Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 10. Jan. 2019 - 10 ZB 18.2453

bei uns veröffentlicht am10.01.2019
vorgehend
Verwaltungsgericht München, M 12 K 18.6, 28.06.2018

Gericht

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Dezember 2017 weiter, mit dem festgestellt wird, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf vier bzw. sechs Jahre befristet und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wird.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

Zur Begründung seiner klageabweisenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung sei § 5 Abs. 4 FreizügG/EU. Nach der Ehescheidung sei der Kläger kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers mehr. Ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht habe er nicht erworben, da die Ehe bis zur Einreichung des Scheidungsantrags keine drei Jahre bestanden habe (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU). Das persönliche Verhalten des Klägers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Sein Verhalten in der Vergangenheit lege eine hohe Rückfallgefahr nahe. Er sei innerhalb eines Jahres gegenüber seiner Ehefrau mehrfach gewalttätig geworden und habe sie mehrmals verletzt. Es sei nicht davon auszugehen, dass es sich um eine einmalige Beziehungstat gehandelt habe, die sich in Zukunft nicht wiederholen könne. Zudem sei die Gewaltproblematik des Klägers noch nicht hinreichend behandelt. Das während der Haft gezeigte Wohlverhalten habe nur bedingte Aussagekraft, da er unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens stehe. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse. Der Kläger halte sich erst seit Ende 2013 im Bundesgebiet auf. Seine Eltern und Geschwister lebten noch in der Türkei. Der Kläger habe aktuell keine durch Art. 6 GG geschützte Beziehung mit seiner Tochter. Selbst wenn er eine solche hätte, würde wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der Wiederholungsgefahr das Ausweisungsinteresse überwiegen.

Der Kläger bringt demgegenüber vor, er habe weiterhin ein Recht auf Einreise und Aufenthalt. Er habe zwar das alleinige Sorgerecht auf die Mutter übertragen, aber eine Vereinbarung mit seiner Ehefrau geschlossen, dass diese nach seiner Haftentlassung an gemeinsamen Gesprächen mit dem Jugendamt teilnehme und eine Umgangsanbahnung fördere. Inzwischen habe er über das Jugendamt bereits mehrere begleitete Umgangskontakte vereinbart. Gegenwärtig gehe von ihm nicht mehr die Gefahr der Begehung von Straftaten aus. Die Straftaten hätten sich während der Ehe ereignet. Er habe einen Täter-Opfer-Ausgleich geleistet. In der Haft habe er sich vorbildlich verhalten. Auch nach der Haftentlassung habe er sofort wieder einen Arbeitsplatz gefunden. Er zahle auch Kindesunterhalt.

Damit hat der Kläger die Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für das Recht des Klägers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU entfallen sind. Mit der Auflösung der Ehe am 14. April 2017 ist er nicht mehr Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Er hat sein Aufenthaltsrecht auch nicht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 4 FreizügG/EU behalten, weil die Ehe bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens am 19. April 2016 noch keine drei Jahre bestanden hatte und keine Vereinbarung der Ehegatten vorliegt, dass das Recht zum persönlichen Umgang mit der Tochter nur im Bundesgebiet eingeräumt wird. Der Kläger hat im Rahmen des Ehescheidungsverfahrens lediglich eine Vereinbarung abgeschlossen, wonach die Ehefrau „grundsätzlich bereit ist, nach der Haftentlassung des Klägers an Gesprächen mit dem Jugendamt teilzunehmen, die einer Umgangsanbahnung dienen“. Eine Vereinbarung im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 FreizügG/EU ist darin nicht zu sehen, weil sie weder dem Kläger ein Umgangsrecht einräumt noch Aussagen dazu trifft, welchen Beschränkungen die Ausübung eines etwaigen Umgangsrechts unterliege. Dass derzeit faktisch ein begleiteter Umgang des Klägers mit seiner Tochter vorbereitet wird, genügt der tatbestandlichen Voraussetzung einer entsprechenden rechtsverbindlichen Vereinbarung nicht.

Auch bezüglich der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten hat der Kläger die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 - 10 ZB 16.2199 - juris Rn. 6 f.; B.v. 3.5.2017 - 10 ZB 15.2310 - juris Rn. 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt.

Zu Lasten des Klägers fällt bei Berücksichtigung dieser Kriterien insbesondere ins Gewicht, dass er die Straftaten gegen seine Ehefrau wiederholt und über einen längeren Zeitraum begangen hat (sieben Übergriffe von April 2015 bis April 2016). Es handelt sich also nicht um einen einmaligen „Ausrutscher“ in einer sonst makellosen Biografie. Der Kläger hat eine Neigung zur Gewaltdelinquenz. Er hat deshalb in der Justizvollzugsanstalt an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen. Allerdings ist laut den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt vom 13. April 2018 und 8. Juni 2018 die Gewaltproblematik noch nicht hinreichend behandelt und es bedarf einer therapeutischen Nachsorge bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten nach Haftentlassung. Von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr kann daher - auch mangels Nachweises des erfolgreichen Abschlusses der für erforderlich gehaltenen Psychotherapie - noch nicht ausgegangen werden. Der seit der Haftentlassung vergangene Zeitraum von fünf Monaten ist nicht ausreichend, um eine belastbare Aussage darüber zu treffen, ob der Kläger auch ohne die Kontrolle des Strafvollzugs und den Druck des Ausweisungsverfahrens in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Die gelungene Reintegration in den Arbeitsmarkt ist keine Garantie dafür, dass er künftig keine (Gewalt-)Straftaten mehr begehen wird. Auch in der Vergangenheit war der Kläger erfolgreich berufstätig; dies hat ihn jedoch nicht von den wiederholten Straftaten gegenüber seiner Ehefrau abgehalten. Den zu seinen Gunsten angeführten Täter-Opfer-Ausgleich und das umfassende Geständnis hat bereits das Landgericht München I in seinem Urteil vom 18. August 2017 strafmildernd berücksichtigt und die ursprünglich vom Amtsgericht verhängte Freiheitsstrafe reduziert. Dass der Kläger für seine Tochter Unterhaltszahlungen leistet, sagt nichts über die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten aus. Bedeutung hat dies lediglich für die Bewertung des Eltern-Kind-Verhältnisses und die Abwägungsentscheidung.

Auch wenn die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 28. Juni 2018 reduziert sein mag, weil er bislang seit der Haftentlassung keine Straftaten begangen hat, überwiegt dennoch das öffentliche Ausweisungsinteresse sein Bleibeinteresse. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besteht nicht mehr, weil er mit seiner Tochter, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nicht mehr in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Seit seiner Inhaftierung besteht kein persönlicher Kontakt mehr, er hat kein Sorgerecht und keinen Umgang mit ihr. Zwar ist in die Abwägungsentscheidung einzustellen, dass der Kläger seit seiner Haftentlassung wieder einen persönlichen Kontakt zu seiner Tochter herstellen will. Diese Kontaktanbahnung bzw. ein beabsichtigter gelegentlicher begleiteter Umgang haben gegenüber dem Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft ein bedeutend geringeres Gewicht. Zudem hält sich der Kläger erst seit Ende 2013 im Bundesgebiet auf und hat während seines relativ kurzen Aufenthalts zwei Jahre und vier Monate in Haft verbracht. Nachhaltige wirtschaftliche Beziehungen im Bundesgebiet hat er nicht aufgebaut. Da er bis zu seinem 22. Lebensjahr in der Türkei gelebt hat und seine Familie dort lebt, wird ihm eine „Reintegration“ in der Türkei nicht schwer fallen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 154


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 52 Verfahren vor Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit


(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 47 Rechtsmittelverfahren


(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, inn

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124


(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die B

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 124a


(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nic

Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO | § 152


(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochte

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 63 Wertfestsetzung für die Gerichtsgebühren


(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anh

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 6


(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinsc

Aufenthaltsgesetz - AufenthG 2004 | § 55 Bleibeinteresse


(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer 1. eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,2. eine Aufenthaltserlaubnis besitzt

Gerichtskostengesetz - GKG 2004 | § 39 Grundsatz


(1) In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist. (2) Der Streitwert beträgt höchstens 30 Millionen Euro, soweit kein niedrigerer Höchstwert be

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bei uns veröffentlicht am 09.06.2016

Tenor 1. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. September 2012 - 2 LA 234/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Gru

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(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Tenor

1. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. September 2012 - 2 LA 234/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

2. Das Land Niedersachsen hat die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Verfahren aus dem Bereich des Schulrechts.

2

1. a) Der Beschwerdeführer besuchte ein öffentliches technisches Fachgymnasium. Da er an einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) leidet, beantragte er zum Nachteilsausgleich eine Schreibzeitverlängerung für die Anfertigung von Klausuren sowie die Nichtbewertung der Rechtschreibung (sog. Notenschutz). Die Schule lehnte dies ab.

3

b) Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verpflichtete das Oberverwaltungsgericht die Schule, dem Beschwerdeführer bis zur Entscheidung in der Hauptsache bei der Anfertigung schriftlicher Leistungsüberprüfungen außer in naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern eine Schreibzeitverlängerung von 10 % der jeweiligen Bearbeitungszeit zu gewähren. Soweit der Eilantrag darüber hinaus auf vorläufige Gewährung eines Zeitzuschlages von 25 % und Notenschutz bezüglich der Rechtschreibleistung in allen Fächern sowie auf die ebenfalls bereits vorgerichtlich geltend gemachte Verpflichtung der Schule gerichtet war, ihn in Mathematik anwendungsbezogen auf das erste Prüfungsfach Elektronik zu unterrichten, blieb er ohne Erfolg. Eine vom Beschwerdeführer in dieser Sache erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen (1 BvR 2129/08).

4

c) In der Hauptsache fasste das Verwaltungsgericht zunächst einen Beweisbeschluss zur Frage der medizinischen Notwendigkeit eines weitergehenden Nachteilsausgleichs. Dieser wurde jedoch nicht mehr ausgeführt, nachdem der Beschwerdeführer die Allgemeine Hochschulreife erworben hatte. Der Beschwerdeführer stellte seine Klage daraufhin um. Neben Feststellungsanträgen begehrte er, seine unter anderem auf Klausurabwertungen wegen Schreibfehlern (sog. "GRZ-Abzug") beruhenden Kursnoten im Fach Deutsch in der Jahrgangsstufe 12 anzuheben.

5

Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit der Begründung ab, die in der Jahrgangsstufe 12 erteilten Einzelnoten seien bestandskräftig geworden und daher nicht mehr anfechtbar. Der Zulässigkeit der Feststellungsanträge stehe teilweise der Subsidiaritätsgrundsatz und teilweise das Fehlen eines Feststellungsinteresses entgegen.

6

d) Den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit dem hier angegriffenen Beschluss ab.

7

aa) Es könne offenbleiben, ob das Verwaltungsgericht die halbjährlichen Kursabschlussnoten als eigenständig anfechtbare Regelungen habe ansehen dürfen. Die Versäumung der Widerspruchsfrist sei insoweit jedenfalls unschädlich, da die Widerspruchsbehörde eine Sachentscheidung getroffen habe. Von der Bestandskraft der Einzelnoten könne daher nicht ausgegangen werden.

8

An der Richtigkeit der Ablehnung des Verpflichtungsantrags bestünden im Ergebnis gleichwohl keine ernstlichen Zweifel, da nicht ersichtlich sei, dass die den Kursnoten zugrunde liegenden Bewertungen fehlerhaft gewesen sein könnten. Es sei in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt, dass unter einer Legasthenie leidenden Schülern zum Nachteilsausgleich nur Schreibzeitverlängerungen gewährt werden könnten oder die Nutzung technischer Hilfsmittel gestattet werden könne. Die Gewährung von Notenschutz (durch Nichtbewertung der Rechtschreibung) sei demgegenüber in der Regel nicht zulässig, da sie zu einer Benachteiligung von Schülern führen könne, denen aus sonstigen Gründen Rechtschreibfehler in größerem Umfang unterliefen. Darüber hinaus komme ein Ausgleich durch Notenschutz deswegen nicht in Betracht, weil sich die vom Beschwerdeführer beanstandeten Noten gerade auf das Fach Deutsch bezögen und in diesem unter anderem Rechtschreibung und Zeichensetzung zu den allgemein vorausgesetzten Kompetenzen gehörten. Ein Anspruch auf Notenschutz folge selbst bei einem den Behinderungsbegriff erfüllenden Ausmaß der Legasthenie auch nicht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, da sich hieraus ein originärer subjektiver Leistungsanspruch nicht ableiten lasse. Unmittelbar aus Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, BGBl 2008 II S. 1419) ergäben sich ebenfalls keine entsprechenden Rechte. Schließlich sehe die geltende Erlasslage in gewissem Umfang eine differenzierte Bewertung vor und eröffne einen pädagogischen Bewertungsspielraum, der eine einzelfallgerechte Berücksichtigung des Erscheinungsbildes der Legasthenie ermögliche. Es sei nicht ersichtlich, dass bei der Bewertung der den beanstandeten Kursnoten zugrunde liegenden Deutschklausuren hiervon in willkürlicher Weise abgewichen worden sei.

9

bb) Auch das Feststellungsinteresse habe das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht verneint. Ein Rehabilitationsinteresse könne nicht bejaht werden, da von den Einzelnoten und der Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses keine den Beschwerdeführer in seiner Persönlichkeit diskriminierende Wirkung ausgehe. Die Bewertung im Fach Deutsch in der Jahrgangsstufe 12 könne für sich gesehen nicht als diskriminierend angesehen werden, zumal sich die begehrte Anhebung nicht auf die Durchschnittsnote auswirken würde. Hinsichtlich anderer Einzelnoten habe der Beschwerdeführer nicht näher dargelegt, welche Punktzahl er für angemessen halte. Soweit er sein Feststellungsbegehren auf eine beabsichtigte Amtshaftungsklage stütze, habe das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass eine solche mangels Verschuldens offensichtlich aussichtslos sei.

10

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4 GG, aus Art. 3 Abs. 1 und 3 GG in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention sowie aus Art. 12 GG und führt dies näher aus. Insbesondere rügt er, das Ausgangsgericht habe zu keinem Zeitpunkt in einem ordentlichen Hauptsacheverfahren durch Beweisaufnahme geprüft, welche Maßnahmen notwendig gewesen seien, um die behinderungsbedingten Nachteile auszugleichen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei es aber uneingeschränkt gerichtlich überprüfbar, ob ein in Prüfungen gewährter Nachteilsausgleich die Störung vollständig ausgeglichen habe, was gegebenenfalls mit Hilfe von Sachverständigen zu ermitteln sei (Hinweis auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 1992 - 1 BvR 1295/90 -, NJW 1993, S. 917 <918>). Das Oberverwaltungsgericht habe zudem verkannt, dass er durch die Anlegung desselben Leistungsbemessungsmaßstabs wie bei seinen nicht behinderten Mitschülern in einem Bereich, in dem er aufgrund seiner Funktionsstörung nicht gleichermaßen leistungsfähig sein könne, benachteiligt worden sei. Aus fachärztlicher Sicht habe er in allen Fächern zusätzlich 25 % der üblichen Bearbeitungszeit benötigt, um die gleichen Chancen bei der Bearbeitung der anstehenden Aufgaben zu haben. Ein reiner Nachteilsausgleich führe, auch wenn er den Verzicht auf die Benotung der Rechtschreibung beinhalte, keineswegs zu einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit nichtbehinderter Mitschüler. Dadurch, dass es das Oberverwaltungsgericht versäumt habe, seine willkürliche Entscheidung aus dem Eilverfahren im Berufungszulassungsverfahren zu korrigieren, nehme es ihm die Möglichkeit der Rehabilitation und verschärfe damit die bereits erfolgte Diskriminierung. Damit werde zudem eine Amtshaftungsklage bewusst ausgeschlossen und würden legasthene Schüler in Niedersachsen im Ergebnis rechtlos gestellt.

11

3. Die Verfassungsbeschwerde ist dem Niedersächsischen Justizministerium und der Beklagten des Ausgangsverfahrens, der vormaligen Schule des Beschwerdeführers, zugestellt worden. Diese haben von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen der Kammer vor.

II.

12

1. Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG; vgl. BVerfGE 90, 22 <25>). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.

13

2. Die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht wird der verfassungsrechtlichen Verbürgung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht.

14

a) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet zwar keinen Anspruch auf die Errichtung eines bestimmten Instanzenzuges (vgl. BVerfGE 104, 220 <231>; 125, 104 <136 f.>; stRspr). Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 104, 220 <232>; 125, 104 <137>; stRspr). Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht - wie hier die §§ 124, 124a VwGO - den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>). Aus diesem Grund dürfen die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe nicht derart erschwert werden, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können und die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leerläuft. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern in entsprechender Weise für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO selbst (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>). Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar ist eine Auslegung und Anwendung des § 124 Abs. 2 VwGO danach dann, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>; 134, 106 <117 f. Rn. 34>).

15

b) Das Oberverwaltungsgericht hat durch seine Handhabung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO den Zugang zur Berufungsinstanz in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verengt und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt.

16

aa) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind immer schon dann begründet, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfGE 125, 104 <140>). Dies hat der Beschwerdeführer getan. Er hat aufgezeigt, dass das Verwaltungsgericht seinen Verpflichtungsantrag rechtsfehlerhaft als unzulässig behandelt hat und die angenommene Unzulässigkeit der Feststellungsanträge betreffend den Notenschutz und den Umfang des ihm zustehenden Nachteilsausgleichs aus Subsidiaritätsgründen zumindest ernstlichen - vom Oberverwaltungsgericht selbst näher aufgezeigten - Zweifeln begegnet. Das Oberverwaltungsgericht hat mit einer verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Begründung gleichwohl die Berufung nicht zugelassen.

17

bb) Es begegnet zwar keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Berufungsgericht bei der Überprüfung des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auf andere rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte abstellt als das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils und wenn es - soweit rechtliches Gehör gewährt ist - die Zulassung der Berufung deshalb ablehnt, weil sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Es widerspricht jedoch sowohl dem Sinn und Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Zulassungsverfahrens als auch der Systematik der in § 124 Abs. 2 VwGO geregelten Zulassungsgründe und kann den Zugang zur Berufung in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise einschränken, wenn das Berufungsgericht auf andere Gründe entscheidungstragend abstellt als das Verwaltungsgericht, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und deren Heranziehung deshalb über den mit Blick auf den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens von ihm vernünftigerweise zu leistenden Prüfungsumfang hinausgeht (vgl. BVerfGE 134, 106 <119 f. Rn. 40>; siehe auch BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, S. 542 <543>).

18

Dass dem Beschwerdeführer vor Erlass der angegriffenen Entscheidung im Hinblick auf die neue Begründung des Oberverwaltungsgerichts im Berufungszulassungsverfahren rechtliches Gehör gewährt worden wäre, lässt sich den beigezogenen Akten des Ausgangsverfahrens nicht entnehmen. Darüber hinaus lagen die Voraussetzungen für einen Austausch der Begründung hiernach auch nicht vor.

19

(1) Hinsichtlich der auf den Notenschutz bezogenen Klageanträge ergibt sich dies schon daraus, dass das Oberverwaltungsgericht die angenommene inhaltliche Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils auf Gründe stützt, denen ihrerseits grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zukommt. Denn die Heranziehung von Erwägungen mit Grundsatzbedeutung zur Ablehnung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel verkürzt den vom Gesetzgeber für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vorgesehenen Rechtsschutz im Berufungsverfahren in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise (vgl. BVerfGK 10, 208 <213 f. m.w.N.>).

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Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtsfrage immer dann, wenn es maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint. Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO entspricht danach weitgehend dem der grundsätzlichen Bedeutung in der revisionszulassungsrechtlichen Bestimmung des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (vgl. BVerfGK 10, 208 <214>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2009 - 1 BvR 814/09 -, NJW 2009, S. 3642 <3643>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2011 - 1 BvR 1764/09 -, NVwZ-RR 2011, S. 963 <964>).

21

Nach diesen Maßstäben kam der vom Oberverwaltungsgericht verneinten Frage, ob der Beschwerdeführer im Hinblick auf seine Legasthenie so genannten Notenschutz in Form der Nichtbewertung der Rechtschreibung verlangen konnte, grundsätzliche Bedeutung zu. Denn ihre Beantwortung hat Bedeutung weit über den Einzelfall des Beschwerdeführers hinaus und betrifft den Umfang des verfassungsrechtlich sowohl unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit im Prüfungsrecht (BVerfGE 52, 380 <388>) als auch des Benachteiligungsverbots gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (BVerfGE 96, 288<301 ff.>) bestehenden Anspruchs auf behinderungsbezogenen Nachteilsausgleich (zu der namentlich aus den verfassungsrechtlichen Bezügen abgeleiteten Grundsatzbedeutung der Rechtmäßigkeit der Bemerkung der Nichtberücksichtigung von Rechtschreibleistungen im Abiturzeugnis vgl. BayVGH, Urteile vom 28. Mai 2014 - 7 B 14.22 u.a. -, juris, Rn. 27). Die umstrittene Frage des Umfangs des Nachteilsausgleichs, der an Legasthenie leidenden Schülern zusteht, war zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts noch nicht höchstrichterlich geklärt. Erst im Jahr 2015 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass aus dem Gebot der Chancengleichheit nur Ansprüche auf Änderung der Prüfungsbedingungen (Nachteilsausgleich), nicht aber solche auf Änderung des Maßstabs der Leistungsbewertung (Notenschutz) abgeleitet werden könnten (BVerwGE 152, 330). Hiergegen sind beim Bundesverfassungsgericht mittlerweile Verfassungsbeschwerden anhängig (Az. 1 BvR 2577/15, 1 BvR 2578/15 und 1 BvR 2579/15), über die noch nicht entschieden ist.

22

Das Oberverwaltungsgericht konnte die Nichtzulassung der Berufung wegen inhaltlicher Richtigkeit daher hierauf nicht stützen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der flankierenden Erwägungen, im Fach Deutsch gehörten Rechtschreibung und Zeichensetzung gerade zu den allgemein vorausgesetzten Kompetenzen und der Schutz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beschränke sich auf seine Funktion als Abwehrrecht. Gleiches gilt für den Hinweis auf den nach den einschlägigen schulrechtlichen Ausführungsbestimmungen bestehenden pädagogischen Spielraum. Ob die erfolgten Abwertungen unter Berücksichtigung des Spielraums der Behinderung des Beschwerdeführers hinreichend Rechnung trugen, wäre gegebenenfalls erst in einem Berufungsverfahren zu klären gewesen.

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(2) Auch mit Blick auf das (verneinte) Feststellungsinteresse verkürzt das Oberverwaltungsgericht die verfassungsrechtlich garantierten Zugangsmöglichkeiten zum Berufungsverfahren. Soweit es ausführt, es fehle an dem (vom Verwaltungsgericht insoweit nicht geprüften) Feststellungsinteresse, weil die Ausweisung der Deutschnoten in der Jahrgangsstufe 12 mit Blick auf deren Auswirkungen auf das Abiturergebnis keinen diskriminierenden Charakter hätten und der Beschwerdeführer hinsichtlich der anderen Einzelnoten schon nicht näher dargelegt habe, welche Punktzahl er für erforderlich halte, lagen diese Erwägungen nicht ohne Weiteres auf der Hand und überschritten den statthaften Prüfungsumfang im Berufungszulassungsverfahren. Inhaltlich liegen sie auch eher fern, weil der Beschwerdeführer dargelegt hat, dass die Feststellung, welche Noten er mit der von ihm für notwendig gehaltenen längeren Schreibzeitverlängerung in allen Fächern erreicht hätte, im Nachhinein nicht möglich ist. Gerade deswegen blieb ihm aber nur die Möglichkeit eines Feststellungsantrags, um eine in den erreichten Noten gegebenenfalls fortwirkende Benachteiligung durch einen entsprechenden Feststellungsausspruch zu beseitigen. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist im Übrigen geklärt, dass sich das notwendige Feststellungsinteresse in einer solchen Situation bereits aus der Geltendmachung einer fortdauernden faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung ergeben kann (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 27. Mai 2014 - BVerwG 1 WB 59.13 -, juris, Rn. 20; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 113 Rn. 146 m.w.N.), die hier insbesondere im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gerügt wird.

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3. Auf die Beantwortung der weiteren vom Beschwerdeführer aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen kommt es nicht an, da der angegriffene Beschluss die Berufungszulassung behandelt und keine Entscheidung zur Sache enthält.

III.

25

1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf dem Verfassungsverstoß. Er ist daher gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache ist an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

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2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>; BVerfGK 20, 336 <337 ff.>).

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000‚- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2015 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und die Wirkungen der Ausweisung auf sieben (unter der Bedingung der Straffreiheit) bzw. auf neun Jahre ab Ausreise festgesetzt wurden; ferner wurde seine Abschiebung angeordnet bzw. angedroht.

Der zulässige Antrag ist nicht begründet; der als Grund für eine Zulassung allein geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) liegt nicht vor.

Anlass der Ausweisung waren mehrere Verurteilungen wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften, der Verbreitung kinderpornographischer Schriften und des sexuellen Missbrauchs von Kindern, weshalb der Kläger derzeit eine nachträglich gebildete Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten verbüßt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem Urteil vom 20. September 2016 abgewiesen, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vom Kläger nach dem Maßstab des § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig bestehe und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich sei.

Der Kläger rügt als Verfahrensmangel im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO einen Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen den Amtsermittlungsgrundsatz. Dieses habe versäumt aufzuklären, „ob vom Kläger derzeit noch eine besonders schwere Gefahr für die Sicherheit und Ordnung ausgeht, vom Kläger nach erfolgreichem Abschluss der Therapie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, nach Abschluss der Therapie ein Rückfallrisiko vorliegt, der Kläger therapiewillig und therapiefähig ist und mit welcher voraussichtlichen Behandlungsdauer gerechnet werden muss und ob die Behandlung nach Ablauf der verbleibenden Haftzeit engmaschig extern weitergeführt werden könnte“. Den Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu diesen Fragen habe das Verwaltungsgericht in der Sitzung am 20. September 2016 abgelehnt, da das Gericht auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abgestellt und zu diesem Zeitpunkt eine Wiederholungsgefahr bejaht habe, weil eine abgeschlossene Therapie noch gar nicht vorliege. Die Äußerung der Justizvollzugsanstalt vom 13. September 2016 sei kein aussagekräftiges fachärztliches Attest. Weil der Kläger unter die privilegierte Personengruppe des § 53 Abs. 3 AufenthG falle, hätte im Rahmen der Abwägung des besonders schweren Bleibeinteresses des Klägers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG mit dem Ausweisungsinteresse auch in Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger mittlerweile in der Haft eine Sexualtherapie begonnen habe, fachärztlich abgeklärt werden müssen, ob tatsächlich eine Rückfallgefahr vorliegt. Denn wäre fachärztlich festgestellt worden, dass der Kläger nunmehr fertig therapiert sei, dann wäre wohl die Abwägung für ihn positiv ausgefallen.

Damit ist aber kein Verfahrensfehler dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat weder seine Aufklärungspflicht verletzt noch sonst den Beweisantrag zu Unrecht abgelehnt.

Die Frage, „ob vom Kläger derzeit noch eine besonders schwere Gefahr für die Sicherheit und Ordnung ausgeht“, ist eine Rechtsfrage, die vom Verwaltungsgericht selbst zu beantworten ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben nämlich Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).

Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Gerade die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr des Senats: BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 1 C 14.2655 – juris Rn. 22 m.w.N.; B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 11). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger aufgrund seiner Verurteilungen den Tatbestand eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt; es war deshalb zu prüfen, ob die vom Kläger ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbestand (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 26). Das Verwaltungsgericht hat seine (negative) Prognose wesentlich darauf gestützt, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung „noch nicht einmal ansatzweise eine abgeschlossene Therapie“ vorliege, „die jedoch Voraussetzung für das Entfallen einer Wiederholungsgefahr wäre“ (UA S. 12). Es stützt sich dabei unter anderem auf den Bericht der Justizvollzugsanstalt vom 13. September 2016 – also nur wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung –, in dem es heißt: „Er hat in der Deliktgruppe bereits seine Biographie vorgestellt und hat begonnen, seine verschiedenen Delikte in der Einzeltherapie aufzuarbeiten. Wesentliche Bestandteile der Deliktarbeit stehen jedoch noch aus, weswegen es dem Gefangenen auch noch nicht möglich ist, seine grundsätzlichen deliktischen Motive zu erkennen, Risikofaktoren herauszuarbeiten und alternative Verhaltensänderungen vorzunehmen. Auch die Erstellung eines Rückfallvermeidungsplanes steht noch aus.“ In Anbetracht dieser Tatsachengrundlage gab es für das Verwaltungsgericht keinerlei Anlass, durch ein (fachärztliches) Sachverständigengutachten weiter klären zu lassen, ob der Kläger gleichwohl „nunmehr fertig therapiert“ sei, so dass von ihm keine relevante Gefahr der Begehung weiterer Straftaten mehr ausgeht.

Den Fragen, ob „vom Kläger nach erfolgreichem Abschluss der Therapie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, nach Abschluss der Therapie ein Rückfallrisiko vorliegt, der Kläger therapiewillig und therapiefähig ist und mit welcher voraussichtlichen Behandlungsdauer gerechnet werden muss und ob die Behandlung nach Ablauf der verbleibenden Haftzeit engmaschig extern weitergeführt werden könnte“, brauchte das Verwaltungsgericht ebenfalls nicht durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachgehen.

Bei der hier zu treffenden Gefahrenprognose hatte das Verwaltungsgericht von den zum Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegenden Umständen auszugehen; wie sich die Gefahrenprognose in einer ungewissen Zukunft darstellen könnte, ist insoweit unerheblich (BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993 – juris Rn. 16). Ob sich in der Zukunft die tatsächlichen Umstände ändern werden, insbesondere ob die begonnene Therapie in vollem Umfang erfolgreich sein wird, kann im Vorhinein auch durch ein Sachverständigengutachten nicht zuverlässig geklärt werden.

Dass der Kläger (nunmehr) therapiewillig und –fähig ist, hat das Verwaltungsgericht im Übrigen zu seinen Gunsten unterstellt und sowohl bei der Gefahrenprognose (UA S. 12) wie auch bei der Abwägung im Rahmen seines Bleibeinteresses (UA S. 14) gewürdigt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 10. April 2015 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wurde. Das Verwaltungsgericht hat mit dem Urteil vom 29. September 2015 zwar die in dem Bescheid ebenfalls enthaltene Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung aufgehoben, die Klage aber im Übrigen abgewiesen.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Hinsichtlich der noch im Schriftsatz vom 16. Oktober 2015 aufgeführten weiteren Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 VwGO hat der Kläger zur Begründung nichts mehr vorgetragen.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.

1. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a.F.) für rechtmäßig erachtet.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer zwingenden Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG (a.F.) seien wegen der rechtskräftigen Verurteilungen des Klägers erfüllt. Es brauche nicht abschließend geklärt zu werden, ob der Kläger als türkischer Staatsangehöriger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht und damit den besonderen Ausweisungsschutz nach ARB 1/80 genieße, denn die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung sei auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zu beanstanden. Aufgrund des persönlichen Verhaltens des Klägers liege eine schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, es bestehe eine gegenwärtige Gefahr weiterer Straftaten.

Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen Art. 8 EMRK. Der Kläger könne als sog. faktischer Inländer nur unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes des Art. 8 EMRK ausgewiesen werden, doch führe die vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens als gerechtfertigt und verhältnismäßig anzusehen sei.

2. Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant (Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 57; vgl. auch BVerwG, B.v. 15.12.2003 - 7 AV 2.03 - NVwZ 2004, 744).

Der Senat hat daher das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 29. September 2015 unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens - mangels entgegenstehender Übergangsregelung - anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung zu überprüfen. Eine - wie hier - nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

Wenn man - mit dem Verwaltungsgericht - zugunsten des Klägers davon ausgeht, dass ihm ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/ Türkei zusteht, darf er gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.

3. Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei rechtmäßig, gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung, im Ergebnis nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.

a) Soweit der Kläger geltend macht, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass es sich bei ihm um einen „assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsbürger“ handle, trifft dies so nicht zu. Das Verwaltungsgericht hat diese Frage - mit der Bemerkung, dass für diese Rechtsstellung „einiges spricht“ - offengelassen, weil die getroffene Ermessensentscheidung auch diesen Anforderungen entspreche.

Dieses vom Verwaltungsgericht gefundene Ergebnis trifft auch unter Anwendung der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung weiterhin zu. Zunächst ist insoweit festzustellen, dass die vom Aufenthalt des Ausländers ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nunmehr im Rahmen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ausweisung nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG zu prüfen ist.

b) Entgegen den Ausführungen in der Zulassungsbegründung und auch unter Berücksichtigung der seit dem erstinstanzlichen Urteil eingetretenen Entwicklungen ist auch unter Anwendung des § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG weiterhin davon auszugehen, dass von dem vom Kläger zu erwartenden persönlichen Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, ausgeht. Der Kläger hat diese Gefahrenprognose in seiner Zulassungsbegründung nicht durchgreifend in Frage gestellt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18). Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.

Im Fall des Klägers bestehen Gefahren für Rechtsgüter von hohem Rang, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren. Er ist wegen einer Vielzahl von Gewalt- und Eigentumsdelikten zuletzt mit Urteil vom 11. März 2013, unter Einbeziehung bereits früher verhängter Strafen, zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Das Verwaltungsgericht hat in seiner Gefahrenprognose entscheidend darauf abgestellt, dass der Kläger seit seiner Jugend massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Er sei bereits zehnmal strafrechtlich geahndet worden, unter anderem wegen Straftaten aus dem Bereich der Körperverletzungs- und Diebstahlsdelikte, und werde bei der Polizei als jugendlicher Intensivtäter geführt. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts wiegt schwer, dass sich bei ihm eine erschreckende Skrupellosigkeit und in den Taten zum Ausdruck kommende Aggressivität manifestiert habe, die er nicht aufzuarbeiten bereit sei. Er habe in der Vergangenheit wiederholt ohne vorangegangene Provokation andere Personen massiv geschlagen und verletzt. Das Amtsgericht sei schon in seinem Urteil vom 13. September 2012 nachvollziehbar zu der Erkenntnis gekommen, dass die Defizite des völlig haltlosen Angeklagten so gravierend seien, dass auf ihn im Rahmen des Strafvollzugs länger eingewirkt werden müsse. Das Strafvollstreckungsgericht habe mit Beschluss vom 9. März 2015 den Antrag auf Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt, da unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit eine vorzeitige Haftentlassung nicht verantwortet werden könne, insbesondere weil seine Sucht- und Gewaltproblematik nach wie vor nicht behandelt sei. Eine Behandlung der Delikts- und Persönlichkeitsproblematik habe aus disziplinarischen Gründen nach kurzer Zeit abgebrochen werden müssen. Er habe während der Haft an keinem Anti-Gewalt- oder Anti-Aggressions-Training teilgenommen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht habe er zwar angegeben, dass er dies nach Haftentlassung nachholen werde, die Kammer habe aber nicht zu der Überzeugung gelangen können, dass er therapiewillig sei. Es sei keine Einsichtsfähigkeit in sein Handeln erkennbar gewesen, sondern vielmehr die Tendenz, seine Straftaten zu bagatellisieren. Nach ihrem Eindruck in der mündlichen Verhandlung gehe die Kammer davon aus, dass sein Vorbringen, die Gewaltproblematik nach seiner Haftentlassung angehen zu wollen, unter dem Eindruck der drohenden Ausweisung und nicht aufgrund eigener Einsicht erfolgt sei. Es sei deshalb nicht zu erkennen, dass die Inhaftierung beim Kläger zu einer Verhaltensänderung geführt habe. Während seiner Inhaftierung sei er zwanzig Mal disziplinarisch gemaßregelt worden, unter anderem weil er gegenüber Mitgefangenen Gewalt ausgeübt habe. Der Kläger habe durch sein wiederholtes massives strafbares Verhalten gezeigt, dass die erzieherischen Maßnahmen des Jugendstrafrechts und auch die sozialtherapeutischen Maßnahmen während seiner Jugend nicht gefruchtet hätten. Die Prognose verschlechtere sich zudem dadurch, dass der Kläger noch keine Ausbildung begonnen habe. Er habe keine berufliche Perspektive für die Zeit nach seiner Haftentlassung. Zwar habe er in der Haft den „Grundlehrgang Bau“ abgeschlossen, sich jedoch nicht um einen Ausbildungsplatz nach der Haft bemüht. Die Kammer habe aufgrund der Gesamtumstände keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seine Ankündigung in der mündlichen Verhandlung, sich nach seiner Haftentlassung um einen Ausbildungsplatz bemühen zu wollen, auch in die Tat umsetzen werde. Die Kammer könne nach alldem nicht erkennen, dass der Kläger ernsthaft gewillt und bemüht sei, sein Leben nach seiner Haftentlassung zu ändern. Es stehe aufgrund der fehlenden beruflichen Perspektive und der unbehandelten Gewaltproblematik zu befürchten, dass er erneut Straftaten, insbesondere Körperverletzungsdelikte, begehen werde. Die begangenen Taten offenbarten Persönlichkeitsdefizite, schädliche Neigungen und eine Rohheit gegenüber seinen Mitmenschen sowie einen mangelnden Respekt vor den Rechtsgütern anderer und der Rechtsordnung, so dass sich eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Straftaten ergebe (UA S. 9-10).

Aus diesen Erwägungen des Verwaltungsgerichts ergibt sich überzeugend, dass das persönliche Verhalten des Klägers im Sinn des § 53 Abs. 3 AufenthG gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Mit seinem Vortrag in der Begründung des Zulassungsantrags konnte der Kläger dem nicht durchgreifend entgegentreten.

Der Kläger meint, die strafrechtlichen Ahndungen, die mit einer Verwarnung bzw. einer jugendrichterlichen Weisung geendet hätten, könnten weder isoliert noch in ihrer Gesamtheit eine Ausweisungsentscheidung rechtfertigen. Davon ist das Verwaltungsgericht auch nicht ausgegangen. Vielmehr hat es die gesamte strafrechtliche „Karriere“ des Klägers, mit ihren schnell aufeinander folgenden Straftaten schon ab der Strafmündigkeit und der sich steigernden Schwere der Straftaten, in seine Gefahrenprognose einbezogen.

Weiter bringt der Kläger vor, von der Beklagten und vom Verwaltungsgericht sei fehlerhaft nicht berücksichtigt worden, dass er „in seinen Kinder- und Jugendjahren unter der anerkannten Krankheit Hyperaktivität gelitten hat, welche ganz offensichtlich nicht adäquat behandelt wurde und den Kläger bis in den Strafvollzug hinein begleitet hat“. Zwar ergibt sich aus den Akten durchaus, dass beim Kläger in jungen Jahren Hyperaktivität diagnostiziert und mit Medikamenten behandelt wurde. Dass die Krankheit nicht adäquat behandelt worden und sie beim Kläger in späteren Jahren immer noch ausgeprägt gewesen sei, beruht jedoch nur auf Vermutungen des Bevollmächtigten; es ist auch nicht ersichtlich, warum dies die vielfachen Straftaten des Klägers entschuldigen oder die Gefahrenprognose relativieren könnte. Im Gegenteil ist mehrfach eine generelle Therapieunwilligkeit des Klägers dokumentiert, wie etwa im Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 25. Februar 2015.

An der Gefahrenprognose ändert es auch nichts, dass nach seinem Vortrag die der Ausweisung zugrundeliegenden Verurteilungen innerhalb von nur neun Monaten erfolgt seien und die damit abgeurteilten Straftaten innerhalb von nur fünf Monaten stattgefunden hätten. Dass es sich bei den Verfehlungen lediglich um einen „isolierten Lebensabschnitt“ gehandelt hätte, kann daraus angesichts der seit Strafmündigkeit einsetzenden und sich steigernden Delinquenz des Klägers nicht abgeleitet werden.

Die Führungsberichte der Justizvollzuganstalt zeigen entgegen der Meinung des Klägers keine signifikante Besserung des „Bildes“ des Klägers, auch wenn sich angeblich ein Justizvollzugs-Bediensteter gegenüber dem Kläger anders geäußert haben soll.

Auch die erneut bekundete Absicht, sich nach der Haftentlassung um eine Ausbildung und/oder Arbeit zu bemühen und eine Anti-Gewalt-Therapie zu beginnen, sowie der Hinweis auf die enge Verbundenheit zu Eltern und Geschwistern können die Gefahrenprognose nicht erschüttern.

Die vom Kläger zunächst vertretene Ansicht, eine Suchtproblematik bestehe bei ihm nicht, hat er selbst wieder zurückgezogen, nachdem die von ihm eingeholte und mit Schreiben vom 3. Dezember 2015 vorgelegte Stellungnahme einer Suchtberatungsstelle vom 25. November 2015 das Gegenteil festgestellt hat.

Schließlich bestätigt aber die seit der Haftentlassung des Klägers am 13. November 2015 zu beobachtende Entwicklung der Geschehnisse eindrucksvoll die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Der Kläger wurde seither mehrfach wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, Leistungserschleichung, Diebstählen, Körperverletzungen sowie wegen Verstößen gegen Weisungen während der Führungsaufsicht auffällig. Wegen Leistungserschleichung wurde er am 31. Mai 2016 zu einer Geldstrafte von 80 Tagessätzen verurteilt. Bezüglich der Anklageschriften vom 28. September 2016 und 23. November 2016 jeweils wegen Verstößen gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (§ 145a StGB) und vom 21. Oktober 2016 wegen zweier Diebstähle ist nach Aktenlage offenbar noch keine strafgerichtliche Entscheidung ergangen. Jedenfalls aber ist daraus zu erkennen, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung keineswegs eine grundlegende Änderung seines Verhaltens vorgenommen hat.

c) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 - 10 ZB 17.226 - juris Rn. 6 ff. m.w.N.).

Die streitgegenständliche Ausweisung des Klägers ist weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG - allerdings nicht abschließend - aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig.

Der Kläger bringt in seinem Zulassungsantrag vor, das Verwaltungsgericht sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass er nicht über eine Aufenthaltserlaubnis verfüge. Jedoch besitze er die Rechtsstellung nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80, weshalb es keine Rolle spiele, dass seine (deklaratorische) Aufenthaltserlaubnis im Dezember 2012 abgelaufen sei.

Daraus ergeben sich jedoch auch unter dem Blickwinkel der Abwägung im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Bewertung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig.

Wenn man zugunsten des Klägers davon ausgeht, dass ihm tatsächlich ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zusteht, führt dies dazu, dass sein Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (in entsprechender Anwendung; vgl. BayVGH, U.v. 28.3.2017 - 10 BV 16.1601 - juris Rn. 41) besonders schwer wiegt. Dem steht aber ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber.

Bei der vorzunehmenden Abwägung ergibt sich auch aktuell eine Unerlässlichkeit der Ausweisung für die Wahrung des vom Kläger bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft. Das Verwaltungsgericht hat bei der vom Kläger angegriffenen Entscheidung im Übrigen sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, die auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie im Ergebnis in nicht zu beanstandender Weise gewichtet. Es hat zutreffend ausgeführt, dass der Kläger zwar ein sog. faktischer Inländer ist, im Ergebnis aber die von ihm ausgehende Gefahr weiterer Straftaten von höherem Gewicht ist. Eine eigene Kernfamilie hat der Kläger nicht, zu seinen Eltern und Geschwistern besteht kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis. Dem Kläger sei es auch möglich und zumutbar, sich sprachlich und kulturell in der Türkei zu integrieren, zumal er Türkisch spreche.

Die Kostenentscheidung folgt nach alledem aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

(1) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt besonders schwer, wenn der Ausländer

1.
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
2.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat,
3.
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nummern 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt,
4.
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt oder
5.
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, den §§ 24, 25 Absatz 4a Satz 3 oder nach § 29 Absatz 2 oder 4 besitzt.

(2) Das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt insbesondere schwer, wenn

1.
der Ausländer minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt,
2.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält,
3.
der Ausländer sein Personensorgerecht für einen im Bundesgebiet rechtmäßig sich aufhaltenden ledigen Minderjährigen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt,
4.
der Ausländer minderjährig ist und sich die Eltern oder ein personensorgeberechtigter Elternteil rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten beziehungsweise aufhält,
5.
die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind beziehungsweise ist oder
6.
der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 4a Satz 1 besitzt.

(3) Aufenthalte auf der Grundlage von § 81 Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 werden als rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne der Absätze 1 und 2 nur berücksichtigt, wenn dem Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels entsprochen wurde.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Sind Gebühren, die sich nach dem Streitwert richten, mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig, setzt das Gericht sogleich den Wert ohne Anhörung der Parteien durch Beschluss vorläufig fest, wenn Gegenstand des Verfahrens nicht eine bestimmte Geldsumme in Euro ist oder gesetzlich kein fester Wert bestimmt ist. Einwendungen gegen die Höhe des festgesetzten Werts können nur im Verfahren über die Beschwerde gegen den Beschluss, durch den die Tätigkeit des Gerichts aufgrund dieses Gesetzes von der vorherigen Zahlung von Kosten abhängig gemacht wird, geltend gemacht werden. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.

(2) Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt. In Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen oder der Finanzgerichtsbarkeit gilt dies nur dann, wenn ein Beteiligter oder die Staatskasse die Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.

(3) Die Festsetzung kann von Amts wegen geändert werden

1.
von dem Gericht, das den Wert festgesetzt hat, und
2.
von dem Rechtsmittelgericht, wenn das Verfahren wegen der Hauptsache oder wegen der Entscheidung über den Streitwert, den Kostenansatz oder die Kostenfestsetzung in der Rechtsmittelinstanz schwebt.
Die Änderung ist nur innerhalb von sechs Monaten zulässig, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat.

(1) Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert nach den Anträgen des Rechtsmittelführers. Endet das Verfahren, ohne dass solche Anträge eingereicht werden, oder werden, wenn eine Frist für die Rechtsmittelbegründung vorgeschrieben ist, innerhalb dieser Frist Rechtsmittelanträge nicht eingereicht, ist die Beschwer maßgebend.

(2) Der Streitwert ist durch den Wert des Streitgegenstands des ersten Rechtszugs begrenzt. Das gilt nicht, soweit der Streitgegenstand erweitert wird.

(3) Im Verfahren über den Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels und im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels ist Streitwert der für das Rechtsmittelverfahren maßgebende Wert.

(1) In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist.

(2) Der Streitwert beträgt höchstens 30 Millionen Euro, soweit kein niedrigerer Höchstwert bestimmt ist.

(1) In Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen.

(2) Bietet der Sach- und Streitstand für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, ist ein Streitwert von 5 000 Euro anzunehmen.

(3) Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf bezogenen Verwaltungsakt, ist deren Höhe maßgebend. Hat der Antrag des Klägers offensichtlich absehbare Auswirkungen auf künftige Geldleistungen oder auf noch zu erlassende, auf derartige Geldleistungen bezogene Verwaltungsakte, ist die Höhe des sich aus Satz 1 ergebenden Streitwerts um den Betrag der offensichtlich absehbaren zukünftigen Auswirkungen für den Kläger anzuheben, wobei die Summe das Dreifache des Werts nach Satz 1 nicht übersteigen darf. In Verfahren in Kindergeldangelegenheiten vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit ist § 42 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 entsprechend anzuwenden; an die Stelle des dreifachen Jahresbetrags tritt der einfache Jahresbetrag.

(4) In Verfahren

1.
vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit, mit Ausnahme der Verfahren nach § 155 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung und der Verfahren in Kindergeldangelegenheiten, darf der Streitwert nicht unter 1 500 Euro,
2.
vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit und bei Rechtsstreitigkeiten nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht über 2 500 000 Euro,
3.
vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit über Ansprüche nach dem Vermögensgesetz nicht über 500 000 Euro und
4.
bei Rechtsstreitigkeiten nach § 36 Absatz 6 Satz 1 des Pflegeberufegesetzes nicht über 1 500 000 Euro
angenommen werden.

(5) Solange in Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit der Wert nicht festgesetzt ist und sich der nach den Absätzen 3 und 4 Nummer 1 maßgebende Wert auch nicht unmittelbar aus den gerichtlichen Verfahrensakten ergibt, sind die Gebühren vorläufig nach dem in Absatz 4 Nummer 1 bestimmten Mindestwert zu bemessen.

(6) In Verfahren, die die Begründung, die Umwandlung, das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Beendigung eines besoldeten öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses betreffen, ist Streitwert

1.
die Summe der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Dienst- oder Amtsverhältnis auf Lebenszeit ist,
2.
im Übrigen die Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge mit Ausnahme nicht ruhegehaltsfähiger Zulagen.
Maßgebend für die Berechnung ist das laufende Kalenderjahr. Bezügebestandteile, die vom Familienstand oder von Unterhaltsverpflichtungen abhängig sind, bleiben außer Betracht. Betrifft das Verfahren die Verleihung eines anderen Amts oder den Zeitpunkt einer Versetzung in den Ruhestand, ist Streitwert die Hälfte des sich nach den Sätzen 1 bis 3 ergebenden Betrags.

(7) Ist mit einem in Verfahren nach Absatz 6 verfolgten Klagebegehren ein aus ihm hergeleiteter vermögensrechtlicher Anspruch verbunden, ist nur ein Klagebegehren, und zwar das wertmäßig höhere, maßgebend.

(8) Dem Kläger steht gleich, wer sonst das Verfahren des ersten Rechtszugs beantragt hat.

(1) Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts können vorbehaltlich des § 99 Abs. 2 und des § 133 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.

(2) Im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt für Entscheidungen des beauftragten oder ersuchten Richters oder des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle § 151 entsprechend.

(1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt.

(2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

(3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

(4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 dargelegt ist und vorliegt. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

(6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.