenen Auslegung zeitlich beschränken könne (vgl. EuGH, Urteil vom 27. März 1980, a.a.O., Rn. 18; stRspr). In der Rechtsprechung des Gerichtshofs finden sich hingegen keine Anhaltspunkte dafür, dass es den mitgliedstaatlichen Gerichten verwehrt wäre, sekundären Vertrauensschutz durch Ersatz des Vertrauensschadens zu gewähren.

85

c) Es ist danach möglich, zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs innerstaatlich eine Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat. Auch das unionsrechtliche Haftungsrecht weist dem Mitgliedstaat die Verantwortung für ein unionsrechtswidriges Gesetz zu und entlastet insoweit den Bürger. Es kann offen bleiben, ob ein entsprechender Anspruch bereits im bestehenden Staatshaftungssystem angelegt ist.

86

2. Das Bundesarbeitsgericht hat die Tragweite eines nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu gewährenden Vertrauensschutzes nicht verkannt. Wegen des gemeinschafts- beziehungsweise unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs durfte sich das Bundesarbeitsgericht außer Stande sehen, Vertrauensschutz dadurch zu gewähren, dass es die zugunsten der Beschwerdeführerin ergangenen Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Ein ohne Verstoß gegen den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang möglicher Anspruch auf Entschädigung gegen die Bundesrepublik Deutschland für Vermögenseinbußen, die die Beschwerdeführerin durch die Entfristung des Arbeitsverhältnisses erlitten hat, war nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht.

III.

87

Das angegriffene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

88

1. Der Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es stellt einen Entzug des gesetzlichen Richters dar, wenn ein deutsches Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt allerdings nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Denn das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (vgl. BVerfGE 29, 198 <207>; 82, 159 <194>).

89

Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht. Das Bundesverfassungsgericht ist unionsrechtlich nicht verpflichtet, die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht voll zu kontrollieren und an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV auszurichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 - 2 BvR 2419/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 658 <660>; anders BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, NJW 2010, S. 1268 <1269>). Art. 267 Abs. 3 AEUV fordert kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht (vgl. Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S. 633 <635>). Ein letztinstanzliches Gericht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist definitionsgemäß die letzte Instanz, vor der der Einzelne Rechte geltend machen kann, die ihm aufgrund des Unionsrechts zustehen (vgl. EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239 Rn. 34). So behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht, das nur über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums wacht, wird seinerseits nicht zum "obersten Vorlagenkontrollgericht" (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 <1457>).

90

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <194 ff.>). Zu verneinen ist in diesen Fällen ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG deshalb bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat.

91

2. Das angegriffene Urteil verletzt nicht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, denn das Bundesarbeitsgericht hat durch die Entscheidung, das Verfahren nicht an den Gerichtshof vorzulegen, die Beschwerdeführerin nicht ihrem gesetzlichen Richter entzogen.

92

Das Bundesarbeitsgericht hätte insbesondere nicht wegen Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vorabentscheidung herbeiführen müssen. Unter der Annahme, dass der Gerichtshof die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe und die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestehenden Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung von Entscheidungswirkungen nicht erfüllt seien, sah das Bundesarbeitsgericht sich nicht als verpflichtet an, dem Gerichtshof durch eine Vorlage die Gelegenheit zur nachträglichen Gewährung von Vertrauensschutz zu eröffnen. Dies stellt ein vertretbares Ergebnis dar. Die Gegenauffassung der Beschwerdeführerin, dass der Gerichtshof die Frage des rückwirkenden Vertrauensschutzes in der Rechtssache Mangold offen gelassen habe und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Begrenzung von Entscheidungswirkungen sich nicht auf die vorliegende Fallgestaltung beziehe, ist der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts nicht eindeutig vorzuziehen. Das Bundesarbeitsgericht durfte vielmehr davon ausgehen, dass § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG nach der Mangold-Entscheidung unangewendet bleiben musste.

IV.

93

Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Begründung mit 6:2 Stimmen und im Ergebnis mit 7:1 Stimmen ergangen.

Abw. Meinung

94

Entgegen der Ansicht der Senatsmehrheit ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Das angefochtene Urteil verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, weil das Bundesarbeitsgericht § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG ohne verfassungsrechtlich tragfähigen Grund unangewendet gelassen und sich so der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) entzogen hat. Auf das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Gerichtshof) in der Rechtssache Mangold konnte sich das Bundesarbeitsgericht von Verfassungs wegen nicht berufen.

95

Die Senatsmehrheit überspannt die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht und weicht insofern ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab (I.). Zu Unrecht verneint sie eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold (II.). Auch das Bundesarbeitsgericht hat diese Kompetenzüberschreitung und die hieraus resultierenden Handlungsoptionen verkannt (III.).

I.

96

1. Mit dem Urteil zum Lissabon-Vertrag vom 30. Juni 2009 ist in Erinnerung zu rufen, dass das Handeln von Organen der Europäischen Union nur so lange demokratisch legitimiert ist, wie es sich im Rahmen der Kompetenzen hält, die die Mitgliedstaaten der Union übertragen haben. Die Einhaltung von Zuständigkeitsgrenzen ist nicht allein eine Frage des Austarierens der Machtbefugnisse von Verfassungs- und Gemeinschaftsorganen. Im demokratischen Regierungssystem folgt der Geltungsanspruch einer Norm nicht aus einer einseitigen Machtunterworfenheit des Bürgers, sondern aus ihrer Rückführung auf den Bürger selbst. Demokratische Legitimation erfordert deshalb eine tatsächliche, durchgehende Anknüpfung an das Staatsvolk. Sie darf nicht nur - und sei es im Wege des Ausschlusses einer Überprüfbarkeit - konstruiert sein. Ihre Notwendigkeit endet nicht an der Grenze des nationalen Zustimmungsgesetzes und dem Verbot der Blankettermächtigung, sondern setzt sich innerhalb der Staatengemeinschaft fort. Tätigkeiten, die von den übertragenen Aufgaben nicht umfasst werden, sind dadurch nicht mitlegitimiert (vgl. BVerfGE 93, 37 <68>). In diesem Sinne vermitteln und begrenzen die der Union von den Mitgliedstaaten verliehenen Kompetenzen den (sachlichen) Legitimationszusammenhang, in dem jedes Hoheitsgewalt ausübende Organ stehen muss (vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 6. Aufl. 2009, S. 307), und dessen Wahrung auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als Ausdruck der staatsverfassungsrechtlichen Grundlage aller Unionsgewalt zum Ziel hat.

97

Denn die Ermächtigung, hoheitliche Gewalt supranational auszuüben, rührt von den Mitgliedstaaten als den Herren der Verträge her (BVerfGE 123, 267 <349>); für die europäische Unionsgewalt gibt es kein Legitimationssubjekt, das sich unabgeleitet von der Hoheitsgewalt der Staaten auf gleichsam höherer Ebene verfassen könnte. Der Lissabon-Vertrag hat in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV das Prinzip begrenzter und kontrollierter Einzelermächtigung bestätigt. Zuständigkeitsausübungsregeln wie Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4, Art. 4 Abs. 2 EUV gewährleisten zudem, dass übertragene Kompetenzen in einer die mitgliedstaat-lichen Zuständigkeiten schonenden Weise wahrgenommen werden. Darüber hinaus enthält der Vertrag - bei verfassungsgemäßer Interpretation - keinerlei Vorschriften, die den Unionsorganen die Kompetenz-Kompetenz verschaffen würde (vgl. BVerfGE 123, 267 <392 f.>; zustimmend v. Bogdandy, NJW 2010, S. 1, 4). Dafür wäre auch die Verknüpfung von demokratischer Legitimation mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt, die die Lissabon-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hervorhebt, nicht hinreichend ausgeprägt. Der Anwendungsvorrang, der durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt wurde, bleibt ein völkervertraglich übertragenes und damit abgeleitetes Institut (BVerfGE 123, 267 <400>). Er ändert gerade nichts an der Pflicht zur Einhaltung der Kompetenzordnung. Er reicht für in Deutschland ausgeübte Hoheitsgewalt nur so weit, wie die Bundesrepublik dem zugestimmt hat oder zustimmen durfte (BVerfGE 123, 267 <402>). Insbesondere auch die dem Gerichtshof übertragene Kompetenz zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 75, 223 <235>; 123, 267 <344>).

98

Verfassung und völkerrechtlicher Vertrag begründen Kompetenzen, um damit im Umfang der jeweiligen Zuschreibung rechtmäßige, das heißt rechtsstaatlich und demokratisch legitimierte Hoheitsgewalt zu begründen. Dies stand dem Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 vor Augen und hat seine Linienführung bestimmt. Durch die Zuschreibung von Kompetenzen werden unterschiedliche supranationale und nationale Funktionen einander zugeordnet. Sie wollen damit eine sachgemäße Kooperation, sichtbare Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger und gegenseitige Kontrolle sichern und im Ergebnis so den Missbrauch hoheitlicher Gewalt verhindern. Ein Übermaß an Verflechtungen und Überlagerungen höhlt die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit aus und verletzt das aus demokratischer Rechtsstaatlichkeit fließende Gebot, dass Organe - nationale oder supranationale - für ihre Entscheidungen Verantwortung zu tragen haben.

99

2. Im Falle von Grenzdurchbrechungen - die diese Verantwortlichkeiten verwischen - hat das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zur Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 123, 267 <353 f.>). Beim derzeitigen Entwicklungsstand des Unionsrechts kommen allein die nationalen Höchstgerichte, insbesondere die Verfassungsgerichte, als Instanzen für die Ausübung einer Kompetenzkontrolle gegenüber den Unionsorganen in Frage, nachdem auf der europäischen Ebene der Gerichtshof den Schlussstein des Systems bildet und diese Position tendenziell gemeinschaftsfreundlich genutzt hat (vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <494>). Die exekutiven und judikativen Instanzen der Europäischen Union haben weithin die Möglichkeit, das Unionsrecht in der von ihnen für richtig gehaltenen Interpretation durchzusetzen, ohne dass die politischen Instanzen über effektive Mechanismen zur Gegensteuerung für den Fall verfügen würden, dass sie die Folgen der Interpretation für schädlich erachten. Die Möglichkeit, eingetretenen Kompetenzaushöhlungen legislativ oder durch Vertragsrevisionen zu begegnen, ist angesichts der hierfür bestehenden hohen Hürden in einer Union mit 27 Mitgliedstaaten von geringer praktischer Wirksamkeit (vgl. Grimm, a.a.O. <493 f.>; Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <248 ff.>).

100

3. Bei der Ausübung dieser Prüfungskompetenz ist der Grundsatz der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes als Korrelat des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zu beachten und fruchtbar zu machen (BVerfGE 123, 267<354>). Das hier auftretende Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip der Wahrung demokratischer Legitimation und der Funktionsfähigkeit der Union (vgl. Folz, Demokratie und Integration, 1999, S. 395) löst die Mehrheit einseitig zu Gunsten der Funktionsfähigkeit auf.

101

a) In der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat der Senat ein ausgewogenes Modell entwickelt, das die Kontrolle in materieller Hinsicht auf ersichtliche Grenzdurchbrechungen gegenüber den Mitgliedstaaten beschränkt und sie in formeller Hinsicht unter den Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene stellt (BVerfGE 123, 267 <353>). Erfasst ist damit jede ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt (vgl. Everling, EuR 2010, S. 91 <103, Fn. 62>). Kompetenzverletzungen peripherer Natur, die einen offensichtlichen und eindeutigen Charakter vermissen lassen und die Substanz demokratischer Verantwortlichkeit nicht in Frage stellen, bleiben außer Betracht; das gleiche gilt selbstverständlich für Kompetenzüberschreitungen, die nur von unionsinterner Bedeutung sind und sich auf die Freiräume der Mitgliedstaaten nicht auswirken. "Ersichtliche", also klare und eindeutige Verletzungen, sind zunächst einer Beurteilung durch den Gerichtshof zugänglich zu machen, wobei die Möglichkeit besteht, bestehende Bedenken in kompetenzieller Hinsicht zu artikulieren. Am vorliegenden Fall zeigt sich geradezu exemplarisch, wie der Vorrang des Rechtsschutzes auf Unionsebene zu realisieren gewesen wäre und welches konstruktive Potential dessen Ausschöpfung gehabt hätte (unten III.). Auf diesem Wege lässt sich hinreichend sicherstellen, dass eine Aktivierung der Reservekompetenz (BVerfGE 123, 267 <401>) des Bundesverfassungsgerichts zur Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht wegen Kompetenzüberschreitung auf Ausnahmefälle beschränkt bleibt (vgl. Wahl, Der Staat 48 <2009>, S. 587 <594>).

102

b) Die Senatsmehrheit geht über das Erfordernis einer ersichtlichen - also klaren und offensichtlichen - Kompetenzüberschreitung hinaus und verlässt den der Lissabon-Entscheidung zu Grunde liegenden Konsens, indem sie nun einen "hinreichend qualifizierten" Kompetenzverstoß fordert, der nicht nur offensichtlich ist, sondern zudem zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation führt. Damit schießt die Senatsmehrheit über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung der Ultra-vires-Kontrolle hinaus. Sie verkennt die in der Lissabon-Entscheidung hervorgehobene wesentliche Voraussetzung einer zwingenden demokratischen Legitimation bei Ausübung aller hoheitlichen Gewalt, die bei jeder Kompetenzverletzung durchbrochen ist; wird die Ausübung hoheitlicher Gewalt ohne hinreichende demokratische Legitimation zugelassen, so widerspricht dies der Kernaussage des Senatsurteils vom 30. Juni 2009.

103

Mit der Forderung nach einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge (C. I. 2. b) verkennt die Senatsmehrheit zudem, dass spezifische Gefahren für die Wahrung der Kompetenzen und damit der demokratischen Legitimation im Fall der Europäischen Union weniger von schwerwiegenden - und als solchen erkennbaren - Kompetenzanmaßungen im Einzelfall als von schleichenden Entwicklungen ausgehen, in deren Verlauf kleinere, für sich betrachtet möglicherweise geringfügige Kompetenzüberschreitungen kumulativ bedeutende Folgen haben. Die wohl in allen föderalen Systemen naheliegende Gefahr einer "politischen Selbstverstärkung" (vgl. BVerfGE 123, 267 <351 f.>) der höheren Ebene besteht im Fall der Europäischen Union in besonderer Weise, da die Kompetenzverteilung hier - anders als in Bundesstaaten - nicht gegenstandsbezogen, sondern final erfolgt. Das Ziel, die Herstellung und Aufrechterhaltung des Binnenmarktes, wirkt entgrenzend (Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <493>). Ob sich im Rahmen solcher Entwicklungen - die sich anhand der im Fall Mangold kulminierenden steten Erweiterung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Wirkung von Richtlinienbestimmungen (unten II. 1. b) illustrieren lassen - jemals ein Einzelfall einer Kompetenzüberschreitung ausmachen lässt, der die von der Senatsmehrheit geforderte Schwere aufweist und daher den Gegenmechanismus der Ultra-vires-Kontrolle auslöst, erscheint sehr fraglich - zumal die Eignung eines Einzelakts, strukturelle Verschiebungen im Kompetenzgefüge herbeizuführen, sich vielfach erst im Nachhinein wirklich wird beurteilen lassen (vgl. Scharpf, Legitimität im europäischen Mehrebenensystem, Leviathan 2009, S. 244 <264>).

104

c) Im Ergebnis wird die Senatsmehrheit so ihrer Verantwortung für den rechtsstaatlich-demokratischen Sinngehalt von Kompetenzvorschriften nicht gerecht. Sie verfolgt damit eine schon in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbare problematische Tendenz weiter, das demokratisch begründete nationale Letztentscheidungsrecht über die Anwendung von Hoheitsgewalt im eigenen Territorium und die damit einhergehende Verantwortung auch für die Einhaltung der an die Union verliehenen Kompetenzen nur noch auf dem Papier zu behaupten und vor deren praktisch wirksamer Vollziehung zurückzuschrecken: Hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst offen gelassen, ob Gemeinschaftsrecht am Grundgesetz gemessen werden könne (BVerfGE 22, 293 <298 f.>), so hatte es die Frage sodann in der Solange I-Entscheidung im Hinblick auf eine Grundrechtskontrolle bejaht (BVerfGE 37, 271 <280 ff.>), um eben diese Prüfungskompetenz zwölf Jahre später (zur Zwischenzeit siehe BVerfGE 52, 187 <202 f.>) im Hinblick auf die gewachsene Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs zu suspendieren (Solange II, BVerfGE 73, 339 <387>). Sodann entwickelte das Gericht erst in Umrissen, später deutlicher die Vorstellung einer Nachprüfung der Einhaltung der Kompetenzgrenzen (vgl. BVerfGE 75, 223 <242>; 89, 155 <188>). Anstatt allerdings dieses Mittel zu einem effektiven Kontrollinstrument zu machen, kehrte das Gericht praktisch wieder zum status quo der Solange II-Entscheidung zurück (vgl. etwa den Bananenmarkt-Beschluss BVerfGE 102, 147 <163>; zur Entwicklung vgl. Grimm, Der Staat 48 <2009>, S. 475 <478 f.>).

II.

105

Der Gerichtshof hat mit seinem Urteil in der Rechtssache Mangold die ihm verliehenen Kompetenzen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts ersichtlich überschritten und ultra vires gehandelt. Die von der Mehrheit offen gelassene Frage, ob der Gerichtshof mit seinem Urteil den Bereich der vertretbaren Auslegung - einschließlich der Rechtsfortbildung - verlassen hat, ist offensichtlich zu bejahen (1.); die Entscheidung des Gerichtshofs hat sich auch zu Lasten der dem Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland nach dem Vertrag verbleibenden Handlungsspielräume ausgewirkt (2.).

106

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Gerichtshof im Fall Mangold zu Recht den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für eröffnet gehalten und zu Recht einen inhaltlichen Widerspruch zwischen § 14 TzBfG und Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG festgestellt hat. Jedenfalls die Erwägungen, mit denen der Gerichtshof sich über den fehlenden Ablauf der Umsetzungsfrist hinweggesetzt hat, stellen sich nicht mehr als noch vertretbare Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts dar, sondern als ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt.

107

a) Auszugehen ist von einem schlichten Befund, für dessen Wahrnehmung man sich freilich nicht den Blick verstellen darf, indem man die am Gedanken des effet utile orientierte Rechtsprechungstradition des Gerichtshofs von vornherein als gegeben voraussetzt: Der Gerichtshof hat das deutsche Recht an Art. 6 der Richtlinie 2000/78/EG gemessen, obwohl diese Richtlinie zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Bundesrepublik Deutschland nicht verbindlich war; nach dem Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers waren die demokratisch legitimierten Organe der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt den Bindungen der Richtlinie noch nicht unterworfen. Ferner hat der Gerichtshof der noch nicht in Kraft getretenen Richtlinie trotz der in Art. 249 Abs. 2, 3 des EG-Vertrages in der Gestalt des Vertrages von Nizza (Art. 288 Abs. 2, 3 AEUV) niedergelegten Differenzierung eine (negative) unmittelbare innerstaatliche Wirkung beigemessen, die zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führte. Letzteres hat sich schließlich - wie auch dem Gerichtshof klar sein musste - zu Lasten von Grundrechtsträgern ausgewirkt, welche auf die Wirksamkeit des nationalen Arbeitsrechts vertrauten.

108

b) Die für dieses Ergebnis vorgebrachten Begründungsansätze des Gerichtshofs vermögen ersichtlich nicht zu überzeugen; sie führen zu dem Schluss, dass der Gerichtshof ein von ihm im Sinne einer möglichst weitgehenden Geltung des Gemeinschaftsrechts gewolltes Ergebnis ohne Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers durchgesetzt und so die Grenzen methodisch vertretbarer Rechtsfortbildung verlassen hat. Zudem verdeutlichen sie, wie unterschiedliche, durchweg unionsfreundliche, aber für sich genommen längst akzeptierte Argumentationsmuster des Gerichtshofs in ihrer Kombination die Gefahr einer schrittweisen, schwer aufzuhaltenden Erosion mitgliedstaatlicher Kompetenzen und demokratischer Legitimation mit sich bringen.

109

aa) Soweit der Gerichtshof das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet und sich hierauf bezogen hat, lässt sich dies weder anhand der Urteilsgründe noch auch unabhängig davon nachvollziehen. Die Herleitung eines spezifischen Diskriminierungsverbots wegen des Alters aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten oder aus internationalen Verträgen ist nicht vertretbar. Das ist im juristischen Schrifttum und nicht zuletzt von Generalanwalt Mazák bereits hinreichend dargelegt und bislang nicht ernstlich bezweifelt worden; auch die Senatsmehrheit kommt - obwohl sie die Frage formell offenlässt - letztlich nicht umhin, dies zu bemerken (siehe dazu unter C. I. 2. b) cc) mit den dort genannten Nachweisen; vgl. ferner Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, "Mangold" als ausbrechender Rechtsakt, 2009, S. 19 ff.; Körner, NZA 2005, S. 1395 <1397>; Krebber, Comparative Labor Law & Policy Journal 2006, S. 377 <390 f.>; Preis, NZA 2006, S. 401 <402>; Riesenhuber, ERCL 2007, S. 62 <66 f.>; Wieland, NJW 2009, S. 1841 <1843>). Vor diesem Hintergrund geht es auch nicht an, das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters kurzerhand zum Anwendungsfall des allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1977 - Rs. C-117/76 -, Slg. 1977, S. 1753 Rn. 7 ff.) zu erklären, wie es der Gerichtshof mit seiner Bezugnahme auf die erste Begründungserwägung der Richtlinie 2000/78/EG in der Rechtssache Mangold (Rn. 74) andeutungsweise und in einer Folgeentscheidung ausdrücklich (EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010 - Rs. C-555/07 -, juris, Rn. 50) unternimmt; denn die entscheidende Wertung, dass das Alter ein problematisches, weiter rechtfertigungsbedürftiges Differenzierungskriterium darstellen könnte, ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht. Zudem ist sie - wie dargelegt - den gemeinsamen Verfassungstraditionen fremd und gerade im Kontext des Arbeitsmarkts angesichts der großen Probleme, die für ältere arbeitslose Menschen bei der Suche nach einer festen Anstellung bestehen, alles andere als selbstverständlich. Schließlich verliert der Gerichtshof kein Wort über den durch die Doppelung der Rechtsgrundlagen in Art. 12 und 13 EGV (heute: Art. 18 und 19 AEUV) deutlich zum Ausdruck gekommenen Willen der Mitgliedstaaten, Differenzierungen wegen anderer Merkmale als der Staatsangehörigkeit nur nach (!) sekundärrechtlicher Konkretisierung zu beschränken.

110

bb) Auch der Gedanke einer "Vorwirkung" der Richtlinie (siehe dazu unter C. I. 2. b) bb) kann das Auslegungsergebnis des Urteils in der Rechtssache Mangold weder für sich genommen noch in der Zusammenschau mit dem vermeintlichen ungeschriebenen Diskriminierungsverbot wegen des Alters tragen. Denn das vom Gerichtshof erwünschte Ergebnis ergibt sich insofern erst aus einer Kumulation verschiedener, mitgliedstaatliche Freiräume beschneidender dogmatischer Ansätze, die unter Gesichtspunkten einer transparenten demokratischen Kompetenzverteilung im Ergebnis nicht mehr hinzunehmen ist.

111

Die Anerkennung der unmittelbaren Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen seitens des Gerichtshofs war bereits ein eindeutig über den Wortlaut des Vertrags hinausweisender Schritt der Rechtsfortbildung (Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 184; vgl. auch Alter, Establishing the Supremacy of European Law, 2001, insbesondere S. 16 ff.), den das Bundesverfassungsgericht allerdings - anders als manches andere Gericht (vgl. BFHE 143, 383; Conseil d'Etat, Entscheidung vom 22. Dezember 1978, EuR 1979, S. 292) - mitgegangen ist (BVerfGE 75, 223). Insofern hat sich das Bundesverfassungsgericht vom Gedanken der Europarechtsfreundlichkeit leiten lassen. Es hat gewürdigt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs sich auf gewichtige sachliche Argumente - namentlich den Gedanken einer effektiven Sanktionierung von Mitgliedstaaten nach fruchtlosem Ablauf der Umsetzungsfrist - stützen konnte und die unmittelbare Wirkung an nicht ohne Weiteres erfüllte Voraussetzungen knüpfte, die eine vertragswidrige Gleichstellung von Richtlinie und Verordnung verhinderte (BVerfGE 75, 223 <237, 241 f., 244>). Diese Zurückhaltung lässt der Gerichtshof in der Rechtssache Mangold vermissen. Er hat das Prinzip, dass die unmittelbare Anwendung von Richtlinienbestimmungen den Ablauf der Umsetzungsfrist voraussetzt (vgl. dazu nur Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rn. 28), aufgegeben; zudem hat er in der Sache eine unmittelbare Auswirkung der Richtlinie auf das Verhältnis zwischen Privaten zugelassen (vgl. dagegen noch zurückhaltend EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994 - Rs. C-91/92 -, Slg. 1994, S. I-3325 Rn. 19 ff.). Auf den Gedanken der Sanktionierung von (säumigen) Mitgliedstaaten lassen sich diese weitreichenden Schritte nicht mehr stützen. Der Gerichtshof erklärt sie mit dem pauschalen Hinweis auf den Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie keine Vorschriften mehr erlassen dürfen, die das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernsthaft in Frage stellen können, nur höchst unzureichend. Wenn die Senatsmehrheit hier von einer bloßen "Effektuierung bestehender Rechtspflichten" spricht, die "keine neuen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verletzenden Pflichten der Mitgliedstaaten" schaffe, wird die Problematik verschleiert: Auch eine "Effektuierung" bestehender Pflichten kann schließlich nur bedeuten, dass rechtliche Bindungen über das Maß des Vereinbarten hinaus verstärkt werden.

112

2. Das durch den Gerichtshof in der Rechtssache Mangold entwickelte Verständnis des Gemeinschaftsrechts betrifft die für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle entscheidende Abgrenzung der Kompetenzen von Gemeinschaft (Union) und Mitgliedstaaten. Es nimmt den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume auf dem Feld der Beschäftigungspolitik, das in weitem Umfang den Mitgliedstaaten vorbehalten ist (vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe i, Art. 125 ff. EGV; Art. 2 Abs. 3, Art. 5 Abs. 2, Art. 145 ff. AEUV). Damit sind die Voraussetzungen für das Eingreifen der Ultra-vires-Kontrolle erfüllt, auch wenn man die Bedeutung der vorliegenden Kompetenzüberschreitung angesichts des abzusehenden Ablaufs der Umsetzungsfrist für die Richtlinie nicht überbewerten muss. Wenn die Senatsmehrheit aber eine "praktische kompetenzbegründende Wirkung" mit der Erwägung verneinen möchte, dass die zur Rechtsetzung befugten Organe unter Einschluss des Rates und des deutschen Vertreters dort den Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung für arbeitsvertragliche Rechtsbeziehungen verbindlich gemacht "und damit auch den Raum für gerichtliche Rechtsinterpretation eröffnet" haben, unterstellt sie ohne weitere Anhaltspunkte, dass die Rechtsauffassung des Gerichtshofs vom gesetzgeberischen Willen gedeckt war. Wenn es noch eines gegenteiligen Indizes bedurft hätte, zeigt doch die Verabschiedung des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG sehr deutlich, dass insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ihre Handlungsspielräume keinesfalls in der Weise eingeschränkt wissen wollte, wie sie sich aus dem Urteil in der Rechtssache Mangold ergibt. Im Gegenteil: Der deutsche Vertreter im Rat hatte ersichtlich eine die Freiräume der Bundesrepublik Deutschland einschränkende gerichtliche Rechtsinterpretation nicht im Blick und musste diese auch nicht erkennen können.

113

Schließlich macht auch die Tatsache, dass die Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs für die heute geltende Rechtslage keine Folgen mehr haben dürfte, nachdem ein Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in Art. 21 Abs. 1 der Grundrechte-Charta enthalten ist, den Verstoß nicht ungeschehen - vor allem nicht mit Blick auf den vorliegenden Fall, den das Bundesarbeitsgericht auf der Grundlage des zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Rechts zu entscheiden hatte (vgl. BAG, Urteil vom 27. November 2003 - 2 AZR 177/03 -, juris, Rn. 16; Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Aufl. 2006, Art. 170 EGBGB Rn. 3).

III.

114

Unter diesen Umständen war es dem Bundesarbeitsgericht verwehrt, sich auf das Urteil in der Rechtssache Mangold zu berufen, den klaren Normanwendungsbefehl des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG unangewendet zu lassen und der Entfristungsklage stattzugeben. Da es dem Gericht umgekehrt nach Art. 234 EGV von Gemeinschaftsrechts wegen - und über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch von Verfassungs wegen - nicht freistand, unter offener Abweichung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheiden, hätte der 7. Senat alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erwägen oder erörtern müssen, die sich abzeichnende Spannungslage aufzulösen. Dies ist angesichts der Tatsache, dass das Bundesarbeitsgericht - wie die Senatsmehrheit - die Kompetenzüberschreitung durch den Gerichtshof verkannt hat, zu Unrecht unterblieben.

115

Vorrangig wäre insofern die Inanspruchnahme von Rechtsschutz auf Unionsebene in Betracht gekommen, wie es auch im - freilich erst nach der hier angegriffenen Entscheidung ergangenen - Lissabon-Urteil ausgeführt ist. Das Bundesarbeitsgericht wäre ohne Weiteres in der Lage gewesen, den Gerichtshof im Wege des Verfahrens nach Art. 234 EGV erneut und unter Darlegung der bestehenden Bedenken mit der Frage zu befassen, ob das Gemeinschaftsrecht die Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG verlangte. Das Gemeinschaftsrecht stand einer solchen erneuten, erweitert begründeten Vorlage nicht entgegen (vgl. EuGH, Beschluss vom 5. März 1986 - Rs. C-69/85 -, Slg. 1986, S. 947 Rn. 15). In diesem Rahmen hätte auch die Möglichkeit bestanden, explizit die Frage nach einer möglichen zeitlichen Beschränkung der Urteilswirkungen zu stellen (vgl. nur EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - Rs. C-43/75, Slg. 1976, S. 455; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 Rn. 67). Schon das Vorlageverfahren hätte mannigfache Möglichkeiten eröffnet, den sich abzeichnenden Konflikt zwischen verfassungsrechtlichen und gemeinschaftsrechtlichen Erfordernissen in kooperativer Weise und in einem frühen Stadium aufzulösen oder doch zu entschärfen.

116

Für den Fall einer vollumfänglichen Bestätigung der Mangold-Entscheidung hätte das Bundesarbeitsarbeitsgericht des Weiteren prüfen können und müssen, ob und inwieweit europarechtskonforme Entscheidungsmöglichkeiten bestanden, die den in § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willen jedenfalls im Ergebnis respektiert hätten, etwa indem der vorliegende Rechtsstreit unter Nichtanwendung der genannten Vorschriften nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage entschieden worden wäre. Nur wenn auch solche Wege nicht gangbar gewesen wären, hätte das Bundesarbeitsgericht den Weg der Normenkontrolle entsprechend Art. 100 Abs. 1 GG zur förmlichen Feststellung der Kompetenzüberschreitung durch das Bundesverfassungsgericht gehen können und müssen. Dies zeigt im Übrigen, dass die Ultra-vires-Kontrolle über weite Strecken in europarechtsfreundlicher, kooperativer Weise ausgeübt werden kann; der eigentliche Akt der Feststellung von Kompetenzüberschreitung und Unanwendbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht bleibt folglich in jedem Fall ultima ratio.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Wird dem Berechtigten von einem Träger der Sozialversicherung oder einer anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland für die nach Bundesrecht anzurechnenden Zeiten eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder an Stelle einer solchen eine andere Leistung gewährt, so ruht die Rente in Höhe des in Euro umgerechneten Betrags, der als Leistung des Trägers der Sozialversicherung oder der anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt wird. Auf Steigerungsbeträge aus Beiträgen der Höherversicherung findet Satz 1 keine Anwendung. § 18d des Vierten Buches Sozialgesetzbuch gilt entsprechend.

(2) Der Berechtigte hat dem zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen unverzüglich anzuzeigen, wenn ihm eine der in Absatz 1 genannten Stellen eine Rente oder eine andere Leistung gewährt.

(3) (weggefallen)

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. November 2009 und des Sozialgerichts Koblenz vom 24. März 2009 insoweit aufgehoben, als die Beklagte verurteilt worden ist, dem Kläger die Rente ohne Anwendung des § 31 Abs 1 Fremdrentengesetz ungekürzt auszuzahlen.

Im Übrigen wird die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Bescheid der Beklagten vom 28. April 2008 und der Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2008 hinsichtlich der Ruhensanordnung aufgehoben werden.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die Beklagte berechtigt ist, eine Altersrente aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung einer fiktiven rumänischen Rente ruhend zu stellen.

2

Der 1945 in Rumänien geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und Inhaber des Vertriebenenausweises A. In Rumänien war er von 1962 bis 1975 unterbrochen von Ausbildungszeiten erwerbstätig. Im August 1975 übersiedelte er in die Bundesrepublik Deutschland.

3

Im Februar 2008 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Altersrente für langjährig Versicherte wegen Vollendung des 63. Lebensjahres. Mit Schreiben vom 7.3.2008 beantragte er gemäß Art 44 VO (EWG) 1408/71 die Verschiebung der Antragsgleichstellung. Die Beklagte teilte ihm darauf mit Schreiben vom 18.3.2008 mit, dass beabsichtigt sei, die ihm aus Rumänien zustehende Rente in deren voraussichtlicher Höhe anzurechnen, auch wenn er diese tatsächlich nicht beziehen sollte. Eine derartige Anrechnung rechtfertige sich aus § 2 FRG iVm § 31 FRG. Der Anrechnungsbetrag sei auf Basis eines rumänischen Rentenpunktes für die Altersrente eines durchgehend beschäftigten Durchschnittsverdieners ermittelt worden und entspreche umgerechnet 33,92 Euro Monatsrente für deckungsgleiche deutsche und rumänische Zeiten nach Art 107 VO (EWG) 574/72.

4

Mit dem als "Mitteilung über die vorläufige Leistung" titulierten Bescheid vom 28.4.2008 gewährte die Beklagte dem Kläger ab dem 1.4.2008 eine Altersrente für langjährig Versicherte. Unter Berücksichtigung der persönlichen Entgeltpunkte (EP) des Klägers, des Rentenartfaktors bei Altersrenten und des aktuellen Rentenwerts setzte die Beklagte die Höhe der Rente auf monatlich 474,41 Euro fest (Anlage 1). Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Rente ab 1.5.2008 in Höhe des Bruttobetrags der Leistung aus der ausländischen Sozialversicherung ruhe (Anlage 7). Die Rente mindere sich daher um den zu berücksichtigenden Betrag von 33,92 Euro. Den Widerspruch des Klägers, der sich gegen den Einbehalt dieses Betrags richtete, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.7.2008 zurück.

5

Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das SG Koblenz mit Urteil vom 24.3.2009 die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger die Rente ohne Anwendung des § 31 Abs 1 FRG ungekürzt auszuzahlen. Die Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 18.11.2009 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Das SG habe die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger die Rente ohne Anwendung des § 31 Abs 1 FRG ungekürzt auszuzahlen. Die Rechtsnorm biete keine tragfähige Rechtsgrundlage für die sog Fiktivanrechnung. Aus dem Wortlaut der Norm ergebe sich eindeutig, dass das Ruhen eines Teils der deutschen Rente nur für den Fall der tatsächlichen Auszahlung einer ausländischen Leistung angeordnet werde. Dem Kläger werde eine rumänische Rente aber ersichtlich nicht gezahlt. Eine analoge Anwendung des § 31 Abs 1 Satz 1 FRG auf den Fall der Nichtgewährung und Nichtauszahlung einer ausländischen Leistung scheide aus. Eine planwidrige Regelungslücke sei insoweit nicht zu erkennen. Einziger Zweck des § 31 FRG sei es, Doppelleistungen für ein und dieselbe rentenrechtliche Versicherungszeit zu vermeiden. Mehr oder etwas anderes habe der Gesetzgeber nicht erreichen wollen. Ebenso spreche eine Betrachtung der Vorgängerregelung gegen das Vorliegen einer Gesetzeslücke. Nach § 1 Abs 5 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7.8.1953 (BGBl I 848 ) sei ein Leistungsanspruch nach § 1 Abs 1 erloschen, wenn für denselben Versicherungsfall von einem Träger der Sozialversicherung oder einer anderen Stelle außerhalb des Bundesgebiets oder des Landes Berlin eine Leistung "gewährt wird oder auf Antrag gewährt würde". Damals habe das Gesetz eine Fiktivanrechnung ausdrücklich vorgesehen. Dies zeige, dass dem Gesetzgeber die Möglichkeit des Bestehens von Leistungsansprüchen gegen einen ausländischen Versicherungsträger oder eine ausländische andere Stelle bei einer entsprechenden Antragstellung durchaus bewusst gewesen sei. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber nach der Ablösung des FAG durch das FRG jederzeit und vielfach die Möglichkeit gehabt, § 31 Abs 1 Satz 1 FRG zu modifizieren. Dies habe er gleichwohl nicht getan. Hieran seien die Beklagte als öffentlich-rechtlicher Leistungsträger und die Gerichte gebunden. Ebenso wenig könne ein Fiktivabzug einer ausländischen Rente auf § 46 Abs 2 SGB I gestützt werden. Auch könne dem Kläger ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht vorgeworfen werden, da er mit der Aufschiebung der rumänischen Rente ein ihm ausdrücklich eingeräumtes Gestaltungsrecht ausgeübt habe.

6

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 31 Abs 1 Satz 1 FRG. Das Berufungsgericht habe verkannt, dass im Rahmen der Rechtsfortbildung eine analoge Anwendung des § 31 FRG zulässig und geboten sei. Eine planwidrige Regelungslücke liege vor. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 6.8.1986 - 5a RKn 22/85 - BSGE 60, 176 = SozR 2600 § 57 Nr 3) sei eine solche ua dann gegeben, wenn das Schweigen des Gesetzes darauf zurückzuführen sei, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben habe. Dies sei hier der Fall. § 31 FRG müsse im Zusammenhang mit seiner Entstehung und den damaligen Verhältnissen gesehen werden. Zum Zeitpunkt der Schaffung der Norm habe es keine über- bzw zwischenstaatlichen Regelungen gegeben, die den FRG-Berechtigten Ansprüche auf eine ausländische Rente für die im Vertreibungsgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten verschafft hätten. Hätten solche Regelungen existiert, hätten sie nach der damaligen Fassung des § 2 FRG zum Verlust der FRG-Zeiten und der darauf beruhenden deutschen Rentenansprüche geführt. Angesichts der damaligen Verhältnisse in den FRG-Herkunftsländern (Abgrenzung gegenüber westlichen Staaten, Diskriminierung von Aus- und Übersiedlern, fehlende Konvertierbarkeit der dortigen Währungen) habe es für die FRG-Berechtigten auch praktisch kaum Möglichkeiten gegeben, ausländische Rentenleistungen zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sei es konsequent gewesen, in Ablösung des zuvor geltenden § 1 Abs 5 FAG in § 31 FRG auf "ausgezahlte" Geldleistungen abzustellen. Regelungen für nicht in Anspruch genommene Rentenleistungen seien überflüssig gewesen. Die ursprüngliche Rechtslage habe durch die Ergänzung des § 2 FRG um einen Satz 2 durch das Gesetz vom 18.6.1991 (BGBl II 741) eine wesentliche Änderung erfahren. Danach sei auch bei Anwendung über- bzw zwischenstaatlichen Rechts die Weitergeltung des FRG möglich, wenn die Abkommen entsprechende ausdrückliche Regelungen enthielten. Dies stelle eine Abschwächung der Ausschlussregelung dar, die der Gesetzgeber angesichts des häufig noch deutlich niedrigeren Rentenniveaus in den Herkunftsländern und damit aus Vertrauensschutzgründen getroffen habe. Der Gesetzgeber habe den Vertrauensschutz in Erwartung entsprechender ausländischer Rentenleistungen und der daraus folgenden Anwendung des § 31 FRG eingeräumt. Wenn die Berechtigten weiterhin die Rechtsvorteile des FRG in Anspruch nehmen könnten, sollten die vorrangigen ausländischen Renten angerechnet werden. Die weitere Anwendung des FRG sei insoweit auf den verbleibenden Differenzbetrag beschränkt unabhängig davon, ob die ausländische Rente gezahlt werde oder nicht. Diese Regelungsabsicht komme in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 12/470) deutlich zum Ausdruck. Die Änderung des § 2 FRG habe Auswirkungen auf § 31 FRG. Die Vorschrift betreffe jetzt und insbesondere Fälle des über- und zwischenstaatlichen Rechts. Im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten und den Vertragsstaaten - im vorliegenden Fall Rumänien - hätten sich die früher allenfalls theoretischen, aber nicht durchsetzbaren Rentenansprüche nunmehr in rechtlich gesicherte und von den Berechtigten zumutbar realisierbare Ansprüche auf Rentenzahlungen gewandelt. Für den Gesetzgeber sei weder zum Zeitpunkt der Änderung des § 2 FRG noch anlässlich der später abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen absehbar gewesen, dass die FRG-Berechtigten die ihnen zustehenden ausländischen Rentenansprüche nicht in Anspruch nehmen würden. Es habe daher keine Veranlassung bestanden, für solche Fälle eine gesetzliche Regelung zu schaffen.

7

Das Verhalten der FRG-Berechtigten, ihre ausländischen Rentenansprüche ohne sachgerechte Gründe nicht zu realisieren, sei rechtsmissbräuchlich. Das europäische Gemeinschaftsrecht stehe einer Kürzung von Rentenansprüchen nach § 31 FRG bei einem praktisch unbegrenzten Aufschub der Rentenansprüche eines Mitgliedstaates der Europäischen Union zu Lasten eines anderen Mitgliedstaates nicht entgegen. Generell löse ein Rentenantrag im Rahmen des Gemeinschaftsrechts nach Art 44 Abs 2 VO (EWG) 1408/71 in allen Mitgliedstaaten die Feststellung der Rentenansprüche aus. Als Ausnahme von diesem Grundsatz eröffne Satz 2 der Regelung das vom Kläger genutzte Dispositionsrecht, die Feststellung von Ansprüchen bei Leistungen wegen Alters in anderen Mitgliedstaaten aufzuschieben. Entsprechende Bestimmungen enthalte Art 22 Abs 3 des mit Rumänien abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommens vom 8.4.2005. Dem Sinn und Zweck nach sollten mit diesen Regelungen lediglich Nachteile vermieden werden, die durch unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen zur Altersrente in einzelnen Mitgliedstaaten entstehen könnten. Nachteile der genannten Art seien im vorliegenden Fall weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht worden. Ein sachlicher Grund für den Aufschub der rumänischen Rentenleistung sei nicht erkennbar. Er diene allein dazu, die Anwendung des § 31 FRG zu umgehen. Damit erweise sich die Inanspruchnahme des Dispositionsrechts als rechtsmissbräuchlich. Durch diese rechtsmissbräuchliche Verhaltensweise sei eine planwidrige Regelungslücke entstanden, die für den Gesetzgeber nicht vorhersehbar gewesen sei und die folglich im Wege der Analogie geschlossen werden könne.

8

Die Fiktivanrechnung stehe auch im Einklang mit den Grundsätzen des Fremdrentenrechts, das vom Prinzip der Subsidiarität geprägt sei. Aus den Regelungen der §§ 2 und 31 FRG werde deutlich, dass die originären ausländischen Rentenansprüche, die durch über- und zwischenstaatliches Recht auf einer gesicherten rechtlichen Grundlage beruhten, Vorrang vor den versicherungsfremden Leistungen des FRG hätten. Auch das BSG habe im Urteil vom 17.10.2006 (B 5 RJ 21/05 R - SozR 4-5050 § 15 Nr 3 RdNr 27) ausgeführt, dass unabhängig davon, ob man den Entschädigungs- oder den Eingliederungscharakter des Fremdrentenrechts betone, es immer noch das Grundanliegen des Fremdrentenrechts sei, Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung von Personen abzuwehren, denen die Realisierung ihrer in der früheren Heimat erarbeiteten Rentenanwartschaften von Deutschland aus abgeschnitten sei.

9

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. November 2009 und des Sozialgerichts Koblenz vom 24. März 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. November 2009 zurückzuweisen.

11

Er hält die vorinstanzlichen Entscheidungen für zutreffend. Ergänzend weist der Kläger darauf hin, dass Rumänien jahrelang nach Schaffung des Abkommens bzw Anwendung der VO (EWG) 1408/71 und insbesondere bei Erlass des angefochtenen Bescheids keinerlei Zahlungen nach Deutschland erbracht habe.

Entscheidungsgründe

12

Die Revision ist insoweit begründet, als die Beklagte auf die Leistungsklage des Klägers zur Auszahlung der ungekürzten Rente verurteilt worden ist. Soweit sich die Revision gegen die teilweise Aufhebung der angefochtenen Bescheide richtet, ist sie hingegen unbegründet.

13

Der als "Mitteilung über die vorläufige Leistung" titulierte Bescheid vom 28.4.2008 enthält mehrere Verwaltungsakte iS von § 31 SGB X, die jeweils selbstständig angefochten werden bzw in Bindung erwachsen können; dies sind die Entscheidungen über Rentenart, Rentenhöhe, Rentenbeginn und Rentendauer (vgl hierzu BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 7 S 26) sowie die Anordnung, dass der monatliche Zahlbetrag der Rente in Höhe des Bruttobetrages der Leistung aus der ausländischen Sozialversicherung ab 1.5.2008 ruht. Hiermit hat die Beklagte die Regelung getroffen, dass die Rente aus der deutschen Rentenversicherung nicht in der festgestellten Höhe von monatlich 474,41 Euro, sondern um die ausländische Leistung gemindert zu zahlen ist. Der Kläger hat den Bescheid vom 28.4.2008 angegriffen, soweit mit diesem eine fiktive rumänische Rente von monatlich 33,92 Euro angerechnet wird. Die Anfechtung des Klägers beschränkt sich damit auf die ihn belastende Ruhensanordnung.

14

Die Anfechtungsklage im dargelegten Umfang ist zulässig.

15

Der Zulässigkeit der Klage steht nicht Art 45 Abs 4 VO (EWG) 574/72 entgegen, nach dem der zur Zahlung der Leistung verpflichtete Träger den Antragsteller darauf aufmerksam macht, dass die Leistung vorläufiger Art ist und nicht angefochten werden kann.

16

Zum einen ist die VO (EWG) 574/72 durch Art 96 Abs 1 Satz 1 VO (EG) 987/2009 mit Wirkung vom 1.5.2010 aufgehoben worden und deren durch Art 96 Abs 1 Satz 2 VO (EG) 987/2009 angeordnete partielle Weitergeltung für bestimmte, im Einzelnen aufgeführte Zwecke (Buchst a bis c) hier nicht einschlägig. Damit kann sich die VO (EWG) 574/72 auf die Prozessvoraussetzungen, die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen müssen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008 vor § 51 RdNr 20), ohnehin nicht mehr auswirken. Abgesehen davon ist Art 45 Abs 4 VO (EWG) 574/72 nicht dahin zu verstehen, dass er den gerichtlichen Rechtsschutz einschränkt, soweit eine Überprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts auf seine Vereinbarkeit mit nationalem Recht begehrt wird (vgl EuGH Urteil vom 14.2.1980 - C 53/79). Im vorliegenden Fall geht es aber ausschließlich um die Rechtmäßigkeit der Ruhensanordnung nach § 31 FRG.

17

Die Geltendmachung eines Anspruchs auf Verurteilung der Beklagten zur Auszahlung der ungekürzten Altersrente neben der Anfechtung der Bescheide ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen vom Begehren des Klägers (§ 123 SGG) nicht mitumfasst. Denn bereits bei Aufhebung der Ruhensanordnung entfällt die Rechtsgrundlage dafür, dem monatlichen Rentenanspruch des Klägers einen Minderungsbetrag von 33,92 Euro entgegenzuhalten und die bestandskräftig festgestellte Rente in Höhe von monatlich 474,41 Euro insoweit nur gekürzt zu zahlen.

18

Die Anfechtungsklage ist begründet. Die Ruhensanordnung im Bescheid vom 28.4.2008 ist rechtswidrig.

19

§ 31 Abs 1 Satz 1 FRG rechtfertigt weder unmittelbar noch im Wege zulässiger Rechtsfortbildung ein teilweises Ruhen der dem Kläger gewährten Rente. Ebenso wenig sind sonstige Rechtsgrundlagen ersichtlich, nach denen sich die Kürzung des monatlichen Rentenzahlbetrags um eine fiktive rumänische Rente als rechtmäßig erweist.

20

Wird dem Berechtigten von einem Träger der Sozialversicherung oder einer anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland für die nach Bundesrecht anzurechnenden Zeiten eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder an Stelle einer solchen eine andere Leistung gewährt, so ruht gemäß § 31 Abs 1 Satz 1 FRG die Rente in Höhe des in Euro umgerechneten Betrags, der als Leistung des Trägers der Sozialversicherung oder der anderen Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt wird.

21

Nach dieser Vorschrift ist Voraussetzung für das Ruhen der deutschen Rente, dass der Versicherte von einer Stelle außerhalb der Bundesrepublik Deutschland eine Rente oder andere Leistung erhält. Der Begriff "ausgezahlt" stellt zweifelsfrei auf die tatsächliche Gewährung der ausländischen Rente ab (so auch Hoernigk/Jahn/Wickenhagen/Aulmann, Kommentar zum FRG, Juli 1988, § 31 RdNr 6). Diesem Verständnis entsprechen Sinn und Zweck der Vorschrift. Diese dienen der Vermeidung von Doppelleistungen (BT-Drucks 3/1109 Begründung zu §§ 11, 31, FRG; BSGE 43, 274, 277; BSG Breithaupt 1977, 476, 478). Eine Doppelleistung liegt aber schon nach allgemeinem Sprachverständnis nur vor, wenn der Betroffene die Leistung tatsächlich zweifach erhält. Dieses Auslegungsergebnis wird entstehungsgeschichtlich durch die Vorgängerregelung des § 31 Abs 1 Satz 1 FRG bestätigt. Nach § 1 Abs 5 FAG erlosch der Leistungsanspruch nach Abs 1, wenn für denselben Versicherungsfall von einem Träger der Sozialversicherung oder einer anderen Stelle außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin eine Leistung gewährt wird oder "auf Antrag gewährt würde". Dass § 31 Abs 1 Satz 1 FRG diese Fallkonstellation nicht als zweiten Ruhenstatbestand aufführt, spricht dafür, dass die Vorschrift nur auf wirklich erbrachte Leistungen abstellt.

22

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist § 31 Abs 1 Satz 1 FRG auch nicht im Wege der Rechtsfortbildung auf den Fall anwendbar, dass eine ausländische Rente auf Antrag gewährt würde. Eine bewusste oder unbewusste Gesetzeslücke ist insoweit nicht feststellbar.

23

Nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3-2500 § 38 Nr 1 S 3 mwN) ist der Richter zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke dort berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht zu finden, oder das Schweigen des Gesetzes auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat. Die analoge Anwendung des Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte ist dann geboten, wenn auch der nicht geregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zu Grunde liegenden Interessenlage hätte einbezogen werden müssen.

24

Ein absichtliches oder versehentliches Schweigen des Gesetzgebers ist angesichts der beschriebenen Entstehungsgeschichte des § 31 Abs 1 Satz 1 FRG sowie dessen Sinn und Zweck auszuschließen. Vielmehr hat der Gesetzgeber bewusst ein Ruhen der deutschen Rente an die tatsächliche Gewährung der ausländischen Rente geknüpft, da er Doppelleistungen verhindern wollte. Angesichts dessen war es folgerichtig, die fiktive Leistung einer ausländischen Rente nicht als zweiten Ruhenstatbestand aus der Vorgängerregelung zu übernehmen.

25

Ebenso wenig ist nachträglich auf Grund einer Veränderung des nationalen Rechts oder der politischen und rechtlichen Verhältnisse in Europa eine planwidrige Gesetzeslücke entstanden. Dabei kann dahinstehen, ob heute im Unterschied zu früheren Zeiten Renten aus den ehemaligen Ostblockstaaten problemlos in die Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt werden. Selbst wenn dies zuträfe, ist nicht erkennbar, dass nach der gesetzgeberischen Absicht in diesem Fall eine Anrechnung solcher Auslandsrenten gewollt ist, die nach ausländischem Recht "auf Antrag gewährt würden".

26

Die Entstehung einer entsprechenden Regelungslücke in § 31 Abs 1 FRG infolge der Einfügung des Satzes 2 in § 2 FRG durch das Gesetz zu dem Abkommen vom 8.12.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 18.6.1991 (BGBl 1991 II 741) ist nicht feststellbar. Zwar ist mit dieser Bestimmung die Anwendung des FRG und damit die Gewährung von FRG-Renten auch bei Vorhandensein zwischenstaatlicher Abkommen ermöglicht worden, soweit diese entsprechende Regelungen enthalten. Hieraus lässt sich jedoch eine versehentlich unterbliebene Neugestaltung des § 31 FRG nicht ableiten.

27

In der Begründung zum Entwurf des Vertragsgesetzes vom 18.6.1991 wird darauf hingewiesen, dass die Ergänzung für Aussiedler die Gewährung einer Rente nach dem FRG ermöglicht, auf die allerdings eine polnische Exportrente anzurechnen ist. Im Ergebnis werde die polnische Rentenleistung auf das Niveau des FRG aufgestockt (BT-Drucks 12/470 und BR-Drucks 162/91 beide S 7 Erl zu Art 5). Anders als die Beklagte versteht der erkennende Senat diese Erläuterung als Bekräftigung dafür, dass weiterhin nur tatsächlich nach Deutschland gezahlte Renten auf die deutsche Rente anzurechnen sind. Denn Ausführungen zu nunmehr möglich gewordenen Exportrenten und dadurch veränderten Bedingungen der Anrechenbarkeit enthält die Begründung nicht. Vielmehr weist diese im Weiteren darauf hin, dass die Notwendigkeit einer Anpassung des Fremdrentenrechts an die sich verändernden Verhältnisse zwischen Ost und West hiervon unberührt bleibt. Diese Erklärungen machen ein vorhandenes Bewusstsein um die Notwendigkeit gesetzlicher Neuregelungen wegen der geänderten Lage in Europa deutlich. Dass gleichwohl eine Änderung des § 31 Abs 1 FRG nicht erfolgt ist, zeigt, dass insoweit kein Handlungsbedarf gesehen wurde.

28

Ein solcher ist auch im Kontext europarechtlicher Vorschriften und zwischenstaatlicher Abkommen nicht erkennbar. Dass Versicherte in mehreren Staaten Ansprüche auf gleiche oder vergleichbare Leistungen haben können, die von einem Antrag abhängig sind, hat das europäische bzw zwischenstaatliche Recht gesehen und im Sinne einer Vereinheitlichung der Antragstellung geregelt.

29

Bereits Art 44 Abs 2 Satz 1 der zwischenzeitlich außer Kraft getretenen VO (EWG) 1408/71 bestimmt, dass der Rentenantrag in einem Mitgliedstaat grundsätzlich das Leistungsfeststellungsverfahren in allen Mitgliedstaaten auslöst, in denen Versicherungszeiten zurückgelegt sind. Art 44 Abs 2 Satz 2 VO (EWG) 1408/71 durchbricht diesen Grundsatz, indem er auf ausdrücklichen Antrag des Betroffenen das Aufschieben der Feststellung von Ansprüchen auf Leistungen bei Alter in einem Mitgliedstaat zulässt. Entsprechende Regelungen enthält Art 50 Abs 1 der am 1.5.2010 in Kraft getretenen VO (EG) 883/2004. Art 44 Abs 2 VO (EWG) 1408/71 und Art 50 Abs 1 VO (EG) 883/2004 begründen damit grundsätzlich die europaweite Wirkung der Antragstellung in einem Mitgliedstaat. Abgesehen von der Ausnahmeregelung für Leistungen bei Alter gilt der Grundsatz der europaweiten Wirkung der Rentenantragsstellung auch für den Berechtigten zwingend (Schuler in Fuchs, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 44 VO 1408/71 RdNr 6; Schuler in Fuchs, Kommentar zum Europäischen Sozialrecht, 5. Aufl 2010, Art 50 VO 883/2004 RdNr 6). Im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu Rumänien finden sich vergleichbare Regelungen in Art 22 Abs 3 des Abkommens dieser Staaten über Soziale Sicherheit vom 8.4.2005 (BGBl 2006 II 164).

30

Angesichts dieser Bestimmungen kann ein Versicherter durch eine unterlassene Antragstellung eine Rentenleistung aus Rumänien bzw einem anderen Mitgliedstaat der EU grundsätzlich nicht verhindern. Eine fiktive Rente, die auf Antrag geleistet würde, kann es insoweit nicht geben. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Anrechnungsvorschrift für eine fiktive Rente und ist eine entsprechende Regelungslücke in § 31 FRG nicht ersichtlich. Dies gilt auch hinsichtlich der Altersrenten. Zwar kann der Versicherte hier die Antragswirkung begrenzen, dies allerdings kraft ausdrücklicher gesetzlicher Erlaubnis. Ist dem Versicherten aber ausdrücklich gestattet, die bilaterale bzw europaweite Wirkung des Rentenantrags einzuschränken und damit eine bestimmte Rentenleistung aus Rumänien oder einem anderen Mitgliedstaat der EU nicht in Anspruch zu nehmen, wäre es im Kontext des zwischenstaatlichen bzw europäischen Rechts widersprüchlich, ihn bei Bezug der deutschen Rente zu seinem Nachteil doch so zu stellen, als würde er die ausländische Rente erhalten.

31

Eine Gesetzeslücke kann schließlich entgegen der Ansicht der Beklagten nicht durch eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme des in Art 44 Abs 2 Satz 2 VO (EWG) 1408/71 bzw Art 50 Abs 1 Halbs 2 VO (EG) 883/2004 eingeräumten Dispositionsrechts entstehen. Die Möglichkeit des Missbrauchs im Einzelfall kann den Regelungsgehalt einer abstrakten Rechtsnorm nicht bestimmen. Einem Missbrauch im Einzelfall ist vielmehr dadurch zu begegnen, dass geprüft wird, ob die begehrte Leistung nach dem auch im Sozialrecht anwendbaren Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB ganz oder teilweise zu versagen ist(vgl BSG SozR 4-2600 § 10 Nr 2 RdNr 26 mwN).

32

Der Beklagten ist zuzugestehen, dass bei dem hier vertretenen Verständnis zum Anwendungsbereich des § 31 Abs 1 Satz 1 FRG dem auch vom Senat betonten Grundanliegen des Fremdrentenrechts, Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung von Personen abzuwehren, denen die Realisierung ihrer in der früheren Heimat erarbeiteten Rentenanwartschaften von Deutschland aus abgeschnitten ist(Urteil vom 17.10.2006 - B 5 RJ 21/05 R - SozR 4-5050 § 15 Nr 3 RdNr 27),nicht Rechnung getragen wird, wenn unterstellt wird, dass Renten aus Rumänien mittlerweile problemlos in die Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt werden. Dies vermag das gefundene Ergebnis jedoch nicht in Frage zu stellen. Denn dieses Grundanliegen ist in § 31 Abs 1 Satz 1 FRG insbesondere vor dem Hintergrund europarechtlicher Vorschriften nicht umgesetzt worden.

33

Sonstige Rechtsgrundlagen, die eine Ruhendstellung der deutschen Rente und damit eine Minderung des monatlichen Rentenzahlbetrages rechtfertigen, bestehen ebenfalls nicht.

34

Der Anwendungsbereich des § 46 SGB I ist nicht eröffnet.

35

Nach § 46 Abs 2 SGB I ist der Verzicht auf Ansprüche auf Sozialleistungen unwirksam, soweit durch ihn andere Personen oder Leistungsträger belastet oder Rechtsvorschriften umgangen werden. Der Anspruch des Klägers auf eine rumänische Altersrente ist kein Anspruch auf eine Sozialleistung iS des § 46 SGB I. Diese Vorschrift bezieht sich auf Sozialleistungen iS von § 11 Abs 1 SGB I(BSG SozR 4-1200 § 46 Nr 1 RdNr 10), zu denen im SGB vorgesehene Dienst-, Sach- und Geldleistungen gehören. Auf Ansprüche aus Sicherungssystemen, die außerhalb dieses Gesetzbuches existieren, ist § 46 SGB I nicht anwendbar.

36

Die Kürzung des Rentenanspruchs des Klägers um eine fiktive rumänische Rente erweist sich schließlich ebenfalls nicht unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB als rechtmäßig.

37

Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung für den Bereich des Sozialrechts entschieden, dass sich auch hier die Ausübung einer an sich gegebenen Rechtsmacht als unzulässige Rechtsausübung darstellt, wenn sie nicht mehr im Rahmen der rechtsethischen und sozialen Funktion des Rechts liegt (BSG SozR 2200 § 315a Nr 7 S 18 mwN).

38

Es ist nicht erkennbar, dass der Kläger den Antrag auf Aufschiebung der Feststellung seines in Rumänien erworbenen Anspruchs auf Altersrente rechtsmissbräuchlich gestellt hat. Von einem Rechtsmissbrauch könnte nur dann gesprochen werden, wenn der Kläger von dem ihm gesetzlich eingeräumten Aufschubrecht bewusst einen ausschließlich funktionswidrigen Gebrauch gemacht hätte (BSG aaO). Dies wiederum setzt voraus, dass die Ausübung des Aufschubrechts gesetzlich bestimmten Einschränkungen unterliegt bzw das Recht nur zu bestimmten Zwecken ausgeübt werden darf. Weder Art 22 Abs 3 des Abkommens vom 8.4.2005 noch Art 44 Abs 2 VO (EWG) 1408/71 oder Art 50 Abs 1 VO (EG) 883/2004 führen die dem Aufschubrecht von der Beklagten beigemessene oder eine andere Zweckbindung auf und enthalten hierfür auch keine ausreichenden Anhaltspunkte.

39

Dass die Anrechnung einer fiktiven rumänischen Rente unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zulässig ist, wird zudem durch die fehlende Existenz einer Rechtsgrundlage für die Berechnung einer fiktiven Rente bestätigt.

40

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

2

Die am 1931 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Polen. Nach den Feststellungen des LSG hielt sie sich in der Zeit von 1940 bis 1943 im Warschauer Ghetto auf und ist Verfolgte des Nationalsozialismus. Ihren am 27.6.2003 gestellten Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1.9.2003 unter Hinweis auf die alleinige Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (Abk Polen RV/UV) ab. Eine Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten sei aber auch aufgrund der Regelung in § 1 Abs 1 S 1 letzter Halbs ZRBG ausgeschlossen, weil die betreffenden Zeiten bereits nach polnischem Recht als Versicherungszeiten anerkannt würden.

3

Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 16.1.2004, Gerichtsbescheid des SG Berlin vom 13.12.2007, Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.1.2011). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten allein aus § 35 SGB VI folgen könne; das ZRBG stelle keine eigenständige Anspruchsgrundlage dar. Unabhängig davon, ob hier die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs - insbesondere die Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto - glaubhaft gemacht seien, sei die Klägerin bereits aufgrund des Abk Polen RV/UV und des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) von Ansprüchen gegen einen deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Der Vorrang der Bestimmungen dieser Abkommen ergebe sich aus § 30 Abs 2 SGB I. Dem Abk Polen RV/UV liege das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip zugrunde; Renten der Rentenversicherung würden ausschließlich vom Versicherungsträger desjenigen Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohne (Wohnstaat), nach den dort geltenden Vorschriften gewährt (Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV). Der zuständige Träger habe dabei die im anderen Staat zurückgelegten Zeiten so zu berücksichtigen, als seien sie im eigenen Staatsgebiet zurückgelegt worden (Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV). Nach Art 27 Abs 2 S 1 und 2 Abk Polen SozSich finde das Abk Polen RV/UV weiterhin auf Personen Anwendung, die vor dem 1.1.1991 in einem Vertragsstaat aufgrund des Abkommens von 1975 Ansprüche und Anwartschaften erworben und die nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten hätten. Diese Vorschrift sei für den genannten Personenkreis gemäß Art 8 Abs 1 iVm Anhang II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (EGV 883/2004) auch nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union weiterhin gültig. Hiernach sei für die Rentenansprüche der Klägerin, die ihren Wohnsitz immer in Polen gehabt habe und dort auch weiterhin wohne, der polnische Rentenversicherungsträger ausschließlich zuständig.

4

Offen bleiben könne danach, ob aufgrund der geltend gemachten Beitragszeiten aus einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto hier überhaupt ein Rentenanspruch folge. Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit des "Leistungsexportprinzips" nach dem Abk Polen SozSich ausgehe, bestehe kein deutscher Rentenanspruch der Klägerin, da diese entgegen Art 27 Abs 1 dieses Abkommens weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt von Polen nach Deutschland verlegt noch deutsche Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt habe. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die genannten Bestimmungen des Abkommensrechts bestünden nicht (Hinweis auf BVerfGE 53, 164 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 und auf BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R). Diese führten ohnehin nicht dazu, dass die Klägerin aus ihren Ghetto-Zeiten keinerlei Rente erhalte, sondern nur dazu, dass eine Rente aus diesen Zeiten - solange sie ihren Wohnort in Polen habe - nicht von einem deutschen Versicherungsträger gezahlt und nach deutschen Rechtsvorschriften berechnet werde. Die Anerkennung dieser Zeiten obliege dem polnischen Versicherungsträger nach den dortigen Rechtsvorschriften.

5

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere die Anwendung von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich iVm Art 4 Abs 1 bis 3 und Art 2 Abs 1 Buchst a und Abs 2 Abk Polen RV/UV und der §§ 1 bis 3 ZRBG sowie die Verletzung von Art 3, 14 und 20 GG und von Art 14 EMRK. Dass das deutsch-polnische Abkommensrecht sie - die Klägerin - im Ergebnis von Rentenansprüchen nach dem ZRBG ausschließe, verstoße gegen Art 3, 14 und 20 GG sowie gegen Art 14 EMRK. Die Beklagte könne sich deshalb nicht auf diese Abkommensregelungen berufen. Die polnische Staatsangehörigkeit und der gleichzeitige Wohnsitz in Polen seien keine Unterscheidungsmerkmale, die einen Ausschluss von Rentenansprüchen nach dem ZRBG im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG rechtfertigen könnten. Sie - die Klägerin - habe das gleiche Verfolgungsschicksal erlitten wie alle anderen Verfolgten des Nationalsozialismus, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hätten und dort einer Beschäftigung nachgegangen seien. Für ihre Rentenansprüche seien daher die Grundsätze des Wiedergutmachungs- und Entschädigungsrechts maßgeblich, die der BGH und das BSG in zahlreichen Entscheidungen entwickelt hätten. Danach sei es Ziel und Zweck der Entschädigungsgesetzgebung, das verursachte Unrecht so bald und soweit als irgend möglich wiedergutzumachen; dem Prinzip der - zumindest geldlichen - Wiedergutmachung gebühre Vorrang gegenüber der Bewahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems. Eine Auslegung des Gesetzes, die möglich sei und diesem Ziel entspreche, verdiene daher den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung, die die Wiedergutmachung erschwere und zunichte mache. Zudem sei zu berücksichtigen, dass über eine Rentenzahlung aus Beitragszeiten nach § 2 ZRBG gestritten werde, die von Art 14 Abs 1 GG geschützt seien.

6

Die Klägerin beantragt,

        

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2004, des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2007 und des Urteils des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 zu verurteilen, Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus der Beschäftigung im Ghetto Warschau sowie von Verfolgungs-Ersatzzeiten zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt das angefochtene Urteil des LSG.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente.

10

Die Beklagte ist für die Feststellung einer Altersrente der Klägerin nicht zuständig; ihr Anspruch auf Altersrente richtet sich nicht nach deutschem Recht, sondern ausschließlich gegen den polnischen Versicherungsträger nach polnischem Recht (nachfolgend unter 1.). Unerheblich ist deshalb für die hier zu treffende Entscheidung, ob und in welcher Höhe die Zeiten ihrer Beschäftigung im Ghetto Warschau vom polnischen Rentenversicherungsträger berücksichtigt wurden (2.). Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den Regelungen des europäischen Rechts (3.) und bewirkt weder einen Verstoß gegen Verfassungsrecht (4.) noch gegen die EMRK (5.). Auch die Grundsätze des Wiedergutmachungsrechts erlauben keine abweichende Entscheidung (6.).

11

1. Für Rentenansprüche der in Polen wohnenden Klägerin - auf ihre Staatsangehörigkeit kommt es insoweit nicht an - ist nicht die Beklagte oder ein anderer deutscher Träger, sondern ausschließlich der polnische Rentenversicherungsträger zuständig. Als Folge davon hat die Klägerin keinen Anspruch auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung, wozu auch eine Altersrente aufgrund von Zeiten nach dem ZRBG zählt.

12

a) Als Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten kommt allein § 35 SGB VI in Betracht(BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 24, 28; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5, RdNr 12; BSG SozR 4-5075 § 1 Nr 6 RdNr 10). Die Anwendung der Vorschrift auf den Fall der Klägerin setzt jedoch voraus, dass diese auch unter den Geltungsbereich der genannten Norm fällt, dh dass sie von ihrem persönlichen Anwendungsbereich mit umfasst wird. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich bei Sachverhalten mit Auslandsbezug nach den speziellen auslandsrentenrechtlichen Kollisionsregeln in § 110 SGB VI, die gemäß § 37 S 1 und 2 SGB I Vorrang vor den allgemeinen Kollisionsvorschriften in § 30 Abs 1 und 2 SGB I haben(Seewald in Kasseler Komm, Stand April 2012, § 30 SGB I RdNr 4; Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 62, 64; Eichenhofer in Eichenhofer/Wenner, Komm zum SGB I, IV, X, 2012, § 30 SGB I RdNr 4). Danach sind Rentenleistungen auch an Berechtigte zu zahlen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben (§ 110 Abs 2 SGB VI), soweit nicht die nachfolgenden Vorschriften über Leistungen an Berechtigte im Ausland (§§ 111 bis 114 SGB VI) etwas anderes bestimmen oder soweit nicht nach über- und zwischenstaatlichem Recht etwas anderes bestimmt ist (§ 110 Abs 3 SGB VI). Der Vorrang von Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts ist in § 110 Abs 3 SGB VI in gleicher Weise wie in § 30 Abs 2 SGB I angeordnet. Einer Entscheidung der Frage, ob "bezüglich der Anspruchsentstehung" die zuletzt genannte Vorschrift vorrangig anzuwenden ist (so BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 12, dort ohne Erwähnung von § 110 SGB VI), bedarf es daher nicht.

13

b) Das geltende zwischenstaatliche Recht schreibt in Bezug auf Rentenansprüche von Personen, die - wie die Klägerin - vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, die Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 vor.

14

Die Regelungen des Abk Polen RV/UV sowie des Abk Polen SozSich sind durch Gesetze vom 12.3.1976 (BGBl II 393, zuletzt geändert durch Art 22 Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 21.6.2002, BGBl I 2167) und vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in deutsches Recht transformiert worden und gelten damit als (einfaches) Bundesrecht (vgl zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge im innerstaatlichen Recht zB Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl 2010, § 22 RdNr 2; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl 1984, §§ 859 ff).

15

Einschlägig ist hier Art 4 Abk Polen RV/UV, der wie folgt lautet:

        

"(1) Renten der Rentenversicherung werden vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt.

        

(2) Der in Absatz 1 genannte Träger berücksichtigt bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat so, als ob sie im Gebiet des ersten Staates zurückgelegt worden wären.

        

(3) Renten nach Absatz 2 stehen nur für die Zeit zu, in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat. In dieser Zeit hat ein Rentenempfänger keinen Anspruch auf Grund von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat gegenüber dem Versicherungsträger dieses Staates, soweit nicht Artikel 15 oder 16 etwas anderes bestimmt."

16

Bereits aus Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV ergibt sich, dass kein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung besteht. Die genannte Regelung schreibt das dem Abk Polen RV/UV als Kollisionsregel zugrunde liegende Eingliederungsprinzip (Integrationsprinzip) fest. Dieses schließt im Verhältnis beider Vertragsstaaten zueinander für die dem Anwendungsbereich des Abk Polen RV/UV weiterhin unterfallenden Personen aus, dass deutsche Renten nach Polen (oder umgekehrt) gezahlt werden (vgl hierzu zB die Denkschrift zum Abkommen, BT-Drucks 7/4310 S 15 f; BSGE 65, 144, 147 ff = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 22 ff; K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 516 f). Dasselbe ergibt sich auch aus der Vorschrift des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV, die zugleich abschließend regelt, dass Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip nur nach Maßgabe der Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV zulässig sind. Die dort genannten übergangsrechtlichen Ausnahmen betreffen aber lediglich - hier offenkundig nicht einschlägige - Fallgestaltungen, in denen bereits vor Inkrafttreten des Abkommens auf Grund eines bindenden Bescheids oder eines rechtskräftigen Urteils Leistungen in den anderen Staat gezahlt wurden oder ein Zahlungsanspruch bereits bei Inkrafttreten jenes Abkommens bestand.

17

Aufgrund dieser vorrangigen zwischenstaatlichen Regelungen darf ein deutscher Rentenversicherungsträger eine Rente selbst dann nicht zuerkennen und an eine im Gebiet der Republik Polen wohnende Person auszahlen, wenn ein solcher Anspruch allein auf der Grundlage des innerstaatlichen deutschen Rechts an sich bestünde (stRspr - BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3; BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 9; BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14). Zudem sind beide Vertragsstaaten gehindert, die in Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV vereinbarten Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip einseitig im Wege innerstaatlicher Gesetzgebung zu erweitern oder einzuschränken (BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3). Hierfür bedürfte es vielmehr einer Vereinbarung beider Abkommenspartner, die der Senat mit seiner Entscheidung nicht ersetzen kann.

18

c) Das ZRBG enthält keine vom Abk Polen RV/UV abweichende Zuständigkeits- oder Versicherungslastregelung. Eine solche ist insbesondere nicht § 1 Abs 4 ZRBG zu entnehmen, wonach die aufgrund des ZRBG gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen(zu den Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung dieser Vorschrift s BSG Beschluss vom 20.12.2007 - B 4 R 85/06 R - Juris RdNr 94, 149 ff). Auch ansonsten bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber des ZRBG eine im Widerspruch zum Abk Polen RV/UV stehende Rechtslage schaffen wollte. Zwar sollte es nicht darauf ankommen, in welchem Staat sich der Berechtigte aufhält. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch, dass dies in Übereinstimmung mit dem geltenden Auslandsrentenrecht nicht für diejenigen Fälle gelten sollte, in denen Abkommensregelungen anstelle des Rentenexports die Eingliederung der Beitragszeiten in das System des Wohnsitzstaates vorsehen (so ausdrücklich die Begründung im Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, BT-Drucks 14/8583 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2; ebenso Gesetzentwurf der Fraktion der PDS, BT-Drucks 14/8602 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2). Das bezieht sich insbesondere auf die noch nach dem Abk Polen RV/UV zu behandelnden Fälle (vgl hierzu auch BT-Drucks 16/5720 S 5), zumal diese die einzig ins Gewicht fallende Ausnahme von dem in deutschen Sozialversicherungsabkommen ansonsten grundsätzlich vereinbarten Leistungsexportprinzip darstellen (Leder, BArbBl 6/1989 S 24, 26; weitere Ausnahmen enthalten die - durch § 1 Abs 3 ZRBG modifizierten - "Weniger-als-Regelungen" zB in Art 17 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich bzw in Art 20 Abs 2 Abk Israel SozSich; ebenso Art 57 Abs 1 und 2 EGV 883/2004).

19

d) Der Sperrwirkung des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV für Rentenzahlungen von Deutschland nach Polen (oder umgekehrt) steht nicht entgegen, dass die Klägerin im Ghetto Warschau, also in Polen, beschäftigt war.

20

Das Abk Polen RV/UV enthält - im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungsabkommen (zB Art 3 Abk Polen SozSich; Art 3 Abk Israel SozSich) - keine eigenständigen Regelungen zur Bestimmung seines persönlichen Geltungsbereichs. Die Denkschrift zum Abkommen führt hierzu aus, das Abkommen erfasse alle im Inland wohnenden Personen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, die zu irgendeinem Zeitpunkt Versicherungszeiten im anderen Staat zurückgelegt hätten (BT-Drucks 7/4310 S 15 - zu Art 2). Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch für die von der Klägerin im Ghetto Warschau zurückgelegten Zeiten der polnische Rentenversicherungsträger zuständig ist. Denn entweder sind diese Zeiten iS von Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV Versicherungszeiten "im anderen Staat" (im Fall der Klägerin also in Deutschland - s hierzu auch § 2 Abs 1 Nr 2 ZRBG, wonach die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto fiktiv für Zwecke der Erbringung von Leistungen in das Ausland als Beschäftigung im Bundesgebiet gelten); dann wäre das Abk jedenfalls auf sie anwendbar und nach dem Eingliederungsprinzip ein Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Oder diese Zeiten sind - was aus der Perspektive des im Jahr 1975 geschlossenen Abkommens näher liegt - Zeiten des Wohnsitzstaates (vgl BSGE 65, 144, 146 = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 21, wonach das Abk Polen RV/UV auf die völkerrechtlich-historische Zugehörigkeit des jeweiligen Gebiets während der Zurücklegung der betreffenden Zeit abstellt), also hier Zeiten in Polen; dann gälte für sie erst recht die Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers, weil es unter diesen Voraussetzungen an einer Konstellation mit Auslandsbezug von vornherein fehlte.

21

Auch der Bestimmung des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV kann nicht entnommen werden, dass der Versicherungsträger des anderen Staates (hier also Deutschland) für die Gewährung von Renten aufgrund von Zeiten zuständig bleiben soll, die der Betreffende außerhalb seines Staatsgebiets (zB im Wohnsitzstaat, im Fall der Klägerin also in Polen) zurückgelegt hat. Vielmehr richtet sich diese Vorschrift lediglich an den Träger des Wohnsitzstaates (hier: Polen) und weist diesen an, Zeiten auch zu berücksichtigen, wenn sie nicht im Wohnsitzstaat (Polen), sondern im anderen Staat (Deutschland) zurückgelegt wurden.

22

e) Schließlich ist unerheblich, dass das deutsche Recht erst im Jahr 2002 durch Verkündung des rückwirkend zum 1.7.1997 in Kraft getretenen ZRBG die Zahlung von Regelaltersrenten ausschließlich auf der Grundlage von Beitragszeiten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vereinfacht und damit vielfach überhaupt erst ermöglicht hat.

23

Wie bereits dargelegt, ist nach dem Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 das deutsche Recht für Rentenansprüche der Klägerin nicht maßgeblich, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält. Das gilt auch für die erst im Jahr 2002 geschaffenen Regelungen des ZRBG. Denn Art 2 Abs 2 Abk Polen RV/UV bestimmt ausdrücklich, dass das Abkommen (auch) "auf alle Änderungen der Regelungen in den in Absatz 1 genannten Zweigen" (also auch der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung) Anwendung findet, sich also an der (polnischen) Zuständigkeit und Versicherungslast auch dann nichts ändert, wenn ein neues (deutsches) Gesetz weitere Leistungen der (deutschen) gesetzlichen Rentenversicherung einführt oder die Zugangsvoraussetzungen zu bestehenden Leistungen erleichtert, wie dies durch das ZRBG geschehen ist.

24

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass für Leistungen aufgrund des im Jahr 2002 geschaffenen ZRBG die Übergangsvorschrift in Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich und damit das Leistungsexportprinzip maßgeblich sei. Ungeachtet des Umstands, dass dieser Abkommensbestandteil seit dem Wirksamwerden des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union nicht mehr anwendbar ist (Art 6, 7 iVm Anhang III Abschn A Nr 84 Buchst b EWGV 1408/71 bzw Art 8 Abs 1 iVm Anhang II Abschn Deutschland - Polen Buchst b EGV 883/2004), kam es nach Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich nicht darauf an, wann ein Rentenanspruch im Recht des anderen Staates gesetzlich geregelt wurde; maßgeblich war vielmehr, ob die Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt wurden. Die Klägerin macht jedoch Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto in den Jahren 1940 bis 1943 und damit vor dem genannten Stichtag geltend. Auch das ZRBG fingiert - unabhängig von seiner Anwendbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt - keine Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990, sondern eine Beitragszahlung für davor zurückgelegte Zeiten einer Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto (§ 2) und entbindet - in Ergänzung der rentenrechtlichen Vorschriften und der Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (§ 1 Abs 2) - von sonstigen Voraussetzungen, die der Zahlung einer Rente aufgrund dieser Versicherungszeiten nach deutschem Recht entgegenstehen.

25

2. Da hiernach mit dem ZRBG auch dessen § 1 Abs 1 S 1 letzter Teils (wonach der Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten nach dem ZRBG voraussetzt, dass für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird) auf den Fall der Klägerin nicht anwendbar ist, hat es für die Entscheidung keine Bedeutung, ob und in welchem Umfang der polnische Rentenversicherungsträger die von ihr geltend gemachten Zeiten tatsächlich berücksichtigt hat. Für die Beurteilung der Frage, welche rentenrechtlichen Zeiten bei der Bemessung der Altersrente der Klägerin einzubeziehen sind, insbesondere ob es sich bei ihren Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto von 1940 bis 1943 um berücksichtigungsfähige Zeiten iS des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV handelt, ist allein das polnische Recht maßgeblich und ausschließlich der polnische Versicherungsträger zuständig.

26

3. Diese Rechtslage, wie sie sich aus dem zwischen Deutschland und Polen vereinbarten zwischenstaatlichen Recht ergibt, steht in Einklang mit den Bestimmungen des europäischen Rechts (zu dessen Anwendungsvorrang vgl BVerfGE 123, 267, 402; 126, 286, 301 f). Das gilt sowohl in Bezug auf das derzeit geltende Sekundärrecht (dazu unter a), das seinerseits in Übereinstimmung mit den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Primärrecht) steht (b), als auch im Hinblick auf die jeweiligen Vorgängerregelungen (c). Einer vorherigen Anrufung des EuGH bedarf es für diese Entscheidung nicht (d).

27

a) Nach den derzeit geltenden europarechtlichen Vorschriften ist für den Personenkreis, zu dem die Klägerin gehört, das Abk Polen RV/UV und somit auch das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip gemäß dessen Art 4 Abs 1 weiterhin maßgeblich.

28

Allerdings sieht Art 8 Abs 1 S 1 der EGV 883/2004 (vom 29.4.2004, ABl Nr L 166 vom 30.4.2004, wirksam ab 1.5.2010; zuletzt geändert durch die EUV 465/2012 vom 22.5.2012, ABl Nr L 149 vom 8.6.2012) grundsätzlich vor, dass diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt. Soweit dies der Fall ist, sind mithin die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen RV/UV und das Abk Polen SozSich - nicht mehr anwendbar. Sie werden abgelöst durch die koordinierungsrechtlichen Vorschriften der EGV 883/2004, die im Grundsatz eine Verpflichtung zum Leistungsexport von Geldleistungen vorsehen (vgl dazu die Erwägung Nr 16 in der Präambel zu dieser Verordnung; s auch Devetzi, ZESAR 2009, 63 f). Hierzu bestimmt Art 7 EGV 883/2004 unter der amtlichen Überschrift "Aufhebung der Wohnortklauseln", dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat; dies gilt jedoch nur, "soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist".

29

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob im Fall der Klägerin der Geltungsbereich der EGV 883/2004 eröffnet ist (vgl Erwägung Nr 13 in der Präambel: "Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen"; s auch Fuchs in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Komm zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, Sammelkommentierung zur EGV 883/2004 RdNr 7). Ebenso muss nicht abschließend entschieden werden, ob die kollisionsrechtliche Bestimmung des zuständigen Rentenversicherungsträgers und des anwendbaren nationalen Rechts in Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV eine "Wohnortklausel" iS des Art 7 EGV 883/2004 enthält. Denn selbst wenn beides der Fall wäre, müsste nach den einleitenden Worten des Art 7 EGV 883/2004 hier vorrangig eine "andere Bestimmung" der Verordnung angewandt werden. Dies ergibt sich aus Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004.

30

Art 8 Abs 1 S 1 bis 3 EGV 883/2004 lauten:

        

"1Im Rahmen ihres Geltungsbereichs tritt diese Verordnung an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit. 2Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit , die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, gelten jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. 3Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II aufgeführt sein."

31

In Anhang II (eingefügt durch Art 1 Nr 20 iVm Anhang Buchst B EGV 988/2009 vom 16.9.2009, ABl Nr L 284, 43) ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt Deutschland - Polen unter Buchst a das

        

"Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)"

aufgeführt.

32

Damit liegt jedenfalls die von Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004 geforderte formelle Voraussetzung vor. Die Aufnahme in Anhang II ist für eine Fortgeltung von zwischenstaatlichen Abkommensregelungen allein aber noch nicht ausreichend. Hier sind jedoch auch die in Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 benannten materiellen Kriterien erfüllt:

33

(1) Die von der Klägerin auf der Grundlage von § 35 SGB VI iVm den Vorschriften des ZRBG beanspruchte Altersrente unterfällt an sich dem Geltungsbereich der europarechtlichen Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Personen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zum Bezug von Altersrente berechtigt sind, unterliegen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit den Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts der Arbeitnehmer, auch wenn sie keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben (EuGH vom 18.12.2007 - C-396/05 ua - , Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 57 mwN). Nach ihrer Zweckbestimmung handelt es sich bei einer solchen Rente um "Leistungen bei Alter" aus einem "Zweig der sozialen Sicherheit" bzw aus einem "System der sozialen Sicherheit" iS von Art 3 Abs 1 Buchst d, Abs 2 EGV 883/2004. Die Bestimmung in § 1 Abs 4 ZRBG, wonach die aufgrund dieses Gesetzes gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen, vermag an dieser unionsrechtlichen Einordnung nichts zu ändern(vgl EuGH vom 21.7.2011 - C-503/09 - , ZESAR 2012, 83 RdNr 35). Im Übrigen enthält auch die Erklärung der Bundesregierung nach Art 9 EGV 883/2004 zu den von Art 3 dieser Verordnung erfassten Rechtsvorschriften, Systemen und Regelungen des deutschen Rechts (abgedruckt zB bei Hauschild in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, Art 9 EGV 883/2004 RdNr 10) keine Einschränkungen oder Vorbehalte hinsichtlich der Renten nach dem SGB VI, die (auch) auf nach dem ZRBG anerkannten Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto beruhen.

34

(2) Betroffen sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit", auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk, das bereits vor dem Beitritt Polens zur EU und damit vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der koordinierungsrechtlichen Vorschriften des Europarechts im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen abgeschlossen wurde, stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV.

35

(3) Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen Rentenversicherung nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004 (so wie das insbesondere bei den nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall ist), hat das LSG nicht festgestellt. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative von Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen, die bereits vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Deutschland oder Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, beruht jedenfalls auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des 2. Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (s hierzu im Einzelnen nachfolgend unter 4. a).

36

(4) Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist dadurch "zeitlich begrenzt", dass dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur noch so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnsitz in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (vgl Schuler, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 , ZESAR 2009, 40, 44).

37

b) Die im Sekundärrecht (Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 AEUV) vereinbar (zu diesem Prüfungsschritt EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - , Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; s auch Devetzi, SDSRV Bd 59 <2010> S 117, 136).

38

Einschlägig ist insoweit allenfalls der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ), der jedem Unionsbürger das Recht verleiht, "sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten" (Art 21 Abs 1 AEUV).

39

Es bedarf auch in diesem Zusammenhang keiner abschließenden Festlegung, ob der Anwendungsbereich dieser Vertragsbestimmung bei dem Personenkreis überhaupt eröffnet ist, der von der Weitergeltung des Abk Polen RV/UV erfasst wird. Diesen Personen ist gemeinsam, dass sie ihren bereits vor dem 1.1.1991 begründeten Wohnsitz in Deutschland oder Polen weiterhin beibehalten, mithin davon, dass sie von der Freiheit, sich als Unionsbürger in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, gerade noch keinen Gebrauch gemacht haben. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Sachverhalte angewandt werden, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (EuGH vom 15.11.2011 - C-256/11 - , NVwZ 2012, 97 RdNr 60 ff mwN).

40

Doch selbst wenn ein solches Element bzw ein hinreichender Bezug zum Gemeinschaftsrecht (grenzüberschreitender Sachverhalt) hier darin gesehen würde, dass das deutsche Rentenrecht die Zahlung von ZRBG-Renten aufgrund einer Beschäftigung im (Warschauer) Ghetto an Betroffene mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten als Polen grundsätzlich vorsieht, wäre die in Art 8 iVm Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) EGV 883/2004 angeordnete Weitergeltung des Abk Polen RV/UV für die dort genannte Personengruppe gleichwohl gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigung setzt nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH voraus, dass mit der betreffenden Regelung ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, sie geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (EuGH vom 1.4.2008 - C-212/06 - , Slg 2008, I-1683 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 3, RdNr 55; EuGH vom 21.7.2011 - C 503/09 - , ZESAR 2012, 83 RdNr 87 - jeweils mwN; s allgemein auch Art 52 Abs 1 GR-Charta). Dies ist hier der Fall (s nachfolgend unter 4. a). Insbesondere hat der EuGH bereits anerkannt, dass der Wille, den außerhalb des betreffenden Staates wohnenden Begünstigten eine angemessene Leistung unter Berücksichtigung des Niveaus der Lebenshaltungskosten und der im Wohnsitzstaat gezahlten Sozialleistungen zu gewähren, als objektive Erwägung des Allgemeininteresses eine Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen kann (EuGH vom 4.12.2008 - C-221/07 - , Slg 2008, I-9029 RdNr 38 f). Entsprechende Erwägungen liegen auch der Anordnung der Weitergeltung des Eingliederungsprinzips gemäß Art 4 Abk Polen RV/UV für Personen, solange diese ihren Wohnsitz über den 1.1.1991 hinaus in Deutschland oder Polen beibehalten, zugrunde (dazu im Einzelnen unter 4. a).

41

c) Die vorstehenden europarechtlichen Bewertungen auf der Grundlage der ab 1.5.2010 anwendbaren EGV 883/2004 können in gleicher Weise auf den für den Zeitraum davor noch maßgeblichen Rechtszustand (vgl Art 87 Abs 1 EGV 883/2004; s hierzu auch Bokeloh, ZESAR 2011, 18, 21) übertragen werden. Art 7 und 8 EGV 883/2004 haben die im wesentlichen inhaltsgleichen Art 6 und 10 Abs 1 EWGV 1408/71 abgelöst. Die Regelung in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 stimmt mit derjenigen in Anhang III Teil A Ziff 84 Buchst a EWGV 1408/71 (idF des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003 - Abschn B Anh II Nr 2 "Freizügigkeit" Abschn A "Soziale Sicherheit" Nr 1 Buchst h xxv, s EU-Beitrittsvertragsgesetz vom 18.9.2003, BGBl II 1408 iVm Anlageband 1 S 158) überein.

42

Auch im Primärrecht war der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 21 Abs 1 AEUV) bereits in den vorangegangenen Vertragswerken inhaltsgleich geregelt (Art 8a EG , Art 18 EG ).

43

d) Der Senat kann diese Entscheidung treffen, ohne zuvor gemäß Art 267 Abs 3 AEUV den EuGH anzurufen. Die hierfür bedeutsamen Fragen zur Auslegung der Verträge und des Sekundärrechts sind in der Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Auf dieser Grundlage hat der Senat, wie oben erläutert, keine Zweifel daran, dass die in Anhang II der EGV 883/2004 geregelte Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für den dort bezeichneten Personenkreis mit Europarecht vereinbar ist (vgl EuGH vom 6.10.1982 - C-283/81 - , Slg 1982, 3415 RdNr 14; s auch BVerfGE 126, 286, 315 ff; 129, 78, 105 ff).

44

4. Der Ausschluss der Klägerin vom Export einer auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Beschränkung auf Leistungen des polnischen Versicherungsträgers, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält, verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht.

45

a) Art 3 Abs 1 GG ist nicht verletzt.

46

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, die einem anderen Personenkreis ohne einen rechtfertigenden Grund vorenthalten bleibt (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 53; stRspr).

47

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich dabei nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers ist anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft; sie ist darüber hinaus umso strenger, je mehr sich die zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art 3 Abs 3 GG genannten Merkmalen annähern und je größer die Gefahr ist, dass die Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt (BVerfG vom 19.6.2012, aaO RdNr 57). Bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung insbesondere auch davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 45 mwN). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers geht dann besonders weit, wenn er Lebenssachverhalte verschieden behandelt und die Betroffenen sich durch eigenes Verhalten auf die unterschiedliche Regelung einstellen können; die Grenze bildet dann allein das Willkürverbot (BVerfGE 97, 271, 291 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 11).

48

Art 3 Abs 1 GG untersagt mithin die abweichende Behandlung einer Gruppe von Normadressaten, wenn im Vergleich zu anderen Normadressaten keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (BVerfGE 102, 41, 54 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 18; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 56, stRspr). Dabei hat das BVerfG dem Gesetzgeber für sozialrechtliche Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs stehen, im Hinblick auf die sozialen Aufgaben, vor denen die Bundesrepublik gestanden hat und die nach Art und Ausmaß ohne Parallelen waren, regelmäßig einen über die genannten Grundsätze hinausgehenden, sehr weiten Gestaltungsspielraum zugestanden (BVerfGE 53, 164, 177 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 12; BVerfGE 95, 143, 155; BVerfGK 6, 171, 174 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 12).

49

Die Klägerin wird durch die zunächst in Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich und sodann im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 angeordnete Fortgeltung der Regelungen des Abk Polen RV/UV für die bereits vor dem 1.1.1991 in Polen wohnenden und weiterhin dort ansässigen Personen anders behandelt als diejenigen Personen, die ebenfalls im Warschauer Ghetto beschäftigt waren und nunmehr außerhalb Polens leben. Denn sie hat für die Dauer ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Polen aufgrund des für sie fortgeltenden Eingliederungsprinzips ausschließlich einen Anspruch auf Rente gegen den polnischen Rentenversicherungsträger nach den Vorschriften des polnischen Rentenrechts, während ihr die Zahlung einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG, wie sie Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz außerhalb Polens auf der Grundlage des Leistungsexportprinzips erhalten können, versagt bleibt.

50

Auch wenn dies zum Nachteil der Klägerin Auswirkungen auf die Höhe ihrer gesamten Rentenansprüche haben dürfte, ist diese unterschiedliche Behandlung jedoch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Denn durch das Abk Polen RV/UV sollte den in Polen lebenden, vormals nach reichsgesetzlichen Vorschriften Versicherten erstmals ein vertraglich abgesicherter Rechtsanspruch auf die Einbeziehung in das polnische Sozialversicherungssystem und zudem das Recht auf Anrechnung ihrer im Bereich des Deutschen Reichs zurückgelegten Versicherungsjahre verschafft werden, wenn auch im Rahmen des polnischen Systems (vgl hierzu im Einzelnen BVerfGE 53, 164, 180 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 14 mwN). Ziel der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips im Abk Polen RV/UV war es außerdem, angesichts der Unterschiede in den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen, aber auch der Sozialversicherungssysteme in den beiden Ländern soziale Spannungen zu vermeiden und ein gerechteres Ergebnis zu erzielen, als dies ein Export von Rentenleistungen hätte gewährleisten können. Die an der Verhandlung des Abkommens beteiligten Delegationen konnten davon ausgehen, dass einerseits aus Polen exportierte Renten in aller Regel nicht für einen angemessenen Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland ausreichen würden und andererseits nach Polen gezahlte deutsche Renten nicht selten höher ausfallen würden als die dortigen Arbeitnehmereinkommen. Im Hinblick darauf hatte die polnische Delegation im Laufe der Vertragsverhandlungen deutlich gemacht, eine unter diesem Gesichtspunkt unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Polen auf polnischem Staatsgebiet nicht zuzulassen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 17 f - unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Staatssekretärs Eicher in der 425. Sitzung des BR vom 7.11.1975, Prot S 331 f, und vor dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung des BT, KurzProt der 90. Sitzung des Ausschusses vom 3.12.1975, S 25 f, sowie die Rede des Abgeordneten Sund in der 202. Sitzung des BT vom 26.11.1975, PlenarProt S 13984 ff; vgl ferner Haase, BArbBl 1976, 211, 213; Baumgarten, DRV 1986, 475, 479 ff; aus polnischer Sicht K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 517).

51

Diese Rechtslage sollte nach dem übereinstimmenden Willen Deutschlands und Polens aus denselben Gründen auch nach Einführung des Leistungsexportprinzips jedenfalls für diejenigen Personen fortgelten, die bereits vor dem Stichtag 1.1.1991 in einem der beiden Länder wohnten, solange sie dort ansässig bleiben und damit dem Einkommens- und Preisniveau dieses Landes unterliegen (Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich, s hierzu auch die Denkschrift zu diesem Abk, BT-Drucks 12/470 S 23 f, die Aspekte des Vertrauensschutzes und des Bestandsschutzes betont; ebenso Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 12/445; hingegen waren für die polnische Seite andernfalls dort eintretende erhebliche finanzielle Belastungen ausschlaggebend, s hierzu K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 519). Anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union haben beide Staaten sodann einvernehmlich erneut dafür Sorge getragen, dass dieser Rechtszustand für den Personenkreis der nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Bürger ("Bestandsfälle") fortgeführt wird (K. Reiter, aaO S 526). Hierzu haben sie im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 eine Ergänzung des Anhangs III Teil A der EWGV 1408/71 veranlasst und später erreicht, dass diese Regelung auch in den Anhang II der EGV 883/2004 übernommen wird. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Regelungen im Gesetz zu dem Abk Polen SozSich (vom 18.6.1991 - BGBl II 741) und im EU-Beitrittsvertragsgesetz (vom 18.9.2003 - BGBl II 1408) zugestimmt.

52

Hierdurch hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden - in außenpolitischen Angelegenheiten besonders weiten - Gestaltungsspielraum nicht verletzt (BVerfGE 53, 164, 182; 95, 143, 159; BVerfGK 6, 171, 176 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 19 f). Insbesondere knüpft die übergangsweise Fortgeltung des Eingliederungsprinzips für die "Bestandsfälle" nicht an Persönlichkeitsmerkmale an, sondern differenziert nach unterschiedlichen Sachverhalten (Wohnort) und ist zugleich verhaltensbezogen ausgestaltet (s oben unter 3. a) (4)). Daher ist es im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz auch verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Abschluss des Abk Polen RV/UV darauf verzichtet hat, in Zukunft einseitig durch eine Änderung des deutschen Rentenrechts Verbesserungen der rentenrechtlichen Situation von in Polen wohnenden Versicherten vorzunehmen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 15). Ebenso wenig kann beanstandet werden, dass Deutschland anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur EU - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die ansonsten erheblichen finanziellen Belastungen des beitretenden Landes - davon abgesehen hat, die Einführung des Leistungsexportprinzips auch für die "Bestandsfälle" anzustreben.

53

Eine Verpflichtung zur späteren Überprüfung und ggf Änderung einer unter dem Gesichtspunkt der Kriegsfolgenbeseitigung getroffenen, verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelung im Hinblick auf eine inzwischen veränderte Situation hat das BVerfG nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht gezogen (BVerfGE 53, 164, 180 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 13 f; BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 16). Ein solch außergewöhnlicher Fall liegt nicht etwa aufgrund dessen vor, dass der polnische Rentenversicherungsträger nach dem Abk Polen RV/UV für die weiterhin in Polen wohnenden Personen auch hinsichtlich von Versicherungszeiten aufgrund der Beschäftigung in einem Ghetto zuständig ist (zur Ablehnung einer entsprechenden Änderung des ZRBG durch den Deutschen Bundestag s BT-Drucks 16/10334 sowie PlenarProt 16/200 S 21613 ). Dies gilt umso mehr, als Zeiten des Aufenthalts in einem Ghetto nach polnischem Recht bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind und die Betroffenen daher nicht ohne rentenrechtliche Ansprüche für diese Zeiten bleiben (vgl Poletzky/Pflaum, MittLVA Berlin 2003, 179, 242 f zur Beurteilung von Zeiten als Zivil- oder Zwangsarbeiter in einem Ghetto nach polnischem Recht ). Zudem hat die Bundesrepublik Deutschland bei Abschluss des Abk Polen RV/UV die damals - unter anderen Rahmenbedingungen - angenommene finanzielle Mehrbelastung des polnischen Staates aufgrund der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips mit einer Ausgleichszahlung in Höhe von 1,3 Mrd DM abgegolten (Art 1 Abs 1 der Vereinbarung vom 9.10.1975, BGBl II 1976, 401).

54

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die weiterhin in Polen ansässigen Ghetto-Beschäftigten nicht gänzlich von Leistungen aus Deutschland für diese Tätigkeit ausgeschlossen sind. Nach der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (idF der Bekanntmachung vom 20.12.2011, BAnz 4608) können Verfolgte iS von § 1 BEG, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag, und während dieser Zeit ohne Zwang in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis gearbeitet haben, eine einmalige Leistung von 2000 Euro erhalten, sofern sie für diese Arbeit keine Leistung aus den Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten haben oder hätten erhalten können. Mit der erwähnten Fassung der Richtlinie ist auf den zuvor festgelegten Schlusstermin (31.12.2011) und den vormaligen Ausschluss von Leistungen im Falle einer bereits erfolgten sozialversicherungsrechtlichen Berücksichtigung der Ghetto-Zeit (§ 1 Abs 1 S 1 Nr 1 der Richtlinie idF vom 1.10.2007, BAnz 7693) verzichtet worden, sodass auch die Klägerin noch Gelegenheit hat, einen entsprechenden Antrag zu stellen, falls dies bislang nicht geschehen ist.

55

b) Das Eigentumsgrundrecht aus Art 14 Abs 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Zwar schützt diese Verfassungsnorm auch sozialversicherungsrechtliche Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, die im Geltungsbereich des GG erworben worden sind (BVerfG Beschluss vom 8.5.2012 - 1 BvR 1065/03 ua - Juris RdNr 41 mwN). Jedoch reicht ihr Schutz nur so weit, wie Ansprüche bereits bestehen, verschafft diese aber selbst nicht (BVerfG aaO). Deshalb kann die Entscheidung des Gesetzgebers des ZRBG, für Ghetto-Beschäftigungszeiten die Zahlbarmachung von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu erleichtern und in diesem Zusammenhang die bestehenden auslandsrentenrechtlichen Vorschriften zugrunde zu legen, also für Personen mit beibehaltenem Wohnort in Polen gemäß § 110 Abs 3 SGB VI iVm Art 8 Abs 1 S 2 und Anhang II EGV 883/2004 und Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV keine Ansprüche gegen die deutsche gesetzliche Rentenversicherung zu begründen, nicht an Art 14 Abs 1 GG gemessen werden(s auch BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 18). Die Entziehung bereits bestehender Rentenansprüche hat das ZRBG nicht angeordnet.

56

c) Anhaltspunkte für eine Verletzung des Art 20 GG sind weder von der Klägerin konkret benannt noch sonst ersichtlich.

57

5. Auch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art 14 EMRK liegt nicht vor (zu Rang und Reichweite der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung s BVerfGE 128, 326, 367 ff). Denn Art 14 EMRK stellt - unabhängig davon, ob die Vorschrift auf im nationalen Recht nicht begründete Rentenansprüche anwendbar ist (vgl hierzu Senatsurteil vom 20.7.2011 - B 13 R 41/10 R - Juris RdNr 36; EGMR vom 25.9.2007 - 12923/03 - SozR 4-6021 Art 1 Nr 1 RdNr 126 ff, 138 f; vom 25.10.2005 - 59140/00 - NVwZ 2006, 917 RdNr 30 f = Juris RdNr 67 f; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl 2011, Art 14 RdNr 5 ff und Zusatzprotokoll zur EMRK Art 1 RdNr 14 f, jeweils mwN) jedenfalls an die Ausgestaltung über- oder zwischenstaatlicher Verträge zur Koordinierung von Bestimmungen der sozialen Sicherheit im Hinblick auf die Anknüpfung an den Wohnort der Betroffenen im jeweiligen Vertragsstaat keine höheren Anforderungen als Art 3 GG. Nach Art 14 EMRK ist der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Das schließt zwar eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit aus, sofern es dafür nicht besonders gewichtige Rechtfertigungsgründe gibt (EGMR vom 16.9.1996 - 39/1995/545/631 - JZ 1997, 405 RdNr 42; EGMR vom 28.10.2010 - 40080/07 - NVwZ-RR 2011, 727 RdNr 35). Die genannte Vorschrift steht jedoch der hier maßgeblichen Anknüpfung an den Wohnsitz zur Bestimmung der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers und des maßgeblichen nationalen Rechts nicht entgegen (vgl EGMR vom 9.3.2010 - 51625/08 - FamRZ 2011, 1037, 1038 - Juris RdNr 54; s auch Eichenhofer, Anmerkung zum Urteil des EGMR vom 30.9.2003 - 40892/98 - ZESAR 2004, 143, 144).

58

6. Zugunsten der Klägerin wirkt sich schließlich nicht der von ihr angeführte, vom BGH zum Entschädigungsrecht entwickelte Grundsatz aus, dass eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und dem Ziel entspricht, das zugefügte Unrecht so bald und so weit wie irgend möglich wiedergutzumachen, den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung verdient, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht (stRspr, zB BGH vom 22.11.1954 - IV ZR 107/54 - RzW 1955, 55, 57; aus neuerer Zeit BGH vom 22.2.2001 - IX ZR 113/00 - LM BEG 1956 § 35 Nr 37 unter II 2 c der Gründe; BGH vom 1.12.1994 - IX ZR 63/94 - LM BEG 1956 § 35 Nr 34 unter II 2 der Gründe). Zwar ist hiervon bei der Auslegung einschlägiger Vorschriften auch das BSG ausgegangen (zB BSG vom 28.2.1984 - SozR 5070 § 9 Nr 7 S 14; BSG vom 25.8.1982 - SozR 5070 § 10 Nr 20 S 46; BSG vom 12.10.1979 - SozR 5070 § 10a Nr 2 S 3; BSG vom 26.10.1976 - SozR 5070 § 9 Nr 1 S 3; s bereits BSG vom 26.6.1959 - BSGE 10, 113, 116). Die von der Klägerin erstrebte Rechtsanwendung ist jedoch, wie erläutert, bereits im Hinblick auf die völkerrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich.

59

Damit lässt sich auch kein anderes Ergebnis aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I ableiten, wonach bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

60

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Sind die Beiträge auf Grund einer abhängigen Beschäftigung oder einer selbständigen Tätigkeit entrichtet, so steht die ihnen zugrunde liegende Beschäftigung oder Tätigkeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Geltungsbereich dieses Gesetzes gleich. Für Personen, die zum Personenkreis des § 1 Buchstabe b gehören, werden rentenrechtliche Zeiten bis zum 8. Mai 1945 berücksichtigt.

(2) Als gesetzliche Rentenversicherung im Sinne des Absatzes 1 ist jedes System der sozialen Sicherheit anzusehen, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind, um sie und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch die Gewährung regelmäßig wiederkehrender Geldleistungen (Renten) zu sichern. Wird durch die Zugehörigkeit zu einer Einrichtung dem Erfordernis, einem der in Satz 1 genannten Systeme anzugehören, Genüge geleistet, so ist auch die betreffende Einrichtung als gesetzliche Rentenversicherung anzusehen, und zwar auch für Zeiten bis zum 31. Dezember 1890 zurück, in denen es ein System der in Satz 1 genannten Art noch nicht gegeben hat. Als gesetzliche Rentenversicherung gelten nicht Systeme, die vorwiegend zur Sicherung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst geschaffen sind.

(3) Zeiten einer Beschäftigung, die bei ihrer Zurücklegung nach dem zu dieser Zeit geltenden Recht als Beitragszeiten im Sinne des Absatzes 1 anrechnungsfähig waren und für die an einen Träger eines Systems der sozialen Sicherheit Beiträge nicht entrichtet worden sind, stehen den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich, soweit für sie nach Bundesrecht Beiträge zu zahlen gewesen wären. Als Beitragszeiten gelten die Zeiten, in denen der Versicherte nach dem 8. Mai 1945 im Herkunftsgebiet den gesetzlichen Grundwehrdienst geleistet hat. Als Beitragszeiten gelten nicht Zeiten,

a)
die ohne Beitragsleistung rückwirkend in ein System der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen worden sind,
b)
die außerhalb der Herkunftsgebiete ohne Beitragsleistung an den Träger im Herkunftsgebiet oder in einem System nach Absatz 2 Satz 3 zurückgelegt worden sind,
c)
für die Entgeltpunkte nicht ermittelt werden,
d)
die von Zeit- oder Berufssoldaten oder vergleichbaren Personen zurückgelegt worden sind.

(1) § 15 Abs. 1 Satz 3 des Fremdrentengesetzes ist nicht anzuwenden, wenn hierdurch eine besondere Härte vermieden wird. Mögliche Leistungen eines fremden Trägers stehen den bereits anerkannten Ansprüchen für Berechtigte nach § 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes nicht entgegen, solange sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. § 31 des Fremdrentengesetzes bleibt unberührt.

(1a) § 2 Satz 1 Buchstabe b des Fremdrentengesetzes gilt nicht für Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die in Estland, Lettland oder Litauen zurückgelegt wurden, wenn der Berechtigte bereits vor dem 1. Mai 2004 Ansprüche oder Anwartschaften nach dem Fremdrentengesetz erworben hat.

(2) Besteht vor dem 1. Juli 1990 ein Anspruch auf Zahlung einer Rente, ist das Fremdrentengesetz in seiner bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung weiter anzuwenden. Für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs gilt Absatz 3 Satz 1 und 2 entsprechend, wenn die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(3) Hat der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen, ohne in ein Herkunftsgebiet zurückgekehrt zu sein, und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1996, frühestens jedoch vom 1. Juli 1990 an, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß § 5 anstelle von § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes gilt. Dies gilt auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente erstmals für einen Zeitraum nach dem 31. Dezember 1995, ist das Fremdrentengesetz uneingeschränkt anzuwenden.

(3a) Für Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund einer neuen Rentenfeststellung nach dem 31. Dezember 1996 können Beschäftigungszeiten nach § 16 des Fremdrentengesetzes angerechnet werden, wenn sie nach Vollendung des 16. Lebensjahres zurückgelegt wurden und die Rentenbezugszeiten unmittelbar aneinander anschließen.

(4) Hat der Berechtigte nach dem 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen und besteht ein Anspruch auf Zahlung einer Rente für einen Zeitraum vor dem 1. Januar 1992, ist das Fremdrentengesetz mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Zahlbetrag der Rente, der sich nach § 22 Abs. 1 des Fremdrentengesetzes für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 ergibt, begrenzt wird auf den Betrag, der sich auf der Grundlage einer Berechnung der Rente nach § 5 ergeben würde. Der so ermittelte Rentenbetrag wird auch für Zeiten eines weiteren Rentenbezugs zugrunde gelegt, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen.

(4a) Ist eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen und sind dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln, sind die Vorschriften des Fremdrentengesetzes maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, soweit § 317 Abs. 2a des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch nichts anderes bestimmt.

(5) § 22 Abs. 3 des Fremdrentengesetzes in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung und § 22 Abs. 4 des Fremdrentengesetzes in der ab 1. Januar 1992 sowie in der vom 7. Mai 1996 an geltenden Fassung finden keine Anwendung auf Berechtigte, die nach Maßgabe des Abkommens vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit Ansprüche und Anwartschaften auf der Grundlage des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung haben.

(6) Bei Berechtigten nach dem Fremdrentengesetz, die

a)
ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben,
b)
nach dem 31. Dezember 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen und dort nach dem 31. Dezember 1991 einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz erwerben oder
c)
nach dem 31. Dezember 1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet in das Beitrittsgebiet verlegen und bereits vor Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz haben,
werden für nach dem Fremdrentengesetz anrechenbare Zeiten Entgeltpunkte (Ost) ermittelt; im Falle von Buchstabe c gilt dies nur, sofern am 31. Dezember 1991 Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem Fremdrentengesetz nicht bestand. Dies gilt auch für die Zeiten eines weiteren Rentenbezuges aufgrund neuer Rentenfeststellungen, wenn sich die Rentenbezugszeiten ununterbrochen aneinander anschließen. Bei Berechtigten nach Satz 1 Buchstabe a und c, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet verlegen, verbleibt es für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz bei den ermittelten Entgeltpunkten (Ost).

(7) (weggefallen)

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

2

Die am 1931 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Polen. Nach den Feststellungen des LSG hielt sie sich in der Zeit von 1940 bis 1943 im Warschauer Ghetto auf und ist Verfolgte des Nationalsozialismus. Ihren am 27.6.2003 gestellten Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 1.9.2003 unter Hinweis auf die alleinige Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9.10.1975 (Abk Polen RV/UV) ab. Eine Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten sei aber auch aufgrund der Regelung in § 1 Abs 1 S 1 letzter Halbs ZRBG ausgeschlossen, weil die betreffenden Zeiten bereits nach polnischem Recht als Versicherungszeiten anerkannt würden.

3

Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 16.1.2004, Gerichtsbescheid des SG Berlin vom 13.12.2007, Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 20.1.2011). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anspruch auf Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten allein aus § 35 SGB VI folgen könne; das ZRBG stelle keine eigenständige Anspruchsgrundlage dar. Unabhängig davon, ob hier die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs - insbesondere die Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto - glaubhaft gemacht seien, sei die Klägerin bereits aufgrund des Abk Polen RV/UV und des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) von Ansprüchen gegen einen deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Der Vorrang der Bestimmungen dieser Abkommen ergebe sich aus § 30 Abs 2 SGB I. Dem Abk Polen RV/UV liege das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip zugrunde; Renten der Rentenversicherung würden ausschließlich vom Versicherungsträger desjenigen Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohne (Wohnstaat), nach den dort geltenden Vorschriften gewährt (Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV). Der zuständige Träger habe dabei die im anderen Staat zurückgelegten Zeiten so zu berücksichtigen, als seien sie im eigenen Staatsgebiet zurückgelegt worden (Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV). Nach Art 27 Abs 2 S 1 und 2 Abk Polen SozSich finde das Abk Polen RV/UV weiterhin auf Personen Anwendung, die vor dem 1.1.1991 in einem Vertragsstaat aufgrund des Abkommens von 1975 Ansprüche und Anwartschaften erworben und die nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten hätten. Diese Vorschrift sei für den genannten Personenkreis gemäß Art 8 Abs 1 iVm Anhang II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (EGV 883/2004) auch nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union weiterhin gültig. Hiernach sei für die Rentenansprüche der Klägerin, die ihren Wohnsitz immer in Polen gehabt habe und dort auch weiterhin wohne, der polnische Rentenversicherungsträger ausschließlich zuständig.

4

Offen bleiben könne danach, ob aufgrund der geltend gemachten Beitragszeiten aus einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto hier überhaupt ein Rentenanspruch folge. Selbst wenn man von einer Anwendbarkeit des "Leistungsexportprinzips" nach dem Abk Polen SozSich ausgehe, bestehe kein deutscher Rentenanspruch der Klägerin, da diese entgegen Art 27 Abs 1 dieses Abkommens weder ihren gewöhnlichen Aufenthalt von Polen nach Deutschland verlegt noch deutsche Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt habe. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die genannten Bestimmungen des Abkommensrechts bestünden nicht (Hinweis auf BVerfGE 53, 164 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 und auf BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R). Diese führten ohnehin nicht dazu, dass die Klägerin aus ihren Ghetto-Zeiten keinerlei Rente erhalte, sondern nur dazu, dass eine Rente aus diesen Zeiten - solange sie ihren Wohnort in Polen habe - nicht von einem deutschen Versicherungsträger gezahlt und nach deutschen Rechtsvorschriften berechnet werde. Die Anerkennung dieser Zeiten obliege dem polnischen Versicherungsträger nach den dortigen Rechtsvorschriften.

5

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere die Anwendung von Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich iVm Art 4 Abs 1 bis 3 und Art 2 Abs 1 Buchst a und Abs 2 Abk Polen RV/UV und der §§ 1 bis 3 ZRBG sowie die Verletzung von Art 3, 14 und 20 GG und von Art 14 EMRK. Dass das deutsch-polnische Abkommensrecht sie - die Klägerin - im Ergebnis von Rentenansprüchen nach dem ZRBG ausschließe, verstoße gegen Art 3, 14 und 20 GG sowie gegen Art 14 EMRK. Die Beklagte könne sich deshalb nicht auf diese Abkommensregelungen berufen. Die polnische Staatsangehörigkeit und der gleichzeitige Wohnsitz in Polen seien keine Unterscheidungsmerkmale, die einen Ausschluss von Rentenansprüchen nach dem ZRBG im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG rechtfertigen könnten. Sie - die Klägerin - habe das gleiche Verfolgungsschicksal erlitten wie alle anderen Verfolgten des Nationalsozialismus, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hätten und dort einer Beschäftigung nachgegangen seien. Für ihre Rentenansprüche seien daher die Grundsätze des Wiedergutmachungs- und Entschädigungsrechts maßgeblich, die der BGH und das BSG in zahlreichen Entscheidungen entwickelt hätten. Danach sei es Ziel und Zweck der Entschädigungsgesetzgebung, das verursachte Unrecht so bald und soweit als irgend möglich wiedergutzumachen; dem Prinzip der - zumindest geldlichen - Wiedergutmachung gebühre Vorrang gegenüber der Bewahrung des sozialversicherungsrechtlichen Systems. Eine Auslegung des Gesetzes, die möglich sei und diesem Ziel entspreche, verdiene daher den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung, die die Wiedergutmachung erschwere und zunichte mache. Zudem sei zu berücksichtigen, dass über eine Rentenzahlung aus Beitragszeiten nach § 2 ZRBG gestritten werde, die von Art 14 Abs 1 GG geschützt seien.

6

Die Klägerin beantragt,

        

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. September 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Januar 2004, des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2007 und des Urteils des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. Januar 2011 zu verurteilen, Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus der Beschäftigung im Ghetto Warschau sowie von Verfolgungs-Ersatzzeiten zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

8

Sie verteidigt das angefochtene Urteil des LSG.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente.

10

Die Beklagte ist für die Feststellung einer Altersrente der Klägerin nicht zuständig; ihr Anspruch auf Altersrente richtet sich nicht nach deutschem Recht, sondern ausschließlich gegen den polnischen Versicherungsträger nach polnischem Recht (nachfolgend unter 1.). Unerheblich ist deshalb für die hier zu treffende Entscheidung, ob und in welcher Höhe die Zeiten ihrer Beschäftigung im Ghetto Warschau vom polnischen Rentenversicherungsträger berücksichtigt wurden (2.). Dieses Ergebnis steht in Einklang mit den Regelungen des europäischen Rechts (3.) und bewirkt weder einen Verstoß gegen Verfassungsrecht (4.) noch gegen die EMRK (5.). Auch die Grundsätze des Wiedergutmachungsrechts erlauben keine abweichende Entscheidung (6.).

11

1. Für Rentenansprüche der in Polen wohnenden Klägerin - auf ihre Staatsangehörigkeit kommt es insoweit nicht an - ist nicht die Beklagte oder ein anderer deutscher Träger, sondern ausschließlich der polnische Rentenversicherungsträger zuständig. Als Folge davon hat die Klägerin keinen Anspruch auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung, wozu auch eine Altersrente aufgrund von Zeiten nach dem ZRBG zählt.

12

a) Als Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Regelaltersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten kommt allein § 35 SGB VI in Betracht(BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 24, 28; BSGE 103, 201 = SozR 4-5075 § 1 Nr 5, RdNr 12; BSG SozR 4-5075 § 1 Nr 6 RdNr 10). Die Anwendung der Vorschrift auf den Fall der Klägerin setzt jedoch voraus, dass diese auch unter den Geltungsbereich der genannten Norm fällt, dh dass sie von ihrem persönlichen Anwendungsbereich mit umfasst wird. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich bei Sachverhalten mit Auslandsbezug nach den speziellen auslandsrentenrechtlichen Kollisionsregeln in § 110 SGB VI, die gemäß § 37 S 1 und 2 SGB I Vorrang vor den allgemeinen Kollisionsvorschriften in § 30 Abs 1 und 2 SGB I haben(Seewald in Kasseler Komm, Stand April 2012, § 30 SGB I RdNr 4; Schlegel in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, § 30 RdNr 62, 64; Eichenhofer in Eichenhofer/Wenner, Komm zum SGB I, IV, X, 2012, § 30 SGB I RdNr 4). Danach sind Rentenleistungen auch an Berechtigte zu zahlen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben (§ 110 Abs 2 SGB VI), soweit nicht die nachfolgenden Vorschriften über Leistungen an Berechtigte im Ausland (§§ 111 bis 114 SGB VI) etwas anderes bestimmen oder soweit nicht nach über- und zwischenstaatlichem Recht etwas anderes bestimmt ist (§ 110 Abs 3 SGB VI). Der Vorrang von Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts ist in § 110 Abs 3 SGB VI in gleicher Weise wie in § 30 Abs 2 SGB I angeordnet. Einer Entscheidung der Frage, ob "bezüglich der Anspruchsentstehung" die zuletzt genannte Vorschrift vorrangig anzuwenden ist (so BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 12, dort ohne Erwähnung von § 110 SGB VI), bedarf es daher nicht.

13

b) Das geltende zwischenstaatliche Recht schreibt in Bezug auf Rentenansprüche von Personen, die - wie die Klägerin - vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, die Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 vor.

14

Die Regelungen des Abk Polen RV/UV sowie des Abk Polen SozSich sind durch Gesetze vom 12.3.1976 (BGBl II 393, zuletzt geändert durch Art 22 Hüttenknappschaftliches Zusatzversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 21.6.2002, BGBl I 2167) und vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in deutsches Recht transformiert worden und gelten damit als (einfaches) Bundesrecht (vgl zur Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge im innerstaatlichen Recht zB Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl 2010, § 22 RdNr 2; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl 1984, §§ 859 ff).

15

Einschlägig ist hier Art 4 Abk Polen RV/UV, der wie folgt lautet:

        

"(1) Renten der Rentenversicherung werden vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt.

        

(2) Der in Absatz 1 genannte Träger berücksichtigt bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat so, als ob sie im Gebiet des ersten Staates zurückgelegt worden wären.

        

(3) Renten nach Absatz 2 stehen nur für die Zeit zu, in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat. In dieser Zeit hat ein Rentenempfänger keinen Anspruch auf Grund von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellte Zeiten im anderen Staat gegenüber dem Versicherungsträger dieses Staates, soweit nicht Artikel 15 oder 16 etwas anderes bestimmt."

16

Bereits aus Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV ergibt sich, dass kein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung besteht. Die genannte Regelung schreibt das dem Abk Polen RV/UV als Kollisionsregel zugrunde liegende Eingliederungsprinzip (Integrationsprinzip) fest. Dieses schließt im Verhältnis beider Vertragsstaaten zueinander für die dem Anwendungsbereich des Abk Polen RV/UV weiterhin unterfallenden Personen aus, dass deutsche Renten nach Polen (oder umgekehrt) gezahlt werden (vgl hierzu zB die Denkschrift zum Abkommen, BT-Drucks 7/4310 S 15 f; BSGE 65, 144, 147 ff = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 22 ff; K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 516 f). Dasselbe ergibt sich auch aus der Vorschrift des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV, die zugleich abschließend regelt, dass Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip nur nach Maßgabe der Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV zulässig sind. Die dort genannten übergangsrechtlichen Ausnahmen betreffen aber lediglich - hier offenkundig nicht einschlägige - Fallgestaltungen, in denen bereits vor Inkrafttreten des Abkommens auf Grund eines bindenden Bescheids oder eines rechtskräftigen Urteils Leistungen in den anderen Staat gezahlt wurden oder ein Zahlungsanspruch bereits bei Inkrafttreten jenes Abkommens bestand.

17

Aufgrund dieser vorrangigen zwischenstaatlichen Regelungen darf ein deutscher Rentenversicherungsträger eine Rente selbst dann nicht zuerkennen und an eine im Gebiet der Republik Polen wohnende Person auszahlen, wenn ein solcher Anspruch allein auf der Grundlage des innerstaatlichen deutschen Rechts an sich bestünde (stRspr - BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3; BSG SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 9; BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14). Zudem sind beide Vertragsstaaten gehindert, die in Art 15 und 16 Abk Polen RV/UV vereinbarten Ausnahmen vom Eingliederungsprinzip einseitig im Wege innerstaatlicher Gesetzgebung zu erweitern oder einzuschränken (BSG SozR 6710 Art 16 Nr 3 S 3). Hierfür bedürfte es vielmehr einer Vereinbarung beider Abkommenspartner, die der Senat mit seiner Entscheidung nicht ersetzen kann.

18

c) Das ZRBG enthält keine vom Abk Polen RV/UV abweichende Zuständigkeits- oder Versicherungslastregelung. Eine solche ist insbesondere nicht § 1 Abs 4 ZRBG zu entnehmen, wonach die aufgrund des ZRBG gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen(zu den Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung dieser Vorschrift s BSG Beschluss vom 20.12.2007 - B 4 R 85/06 R - Juris RdNr 94, 149 ff). Auch ansonsten bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber des ZRBG eine im Widerspruch zum Abk Polen RV/UV stehende Rechtslage schaffen wollte. Zwar sollte es nicht darauf ankommen, in welchem Staat sich der Berechtigte aufhält. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch, dass dies in Übereinstimmung mit dem geltenden Auslandsrentenrecht nicht für diejenigen Fälle gelten sollte, in denen Abkommensregelungen anstelle des Rentenexports die Eingliederung der Beitragszeiten in das System des Wohnsitzstaates vorsehen (so ausdrücklich die Begründung im Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, BT-Drucks 14/8583 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2; ebenso Gesetzentwurf der Fraktion der PDS, BT-Drucks 14/8602 S 5 - Allgemeines bzw S 6 - zu § 2). Das bezieht sich insbesondere auf die noch nach dem Abk Polen RV/UV zu behandelnden Fälle (vgl hierzu auch BT-Drucks 16/5720 S 5), zumal diese die einzig ins Gewicht fallende Ausnahme von dem in deutschen Sozialversicherungsabkommen ansonsten grundsätzlich vereinbarten Leistungsexportprinzip darstellen (Leder, BArbBl 6/1989 S 24, 26; weitere Ausnahmen enthalten die - durch § 1 Abs 3 ZRBG modifizierten - "Weniger-als-Regelungen" zB in Art 17 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich bzw in Art 20 Abs 2 Abk Israel SozSich; ebenso Art 57 Abs 1 und 2 EGV 883/2004).

19

d) Der Sperrwirkung des Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV für Rentenzahlungen von Deutschland nach Polen (oder umgekehrt) steht nicht entgegen, dass die Klägerin im Ghetto Warschau, also in Polen, beschäftigt war.

20

Das Abk Polen RV/UV enthält - im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungsabkommen (zB Art 3 Abk Polen SozSich; Art 3 Abk Israel SozSich) - keine eigenständigen Regelungen zur Bestimmung seines persönlichen Geltungsbereichs. Die Denkschrift zum Abkommen führt hierzu aus, das Abkommen erfasse alle im Inland wohnenden Personen ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, die zu irgendeinem Zeitpunkt Versicherungszeiten im anderen Staat zurückgelegt hätten (BT-Drucks 7/4310 S 15 - zu Art 2). Dies ändert jedoch nichts daran, dass auch für die von der Klägerin im Ghetto Warschau zurückgelegten Zeiten der polnische Rentenversicherungsträger zuständig ist. Denn entweder sind diese Zeiten iS von Art 4 Abs 3 S 2 Abk Polen RV/UV Versicherungszeiten "im anderen Staat" (im Fall der Klägerin also in Deutschland - s hierzu auch § 2 Abs 1 Nr 2 ZRBG, wonach die Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto fiktiv für Zwecke der Erbringung von Leistungen in das Ausland als Beschäftigung im Bundesgebiet gelten); dann wäre das Abk jedenfalls auf sie anwendbar und nach dem Eingliederungsprinzip ein Anspruch gegen den deutschen Rentenversicherungsträger ausgeschlossen. Oder diese Zeiten sind - was aus der Perspektive des im Jahr 1975 geschlossenen Abkommens näher liegt - Zeiten des Wohnsitzstaates (vgl BSGE 65, 144, 146 = SozR 6710 Art 4 Nr 8 S 21, wonach das Abk Polen RV/UV auf die völkerrechtlich-historische Zugehörigkeit des jeweiligen Gebiets während der Zurücklegung der betreffenden Zeit abstellt), also hier Zeiten in Polen; dann gälte für sie erst recht die Zuständigkeit des polnischen Rentenversicherungsträgers, weil es unter diesen Voraussetzungen an einer Konstellation mit Auslandsbezug von vornherein fehlte.

21

Auch der Bestimmung des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV kann nicht entnommen werden, dass der Versicherungsträger des anderen Staates (hier also Deutschland) für die Gewährung von Renten aufgrund von Zeiten zuständig bleiben soll, die der Betreffende außerhalb seines Staatsgebiets (zB im Wohnsitzstaat, im Fall der Klägerin also in Polen) zurückgelegt hat. Vielmehr richtet sich diese Vorschrift lediglich an den Träger des Wohnsitzstaates (hier: Polen) und weist diesen an, Zeiten auch zu berücksichtigen, wenn sie nicht im Wohnsitzstaat (Polen), sondern im anderen Staat (Deutschland) zurückgelegt wurden.

22

e) Schließlich ist unerheblich, dass das deutsche Recht erst im Jahr 2002 durch Verkündung des rückwirkend zum 1.7.1997 in Kraft getretenen ZRBG die Zahlung von Regelaltersrenten ausschließlich auf der Grundlage von Beitragszeiten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vereinfacht und damit vielfach überhaupt erst ermöglicht hat.

23

Wie bereits dargelegt, ist nach dem Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 das deutsche Recht für Rentenansprüche der Klägerin nicht maßgeblich, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält. Das gilt auch für die erst im Jahr 2002 geschaffenen Regelungen des ZRBG. Denn Art 2 Abs 2 Abk Polen RV/UV bestimmt ausdrücklich, dass das Abkommen (auch) "auf alle Änderungen der Regelungen in den in Absatz 1 genannten Zweigen" (also auch der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung) Anwendung findet, sich also an der (polnischen) Zuständigkeit und Versicherungslast auch dann nichts ändert, wenn ein neues (deutsches) Gesetz weitere Leistungen der (deutschen) gesetzlichen Rentenversicherung einführt oder die Zugangsvoraussetzungen zu bestehenden Leistungen erleichtert, wie dies durch das ZRBG geschehen ist.

24

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass für Leistungen aufgrund des im Jahr 2002 geschaffenen ZRBG die Übergangsvorschrift in Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich und damit das Leistungsexportprinzip maßgeblich sei. Ungeachtet des Umstands, dass dieser Abkommensbestandteil seit dem Wirksamwerden des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union nicht mehr anwendbar ist (Art 6, 7 iVm Anhang III Abschn A Nr 84 Buchst b EWGV 1408/71 bzw Art 8 Abs 1 iVm Anhang II Abschn Deutschland - Polen Buchst b EGV 883/2004), kam es nach Art 27 Abs 1 Abk Polen SozSich nicht darauf an, wann ein Rentenanspruch im Recht des anderen Staates gesetzlich geregelt wurde; maßgeblich war vielmehr, ob die Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990 zurückgelegt wurden. Die Klägerin macht jedoch Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto in den Jahren 1940 bis 1943 und damit vor dem genannten Stichtag geltend. Auch das ZRBG fingiert - unabhängig von seiner Anwendbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt - keine Versicherungszeiten nach dem 31.12.1990, sondern eine Beitragszahlung für davor zurückgelegte Zeiten einer Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto (§ 2) und entbindet - in Ergänzung der rentenrechtlichen Vorschriften und der Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (§ 1 Abs 2) - von sonstigen Voraussetzungen, die der Zahlung einer Rente aufgrund dieser Versicherungszeiten nach deutschem Recht entgegenstehen.

25

2. Da hiernach mit dem ZRBG auch dessen § 1 Abs 1 S 1 letzter Teils (wonach der Anspruch auf Altersrente unter Berücksichtigung von Versicherungszeiten nach dem ZRBG voraussetzt, dass für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird) auf den Fall der Klägerin nicht anwendbar ist, hat es für die Entscheidung keine Bedeutung, ob und in welchem Umfang der polnische Rentenversicherungsträger die von ihr geltend gemachten Zeiten tatsächlich berücksichtigt hat. Für die Beurteilung der Frage, welche rentenrechtlichen Zeiten bei der Bemessung der Altersrente der Klägerin einzubeziehen sind, insbesondere ob es sich bei ihren Zeiten einer Beschäftigung im Warschauer Ghetto von 1940 bis 1943 um berücksichtigungsfähige Zeiten iS des Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV handelt, ist allein das polnische Recht maßgeblich und ausschließlich der polnische Versicherungsträger zuständig.

26

3. Diese Rechtslage, wie sie sich aus dem zwischen Deutschland und Polen vereinbarten zwischenstaatlichen Recht ergibt, steht in Einklang mit den Bestimmungen des europäischen Rechts (zu dessen Anwendungsvorrang vgl BVerfGE 123, 267, 402; 126, 286, 301 f). Das gilt sowohl in Bezug auf das derzeit geltende Sekundärrecht (dazu unter a), das seinerseits in Übereinstimmung mit den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union (Primärrecht) steht (b), als auch im Hinblick auf die jeweiligen Vorgängerregelungen (c). Einer vorherigen Anrufung des EuGH bedarf es für diese Entscheidung nicht (d).

27

a) Nach den derzeit geltenden europarechtlichen Vorschriften ist für den Personenkreis, zu dem die Klägerin gehört, das Abk Polen RV/UV und somit auch das Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip gemäß dessen Art 4 Abs 1 weiterhin maßgeblich.

28

Allerdings sieht Art 8 Abs 1 S 1 der EGV 883/2004 (vom 29.4.2004, ABl Nr L 166 vom 30.4.2004, wirksam ab 1.5.2010; zuletzt geändert durch die EUV 465/2012 vom 22.5.2012, ABl Nr L 149 vom 8.6.2012) grundsätzlich vor, dass diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt. Soweit dies der Fall ist, sind mithin die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen RV/UV und das Abk Polen SozSich - nicht mehr anwendbar. Sie werden abgelöst durch die koordinierungsrechtlichen Vorschriften der EGV 883/2004, die im Grundsatz eine Verpflichtung zum Leistungsexport von Geldleistungen vorsehen (vgl dazu die Erwägung Nr 16 in der Präambel zu dieser Verordnung; s auch Devetzi, ZESAR 2009, 63 f). Hierzu bestimmt Art 7 EGV 883/2004 unter der amtlichen Überschrift "Aufhebung der Wohnortklauseln", dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat; dies gilt jedoch nur, "soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist".

29

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob im Fall der Klägerin der Geltungsbereich der EGV 883/2004 eröffnet ist (vgl Erwägung Nr 13 in der Präambel: "Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen"; s auch Fuchs in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Komm zum Sozialrecht, 2. Aufl 2011, Sammelkommentierung zur EGV 883/2004 RdNr 7). Ebenso muss nicht abschließend entschieden werden, ob die kollisionsrechtliche Bestimmung des zuständigen Rentenversicherungsträgers und des anwendbaren nationalen Rechts in Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV eine "Wohnortklausel" iS des Art 7 EGV 883/2004 enthält. Denn selbst wenn beides der Fall wäre, müsste nach den einleitenden Worten des Art 7 EGV 883/2004 hier vorrangig eine "andere Bestimmung" der Verordnung angewandt werden. Dies ergibt sich aus Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004.

30

Art 8 Abs 1 S 1 bis 3 EGV 883/2004 lauten:

        

"1Im Rahmen ihres Geltungsbereichs tritt diese Verordnung an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit. 2Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit , die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, gelten jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. 3Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II aufgeführt sein."

31

In Anhang II (eingefügt durch Art 1 Nr 20 iVm Anhang Buchst B EGV 988/2009 vom 16.9.2009, ABl Nr L 284, 43) ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt Deutschland - Polen unter Buchst a das

        

"Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)"

aufgeführt.

32

Damit liegt jedenfalls die von Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004 geforderte formelle Voraussetzung vor. Die Aufnahme in Anhang II ist für eine Fortgeltung von zwischenstaatlichen Abkommensregelungen allein aber noch nicht ausreichend. Hier sind jedoch auch die in Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 benannten materiellen Kriterien erfüllt:

33

(1) Die von der Klägerin auf der Grundlage von § 35 SGB VI iVm den Vorschriften des ZRBG beanspruchte Altersrente unterfällt an sich dem Geltungsbereich der europarechtlichen Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Personen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zum Bezug von Altersrente berechtigt sind, unterliegen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit den Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts der Arbeitnehmer, auch wenn sie keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben (EuGH vom 18.12.2007 - C-396/05 ua - , Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 57 mwN). Nach ihrer Zweckbestimmung handelt es sich bei einer solchen Rente um "Leistungen bei Alter" aus einem "Zweig der sozialen Sicherheit" bzw aus einem "System der sozialen Sicherheit" iS von Art 3 Abs 1 Buchst d, Abs 2 EGV 883/2004. Die Bestimmung in § 1 Abs 4 ZRBG, wonach die aufgrund dieses Gesetzes gezahlten Renten "nicht als Leistungen der sozialen Sicherheit" gelten sollen, vermag an dieser unionsrechtlichen Einordnung nichts zu ändern(vgl EuGH vom 21.7.2011 - C-503/09 - , ZESAR 2012, 83 RdNr 35). Im Übrigen enthält auch die Erklärung der Bundesregierung nach Art 9 EGV 883/2004 zu den von Art 3 dieser Verordnung erfassten Rechtsvorschriften, Systemen und Regelungen des deutschen Rechts (abgedruckt zB bei Hauschild in juris-PK SGB I, 2. Aufl 2012, Art 9 EGV 883/2004 RdNr 10) keine Einschränkungen oder Vorbehalte hinsichtlich der Renten nach dem SGB VI, die (auch) auf nach dem ZRBG anerkannten Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto beruhen.

34

(2) Betroffen sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit", auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk, das bereits vor dem Beitritt Polens zur EU und damit vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der koordinierungsrechtlichen Vorschriften des Europarechts im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen abgeschlossen wurde, stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV.

35

(3) Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen Rentenversicherung nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004 (so wie das insbesondere bei den nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall ist), hat das LSG nicht festgestellt. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative von Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen, die bereits vor dem 1.1.1991 ihren Wohnsitz in Deutschland oder Polen hatten und weiterhin dort ansässig sind, beruht jedenfalls auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des 2. Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (s hierzu im Einzelnen nachfolgend unter 4. a).

36

(4) Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist dadurch "zeitlich begrenzt", dass dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur noch so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnsitz in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (vgl Schuler, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 , ZESAR 2009, 40, 44).

37

b) Die im Sekundärrecht (Art 8 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 AEUV) vereinbar (zu diesem Prüfungsschritt EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - , Slg 2007, I-11895 = SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; s auch Devetzi, SDSRV Bd 59 <2010> S 117, 136).

38

Einschlägig ist insoweit allenfalls der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ), der jedem Unionsbürger das Recht verleiht, "sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten" (Art 21 Abs 1 AEUV).

39

Es bedarf auch in diesem Zusammenhang keiner abschließenden Festlegung, ob der Anwendungsbereich dieser Vertragsbestimmung bei dem Personenkreis überhaupt eröffnet ist, der von der Weitergeltung des Abk Polen RV/UV erfasst wird. Diesen Personen ist gemeinsam, dass sie ihren bereits vor dem 1.1.1991 begründeten Wohnsitz in Deutschland oder Polen weiterhin beibehalten, mithin davon, dass sie von der Freiheit, sich als Unionsbürger in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, gerade noch keinen Gebrauch gemacht haben. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Sachverhalte angewandt werden, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (EuGH vom 15.11.2011 - C-256/11 - , NVwZ 2012, 97 RdNr 60 ff mwN).

40

Doch selbst wenn ein solches Element bzw ein hinreichender Bezug zum Gemeinschaftsrecht (grenzüberschreitender Sachverhalt) hier darin gesehen würde, dass das deutsche Rentenrecht die Zahlung von ZRBG-Renten aufgrund einer Beschäftigung im (Warschauer) Ghetto an Betroffene mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten als Polen grundsätzlich vorsieht, wäre die in Art 8 iVm Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) EGV 883/2004 angeordnete Weitergeltung des Abk Polen RV/UV für die dort genannte Personengruppe gleichwohl gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigung setzt nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH voraus, dass mit der betreffenden Regelung ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, sie geeignet ist, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (EuGH vom 1.4.2008 - C-212/06 - , Slg 2008, I-1683 = SozR 4-6035 Art 39 Nr 3, RdNr 55; EuGH vom 21.7.2011 - C 503/09 - , ZESAR 2012, 83 RdNr 87 - jeweils mwN; s allgemein auch Art 52 Abs 1 GR-Charta). Dies ist hier der Fall (s nachfolgend unter 4. a). Insbesondere hat der EuGH bereits anerkannt, dass der Wille, den außerhalb des betreffenden Staates wohnenden Begünstigten eine angemessene Leistung unter Berücksichtigung des Niveaus der Lebenshaltungskosten und der im Wohnsitzstaat gezahlten Sozialleistungen zu gewähren, als objektive Erwägung des Allgemeininteresses eine Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen kann (EuGH vom 4.12.2008 - C-221/07 - , Slg 2008, I-9029 RdNr 38 f). Entsprechende Erwägungen liegen auch der Anordnung der Weitergeltung des Eingliederungsprinzips gemäß Art 4 Abk Polen RV/UV für Personen, solange diese ihren Wohnsitz über den 1.1.1991 hinaus in Deutschland oder Polen beibehalten, zugrunde (dazu im Einzelnen unter 4. a).

41

c) Die vorstehenden europarechtlichen Bewertungen auf der Grundlage der ab 1.5.2010 anwendbaren EGV 883/2004 können in gleicher Weise auf den für den Zeitraum davor noch maßgeblichen Rechtszustand (vgl Art 87 Abs 1 EGV 883/2004; s hierzu auch Bokeloh, ZESAR 2011, 18, 21) übertragen werden. Art 7 und 8 EGV 883/2004 haben die im wesentlichen inhaltsgleichen Art 6 und 10 Abs 1 EWGV 1408/71 abgelöst. Die Regelung in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 stimmt mit derjenigen in Anhang III Teil A Ziff 84 Buchst a EWGV 1408/71 (idF des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen und anderer Staaten zur Europäischen Union vom 16.4.2003 - Abschn B Anh II Nr 2 "Freizügigkeit" Abschn A "Soziale Sicherheit" Nr 1 Buchst h xxv, s EU-Beitrittsvertragsgesetz vom 18.9.2003, BGBl II 1408 iVm Anlageband 1 S 158) überein.

42

Auch im Primärrecht war der Grundsatz der Freizügigkeit (Art 21 Abs 1 AEUV) bereits in den vorangegangenen Vertragswerken inhaltsgleich geregelt (Art 8a EG , Art 18 EG ).

43

d) Der Senat kann diese Entscheidung treffen, ohne zuvor gemäß Art 267 Abs 3 AEUV den EuGH anzurufen. Die hierfür bedeutsamen Fragen zur Auslegung der Verträge und des Sekundärrechts sind in der Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Auf dieser Grundlage hat der Senat, wie oben erläutert, keine Zweifel daran, dass die in Anhang II der EGV 883/2004 geregelte Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für den dort bezeichneten Personenkreis mit Europarecht vereinbar ist (vgl EuGH vom 6.10.1982 - C-283/81 - , Slg 1982, 3415 RdNr 14; s auch BVerfGE 126, 286, 315 ff; 129, 78, 105 ff).

44

4. Der Ausschluss der Klägerin vom Export einer auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und ihre Beschränkung auf Leistungen des polnischen Versicherungsträgers, solange sie ihren Wohnsitz in Polen beibehält, verstößt auch nicht gegen Verfassungsrecht.

45

a) Art 3 Abs 1 GG ist nicht verletzt.

46

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, die einem anderen Personenkreis ohne einen rechtfertigenden Grund vorenthalten bleibt (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 44 mwN; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 53; stRspr).

47

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengeren Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Gleichheitssatz verletzt, lassen sich dabei nicht abstrakt und allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers ist anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft; sie ist darüber hinaus umso strenger, je mehr sich die zur Unterscheidung führenden personenbezogenen Merkmale den in Art 3 Abs 3 GG genannten Merkmalen annähern und je größer die Gefahr ist, dass die Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt (BVerfG vom 19.6.2012, aaO RdNr 57). Bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung insbesondere auch davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird (BVerfGE 127, 263, 280 = SozR 4-1300 § 116 Nr 2 RdNr 45 mwN). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers geht dann besonders weit, wenn er Lebenssachverhalte verschieden behandelt und die Betroffenen sich durch eigenes Verhalten auf die unterschiedliche Regelung einstellen können; die Grenze bildet dann allein das Willkürverbot (BVerfGE 97, 271, 291 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 S 11).

48

Art 3 Abs 1 GG untersagt mithin die abweichende Behandlung einer Gruppe von Normadressaten, wenn im Vergleich zu anderen Normadressaten keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können (BVerfGE 102, 41, 54 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S 18; BVerfG vom 19.6.2012 - 2 BvR 1397/09 - NVwZ 2012, 1304 RdNr 56, stRspr). Dabei hat das BVerfG dem Gesetzgeber für sozialrechtliche Regelungen, die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs stehen, im Hinblick auf die sozialen Aufgaben, vor denen die Bundesrepublik gestanden hat und die nach Art und Ausmaß ohne Parallelen waren, regelmäßig einen über die genannten Grundsätze hinausgehenden, sehr weiten Gestaltungsspielraum zugestanden (BVerfGE 53, 164, 177 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 12; BVerfGE 95, 143, 155; BVerfGK 6, 171, 174 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 12).

49

Die Klägerin wird durch die zunächst in Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich und sodann im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 angeordnete Fortgeltung der Regelungen des Abk Polen RV/UV für die bereits vor dem 1.1.1991 in Polen wohnenden und weiterhin dort ansässigen Personen anders behandelt als diejenigen Personen, die ebenfalls im Warschauer Ghetto beschäftigt waren und nunmehr außerhalb Polens leben. Denn sie hat für die Dauer ihres gewöhnlichen Aufenthalts in Polen aufgrund des für sie fortgeltenden Eingliederungsprinzips ausschließlich einen Anspruch auf Rente gegen den polnischen Rentenversicherungsträger nach den Vorschriften des polnischen Rentenrechts, während ihr die Zahlung einer Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem ZRBG, wie sie Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz außerhalb Polens auf der Grundlage des Leistungsexportprinzips erhalten können, versagt bleibt.

50

Auch wenn dies zum Nachteil der Klägerin Auswirkungen auf die Höhe ihrer gesamten Rentenansprüche haben dürfte, ist diese unterschiedliche Behandlung jedoch durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Denn durch das Abk Polen RV/UV sollte den in Polen lebenden, vormals nach reichsgesetzlichen Vorschriften Versicherten erstmals ein vertraglich abgesicherter Rechtsanspruch auf die Einbeziehung in das polnische Sozialversicherungssystem und zudem das Recht auf Anrechnung ihrer im Bereich des Deutschen Reichs zurückgelegten Versicherungsjahre verschafft werden, wenn auch im Rahmen des polnischen Systems (vgl hierzu im Einzelnen BVerfGE 53, 164, 180 f = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 14 mwN). Ziel der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips im Abk Polen RV/UV war es außerdem, angesichts der Unterschiede in den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen, aber auch der Sozialversicherungssysteme in den beiden Ländern soziale Spannungen zu vermeiden und ein gerechteres Ergebnis zu erzielen, als dies ein Export von Rentenleistungen hätte gewährleisten können. Die an der Verhandlung des Abkommens beteiligten Delegationen konnten davon ausgehen, dass einerseits aus Polen exportierte Renten in aller Regel nicht für einen angemessenen Lebensstandard in der Bundesrepublik Deutschland ausreichen würden und andererseits nach Polen gezahlte deutsche Renten nicht selten höher ausfallen würden als die dortigen Arbeitnehmereinkommen. Im Hinblick darauf hatte die polnische Delegation im Laufe der Vertragsverhandlungen deutlich gemacht, eine unter diesem Gesichtspunkt unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Polen auf polnischem Staatsgebiet nicht zuzulassen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 17 f - unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Staatssekretärs Eicher in der 425. Sitzung des BR vom 7.11.1975, Prot S 331 f, und vor dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung des BT, KurzProt der 90. Sitzung des Ausschusses vom 3.12.1975, S 25 f, sowie die Rede des Abgeordneten Sund in der 202. Sitzung des BT vom 26.11.1975, PlenarProt S 13984 ff; vgl ferner Haase, BArbBl 1976, 211, 213; Baumgarten, DRV 1986, 475, 479 ff; aus polnischer Sicht K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 517).

51

Diese Rechtslage sollte nach dem übereinstimmenden Willen Deutschlands und Polens aus denselben Gründen auch nach Einführung des Leistungsexportprinzips jedenfalls für diejenigen Personen fortgelten, die bereits vor dem Stichtag 1.1.1991 in einem der beiden Länder wohnten, solange sie dort ansässig bleiben und damit dem Einkommens- und Preisniveau dieses Landes unterliegen (Art 27 Abs 2 Abk Polen SozSich, s hierzu auch die Denkschrift zu diesem Abk, BT-Drucks 12/470 S 23 f, die Aspekte des Vertrauensschutzes und des Bestandsschutzes betont; ebenso Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 12/445; hingegen waren für die polnische Seite andernfalls dort eintretende erhebliche finanzielle Belastungen ausschlaggebend, s hierzu K. Reiter, ZFSH/SGB 2002, 515, 519). Anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur Europäischen Union haben beide Staaten sodann einvernehmlich erneut dafür Sorge getragen, dass dieser Rechtszustand für den Personenkreis der nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machenden Bürger ("Bestandsfälle") fortgeführt wird (K. Reiter, aaO S 526). Hierzu haben sie im EU-Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 eine Ergänzung des Anhangs III Teil A der EWGV 1408/71 veranlasst und später erreicht, dass diese Regelung auch in den Anhang II der EGV 883/2004 übernommen wird. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Regelungen im Gesetz zu dem Abk Polen SozSich (vom 18.6.1991 - BGBl II 741) und im EU-Beitrittsvertragsgesetz (vom 18.9.2003 - BGBl II 1408) zugestimmt.

52

Hierdurch hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden - in außenpolitischen Angelegenheiten besonders weiten - Gestaltungsspielraum nicht verletzt (BVerfGE 53, 164, 182; 95, 143, 159; BVerfGK 6, 171, 176 f = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 19 f). Insbesondere knüpft die übergangsweise Fortgeltung des Eingliederungsprinzips für die "Bestandsfälle" nicht an Persönlichkeitsmerkmale an, sondern differenziert nach unterschiedlichen Sachverhalten (Wohnort) und ist zugleich verhaltensbezogen ausgestaltet (s oben unter 3. a) (4)). Daher ist es im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz auch verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Bundesrepublik Deutschland mit dem Abschluss des Abk Polen RV/UV darauf verzichtet hat, in Zukunft einseitig durch eine Änderung des deutschen Rentenrechts Verbesserungen der rentenrechtlichen Situation von in Polen wohnenden Versicherten vorzunehmen (vgl BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 15). Ebenso wenig kann beanstandet werden, dass Deutschland anlässlich des Beitritts der Republik Polen zur EU - nicht zuletzt mit Rücksicht auf die ansonsten erheblichen finanziellen Belastungen des beitretenden Landes - davon abgesehen hat, die Einführung des Leistungsexportprinzips auch für die "Bestandsfälle" anzustreben.

53

Eine Verpflichtung zur späteren Überprüfung und ggf Änderung einer unter dem Gesichtspunkt der Kriegsfolgenbeseitigung getroffenen, verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelung im Hinblick auf eine inzwischen veränderte Situation hat das BVerfG nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht gezogen (BVerfGE 53, 164, 180 = SozR 2200 § 1318 Nr 5 S 13 f; BVerfGK 6, 171, 175 = SozR 4-1100 Art 3 Nr 33 RdNr 16). Ein solch außergewöhnlicher Fall liegt nicht etwa aufgrund dessen vor, dass der polnische Rentenversicherungsträger nach dem Abk Polen RV/UV für die weiterhin in Polen wohnenden Personen auch hinsichtlich von Versicherungszeiten aufgrund der Beschäftigung in einem Ghetto zuständig ist (zur Ablehnung einer entsprechenden Änderung des ZRBG durch den Deutschen Bundestag s BT-Drucks 16/10334 sowie PlenarProt 16/200 S 21613 ). Dies gilt umso mehr, als Zeiten des Aufenthalts in einem Ghetto nach polnischem Recht bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind und die Betroffenen daher nicht ohne rentenrechtliche Ansprüche für diese Zeiten bleiben (vgl Poletzky/Pflaum, MittLVA Berlin 2003, 179, 242 f zur Beurteilung von Zeiten als Zivil- oder Zwangsarbeiter in einem Ghetto nach polnischem Recht ). Zudem hat die Bundesrepublik Deutschland bei Abschluss des Abk Polen RV/UV die damals - unter anderen Rahmenbedingungen - angenommene finanzielle Mehrbelastung des polnischen Staates aufgrund der Vereinbarung des Eingliederungsprinzips mit einer Ausgleichszahlung in Höhe von 1,3 Mrd DM abgegolten (Art 1 Abs 1 der Vereinbarung vom 9.10.1975, BGBl II 1976, 401).

54

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass die weiterhin in Polen ansässigen Ghetto-Beschäftigten nicht gänzlich von Leistungen aus Deutschland für diese Tätigkeit ausgeschlossen sind. Nach der Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (idF der Bekanntmachung vom 20.12.2011, BAnz 4608) können Verfolgte iS von § 1 BEG, die sich zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten haben, das in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag, und während dieser Zeit ohne Zwang in einem beschäftigungsähnlichen Verhältnis gearbeitet haben, eine einmalige Leistung von 2000 Euro erhalten, sofern sie für diese Arbeit keine Leistung aus den Mitteln der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten haben oder hätten erhalten können. Mit der erwähnten Fassung der Richtlinie ist auf den zuvor festgelegten Schlusstermin (31.12.2011) und den vormaligen Ausschluss von Leistungen im Falle einer bereits erfolgten sozialversicherungsrechtlichen Berücksichtigung der Ghetto-Zeit (§ 1 Abs 1 S 1 Nr 1 der Richtlinie idF vom 1.10.2007, BAnz 7693) verzichtet worden, sodass auch die Klägerin noch Gelegenheit hat, einen entsprechenden Antrag zu stellen, falls dies bislang nicht geschehen ist.

55

b) Das Eigentumsgrundrecht aus Art 14 Abs 1 GG ist ebenfalls nicht verletzt. Zwar schützt diese Verfassungsnorm auch sozialversicherungsrechtliche Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, die im Geltungsbereich des GG erworben worden sind (BVerfG Beschluss vom 8.5.2012 - 1 BvR 1065/03 ua - Juris RdNr 41 mwN). Jedoch reicht ihr Schutz nur so weit, wie Ansprüche bereits bestehen, verschafft diese aber selbst nicht (BVerfG aaO). Deshalb kann die Entscheidung des Gesetzgebers des ZRBG, für Ghetto-Beschäftigungszeiten die Zahlbarmachung von Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu erleichtern und in diesem Zusammenhang die bestehenden auslandsrentenrechtlichen Vorschriften zugrunde zu legen, also für Personen mit beibehaltenem Wohnort in Polen gemäß § 110 Abs 3 SGB VI iVm Art 8 Abs 1 S 2 und Anhang II EGV 883/2004 und Art 4 Abs 1 Abk Polen RV/UV keine Ansprüche gegen die deutsche gesetzliche Rentenversicherung zu begründen, nicht an Art 14 Abs 1 GG gemessen werden(s auch BSG Urteil vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 18). Die Entziehung bereits bestehender Rentenansprüche hat das ZRBG nicht angeordnet.

56

c) Anhaltspunkte für eine Verletzung des Art 20 GG sind weder von der Klägerin konkret benannt noch sonst ersichtlich.

57

5. Auch ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art 14 EMRK liegt nicht vor (zu Rang und Reichweite der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung s BVerfGE 128, 326, 367 ff). Denn Art 14 EMRK stellt - unabhängig davon, ob die Vorschrift auf im nationalen Recht nicht begründete Rentenansprüche anwendbar ist (vgl hierzu Senatsurteil vom 20.7.2011 - B 13 R 41/10 R - Juris RdNr 36; EGMR vom 25.9.2007 - 12923/03 - SozR 4-6021 Art 1 Nr 1 RdNr 126 ff, 138 f; vom 25.10.2005 - 59140/00 - NVwZ 2006, 917 RdNr 30 f = Juris RdNr 67 f; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl 2011, Art 14 RdNr 5 ff und Zusatzprotokoll zur EMRK Art 1 RdNr 14 f, jeweils mwN) jedenfalls an die Ausgestaltung über- oder zwischenstaatlicher Verträge zur Koordinierung von Bestimmungen der sozialen Sicherheit im Hinblick auf die Anknüpfung an den Wohnort der Betroffenen im jeweiligen Vertragsstaat keine höheren Anforderungen als Art 3 GG. Nach Art 14 EMRK ist der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. Das schließt zwar eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit aus, sofern es dafür nicht besonders gewichtige Rechtfertigungsgründe gibt (EGMR vom 16.9.1996 - 39/1995/545/631 - JZ 1997, 405 RdNr 42; EGMR vom 28.10.2010 - 40080/07 - NVwZ-RR 2011, 727 RdNr 35). Die genannte Vorschrift steht jedoch der hier maßgeblichen Anknüpfung an den Wohnsitz zur Bestimmung der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers und des maßgeblichen nationalen Rechts nicht entgegen (vgl EGMR vom 9.3.2010 - 51625/08 - FamRZ 2011, 1037, 1038 - Juris RdNr 54; s auch Eichenhofer, Anmerkung zum Urteil des EGMR vom 30.9.2003 - 40892/98 - ZESAR 2004, 143, 144).

58

6. Zugunsten der Klägerin wirkt sich schließlich nicht der von ihr angeführte, vom BGH zum Entschädigungsrecht entwickelte Grundsatz aus, dass eine Gesetzesauslegung, die möglich ist und dem Ziel entspricht, das zugefügte Unrecht so bald und so weit wie irgend möglich wiedergutzumachen, den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung verdient, die die Wiedergutmachung erschwert oder zunichte macht (stRspr, zB BGH vom 22.11.1954 - IV ZR 107/54 - RzW 1955, 55, 57; aus neuerer Zeit BGH vom 22.2.2001 - IX ZR 113/00 - LM BEG 1956 § 35 Nr 37 unter II 2 c der Gründe; BGH vom 1.12.1994 - IX ZR 63/94 - LM BEG 1956 § 35 Nr 34 unter II 2 der Gründe). Zwar ist hiervon bei der Auslegung einschlägiger Vorschriften auch das BSG ausgegangen (zB BSG vom 28.2.1984 - SozR 5070 § 9 Nr 7 S 14; BSG vom 25.8.1982 - SozR 5070 § 10 Nr 20 S 46; BSG vom 12.10.1979 - SozR 5070 § 10a Nr 2 S 3; BSG vom 26.10.1976 - SozR 5070 § 9 Nr 1 S 3; s bereits BSG vom 26.6.1959 - BSGE 10, 113, 116). Die von der Klägerin erstrebte Rechtsanwendung ist jedoch, wie erläutert, bereits im Hinblick auf die völkerrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich.

59

Damit lässt sich auch kein anderes Ergebnis aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I ableiten, wonach bei der Auslegung der Vorschriften des SGB sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.

60

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Vormerkung in Polen zurückgelegter Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung.

2

Die 1955 in Polen geborene Klägerin reiste am 7.6.1990 mit ihrem 1979 geborenen Sohn - wie bereits ein halbes Jahr zuvor ihr Ehemann - in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Familie bewohnte fortan eine gemeinsame Wohnung in D./Nordrhein-Westfalen. Die Klägerin ist weder als Spätaussiedlerin noch als Vertriebene anerkannt.

3

Eine nach dem erfolglosen Vertriebenenverfahren von der Ausländerbehörde erlassene Ordnungsverfügung vom 28.7.1995 mit einer an die Klägerin gerichteten Aufforderung zur Ausreise wurde vom Verwaltungsgericht A. mit Beschluss vom 6.10.1995 (8 L 1241/95) bestätigt. Die hiergegen beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erhobene Beschwerde nahm die Klägerin wegen der ihr im April 1997 als "Härtefallentscheidung" nach dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 erteilten Aufenthaltsbefugnis zurück.

4

Zuvor hatte die Ausländerbehörde der Klägerin für den Zeitraum ab 12.6.1990 jeweils befristete Duldungen ausgestellt. Vom 4.4.1997 bis 15.4.2005 war sie im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Ab 4.4.2005 erhielt sie nach dem Beitritt Polens zur EU eine (unbefristete) Freizügigkeitsbescheinigung. Seit 30.4.2009 ist die Klägerin deutsche Staatsangehörige.

5

Auf ihren Antrag auf Klärung des Versicherungskontos vom 22.3.2010 stellte die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten, die länger als sechs Jahre zurücklagen (Zeiten bis 31.12.2004) verbindlich fest, ohne (ua) die in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 als Beitrags- oder Beschäftigungszeit in der deutschen Rentenversicherung vorzumerken (Bescheid vom 28.3.2011, Widerspruchsbescheid vom 16.6.2011). Die Klägerin erfülle die persönlichen Voraussetzungen des § 1 Buchst a FRG (Anerkennung als Vertriebene oder Spätaussiedlerin) nicht. Nichts anderes ergebe sich aus dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Abk Polen RV/UV) vom 9.10.1975. Denn die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nicht vor dem 31.12.1990 begründet. Ihre in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten würden nach den Regelungen der EGV 883/2004 und EGV 987/2009 berücksichtigt.

6

Die hiergegen gerichtete Klage hat das SG mit Urteil vom 7.3.2012 abgewiesen, die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 22.3.2013). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Ein Anspruch auf Vormerkung der in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV iVm Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 bestehe nur dann, wenn die Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8.12.1990 (Abk Polen SozSich) vorlägen. Nach Art 27 Abs 3 S 1 Abk Polen SozSich müsse die Klägerin hierfür ua spätestens vom 30.6.1991 an in Deutschland wohnen. Wohnort sei der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 30 Abs 3 S 2 SGB I), wobei es sich um einen unbefristeten rechtmäßigen Aufenthalt handeln müsse (Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich). Jemand habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Bei Ausländern müsse dazu die Aufenthaltsposition so offen sein, dass sie wie bei einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermögliche, statt auf Beendigung des Aufenthalts im Inland angelegt zu sein. Dabei komme es auf den Inhalt der von der Ausländerbehörde ausgestellten Bescheinigungen an, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstelle (Hinweis auf BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22). Bei der Klägerin sei der gewöhnliche Aufenthalt erst seit 4.4.1997 mit der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gegeben. Zum 30.6.1991 habe sie sich erst ca ein Jahr in Deutschland aufgehalten. Eine verfestigte Rechtsposition bzw "Kettenduldungen" von mehreren Jahren hätten noch nicht vorgelegen. Eine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen, Aufenthalte für Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten auf unbestimmte Zeit zuzulassen, habe es nicht gegeben. Vielmehr sei die sogenannte "Ostblockregelung" bereits aufgehoben gewesen.

7

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe § 149 Abs 5 und §§ 54, 55 SGB VI iVm Art 2 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976 in der Fassung des Gesetzes zu dem Abk Polen SozSich vom 18.6.1991 sowie Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich rechtsfehlerhaft ausgelegt und angewandt. Sie habe seit ihrer Einreise gemeinsam mit ihrem Ehemann und Kind eine Wohnung unter Umständen innegehabt, die darauf schließen ließen, dass sie die Wohnung beibehalten werde. Damit erfülle sie die Voraussetzungen des Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich. Auf einen bestimmten ausländerrechtlichen Titel komme es allein nicht an, sondern auch auf die sonstigen Umstände und die materielle Rechtslage. Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts stünden grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu erwarten seien. Zudem sei sie der Auffassung gewesen, die deutsche Volkszugehörigkeit werde ihren Aufenthalt auf Dauer sichern. Die unter Art 6 Abs 1 GG stehende Familienzusammenführung habe ihren aufenthaltsrechtlichen Status am Stichtag 30.6.1991 bereits so verfestigt, dass es der sogenannten "Ostblockregelung" nicht mehr bedurft habe, um ihren rechtlich erlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft zu begründen. Dies folge auch aus der ihr 1997 aufgrund der sogenannten "Härtefallregelung" erteilten Aufenthaltsbefugnis.

8

Die Klägerin beantragt,

        

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. März 2013 und des Sozialgerichts Aachen vom 7. März 2012 aufzuheben und die Beklage unter Änderung des Bescheids vom 28. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Juni 2011 zu verurteilen, die von ihr in Polen zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach Maßgabe des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 vorzumerken.

9

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

10

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend trägt sie vor, ausländerrechtliche Duldungen beseitigten weder die Ausreisepflicht noch deren Vollziehbarkeit, weshalb ein rechtmäßiger Aufenthalt nicht erreicht werde. Wegen des nur vorübergehenden Stopps der Abschiebung und der zeitlichen Beschränkung bei vorübergehenden Abschiebungshindernissen lasse sich die Prognose eines Daueraufenthalts in Deutschland nicht treffen.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

12

Zu Recht haben die Vorinstanzen die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1, § 56 SGG) abgewiesen und entschieden, dass die Beklagte die von der Klägerin erstrebten rechtlichen Feststellungen nicht treffen muss. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Vormerkung (§ 149 Abs 5 S 1 SGB VI) der von ihr Polen zurückgelegten Versicherungszeiten vom 4.10.1974 bis 28.2.1976, vom 10.4.1976 bis 27.11.1978 und vom 7.3.1979 bis 31.5.1990 in der deutschen Rentenversicherung nach Maßgabe des Abk Polen RV/UV vom 9.10.1975 (BGBl II 1976, 396).

13

1. Das noch vom Eingliederungs- bzw Integrationsprinzip (vgl hierzu BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 18; BSG vom 29.9.1998 - B 4 RA 91/97 R - Juris RdNr 14) getragene Abk Polen RV/UV ist durch (Zustimmungs-)Gesetz vom 12.3.1976 (BGBl II 393) in das innerstaatliche Recht transformiert und am 1.5.1976 in Kraft getreten (BGBl II 463).

14

Nach Art 2 Abs 1 des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV sind Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, gemäß Art 4 Abs 2 Abk Polen RV/UV in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) zu berücksichtigen, solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes "wohnt". Gemäß § 15 Abs 1 S 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich(vgl § 55 Abs 1 S 2 SGB VI).

15

a) Das Abk Polen RV/UV wurde durch das spätere Abk Polen SozSich vom 8.12.1990 (BGBl II 1991, 743), das durch das (Zustimmungs-)Gesetz vom 18.6.1991 (BGBl II 741, geändert durch Art 2 Nr 10 des Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen über Soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Zustimmungsgesetze vom 27.4.2002, BGBl I 1464) in innerstaatliches Recht transformiert worden und am 1.10.1991 in Kraft getreten ist (BGBl II 1072), nicht ausnahmslos verdrängt bzw ersetzt. Denn nach den Übergangs- und Schlussbestimmungen des Abk Polen SozSich ist das Abk Polen RV/UV unter den Voraussetzungen des Art 27 Abs 2 bis 4 Abk Polen SozSich weiterhin anwendbar.

16

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der mit Wirkung vom 1.5.2010 in Kraft getretenen EGV 883/2004 vom 29.4.2004 (ABl Nr L 166 vom 30.4.2004, zuletzt geändert durch EUV 517/2013 vom 13.5.2013, ABl Nr L 158 vom 10.6.2013).

17

Nach Art 8 Abs 1 S 1 EGV 883/2004 ist diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs zwar an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über die soziale Sicherheit getreten. Dies betrifft auch die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das Abk Polen SozSich und das Abk Polen RV/UV. Einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die wie das Abk Polen RV/UV von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung der EGV 883/2004 geschlossen wurden, gelten nach Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen ferner in Anhang II aufgeführt sein (Art 8 Abs 1 S 3 EGV 883/2004).

18

Die formelle Voraussetzung der Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind erfüllt. In Anhang II der EGV 883/2004 ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf die Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)" aufgeführt.

19

Auch die materiellen Voraussetzungen für die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV sind gegeben. Es sind lediglich "einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit" betroffen, auch wenn Anhang II die Fortgeltung des gesamten Abk Polen RV/UV anordnet. Denn dieses Vertragswerk stellt kein umfassendes Abkommen über soziale Sicherheit iS des Art 8 EGV 883/2004 dar, sondern beschränkt sich auf Regelungen zur RV und UV (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 34).

20

Ob die weitere Anwendung der Bestimmungen des Abk Polen RV/UV für den in Anhang II (Abschnitt Deutschland - Polen) der EGV 883/2004 benannten Personenkreis bzw für die Klägerin insgesamt günstiger wäre als der Bezug zeitanteiliger Leistungen aus der deutschen und polnischen RV nach den Regeln der Art 50 ff EGV 883/2004, hat das LSG zwar nicht festgestellt. Dies dürfte aber bei nach langjähriger Berufstätigkeit in Polen nach Deutschland übergesiedelten Personen regelmäßig der Fall sein. Weitere Sachaufklärung hierzu ist jedoch entbehrlich, da jedenfalls die zweite Alternative des Art 8 Abs 1 S 2 EGV 883/2004 erfüllt ist. Denn die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV für diejenigen vor dem 1.1.1991 Eingereisten, die (spätestens) bis zum 30.6.1991 ihren "Wohnort" in Deutschland oder Polen hatten und auch weiterhin dort ansässig sind, beruht auf den besonderen historischen Umständen, die Deutschland und Polen veranlasst haben, zur Bewältigung der als Folge des Zweiten Weltkriegs entstandenen Lage im Jahr 1975 hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche der in Deutschland oder Polen lebenden Bürger das Eingliederungsprinzip zugrunde zu legen und auch nach den Umwälzungen im Jahr 1990 für die genannte Personengruppe beizubehalten (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 35).

21

Die Fortgeltung des Abk Polen RV/UV ist schließlich "zeitlich begrenzt", da dessen Bestimmungen an Stelle der europarechtlichen Koordinierungsregelungen nur so lange Anwendung finden, wie die davon betroffenen Personen ihren bisherigen Wohnort in Deutschland oder Polen beibehalten. Sobald diese von der Freizügigkeit Gebrauch machen und ihren Wohnort in ein anderes Land verlegen, werden die allgemeinen Regelungen des Leistungsexports auch für sie wirksam (Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 36; Schuler, Anm zum Urteil des EuGH vom 18.12.2007 , ZESAR 2009, 40, 44).

22

Die im Sekundärrecht (Art 8 Abs 1 iVm Anhang II EGV 883/2004) für eine bestimmte Personengruppe verankerte Weitergeltung des Abk Polen RV/UV ist auch mit den im europäischen Vertragsrecht allen Unionsbürgern garantierten Grundfreiheiten (vgl Art 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV), insbesondere der Freizügigkeit (Art 20 Abs 2 S 2 Buchst a iVm Art 21 AEUV, s auch Art 45 iVm Art 52 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU ), vereinbar (hierzu ausführlich Senatsurteil vom 10.7.2012 - BSGE 111, 184 = SozR 4-5075 § 1 Nr 9, RdNr 37 ff; zu diesem Prüfungsschritt im Allgemeinen EuGH vom 18.12.2007 - C 396/05 ua - - SozR 4-6035 Art 42 Nr 2, RdNr 74 ff; EuGH vom 16.5.2013 - C 589/10 - - ZESAR 2013, 456, 460 zu Art 45 AEUV).

23

2. Nach Art 27 Abs 2 S 1 Abk Polen SozSich werden die vor dem 1.1.1990 aufgrund des Abk Polen RV/UV von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche durch das Abk Polen SozSich nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaats beibehalten. Gemäß Art 27 Abs 3 Abk Polen SozSich erwerben Ansprüche und Anwartschaften nach dem Abk Polen RV/UV auch Personen, die vor dem 1.1.1991 in den anderen Vertragsstaat eingereist sind, bis zu diesem Zeitpunkt die Verlegung des Wohnortes in den anderen Vertragsstaat beantragt haben und sich dort seitdem ununterbrochen aufhalten (in diesem Sinne ist auch der Klammerzusatz "Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind" im Anhang II der EGV 883/2004, Abschnitt "Deutschland - Polen" unter Buchst a zu verstehen). Weitere Voraussetzung ist jedoch, dass sie im Zeitpunkt des Versicherungsfalls, spätestens vom 30.6.1991 an, in diesem Vertragsstaat auch "wohnen" (zur Abgrenzung von Abs 2 und Abs 3 des Art 27 Abk Polen SozSich s Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 31).

24

Damit kommt es für die weitere Anwendbarkeit des Abk Polen RV/UV entscheidend darauf an, ob die Klägerin spätestens seit 30.6.1991 ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland "wohnt". Dies ist nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) nicht der Fall.

25

a) Für die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" in Art 27 Abs 2 und 3 Abk Polen SozSich ist die Definition des Abk Polen RV/UV maßgeblich (BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 13; Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 f und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 32 f; stRspr). Nach Art 1 Nr 2 Spiegelstrich 1 Abk Polen RV/UV versteht man hierunter - für die Bundesrepublik Deutschland - "den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts oder sich gewöhnlich aufhalten". Art 1a des Zustimmungsgesetzes zu dem Abk Polen RV/UV vom 12.3.1976, der durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 18.12.1989 (BGBl I 2261) zum 1.7.1990 eingefügt worden ist (Art 20 Nr 1, 85 Abs 6 RRG 1992), konkretisiert dies mit der Bestimmung, dass einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Sinne nur hat, wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich).

26

Da das Abk Polen RV/UV selbst die Begriffe "Wohnort" und "wohnen" - über die soeben beschriebenen allgemeinen Definitionen hinaus - nicht näher bestimmt, ist wegen des ausdrücklichen Bezugs auf die Bundesrepublik Deutschland davon auszugehen, dass auf den betreffenden innerstaatlichen (deutschen) Rechtsbegriff des gewöhnlichen Aufenthalts verwiesen werden sollte, wie er für die gesetzliche Rentenversicherung als Teil des SGB in § 30 Abs 3 S 2 SGB I bestimmt ist(Senatsurteile vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 26 und vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 35; stRspr). Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

27

Die Frage des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs 3 S 2 SGB I ist anhand einer dreistufigen Prüfung zu klären. Ausgangspunkt ist ein "Aufenthalt"; es sind dann die mit dem Aufenthalt verbundenen "Umstände" festzustellen; sie sind schließlich daraufhin zu würdigen, ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende am Aufenthaltsort oder im Aufenthaltsgebiet "nicht nur vorübergehend verweilt" (vgl BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 68 f = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 24).

28

Ob jemand sich gewöhnlich an einem Ort oder in einem Gebiet aufhält oder nur vorübergehend dort verweilt, lässt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) entscheiden (BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 25). Dabei sind alle bei Prognosestellung für die Beurteilung der künftigen Entwicklung erkennbaren Umstände zu berücksichtigen. Ist nach der Prognose davon auszugehen, dass die betreffende Person zukunftsoffen "bis auf weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird, so hat sie dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt, wobei kein dauerhafter (unbegrenzter) Aufenthalt erforderlich ist (vgl BVerwG vom 18.3.1999 - FEVS 49, 434, 436; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30). Dem vorübergehenden Aufenthalt wohnt dagegen als zeitliches Element eine Beendigung von vornherein inne (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 32; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 30).

29

Die zu treffende Prognose bleibt auch dann maßgebend, wenn der "gewöhnliche Aufenthalt" rückblickend (zB - wie hier - zu einem bestimmten Stichtag) zu ermitteln ist. Spätere Entwicklungen, die bis zu dem Zeitpunkt nicht erkennbar waren, zu dem die Frage des Aufenthalts vorausschauend beurteilt werden musste, können eine Prognose weder bestimmen noch widerlegen. Denn es gehört zum Wesen der Prognose, dass aufgrund feststehender Tatsachen Schlussfolgerungen für eine künftige, ungewisse Entwicklung gezogen werden. Dem würde es widersprechen, wollte man bei der späteren Überprüfung der Prognoseentscheidung auch zwischenzeitlich bekannt gewordene Fakten zugrunde legen (BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 20; BSG vom 11.5.2000 - SozR 3-4100 § 36 Nr 5 S 14). Es ist daher nicht rechtserheblich, dass bei späterer rückschauender Betrachtung eine andere prognostische Beurteilung gerechtfertigt sein könnte. Wenn Änderungen eintreten, kann der gewöhnliche Aufenthalt an dem Ort oder in dem Gebiet nur vom Zeitpunkt der Änderung an begründet werden oder entfallen (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 33; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 f = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183 f; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86, 89 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 17, 20; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 26).

30

Die Prognose hat alle mit dem Aufenthalt verbundenen Umstände zu berücksichtigen (BSG vom 25.6.1987 - BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1 S 2; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 32); dies können subjektive wie objektive, tatsächliche wie rechtliche sein. Es kann demnach nicht allein auf den Willen des Betroffenen ankommen, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen (sog Domizilwille; BSG vom 9.5.1995 - 8 RKn 2/94 - Juris RdNr 17); dies gilt insbesondere dann, wenn er nicht mit den tatsächlichen objektiven Umständen übereinstimmt (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 97 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 183).

31

Bei Ausländern ist im Rahmen der Gesamtwürdigung als ein rechtlicher Gesichtspunkt deren Aufenthaltsposition heranzuziehen (exemplarisch Senatsurteil vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 30; stRspr), ohne dass diese aber allein Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts sein kann (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Zu den Tatsachen, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs 3 S 2 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören auch Rechtshindernisse, die einer Abschiebung eines Ausländers entgegenstehen(vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 87 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18).

32

Dabei wird die Aufenthaltsposition wesentlich durch den Inhalt der von der Ausländerbehörde erteilten Bescheinigungen bestimmt, wie er sich nach der behördlichen Praxis und der gegebenen Rechtslage darstellt (BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39). Der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts eines Ausländers stehen grundsätzlich keine Hindernisse entgegen, soweit keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen getroffen oder zu erwarten sind. Davon ist ua auszugehen, wenn der Betreffende aufgrund besonderer ausländer- bzw aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen oder behördlicher Praxis auch bei endgültiger Ablehnung eines Antrags auf ein dauerhaftes Bleiberecht (zB Asyl) nicht mit einer Abschiebung zu rechnen braucht (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34; Senatsurteil vom 4.11.1998 aaO). Hierbei kann auch die familiäre Situation, etwa der Aufenthaltsstatus eines Ehegatten, eine Rolle spielen (vgl BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 88 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 19).

33

Das Stellen einer Prognose ist die Feststellung einer hypothetischen Tatsache (BSG vom 7.4.1987 - SozR 4100 § 44 Nr 47 S 115; BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 128 RdNr 9f). Es ist allein Aufgabe der Tatsachengerichte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und daraus die Prognose abzuleiten. Wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung entscheidet das Gericht bei einer Prognose nach freier Überzeugung.

34

Die Prognose und die für ihre Feststellung notwendigen Tatsachen gehören nicht zur Rechtsanwendung; deshalb können sie vor dem Revisionsgericht nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl BSG vom 22.3.1988 - BSGE 63, 93, 98 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 184; BSG vom 17.5.1989 - BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17 S 18; BSG vom 27.7.2011 - SozR 4-2600 § 5 Nr 6 RdNr 23; Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 27). Verfahrensrügen, die die Feststellung der für die vorausschauende Betrachtung - nach damaligem Erkenntnisstand bis zu dem hier maßgeblichen Stichtag - erforderlichen Tatsachen, insbesondere der die Prognosegrundlage bildenden Tatsachen, betreffen, hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht erhoben, sodass die Feststellungen des LSG insoweit für den Senat bindend sind (§ 163 SGG).

35

Das Revisionsgericht hat jedoch auch ohne Verfahrensrüge zu prüfen, ob das LSG für seine Prognose sachgerechte Kriterien gewählt hat oder ob die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (in diesem Sinne Senatsurteil vom 31.10.2012 - BSGE 112, 116 = SozR 4-1200 § 30 Nr 6, RdNr 28 mwN).

36

b) Nach diesen Maßstäben ist die Sachentscheidung des LSG, dass die Klägerin bis zum hier maßgeblichen Stichtag 30.6.1991 keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hatte, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG hat aus den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden Tatsachenfeststellungen rechtsfehlerfrei gefolgert, dass die Klägerin sich am 30.6.1991 noch nicht bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibens im Bundesgebiet aufgehalten hat. Unerheblich ist, dass das Berufungsgericht seine Erwägungen nicht ausdrücklich als Prognose bezeichnet, solange es - wie hier - in der Sache eine solche ohne Rechtsfehler trifft.

37

Nach den Feststellungen des LSG verfügte die Klägerin bis zum 30.6.1991 über keine Aufenthaltsgenehmigung - welcher Art auch immer - (vgl § 5 Ausländergesetz in der hier maßgeblichen Fassung des AuslG vom 9.7.1990, BGBl I 1354 ), sondern lediglich über eine befristete Duldung.

38

Die Duldung ist eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers (§ 55 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG). Sie beseitigt weder die Ausreisepflicht (§ 56 Abs 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 3 AufenthG) noch deren Vollziehbarkeit. Der Aufenthalt eines Ausländers wird mit der Duldung zwar nicht rechtmäßig, jedoch entfällt mit ihr eine Strafbarkeit wegen illegalen Aufenthalts (vgl § 92 Abs 1 Nr 1 AuslG 1990; seit 1.1.2005 vgl § 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG). Mithin erschöpft sich die Duldung in dem zeitlich befristeten Verzicht der Behörde auf die an sich gebotene Durchsetzung der Ausreisepflicht mittels Abschiebung. Nach Ablauf der Duldung ist die unverzügliche Abschiebung daher zwingend vorgeschrieben (vgl § 56 Abs 6 AuslG 1990; seit 1.1.2005 § 60a Abs 5 AufenthG). Im Hinblick auf den Zweck der Duldung, einen nur vorübergehenden Abschiebungsstopp zu regeln, ist die Geltungsdauer der Duldung zeitlich zu beschränken (vgl § 56 Abs 2 AuslG 1990; vgl seit 1.1.2005 § 60a Abs 1 AufenthG). Der Sache nach kommt eine Duldung grundsätzlich nur als Reaktion auf das Auftreten vorübergehender (tatsächlicher oder rechtlicher) Abschiebungshindernisse in Betracht (vgl § 55 Abs 2 bis 4 AuslG; seit 1.1.2005 vgl § 60a Abs 1 und 2 AufenthG); sie wird gewährt, solange die Abschiebung unmöglich ist (vgl zum Ganzen: BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 256 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 4 zur Duldung nach § 55 AuslG 1990; BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 46 bis 48; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 39 zur Duldung nach § 60a AufenthG, jeweils mwN).

39

Ausgehend von dieser gesetzlichen Ausgestaltung der Duldung lässt sich für einen in Deutschland lediglich geduldeten Ausländer eine Prognose jedenfalls dahingehend, dass er sich voraussichtlich auf Dauer in Deutschland aufhalten werde, nicht treffen. Der geduldete Ausländer befindet sich vielmehr in einer Situation, in welcher er nach Ablauf der Duldung jederzeit mit einer Abschiebung rechnen muss (BSG vom 3.12.2009 - BSGE 105, 70 = SozR 4-7833 § 1 Nr 10, RdNr 49).

40

Die formale Art des Aufenthaltstitels allein reicht jedoch nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts in Deutschland aus (vgl BVerfG vom 6.7.2004 - BVerfGE 111, 176, 185; BVerfG vom 10.7.2012 - BVerfGE 132, 72, RdNr 28). Dies hat das LSG auch nicht verkannt. Es hat dementsprechend in seine Entscheidungsfindung auch - für die Klägerin jedoch ohne Vorteil - die bis zum hier relevanten Stichtag bestehende tatsächliche Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen mit einbezogen (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 26 = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; Senatsurteil vom 4.11.1998 - B 13 RJ 9/98 R - Juris RdNr 39).

41

Das Berufungsgericht hat berücksichtigt, dass die sogenannte "Ostblockregelung" im hier maßgeblichen Zeitraum bereits aufgehoben war. Mit der "Ostblockregelung" hatte die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (Innenministerkonferenz) mit Beschluss vom 26.8.1966 idF des Beschlusses vom 26.4.1985 (veröffentlicht ua im Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1985, 773 f) angeordnet, dass Staatsangehörige der Ostblockstaaten grundsätzlich nicht wegen illegaler Einreise, illegalen Aufenthalts oder Bezugs von Sozialhilfe auszuweisen und ggf abzuschieben waren. Diese Regelung hatten sie aber durch Beschluss vom 2./3.4.1987, bekanntgegeben (ua) durch Erlass des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 (Ministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen 1987, 1536 ff), aufgehoben. Danach galt die "Ostblockregelung" für polnische und ungarische Staatsangehörige nur noch bei einem Zuzug vor dem 1.5.1987 (vgl Vorbemerkung zu Abschnitt I und Abschnitt III Abs 2 und 6 des Erlasses des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20.9.1987 aaO). Hieraus hat das LSG geschlossen, dass jedenfalls zum 30.6.1991 keine besondere Praxis der Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen für (geduldete) Staatsangehörige aus den ehemaligen Ostblockstaaten mehr bestand, Aufenthalte auf unbestimmte Zeit zuzulassen.

42

Die aus diesen Gesamtumständen gezogene Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass die Aufenthaltsposition der Klägerin in Deutschland jedenfalls bis zum 30.6.1991 noch nicht so offen war, dass diese ihr wie einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Dauer ermöglichte (vgl BSG vom 18.2.1998 - BSGE 82, 23, 25 f = SozR 3-2600 § 56 Nr 11 S 52; BSG vom 25.3.1998 - B 5 RJ 22/96 R - Juris RdNr 22), sondern vielmehr weiterhin auf Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet angelegt war und sie damit noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 30 Abs 3 S 2 SGB I in D. begründet hatte, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das LSG konnte mit Blick auf die befristete Duldung und die von ihm festgestellte ausländerbehördliche Praxis davon ausgehen, dass die Klägerin noch keine "verfestigte" Rechtsposition dahingehend innehatte, dass sie auf unbestimmte Zeit und nicht nur vorübergehend im Bundesgebiet bleiben würde.

43

Ob sich an dieser Beurteilung etwas ändern könnte, wenn über mehrere Jahre hinweg die Duldung immer wieder verlängert worden ist, sich der Ausländer also faktisch seit Jahren in Deutschland aufgehalten hat und zum Stichtag eine positive Bleibeprognose dergestalt gestellt werden kann, dass der Ausländer zukunftsoffen "bis aus weiteres" an dem Ort oder in dem Gebiet verweilen wird (vgl BSG vom 23.2.1988 - BSGE 63, 47, 50 = SozR 5870 § 1 Nr 14 S 34 zu § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG; BSG vom 1.9.1999 - BSGE 84, 253, 254 = SozR 3-3870 § 1 Nr 1 S 2 zu § 1 SchwbG; BSG vom 29.4.2010 - BSGE 106, 101 = SozR 4-3250 § 2 Nr 2, RdNr 36 ff zu § 2 Abs 2 SGB IX), kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Daher kann der Senat auch offenlassen, ob einer solchen Beurteilung der Begriffe "Wohnort" bzw "gewöhnlicher Aufenthalt" iS des Abk Polen RV/UV bzw Abk Polen SozSich bezogen auf einen lediglich "geduldeten" (sich aber dennoch rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltenden) Ausländer die Bestimmung in Art 1a des Gesetzes zu dem Abk Polen RV/UV (vgl auch Art 1 Nr 10 Abk Polen SozSich) entgegenstehen könnte, wonach einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Abk Polen RV/UV nur hat, "wer sich dort unbefristet rechtmäßig aufhält" (s hierzu im Einzelnen Senatsbeschluss vom 9.8.1995 - SozR 3-1200 § 30 Nr 15 S 31 ff). Denn sogenannte "Kettenduldungen" über einen Zeitraum von mehreren Jahren lagen jedenfalls bis zum 30.6.1991 bei der Klägerin nicht vor. Vielmehr hielt sich die am 7.6.1990 eingereiste Klägerin zum Stichtag "geduldet" erst ca ein Jahr in Deutschland auf. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG 1990 hat nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht bestanden.

44

Weitere wesentliche Umstände, die das Berufungsgericht bei seiner Prognose, ob sich die Klägerin bereits gewöhnlich oder nur vorübergehend im Bundesgebiet aufhielt, nicht beachtet hat, die aber bezogen auf den Stichtag zu berücksichtigen wären, sind nicht ersichtlich.

45

Dies gilt zunächst für den Hinweis der Klägerin auf eine Aufenthaltsbewilligung nach § 29 Abs 1 AuslG 1990. Danach kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltsbewilligung besitzt, zum Zwecke des nach Art 6 GG gebotenen Schutzes von Ehe und Familie eine Aufenthaltsbewilligung für die Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft mit dem Ausländer im Bundesgebiet erteilt werden, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers und des Ehegatten ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe gesichert ist und ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht. Ähnliche Vorschriften galten für die Aufenthaltserlaubnis (§ 17, § 18, § 23 AuslG 1990), die Aufenthaltsberechtigung (§ 27 Abs 4 AuslG 1990) und die Aufenthaltsbefugnis (§ 31 AuslG 1990). Hier übersieht die Klägerin jedoch bereits, dass ihr Ehemann, der ca sechs Monate vor ihr von Polen nach Deutschland eingereist war, zum hier maßgeblichen Zeitpunkt 30.6.1991 über keinen derartigen Aufenthaltstitel verfügte. Denn aus dem vom LSG ausdrücklich in Bezug genommenen Beschluss des Verwaltungsgerichts A. (8 L 1241/95) vom 6.10.1995 ergibt sich, dass weder sie noch ihr Ehemann im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung (gleich welcher Art, vgl § 5 AuslG 1990)waren (aaO, S 3).

46

Nicht anderes folgt schließlich aus der der Klägerin im April 1997 als "Härtefall" erteilten Aufenthaltsbefugnis. Diese hatte ihre Grundlage in dem Runderlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 10.6.1996 "Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen nach den §§ 30 und 31 Abs. 1 AuslG - Anordnung nach § 32 AuslG - Härtefallentscheidungen (Altfälle)"(Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1996, 1411 f), der wiederum auf einen Beschluss der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 (veröffentlicht ua aaO, 1412 f) zurückgeht. Diese bundeseinheitliche Regelung stellte auf einen langjährigen Aufenthalt ab; im Beschlussjahr 1996 erfasste sie ua nur solche Familien von abgelehnten Vertriebenenbewerbern, die bereits vor dem 1.7.1990 eingereist waren (vgl III 1 des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 29.3.1996 aaO, 1412). Für die rechtliche Beurteilung eines gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin bis zum 30.6.1991 ist sie von vornherein unergiebig. Denn jedenfalls bis zu diesem, hier allein maßgeblichen Zeitpunkt lag bei ihr gerade noch kein "Altfall" im Sinne eines mehrjährigen Verweilens im Bundesgebiet vor. Nachträgliche Entwicklungen können eine zu einem bestimmten Stichtag getroffene Prognose, ob der Aufenthalt nur vorübergehend oder bereits gewöhnlich ist, nicht widerlegen.

47

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

(1) Für Zeiten der in §§ 15 und 16 genannten Art werden Entgeltpunkte in Anwendung von § 256b Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz, Satz 2 und 9 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch ermittelt. Hierzu werden für Zeiten nach dem 31. Dezember 1949 die in Anlage 14 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch genannten oder nach § 256b Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch festgestellten Durchschnittsjahresverdienste um ein Fünftel erhöht und für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 Entgeltpunkte auf Grund der Anlagen 1 bis 16 dieses Gesetzes ermittelt. Die Bestimmung des maßgeblichen Bereichs richtet sich danach, welchem Bereich der Betrieb, in dem der Versicherte seine Beschäftigung ausgeübt hat, zuzuordnen wäre, wenn der Betrieb im Beitrittsgebiet gelegen hätte. Ist der Betrieb Teil einer größeren Unternehmenseinheit, ist für die Bestimmung des Bereichs diese maßgeblich. Kommen nach dem Ergebnis der Ermittlungen mehrere Bereiche in Betracht, ist von ihnen der Bereich mit den niedrigsten Durchschnittsverdiensten des jeweiligen Jahres maßgeblich. Ist eine Zuordnung zu einem oder zu einem von mehreren Bereichen nicht möglich, so erfolgt die Zuordnung zu dem Bereich mit den für das jeweilige Jahr niedrigsten Durchschnittsverdiensten. Die Sätze 5 und 6 gelten entsprechend für die Zuordnung zu einer Qualifikations- oder Leistungsgruppe. Zeiten eines gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstes werden Entgeltpunkte zugeordnet, die zu berücksichtigen wären, wenn der Wehr- oder Ersatzdienst im Bundesgebiet ohne das Beitrittsgebiet abgeleistet worden wäre. Kindererziehungszeiten nach § 28b sind Entgeltpunkte zuzuordnen, wie wenn die Erziehung im Bundesgebiet erfolgt wäre.

(2) Zeiten der Ausbildung als Lehrling oder Anlernling erhalten für jeden Kalendermonat 0,025 Entgeltpunkte.

(3) Für Beitrags- oder Beschäftigungszeiten, die nicht nachgewiesen sind, werden die ermittelten Entgeltpunkte um ein Sechstel gekürzt.

(4) Die nach den Absätzen 1 und 3 maßgeblichen Entgeltpunkte werden mit dem Faktor 0,6 vervielfältigt.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.