Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 14. März 2017 - 12 CE 17.507

published on 14/03/2017 00:00
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 14. März 2017 - 12 CE 17.507
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Gericht

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Tenor

I. Die Beschwerde der Antragsgegnerin zu 1 wird zurückgewiesen.

II. Die Antragsgegnerin zu 1 trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige, dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aus nicht nachvollziehbaren Gründen erst mit Schreiben vom 8. März 2017 vorgelegte Beschwerde vom 28. November 2016, mit der die Antragsgegnerin zu 1 sich gegen die vom Verwaltungsgericht angenommene örtliche Zuständigkeit für die vorläufige Inobhutnahme des unbegleiteten, mutmaßlich noch minderjährigen Antragstellers wendet, bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Antragsgegnerin zu 1 gemäß § 88 a Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) für die vorläufige Inobhutnahme (§ 42 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) des Antragstellers zuständig ist, obwohl dieser am 24. August 2016 im Zuständigkeitsbereich des Jugendamts der Stadt Passau in die Bundesrepublik einreiste und sich zwischenzeitlich auch im Bereich des Antragsgegners zu 2 aufhielt. Nach dieser Vorschrift ist, soweit das Landesrecht nichts anderes regelt, für die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen derjenige örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche „vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält“.

Das ist derjenige Ort, an dem sich das Kind oder der Jugendliche zu dem Zeitpunkt befindet, in dem ein Jugendamt eine vorläufige Schutzmaßnahme im Sinne einer jugendhilfefachlichen Krisenintervention gegenüber dem Kind oder Jugendlichen als Adressaten der Maßnahme tatsächlich ergreift (so zutreffend Lange, in: juris-PK-SGB VIII, § 88 a Rn. 15 unter Bezugnahme auf VG Münster, U.v. 19.5.2015 - 6 K 1095/14 - juris, Rn. 26 ff. zur inhaltsgleichen Regelung des § 87 SGB VIII) oder in einem gerichtlichen (Eil-)Verfahren hierzu verpflichtet wird (vgl. VG München, B.v. 9.2.2015 - M 18 E 14.5261 - juris, Rn. 27 ebenfalls zur Regelung des § 87 SGB VIII). Würde auf den Zeitpunkt eines früheren tatsächlichen Aufenthalts abgestellt, so wäre die Inobhutnahme unweigerlich mit einer im Interesse des Kindeswohls nicht zu rechtfertigenden (weiteren) Verzögerung verbunden (so zutreffend VG München, a.a.O., Rn. 27), die nicht hingenommen werden kann.

Demgegenüber greift der Hinweis der Antragsgegnerin zu 1, maßgebend sei nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 18/5921, S. 23 u. 29; BR-Drs. 349/15, S. 20 u. 27) der Ort, an dem die Einreise des unbegleiteten ausländischen Minderjährigen erstmals festgestellt (bzw. „bemerkt“) werde, mit anderen Worten der Ort des „Aufgriffs“ oder der Ort der (ersten) Selbstmeldung mit der Folge, dass vorliegend das Jugendamt der Stadt Passau und nicht die Antragsgegnerin zu 1 örtlich zuständig (geblieben) sei, erkennbar zu kurz (ebenso Lange, in: juris-PK-SGB VIII, § 88 a Rn. 13). Die Antragsgegnerin zu 1 verkennt, dass der Vorschlag des Bundesrats (vgl. BT-Drs. 18/6289, S. 5, Nr. 9), § 88 a Abs. 1 SGB VIII um den Satz,

„der Bereich des tatsächlichen Aufenthalts ist der Ort, an dem das Jugendamt oder eine andere Behörde die Feststellung der unbegleiteten Einreise erstmalig trifft“,

zu ergänzen, nicht Gesetz geworden ist, sondern von der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 18/5921, S. 29) ausdrücklich verworfen wurde (vgl. BT-Drs. 18/6289, S. 9 zu Nr. 9):

„Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag nicht zu. § 88 a Abs. 1 SGB VIII-E trägt dem Regelungsbegehren bereits umfassend Rechnung. Die Gesetzesbegründung konkretisiert den tatsächlichen Aufenthalt genau im Hinblick auf die im Antrag genannten Kriterien. Tatsächlicher Aufenthalt ist ausweislich der Gesetzesbegründung explizit der „Ort an dem die Einreise erstmals festgestellt wird, d.h. des „Aufgriffs“ des Minderjährigen oder seiner Selbstmeldung“. Ohne rechtssystematische Verwerfungen lässt sich weitergehend kaum ein eigener „tatsächlicher Aufenthalt“ im Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) definieren. Darüber hinaus enthält § 88 a Abs. 1, letzter Teilsatz SGB VIII-E einen Landesvorbehalt, wonach es den Ländern ohnehin unbenommen ist, die Zuständigkeit für die vorläufige Inobhutnahme abweichend von der gesetzlichen Regelung zu bestimmen. Dies erläutert die Gesetzesbegründung auch explizit.“

Damit verbleibt es beim unmissverständlichen Wortlaut des Gesetzes (§ 88 a Abs. 1 SGB VIII: „vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält“).

Der Staat spricht nicht in den (persönlichen) Äußerungen - etwa der amtlichen Begründung - der an der Entstehung des Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetz selbst (so grundlegend BVerfG, B.v. 17.5.1960 - 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60 -, BVerfGE 11, 126 [130] unter Bezugnahme auf Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 210 f.). Der Wille des Gesetzgebers kann daher bei der Auslegung eines Gesetzes nur insoweit berücksichtigt werden, als er in dem Gesetz selbst (und nicht etwa nur in der amtlichen Begründung) einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 130 m.w.N.). Der „Wille des Gesetzgebers“ ist ausschließlich der im Gesetz objektivierte Wille. Die Motive und Vorstellungen der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften sind hingegen ohne jede Bedeutung, soweit sie nicht im Gesetz selbst ihren Ausdruck gefunden haben (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 131).

§ 88 a Abs. 1 SGB VIII kann daher entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin zu 1 nicht etwa dergestalt ausgelegt und angewandt werden, dass „tatsächlicher Aufenthalt“ - gleichsam entgegen dem natürlichen Wortsinn - stets nur der Ort sein soll, an dem die Einreise erstmals festgestellt wurde, mit anderen Worten dort, wo der erste „Aufgriff“ oder die erste Selbstmeldung erfolgte. Dies mag zwar in der überwiegenden Anzahl der Fälle, in welchen das unbegleitete ausländische Kind oder der unbegleitete ausländische Jugendliche am Ort des ersten Aufgriffs dauerhaft verbleibt, auch tatsächlich so sein. Gleichwohl findet eine solche einschränkende Interpretation im Wortlaut des § 88 a Abs. 1 SGB VIII selbst keinerlei Stütze; sie wäre auch mit Sinn und Zweck des Rechtsinstituts der vorläufigen Inobhutnahme, im Interesse des Kindeswohls ein unverzügliches Eingreifen am jeweiligen Ort der Gefährdungslage zu ermöglichen, nicht zu vereinbaren (verkannt von Kepert, ZKJ 2016, 12 [14] unter unzutreffender Bezugnahme auf den angeblich eindeutigen „Gesetzeswortlaut“; siehe auch ders., in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl. 2016, § 88 a Rn. 2 a.E.).

Anders als die Antragsgegnerin zu 1 meint, ist daher nach dem allein maßgeblichen Wortlaut des § 88 a Abs. 1 SGB VIII sehr wohl eine Zuordnung zu einem anderen örtlichen Träger als den am Ort der erstmaligen Einreise möglich und im Interesse des Kindeswohls auch geboten, falls sich am Ort des nunmehrigen neuen tatsächlichen Aufenthalts erstmalig oder erneut Bedarf für eine Krisenintervention im Wege einer vorläufigen Inobhutnahme ergibt (so zutreffend Lange, juris-PK-SGB VIII, § 88 a Rn. 15; unzutreffend hingegen Kern, in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 88 a Rn. 2, der ohne jede Auseinandersetzung mit dem ausschließlich maßgeblichen objektivierten Willen des Gesetzes allein unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung annehmen will, eine Zuordnung zu einem anderen örtlichen Träger sei nicht möglich, sofern der Ort der erstmaligen Einreise feststehe). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Landesgesetzgeber von der ihm in § 88 a Abs. 1 SGB VIII ausdrücklich eingeräumten Abweichungsbefugnis Gebrauch gemacht hätte (vgl. hierzu namentlich BT-Drs. 18/6289, S. 9 zu Nr. 9). Dies ist jedoch im Freistaat Bayern - jedenfalls bislang - nicht geschehen. Daher verbleibt es beim unmissverständlichen Wortlaut der gesetzlichen Regelung.

Das Verwaltungsgericht ist deshalb zu Recht von der örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin zu 1 ausgegangen. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2016 - 12 CS 16.1550 -, BayVBl 2017, 21 ff.) hat es die Antragsgegnerin zu 1 zutreffend verpflichtet, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen. Auf die entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Die Beschwerde ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochte

(1) §§ 88, 108 Abs. 1 Satz 1, §§ 118, 119 und 120 gelten entsprechend für Beschlüsse. (2) Beschlüsse sind zu begründen, wenn sie durch Rechtsmittel angefochten werden können oder über einen Rechtsbehelf entscheiden. Beschlüsse über die Aussetzung
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Für die Inobhutnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen (§ 42) ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält. Die örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen richtet sich nach § 88a Absatz 2.

(1) §§ 88, 108 Abs. 1 Satz 1, §§ 118, 119 und 120 gelten entsprechend für Beschlüsse.

(2) Beschlüsse sind zu begründen, wenn sie durch Rechtsmittel angefochten werden können oder über einen Rechtsbehelf entscheiden. Beschlüsse über die Aussetzung der Vollziehung (§§ 80, 80a) und über einstweilige Anordnungen (§ 123) sowie Beschlüsse nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache (§ 161 Abs. 2) sind stets zu begründen. Beschlüsse, die über ein Rechtsmittel entscheiden, bedürfen keiner weiteren Begründung, soweit das Gericht das Rechtsmittel aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.