Bundesgerichtshof Beschluss, 30. Apr. 2015 - 2 StR 444/14

bei uns veröffentlicht am30.04.2015

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 S t R 4 4 4 / 1 4
vom
30. April 2015
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 30. April 2015 gemäß § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 23. Juni 2014 mit den Feststellungen aufgehoben ,
a) im Einzelstrafausspruch zu Fall II. 2. der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und
c) im Ausspruch über die Dauer des Vorwegvollzuges der Strafe vor Vollziehung der Maßregel. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel , an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags (Fall II. 2. der Urteilsgründe) und wegen gefährlicher Körperverletzung (Fall II. 1. der Urteilsgründe ) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug von zwei Jahren und neun Monaten der "Freiheitsstrafe" vor der Maßregel angeordnet. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Die Verfahrensrügen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. November 2014 keinen Erfolg.
3
2. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch und zum Strafausspruch im Fall II. 1. der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
4
3. Der Strafausspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe hält hingegen rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Strafkammer eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen hat.
5
a) Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt eine "maximale Blutalkoholkonzentration von etwa 3 ‰" (UA S. 13) bzw. eine errechnete "Blutalkoholkonzentration von 3,18 ‰" (UA S. 47) aufgewiesen habe. Die Voraussetzungen des § 21 StGB hätten indes nicht vorgelegen, weil beim alkoholgewöhnten Angeklagten keinerlei auf Alkoholgenuss zurückzuführende Ausfallerscheinungen festgestellt werden konnten. Der Angeklagte sei zu zielgerichtetem Vorgehen in der Lage gewesen und hätte auch nach der Tat den Tatort "ohne Aufsehen zu erregen" verlassen können. Anhaltspunkte für Ausfallerscheinungen während der Tatausführung hätten sich nicht ergeben. Soweit ein Zeuge bekundet habe, der Angeklagte sei vor der Tat "‘richtig voll‘" und danach "noch immer betrunken, […] ‘nicht mehr zurechnungsfähig‘ und ‘wie ein Tier‘" (UA S. 48) gewesen, ist die Strafkammer dieser Einschätzung nicht gefolgt, zumal es dem Angeklagten gelungen sei, "ohne größere Probleme […] die Wohnungstüre aufzuschließen und den Schlüssel in ein Schloss zu stecken bzw. ihn abzuziehen. Auch das Anziehen der Schuhe in hockender Position und angelehnt an die Wand" (UA S. 48) sei kein "Anhalt für eine hohe alkoholische Beeinflussung."
6
b) Zwar gibt es keinen gesicherten Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien regelmäßig vom Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung auszugehen ist. Bei einem Wert von über 2 ‰ ist eine erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit aber je nach den Umständen des Einzelfalles in Betracht zu ziehen, naheliegend oder gar in hohem Maße wahrscheinlich (BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 75 f.; Beschluss vom 7. Februar 2012 - 5 StR 545/11, NStZ-RR 2012, 137). Bei Tötungsdelikten ist ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,2 ‰ eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht zu ziehen (vgl. Senat, Beschluss vom 18. März 1998 - 2 StR 5/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35; weitere Nachweise bei Streng in Münchener Kommentar , StGB, 2. Aufl., § 20 Rn. 68).
7
Für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es demnach - gesamtwürdigend - sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 75 f.). Dabei steht das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen; gerade bei - wie hier - alkoholgewöhnten Tätern können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 - 4 StR 187/07, NStZ 2007, 696; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 20 Rn. 23a, jeweils mwN). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Feststellung, der Angeklagte habe nach der Rückkehr zur Wohnung keine Ausfallerscheinungen gezeigt, auf Angaben von Zeugen beruhen, die entweder ebenfalls dem Alkohol zugesprochen hatten oder unter dem Einfluss von Schmerzmitteln standen. Soweit sich die Urteilsgründe auf die Aussagen dieser Zeugen stützen, wären etwaige alkoholische bzw. medikamentöse Auswirkungen auf deren Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens des Angeklagten zu erörtern gewesen (vgl. BGH Beschluss vom 26. Mai 2009 - 5 StR 57/09, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration

41).

8
Zudem lassen sich gewichtige psychodiagnostische Gegenindizien, die geeignet sein könnten, die Indizwirkung der Blutalkoholkonzentration für die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu relativieren, dem Urteil nicht ausreichend entnehmen. Die Wertung der Strafkammer, der Angeklagte habe sich situationsadäquat und zielgerichtet verhalten, steht vielmehr im Widerspruch zu den Feststellungen. Danach trägt bereits das Gesamtbild der Tatausführung deutliche Züge einer spontanen und unüberlegten Handlung.
9
Der Senat kann ausschließen, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat im Fall II.2. der Urteilsgründe schuldunfähig gewesen wäre, muss jedoch den Strafausspruch in diesem Fall aufheben.
10
4. Die Aufhebung des Einzelstrafausspruchs zu Fall II. 2. der Urteilsgründe hat die Aufhebung der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe und der Entscheidung über die Dauer des Vorwegvollzuges der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel zur Folge.
11
Der Senat weist darauf hin, dass die Strafzumessungserwägung des Landgerichts, zu Lasten des Angeklagten zu werten sei, dass er "ohne Anlass zum wiederholten Male das Gespräch mit dem Geschädigten gesucht" habe (UA S. 51), rechtlichen Bedenken begegnet. Tatmodalitäten dürfen einem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar sind, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl., § 46 Rn. 32 mwN). Krehl Eschelbach Ott Zeng Bartel

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

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Tenor Die Berufung wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 P

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

5 StR 545/11

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 7. Februar 2012
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Februar 2012

beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 14. September 2011 gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung eines weiteren Urteils zu einer Einheitsjugendstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Gegen den Schuldspruch ist aus den zutreffenden Gründen der An2 tragsschrift des Generalbundesanwalts revisionsgerichtlich nichts zu erinnern. Insbesondere hat die Jugendkammer eine alkoholbedingte Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
3
2. Hingegen begegnet die Begründung, mit der sie auch eine erhebli3 che Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB abgelehnt hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
4
a) Nach den Feststellungen war der Tat vom 13. Dezember 2010 ein
4
Trinkgelage im Innenhof der Altmarktgalerie in der Dresdner Innenstadt vorausgegangen , an dem neben dem Angeklagten drei weitere junge Leute teilnahmen und das sich über mehr als fünf Stunden erstreckte. Bereits zuvor hatte der Angeklagte Alkohol konsumiert. Ausgehend von den Trinkmengenangaben des Angeklagten in der Hauptverhandlung (vgl. UA S. 10, 12) gelangt sie durch Rückrechnung zu einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit beim Angeklagten von „2,07 ‰ bzw. 2,44 ‰“, mithin Werten, bei denen „grundsätzlich eine alkoholbedingte Verminderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu diskutieren“ sei (UA S. 21). Im Anschluss an das Sachverständigengutachten findet die Jugendkammer indes im Tatgeschehen keinerlei Anhaltspunkte für eine erhebliche Einschränkung der Schuldfä- higkeit des Angeklagten: „Durch keinen der Zeugen seien körperliche und neurologische Ausfallerscheinungen des Angeklagten berichtet worden. Der Angeklagte selbst könne sich genau erinnern. Das Tatgeschehen wie auch das Nachtatgeschehen zeigten keinerlei Ausfallerscheinungen“ (UA S. 21). Vielmehr sei der Angeklagte „offensichtlich zielgerichtet und absichtsvoll vor- gegangen“ (UA S. 22).
5
b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht
5
stand. Eine Blutalkoholkonzentration von maximal 2,44 ‰ legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit nahe, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für eine Tat wie die vor- liegende ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,2 ‰ in Betracht zu ziehen ist (BGH, Urteil vom 22. November 1990 – 4 StR 117/90, BGHSt 37, 231, 235; Urteil vom 12. Januar 1994 – 3 StR 633/93, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 27; Beschluss vom 25. Februar 1998 – 2 StR 16/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 34). Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für die Stärke der alkoholischen Beeinflussung.
6
Zwar ist grundsätzlich der eingeschränkte Beweiswert aufgrund von
6
Trinkmengenangaben errechneter Blutalkoholwerte zu beachten. Die Bewertung der Jugendkammer, der Angeklagte habe seinen eigenen Alkoholkonsum in der Hauptverhandlung überhöht dargestellt, vermag der vom Sachverständigen berechneten und vom Landgericht übernommenen Blutalkoholkonzentration nicht die Bedeutung im Sinne einer Feststellung zu nehmen. Solange nämlich nicht auf der Grundlage einer schlüssigen Beweiswürdigung , die hier indes fehlt, ein geringerer Alkoholkonsum festgestellt wird, gebietet es der Zweifelssatz, den von der Jugendkammer errechneten Maximalwert mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung der Beurteilung der Schuldfähigkeit zugrunde zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden sind (vgl. Schöch in LK, 12. Aufl., § 20 Rn. 111 mwN).
7
c) Als in diesem Sinne kontraindikatorische psychodiagnostische Be7 urteilungskriterien kommen dabei nur solche Umstände in Betracht, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist (BGH, Beschluss vom 30. Juli 1997 – 3 StR 144/97, NStZ 1997, 592). Den vom Landgericht herangezogenen Umständen kommt eine solche Bedeutung nicht zu. Das Verhalten des Angeklagten bei der Tatbegehung weist keine Merkmale auf, die aussagekräftige Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit zulassen. Vielmehr zeigt das Tatbild im Gegenteil Besonderheiten, die auf eine alko- holbedingte erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen können (spontane, rasche Verfolgung des nach einer geringfügigen, bereits beruhigten Auseinandersetzung weggehenden Ge- schädigten; wuchtiger Stich mit einem „Wehrmachtsehrendolch“ in seinen Oberbauch) und die von der Jugendkammer in diesem Zusammenhang nicht behandelt werden. Unerörtert bleibt auch der Umstand, dass die Gruppe um den Angeklagten auf ihrem Heimweg „laut grölend und ‚Dynamo-Sprüche‘ brüllend“ (UA S. 10) durch die Dresdner Innenstadt zog. Das Verhalten des Angeklagten nach der Tat (Flucht mit der Straßenbahn, Entsorgung des Dolchs im Schnee) hat nur geringe Aussagekraft, zumal durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Sein angeblich genaues Erinnerungsvermögen ist angesichts seiner dreimal abgewandelten Einlassung zum Tatablauf, die das Landgericht jeweils – in nachvollziehbarer Weise – für nicht glaubhaft hält, kein wesentliches Kriterium. Dass der Angeklagte den Zeugen nicht durch Torkeln oder Lallen oder ähnliche Ausfallerscheinungen aufgefallen ist, genügt alleine nicht, eine erhebliche Verminderung seines Steuerungsvermögens auszuschließen.
8
d) Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei der Tat infolge seiner
8
Alkoholisierung erheblich vermindert war oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (§ 21 StGB), bedarf deshalb erneuter Prüfung. Der Senat verkennt nicht, dass der Alkoholisierung – namentlich bei einer Ahndung nach Jugendstrafrecht – nicht unbedingt maßgebliche strafmildernde Wirkung zukommen muss. Die entsprechende Gewichtung obliegt indes dem Ermessen des Tatgerichts.
9
3. Darüber hinaus liegt ein Rechtsfehler darin, dass die Jugendkam9 mer eine Unterbringung nach § 64 StGB nicht geprüft hat. Die im Zusammenhang mit der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten wiederge- gebenen Ausführungen des Sachverständigen zur Frage eines „chronischen Abhängigkeitsverhaltens“ (UA S. 22) veranlassen den Senat zu dem Hinweis , dass eine Alkoholabhängigkeit nicht zwingende Voraussetzung für die Annahme eines Hanges ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. November2003 – 1 StR 406/03, BGHR StGB § 64 Hang 2, und vom 4. April 1995 – 4 StR 95/95, BGHR § 64 Abs. 1 Hang 5). Denn hierunter fällt nicht nur eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit, sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ohne dass diese den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (BGH, Beschlüsse vom 18. August 1998 – 5 StR 363/98, und vom 18. Juli 2007 – 5 StR 279/07). Eine solche Neigung liegt bei dem festgestellten Alkoholmissbrauchsverhalten des Angeklagten („Alpha- und Betaalkoholismus“, UA S. 22) nicht von vornherein fern (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Januar 2010 – 5 StR 510/09, NStZ-RR 2010, 234).
10
4. Angesichts der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz
10
der Zurückverweisung der Hauptsache die auf § 74 JGG und § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen.
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Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 187/07
vom
12. Juni 2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 12. Juni 2007 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 7. Dezember 2006 im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen, einschließlich derjenigen zu den Trinkmengen, aufgehoben. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Nach den Feststellungen tötete der Angeklagte, der alkoholabhängig ist und zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 2,87 ‰ aufwies, seine Lebensgefährtin durch mindestens zehn gegen den Kopf gerichtete Schläge mit einem Baseballschläger. Die Schläge waren so heftig, dass Teile der Schädeldecke vom Kopf gelöst wurden und der Schläger schließlich zerbrach. Vor der Tat war der Angeklagte nie durch Tätlichkeiten oder aggressives Verhalten aufgefallen , sondern führte trotz vergleichsweise hoher Intelligenz ein eher passives und beruflich perspektivloses Leben. In der Beziehung zwischen dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin war es mehrfach zu zeitweiligen Trennungen gekommen. Der Tat vorangegangen war ein erneuter heftiger Streit, in dessen Verlauf das spätere Opfer dem Angeklagten erklärte, er habe am folgenden Tag die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Nach der Tat verschloss der Angeklagte die Türen zum Tatzimmer und zum Kinderzimmer, zog sich um und fuhr mit dem Kraftfahrzeug der Geschädigten nach Polen.
3
Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, er könne sich an das eigentliche Tatgeschehen "ganz überwiegend nicht erinnern", ebenso wenig an das unmittelbare Nachtatgeschehen. Seine Erinnerung setze erst wieder ein, als er die deutsch-polnische Grenze passiert habe.
4
Das sachverständig beratene Landgericht hat im Anschluss an den Sachverständigen eine Aufhebung oder erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ausgeschlossen. Eine solche habe weder auf Grund der akuten Alkoholintoxikation allein noch im Zusammenspiel mit einer möglicherweise affektiv hoch aufgeladenen Streitsituation vorgelegen. Auch das Maß der aufgewendeten Gewalt spreche hier nicht für das Vorliegen eines Affekts als Ausdruck einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, da der Tatablauf Hinweise auf stimmige Handlungsschritte enthalte. Im Nachtatverhalten lägen ebenfalls Umstände vor, die gegen eine vorangegangene Affekttat sprächen.
5
2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21 StGB verneint hat, halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
6
a) Soweit das Landgericht - dem Sachverständigen folgend - meint, die festgestellte hohe Alkoholisierung des Angeklagten könne deswegen für sich allein eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht begründen, weil der Angeklagte eine hohe Alkoholtoleranz entwickelt habe und nach der Tat ohne Schwierigkeiten nach Polen gefahren sei, hat es nicht bedacht, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit bei hoher Alkoholgewöhnung durchaus weit auseinander fallen können (BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 10, 18). Gerade bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch "Übung" erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (vgl. Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 20 Rdn. 23). Dem Verhalten nach der Tat kommt in diesem Zusammenhang nur eine geringe Aussagekraft zu, weil, was das Landgericht nicht erkennbar bedacht hat, bei dem Angeklagten durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann. Zudem ergibt sich aus dem Urteil nicht, dass der Angeklagte unmittelbar nach der Tat die Fahrt nach Polen angetreten hat.
7
b) Die Ablehnung eines Affekts begegnet ebenfalls durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8
Die Ausführungen der Strafkammer sind schon im Ansatz nicht frei von Widersprüchen. Einerseits meint sie in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen , die völlig fehlende Gewalt in der Beziehung im Vorfeld würde grundsätzlich für die Annahme einer plötzlichen affektiven "Zerreißung der Sinnzusammenhänge" und damit, befördert durch die Alkoholintoxikation, für die Annahme einer tiefgreifenden Bewusststeinsstörung zum Tatzeitpunkt sprechen. Andererseits soll gerade gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechen, dass aggressive Durchsetzungsstrategien für den Angeklagten nicht typisch seien.
9
Vor allem aber hat die Strafkammer den Tatablauf nicht hinreichend in ihre Erwägungen zum Affekt einbezogen. Zwar hat sie gesehen, dass das außergewöhnlich hohe Maß der aufgewendeten Gewalt ein Umstand ist, der für das Vorliegen eines Affekts als Ausdruck einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung sprechen könne. Letztlich hat sie aber eine Affekttat vor allem deswegen verneint , weil der Angeklagte das Tatwerkzeug erst aus einem anderen Raum geholt und weil er damit überwiegend zielgerichtet auf den Kopf des Opfers geschlagen habe. Beide Argumente tragen das Ergebnis nicht. Bei dem Herbeiholen des Tatwerkzeugs handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, die vom Angeklagten keine intensiven Entscheidungs- und Steuerungselemente erfordert und deswegen nicht gegen einen Affekt spricht (BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 1). Ebenso wenig spricht ein gezieltes Zuschlagen gegen einen Affekt, denn auch ein Täter, der in einem hochgradigen affektiven Ausnahmezustand handelt, kann gemessen an der Verfolgung seines deliktischen Ziels durchaus folgerichtig und zielgerichtet handeln und insbesondere in der Lage sein, sein Opfer mit allen Schlägen am Kopf zu treffen (vgl. BGHR StGB § 20 Bewusststeinsstörung 6; § 21 Affekt 10).
10
3. Die aufgezeigten Mängel führen zur Aufhebung des Strafausspruchs, da der Senat nicht auszuschließen vermag, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten zur Tatzeit zur Annahme einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit gekommen wäre, von der Milderungsmöglichkeit nach §§ 21, 49 StGB Gebrauch gemacht und auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten kann der Senat dagegen auf Grund der getroffenen Feststellungen zum Tatund Nachtatgeschehen ausschließen. Der Senat hebt auch die Feststellungen zu den Trinkmengen auf, um dem neuen Tatrichter eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB zu ermöglichen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass Trinkmengenangaben des Angeklagten bei Errechnung der Blutalkoholkonzentration nicht ungeprüft zu Grunde gelegt werden müssen.
11
Die neu entscheidende Strafkammer wird ferner den Anrechnungsmaßstab für die vom Angeklagten in Polen erlittene Freiheitsentziehung in der Urteilsformel festzusetzen haben (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 51 Rdn. 18, 19).
Tepperwien Kuckein Athing
Solin-Stojanović Ernemann
5 StR 57/09

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
vom 26. Mai 2009
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
wegen versuchten Totschlags u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Mai 2009 beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Juli 2008 in den Strafaussprüchen mit den jeweils zugehörigen Feststellungen gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
Die weitergehenden Revisionen werden gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Es wird davon abgesehen, den Angeklagten durch ihre Rechtsmittel entstandene Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Sie haben jedoch die hierdurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
G r ü n d e
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Das Landgericht hat die drei zur Tatzeit jugendlichen Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, den Angeklagten R. darüber hinaus wegen gefährlicher Körperverletzung, Körperverletzung in drei Fällen und Unterschlagung, zu Jugendstrafen von vier Jahren und vier Monaten (R. ), drei Jahren und drei Monaten (W. ) sowie drei Jahren (T. ) verurteilt. Die Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg.
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1. Das Landgericht hat zu der gemeinsamen Tat folgende Feststellungen getroffen:
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Die alkoholisierten Angeklagten im Alter zwischen 15 und 17 Jahren beschlossen am frühen Neujahrsmorgen 2008 nach einer teilweise gemeinsam verbrachten Silvesternacht, sich mit einer anderen Person zu „fetzen“. Sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt an einem U-Bahnhof in Hamburg. Gegen 7.00 Uhr erschien dort der ihnen bis dahin unbekannte Nebenkläger, der in der Nacht Flaschen gesammelt hatte und auf dem Heimweg war. Obwohl alle Angeklagten erkannten, dass der Nebenkläger jede Auseinandersetzung vermeiden wollte, umringten sie ihn, gaben ihm Kopfstöße, schlugen ihn auf den Hinterkopf und traten ihn mit Anlauf in den Rücken. Nachdem der Nebenkläger durch die Schläge zu Boden gegangen war, traten ihn die Angeklagten wechselseitig und wiederholt mit beschuhten Füßen „heftig“ gegen den Oberkörper und Kopf, wobei sie seinen Tod billigend in Kauf nahmen. Schließlich ergriff der Angeklagte W. mit Billigung der beiden anderen Angeklagten eine Wodkaflasche und schlug den Nebenkläger bei fortbestehendem Tötungsvorsatz damit mehrfach mit voller Wucht ins Gesicht. Die Angeklagten ließen den schwer Verletzten zurück und begaben sich nach Hause. Dieser erlitt gravierende Gesichtsverletzungen, u. a. eine Orbitaboden - und Jochbeintrümmerfraktur, eine Quetschung des Augapfels, Platzwunden und einen Ohrteilabriss. Angesichts der massiven Gewalteinwirkung war es lediglich dem Zufall zu verdanken, dass es nicht zu lebensgefährlichen Verletzungen seines Gehirns gekommen war.
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Zur Frage der Schuldfähigkeit stellt die sachverständig beratene Strafkammer fest, dass alle drei Angeklagten im Laufe der Silvesternacht – beginnend am späten Nachmittag bzw. frühen Abend – an verschiedenen Orten und in wechselnder Gesellschaft, zumeist mit anderen Jugendlichen, Alkohol „in nicht feststellbaren Mengen“ konsumierten (UA S. 12). Gegen 2.00 Uhr waren sie auf einer Party zusammengetroffen, auf der sie weiter Alkohol tranken. Gemeinsam fuhren sie schließlich am frühen Morgen zur Wohnung des Angeklagten R. , aßen dort Brötchen und tranken Wodka (UA S. 13), bevor sie die Tat begingen. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt sich zudem die Feststellung entnehmen, dass die Angeklagten „in jener Nacht recht viel Alkohol getrunken“ hatten (UA S. 53). In ihrer Schuldfähigkeit seien sie allerdings nicht beeinträchtigt gewesen (UA S. 16). Eine Berechnung des Blutalkoholgehalts unternimmt die Strafkammer unter Hinweis auf die jeweils ungenauen und im Laufe des Verfahrens wechselnden Einlassungen der Angeklagten zum Alkoholgenuss vor der Tat nicht (UA S. 46).
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2. Die Revisionen der Angeklagten sind jeweils bereits mit der Sachrüge teilweise erfolgreich. Die Beweiswürdigung, mit der die Strafkammer bei allen Angeklagten eine alkoholbedingt erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB verneint hat, begegnet durchgreifenden sachlichrechtlichen Bedenken, da sie lückenhaft ist (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt).
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a) Die Urteilsgründe offenbaren nicht, von welchen Anknüpfungs- und Zusatztatsachen die Strafkammer in Bezug auf den Alkoholkonsum der Angeklagten ausgegangen ist. Vielmehr erschöpft sich ihre Beweiswürdigung in der Wiedergabe des Sachverständigengutachtens (UA S. 45 – 56) einschließlich der vom Sachverständigen zugrunde gelegten unterschiedlichen Angaben der Angeklagten und Zeugen. Es fehlen eigene Feststellungen der für die Steuerungsfähigkeit maßgeblichen Tatsachen durch das Landgericht; es nimmt keine eigene Würdigung der Einlassungen und Zeugenaussagen zum Trinkverhalten der Angeklagten vor (UA S. 48, 50, 51), sondern gibt lediglich die Würdigung des Sachverständigen wieder:
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Die in verschiedenen Verfahrensstadien abgegebenen Einlassungen seien aus Sicht des Sachverständigen ungenau und inkonstant (UA S. 46). Sie ließen eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration daher nicht zu. Die Aussagen der Zeugen vermittelten „in ihrer Gesamtheit das Bild, dass die Angeklagten in jener Nacht recht viel Alkohol getrunken hätten“. Jedoch sei- http://www.juris.de/jportal/portal/t/e7x/page/jurisw.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=5&numberofresults=6&fromdoctodoc=yes&doc.id=BJNR001270871BJNE008802307&doc.part=S&doc.price=0.0#focuspoint - 5 - en keine Auswirkungen zu beobachten gewesen, die auf eine hochgradige Alkoholisierung hindeuteten (UA S. 53). Die vom Sachverständigen mitgeteilte Ungenauigkeit der Angaben der Angeklagten stehe, „unabhängig von ihrer Zuverlässigkeit“, jeder Schätzung und Bewertung entgegen (UA S. 48, 50,

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b) Das Revisionsgericht vermag anhand der dokumentierten Beweiswürdigung nicht zu überprüfen, welche Angaben der Angeklagten zum Alkoholkonsum dem Tatgericht glaubhaft erschienen oder jedenfalls nicht zu widerlegen waren und ob vor diesem Hintergrund rechtsfehlerfrei von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration abgesehen werden durfte. Von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration ist ein Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 23). Vielmehr ist diese aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholgenusses ermöglichen (BGH StV 1993, 519; vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 29).
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Die durch die Strafkammer mitgeteilten Einlassungen der Angeklagten waren als Berechnungsgrundlage auch nicht offensichtlich ungeeignet. Sämtliche Angeklagten benannten konkrete Alkoholika und noch eingrenzbare Mengen sowie ungefähre Zeitpunkte des Konsums in der Tatnacht.
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Ob die Angaben der Angeklagten zu ihrem Trinkverhalten allerdings glaubhaft waren, hat das Tatgericht, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, zu klären. Es muss die Einlassung eines Angeklagten zu seinem Alkoholgenuss vor der Tat, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine unmittelbaren Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen. Vielmehr ist es ihm unbenommen, Trinkmengenangaben des Angeklagten http://www.juris.de/jportal/portal/t/d3a/page/jurisw.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=2&numberofresults=3&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE090032768&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint [Link] http://www.juris.de/jportal/portal/t/d3a/page/jurisw.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=2&numberofresults=3&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE090032768&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint - 6 - – auch durch sachverständige Hilfe – als unglaubhaft einzustufen, wenn es dafür durch die Beweisaufnahme gewonnene Gründe hat, welche seine Auffassung argumentativ tragen (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2005 – 3 StR 500/04; vgl. BGH NStZ 2007, 266; vgl. auch Nack GA 2009, 201, 206). Dabei wird im vorliegenden Fall auch zu berücksichtigen sein, dass in der persönlichen Vorgeschichte aller Angeklagten vor dem Hintergrund ihrer familiären Erfahrungen (UA S. 6, 8 und 10) übermäßiger Alkoholkonsum eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat (UA S. 7, 9 und 11). Lassen sich die Angaben nicht widerlegen, so muss das Tatgericht angeben, von welchem höchstmöglichen Blutalkoholwert es ausgeht und auf welchen Berechnungsgrundlagen (Alkoholmenge, Trinkzeit, Körpergröße und -gewicht des Angeklagten , Alkoholabbauwert, Resorptionsdefizit) es diesen feststellt.
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c) Das Landgericht lässt zudem wesentliche Umstände unerörtert, die für die Beurteilung des Grades der Alkoholisierung der Angeklagten von Bedeutung sein können:
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aa) Der Sachverständige hat seine – vom Landgericht geteilte – Überzeugung , dass bei den Angeklagten keine hochgradige Alkoholisierung vorlag , wesentlich auf die Auswertung der Aussagen von Zeugen, zumeist Trinkgefährten oder anderen Partyteilnehmern, gestützt, die u. a. das Verhalten der Angeklagten auf der Party als „normal“, „keinesfalls volltrunken … allerdings lauter und lustiger“ „gut angeheitert, aber ohne besondere Auffälligkeiten“ geschildert haben (UA S. 53). Bei einer eigenen Würdigung dieser Aussagen hätte das Landgericht prüfen müssen, inwieweit die Zeugen das Verhalten der Angeklagten vor dem Hintergrund einer übermütigen, alkoholbeeinflussten Partystimmung schilderten. Insbesondere wären eine Alkoholisierung der Zeugen in Bedacht zu nehmen und deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens der Angeklagten zu erörtern gewesen (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 72, 73).
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bb) Im Rahmen der Wiedergabe des Sachverständigengutachtens wird erwähnt, lediglich die Zeugin K. , bei der der Angeklagte W. nach der Tat gegen 7.30 Uhr klingelte, um ihre Tochter zu sprechen, habe den Eindruck gewonnen, dass er „volltrunken“ gewesen sei. Ihre Wahrnehmung hält der Sachverständige indes nicht für aussagekräftig, weil die Zeugin nur über die Gegensprechanlage mit dem Angeklagten gesprochen habe und eine verwaschene Sprache („lallen“) schon ab einer Blutalkoholkonzentration von 1 Promille auftreten könne. Es fehlt hier indes eine Auseinandersetzung mit dem von der Zeugin bekundeten Umstand, dass der Angeklagte sie „beschimpfte“, nachdem sie sich geweigert hatte, ihre Tochter zu wecken (UA S. 44). Auch dieses Verhalten gegenüber der Mutter eines Mädchens, für das sich der Angeklagte interessierte, kann Rückschlüsse auf den Grad seiner Alkoholisierung zulassen.
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cc) Nicht gewürdigt hat das Landgericht ferner den in den wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen nicht erkennbar berücksichtigten Umstand, dass sich der Angeklagte R. , der zum Vorgeschehen und zur Tat Angaben gemacht hat, nach eigenem Bekunden nicht mehr daran erinnern konnte, morgens vor der Tat mit den übrigen Angeklagten in seiner Wohnung Brötchen gegessen und Wodka getrunken zu haben (UA S. 13). Auch dieser Umstand kann für die Beurteilung des Maßes der Alkoholisierung des Angeklagten Bedeutung haben.
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dd) Als entscheidendes Kriterium für die Rekonstruktion des physischen und psychischen Zustandes der Angeklagten zur Tatzeit sieht der Sachverständige das objektive Leistungsverhalten der Angeklagten bei der Tat, zu dessen Beurteilung er die Aussagen des Geschädigten und eines unbeteiligten Zeugen heranzieht, der das Geschehen teilweise von seiner dem Tatort gegenüber liegenden Wohnung beobachtet hat (UA S. 54 f.). Insoweit fehlt es ebenfalls an einer eigenen Würdigung der Aussagen beider Zeugen durch das Landgericht, bei der insbesondere deren Wahrnehmungssituationen und mögliche Belastungsmotive zu erörtern gewesen wären. http://www.juris.de/jportal/portal/t/e7x/page/jurisw.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=5&numberofresults=6&fromdoctodoc=yes&doc.id=BJNR001270871BJNE008702307&doc.part=S&doc.price=0.0#focuspoint - 8 -
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ee) Schließlich dürfte auch das festgestellte motivlose und enthemmte Gewaltverhalten der – soweit ersichtlich – bislang nicht durch vergleichbare Gewaltdelikte auffällig gewordenen Angeklagten in die Beweiswürdigung zu § 21 StGB einzustellen sein.
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d) Der Senat hält es nach alledem für möglich und sogar für eher wahrscheinlich, dass eine rechtsfehlerfreie tatgerichtliche Würdigung zur Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB geführt hätte. Der Schuldspruch wird von diesem Rechtsfehler indes nicht berührt. Der Senat schließt insoweit aus, dass das neue Tatgericht zu Feststellungen gelangt, die die vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten im Sinne des § 20 StGB belegen könnten. Wenngleich die Verhängung von Jugendstrafen wegen Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) außer Frage steht (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 2009 – 5 StR 31/09, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt ) und lediglich nicht sicher auszuschließen ist, dass die Bemessung von deren Höhe bei Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB milder ausgefallen wäre, hat der Senat – insoweit dem Antrag des Generalbundesanwalts zum Angeklagten T. auf eine Verfahrensrüge folgend – weitergehend den Strafausspruch aufgehoben, über den danach jeweils insgesamt neu zu befinden ist. Der Senat weist darauf hin, dass sich auch bei Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB für einzelne oder sämtliche Angeklagte im Rahmen der neuen Hauptverhandlung die hier aufgehobenen Strafaussprüche angesichts der durch die Tat zutage getretenen Erziehungsdefizite nicht außerhalb des Rahmens eines angemessenen Strafens bewegen.
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3. Den Schuldspruch berührende Verfahrensrügen haben aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg. Auch die vom Generalbundesanwalt für durchgreifend erachtete Rüge des Angeklagten T. zur Nichtgewährung des letzten Wortes an seine erziehungsberechtigte Mutter (§ 258 Abs. 2, 3 StPO i.V.m. § 67 Abs. 1 JGG) könnte nicht zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils in größerem als dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang führen. Der Senat kann ausschließen, dass der Schuldspruch gegen den Angeklagten auf diesem Verfahrensfehler beruht (vgl. BGH StV 1992, 410).
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Ergänzend zur Stellungnahme des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat: Soweit die Angeklagten die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines gegen den Sachverständigen S. gerichteten Befangenheitsgesuchs (§ 74 StPO) beanstanden, ist diese Rüge bereits unzulässig. Die Revisionen versäumen es, sämtliche rügebegründende Tatsachen zum Gegenstand ihres Vortrags zu machen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Mit dem Befangenheitsgesuch wurde geltend gemacht, der Sachverständige habe die an ihn am achten Hauptverhandlungstag gerichtete Frage, ob ihm das jugendpsychiatrische Gutachten bekannt sei, wider besseren Wissens bejaht und sei deshalb aus der Sicht des verständigen Angeklagten als unwillig zur sorgfältigen Gutachtenerstattung anzusehen. Die Revisionen verschweigen indes, dass sämtlichen Verfahrensbeteiligten ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls bereits am ersten bzw. zweiten Hauptverhandlungstag die Gutachten des jugendpsychiatrischen Sachverständigen B. übergeben worden sind. Dieser Umstand war insbesondere für die im ablehnenden Beschluss erkennbare Überzeugung der Strafkammer vom tatsächlichen Geschehensablauf und von der Kenntnisnahme des Sachverständigen von Bedeutung.
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4. Angesichts der Bestätigung des Schuldspruchs kann der Senat trotz der Zurückverweisung der Hauptsache die auf § 74 JGG und § 473 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 StPO gestützte Kostenentscheidung bereits jetzt treffen.
Basdorf Schaal Schneider Dölp König

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.