Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 11. Juni 2013 - A 11 S 1158/13

bei uns veröffentlicht am11.06.2013

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 9.April 2013 - A 6 K 199/13 - wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des zweiten Rechtszugs wird abgelehnt.

Gründe

 
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) sowie den Verfahrensmangel eines Gehörsverstoßes (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) geltend macht, hat keinen Erfolg.
1. Der Senat geht zugunsten des Klägers davon aus, dass eine im Berufungsverfahren klärungsbedürftige Frage noch ausreichend dargelegt wurde. Die formulierte Frage selbst ist allerdings völlig unverständlich. Aus der Begründung entnimmt der Senat jedoch, dass der Kläger wohl geklärt wissen will, ob die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der „Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten“ (RFRL) ist und ob bereits die Rückkehrentscheidung vor der Aufenthaltsbeendigung durch eine Behördenentscheidung zu befristen ist.
Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen bedarf es keiner Durchführung eines Berufungsverfahrens. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass nach nationalem Recht die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG die Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 RFRL darstellt (vgl. Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris). Davon ist auch der Gesetzgeber ausgegangen (vgl. BT-Drucks 17/5470, S. 24). Für die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylVfG gilt nichts anderes. Dass die Abschiebungsandrohung mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden ist (vgl. § 34 Abs. 2 AsylVfG), die erst nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG die Illegalität des Aufenthalts herbeiführt, beruht auf der ausdrücklichen Ermächtigung des Art. 6 Abs. 6 RFRL (vgl. auch Senatsbeschluss vom 19.12.2012 - 11 S 2303/12 - InfAuslR 2013, 98; GK-AufenthG § 59 Rdn. 266).
Aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 30.05.2013 (C-534/11, Arslan) folgt nichts anderes. Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 RFRL (in Verbindung mit dem 9. Erwägungsgrund) dahingehend zu verstehen ist, dass die Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der um internationalen Schutz nachgesucht hat, von der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über den Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung nicht anzuwenden ist. Dieser Entscheidung lag ein Verfahren zugrunde, in dem es um die Zulässigkeit der Fortdauer einer vor der Asylantragstellung angeordneten Haft ging. Im Falle des Klägers geht es hingegen um die Beurteilung einer Abschiebungsandrohung und deren Vereinbarkeit mit der Richtlinie. In der vorliegenden Konstellation ergibt sich jedoch kein Widerspruch zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Denn nach § 38 Abs. 1 AsylVfG (i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylVfG) tritt die sog. innere Wirksamkeit (vgl. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rdn. 166) der Abschiebungsandrohung erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts ein, weshalb in jedem Fall die Durchführung eines Rechtsmittelverfahrens während des noch legalen Aufenthalts gesichert ist. Dass die Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung mit der die Legalität des Aufenthalts beendenden Entscheidung verbunden werden darf, folgt, wie bereits ausgeführt, aber aus Art. 6 Abs. 6 RFRL.
Keiner abschließenden Entscheidung bedarf die Frage, wie die Fallkonstellation zu beurteilen ist, in der der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird. Hier endet die Legalität des Aufenthalts allerdings gem. § 67 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylVfG mit der Zustellung der Abschiebungsandrohung mit der Folge, dass eine Legalität des Aufenthalts nicht bis zur erstinstanzlichen Rechtsmittelentscheidung fortdauert. § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylVfG bestimmt lediglich, dass bis zur gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Abschiebung nicht zulässig ist. Gleichwohl steht dies nicht im Widerspruch zu den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs. Denn gerade für diese Fallkonstellation bestimmt Art. 23 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2005/85/EG vom 01.12.2005 (VRL) i.V.m. mit deren Art. 28 Abs. 2 und 39 Abs. 3 lit. b), dass die Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Verfahren durchführen dürfen und während eines Rechtsbehelfsverfahrens kein Recht auf Aufenthalt mehr einräumen müssen, wobei auch der Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung entfalten muss; hiervon hat die Bundesrepublik durch § 36 AsylVfG auch Gebrauch gemacht. Deshalb kann weder aus der Rückführungsrichtlinie noch aus der Verfahrensrichtlinie ein Zwang zur weitergehenden Legalisierung abgeleitet werden. Auch aus dem 9. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie folgt kein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht für sämtliche denkbare Fallkonstellationen bis zur erstinstanzlichen Rechtsmittelentscheidung, was schon darin begründet ist, dass dieser nur davon spricht, dass Drittstaatsangehörige so lange nicht als illegal aufhältige Personen gelten „sollten“, es heißt gerade nicht, dass sie nicht als solche gelten „dürfen“. Auch der Europäische Gerichtshof hat dies im Urteil vom 30.05.2013 nicht in dieser Allgemeinheit gesagt (vgl. Rdn. 45 ff.), jedenfalls keine Begründung für eine derart einschränkungslose Sichtweise gegeben (vgl. Rdn. 49). Eine solche Sichtweise stünde auch in unüberbrückbarem Gegensatz zu der den Mitgliedstaaten in Art. 39 Abs. 3 VRL eingeräumten Möglichkeit, Fälle vorzusehen, in denen einerseits das nach Art. 7 Abs. 1 VRL bestehende Recht auf Aufenthalt über den Zeitpunkt der ersten Behördenentscheidung hinaus verlängert wird, andererseits dieses gerade zu unterlassen und kein weiteres Aufenthaltsrecht einzuräumen und in diesem Fall auch keine aufschiebende Wirkung vorzusehen. Im Übrigen kann ein Erwägungsgrund nicht dazu herangezogen werden, um ausdrückliche Normierungen für unanwendbar zu erklären, auch wenn er sich in einer „lex posterior“ findet. Zwar ist unbestritten, dass einem unionsrechtlichen Rechtsakt vorangestellte Erwägungsgründe einen integralen Bestandteil dieses Rechtsakts insgesamt darstellen. Sie sind jedoch andererseits nicht unmittelbar Inhalt und Gegenstand der einzelnen Rechtsnorm selbst und haben insbesondere keine unmittelbare normative Wirkung derart, dass sie Rechte und Pflichten zu begründen vermögen. Andernfalls wären die jeweiligen normativen Aussagen unmittelbar dort platziert worden und nicht gewissermaßen im Vorspann. Sie haben vielmehr die Funktion einer (gewissermaßen amtlichen) Auslegungshilfe, allerdings nur sofern überhaupt Auslegungsbedarf besteht (vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Vertrag, 6. Aufl., Art. 19 Rdn. 22; Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90; VG Stuttgart, Urteil vom 21.5.2007 - 4 K 2563/07 - juris). So wird etwa in Ziff. 10 des „Gemeinsamen Leitfadens des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission“ zur Abfassung von Rechtstexten (unter http://eur-lex.europa.eu/de/techleg/10.htm) ausgeführt, der Zweck von Erwägungsgründen sei es, die wichtigsten Bestimmungen des verfügenden bzw. normierenden Teils in knapper Form zu begründen, ohne deren Wortlaut wiederzugeben oder zu paraphrasieren; sie dürften keine Bestimmungen mit normativem Gehalt und auch keine politischen Willenskundgebungen enthalten. Sie stellen hiernach insbesondere kein Mittel dar, um eindeutige Bestimmungen des unmittelbar normierenden Teils des Rechtsakts weitgehend zu entwerten oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Europäische Gerichtshof hat dies anschaulich in der Weise ausgedrückt: Zwar könnten Ausführungen in den Erwägungsgründen Licht auf die Interpretation einer Norm werfen, sie könnten jedoch nicht selbst eine solche Norm schaffen (vgl. Urteil vom 13.07.1989 - Rs. 215/88, Casa Fleischhandel, Ziff. 31 - Slg. 1989, 2789).
Wollte man annehmen, dass der Europäische Gerichtshof dies mit Rücksicht auf die apodiktische Antwort auf die erste Vorlagefrage anders gesehen hat, und das, obwohl der 9. Erwägungsgrund nur im Sinne eines Programmsatzes von einem „Sollen“ spricht, so würde dies nicht zu einer Unanwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie führen, vielmehr wäre § 67 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylVfG unionsrechtskonform dahingehend anzuwenden, dass die Aufenthaltsgestattung erst erlischt, wenn die Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG abgelaufen ist und bis dahin kein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt wurde bzw. im Falle der rechtzeitigen Antragstellung die Aufenthaltsgestattung erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung erlischt und die Abschiebungsandrohung erst zu dem jeweiligen Zeitpunkt innere Wirksamkeit erlangt. Der Senat vermag dem Urteil des Europäischen Gerichthofs nicht zu entnehmen, dass Unionsrecht zwingend fordern könnte, dass auch bei verfristeten Rechtsbehelfen die Aufenthaltsgestattung bis zur Entscheidung über diesen fortbestehen müsste. Andernfalls wäre zwar zunächst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist die Rückführungsrichtlinie grundsätzlich anzuwenden, anschließend aber wiederum für einen gewissen Zeitraum nicht mehr. Dieses könnte gerade bei erheblichen Verspätungen des Rechtsbehelfs zu erheblichen Unsicherheiten hinsichtlich der Anwendbarkeit der Richtlinie führen, was der Verfahrensklarheit und damit auch der Rechtssicherheit abträglich wäre. Dafür, dass der Europäische Gerichtshof vor dem Hintergrund der normativen Vorgaben des Art. 39 Abs. 3 lit. b) VRL ausschließlich den Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren gemeint haben könnte, besteht kein ausreichender Anhalt, wäre diese Sichtweise doch offenkundig mit dieser Vorgabe unvereinbar. Die vorstehend beschriebene unionskonforme Auslegung ist geeignet, die herkömmlichen nationalen Strukturen des Asylverfahrensrechts und die nationale Verfahrensautonomie in weitestgehendem Umfang zu erhalten und das unionsrecht in möglichst schonender Weise in das nationale Recht zu integrieren.
Im Übrigen trifft die Auffassung des Klägers nicht zu, dass bereits die Rückkehrentscheidung zu befristen ist. Die Rückführungsrichtlinie unterscheidet ausdrücklich zwischen der Rückkehrentscheidung (vgl. Art. 6 Abs. 1 RFRL) und dem mit ihr nur „einhergehenden“ Einreiseverbot (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL). Nur dieses ist einer Befristung zugänglich, wie sich unmissverständlich aus Art. 11 Abs. 2 RFRL ergibt und auch sachlich darin begründet ist, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung nicht notwendigerweise auch feststeht, dass überhaupt ein Einreiseverbot entstehen wird (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL). Daher hat auch der Senat entschieden, dass erst spätestens (aber rechtzeitig) vor einer Abschiebung eine Befristung von Amts wegen eine Befristung auszusprechen ist und insoweit § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 5 AufenthG mit Unionsrecht nicht zu vereinbaren sind (vgl. Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 - juris).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen.
a) Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht dieser Verpflichtung nachgekommen ist (BVerfG, Beschluss vom 01.02.1978 - 1 BvR 426/77 - BVerfGE 47, 182; vom 25.03.1992 - 1 BvR 1430/88 - BVerfGE 85, 386; vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133; Kammerbeschluss vom 17.04.2012 - 1 BvR 3071/10 - juris; vom 15.05.2012 - 1 BvR 1999/09 - juris). Es ist nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen des Klägers in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Nur die wesentlichen der Rechtsverteidigung und -verfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Daher kann aus der fehlenden Erörterung von Teilen des Vorbringens nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, diese seien gar nicht erwogen worden. Eine derartige Annahme ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen wurden, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.1988 - 1 BvR 818/88 - BVerfGE 79, 51).
10 
Gemessen hieran trifft es nicht zu, dass das Verwaltungsgericht den Hilfsbeweisantrag Ziffer 2 nicht zur Kenntnis genommen hat. Denn das Verwaltungsgericht spricht auf S. 7 UA ausdrücklich von dem Zusammenhang mit dem Tod des Vaters und der Tötung des Onkels, die im Hilfsbeweisantrag Ziffer 2 angesprochen waren.
11 
b) Die in Bezug auf die Ablehnung der Hilfsbeweisanträge erhobene Gehörsrüge, mit der die Unzulässigkeit deren Ablehnung gerügt wird, bleibt ohne Erfolg.
12 
Zwar gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der jeweils maßgeblichen gerichtlichen Verfahrensordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (BVerfG, Beschluss vom 20.04.1982 - 1 BvR 1242/81 - BVerfGE 60, 247; vom 20.04.1982 - 1 BvR 1429/82 - BVerfGE 60, 250; vom 29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 - BVerfGE 65, 305; vom 30.01.1985 - 1 BvR 393/84 - BVerfGE 69, 141). Allerdings gewährt Art. 103 Abs. 1 GG keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise unberücksichtigt lässt (BVerfG, Beschluss vom 09.02.1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1; 305; vom 15.11.1982 - 1 BvR 585/80 - BVerfGE 62, 249 st. Rspr.). Die Nichtberücksichtigung eines von den Fachgerichten als erheblich angesehenen Beweisangebots verstößt aber dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, Beschluss vom 08.11.1978 - 1 BvR 158/78 - BVerfGE 50, 32; vom 20.04.1982 - 1 BvR 1429/82 - BVerfGE 60, 250; vom 29.11.1983 - 1 BvR 1313/82 - BVerfGE 65, 305), mit anderen Worten, wenn die Ablehnung aus Gründen erfolgt ist, aus denen ein Beweisantrag schlechthin nicht hätte abgelehnt werden dürfen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.11.2006 - 2 BvR 194/05 - LKV 2007, 222, das ausdrücklich vom Maßstab der objektiven Willkür ausgeht; vgl. auch Kammerbeschluss vom 22.09.2009 - 1 BvR 3501/08 - juris).
13 
Was die Hilfsbeweisanträge Ziffer 1 und 2 betrifft, ist deren Ablehnung nicht zu beanstanden. Denn der Ablehnungsgrund der Unerheblichkeit der Beweiserhebung ist allgemein anerkannt (vgl. Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 86 Rdn. 33). Ob die vom Verwaltungsgericht vertretene Rechtsauffassung, das Vorbringen sei im Rahmen des allein zu beurteilenden Streitgegenstands nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unerheblich, zutrifft, ist aber keine Frage der Verletzung des rechtlichen Gehörs, sofern die hierfür gegebenen Gründe nicht ihrerseits willkürlich sind.
14 
In Bezug auf die Ablehnung des Hilfsbeweisantrags Ziffer 3 wird eine Gehörsverletzung schon nicht ausreichend dargelegt. Die unter Beweis gestellte Tatsache, „dass der Kläger aufgrund der vorläufigen ärztlichen Stellungnahme von Frau Dr. F. vom 28.03.2013 an einer posttraumatischen Belastungsstörung und damit an einer schweren psychischen Störung leidet, die hier im Bundesgebiet behandlungsbedürftig ist, …, dass weiterhin der Kläger bei einer Rückkehr oder Abschiebung nach Afghanistan schwer traumatisiert werden würde…“ wird durch den Inhalt der Stellungnahme vom 28.03.2013 nicht getragen. Denn aus dieser Stellungnahme ergibt sich allenfalls, dass der Kläger in seiner Kindheit schwer belastende Erlebnisse gehabt habe und diese nicht ausreichend verarbeitet worden seien, wobei erschwerend hinzukomme, dass der Kläger die aktuelle Aufenthaltsunsicherheit als bedrohlich empfinde. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und auch im Falle der Rückkehr retraumatisiert werden könnte. Bei diesem Ausgangspunkt genügt das Vorbringen im Zulassungsantrag nicht, um die Begründung des Verwaltungsgerichts, es liege eine unzulässige Ausforschung vor, als willkürlich erscheinen zu lassen.
15 
Der Senat lässt daher offen, ob der Kläger, indem er in der mündlichen Verhandlung den Beweisantrag nur hilfsweise gestellt und sich damit bereits die Möglichkeit verbaut hat, eine seiner Auffassung fehlerhafte Ablehnung noch in der mündlichen Verhandlung zu rügen und auf eine Korrektur der Ablehnung zu dringen, sei es, dass der Beweisantrag neu formuliert bzw. präzisiert wurde, sei es auch nur, dass der abweichende Rechtsstandpunkt dem Gericht unterbreitet wurde, um bei diesem ein Überdenken auszulösen, mit einer Gehörsrüge im Rechtsmittelverfahren nicht mehr gehört werden kann (vgl. in diesem Sinn BVerwG, Urteil vom 22.04.1986 - 9 C 318.85 - NVwZ 1986, 928; Beschluss vom 09.05.1996 - 9 B 254.96 - juris, vom 21.01.1997 - 8 B 2.97 - Buchholz 310 § 102 VwGO Nr. 21; vom 20.12.2011 - 7 B 43.11 - juris; OVG Bremen, Beschluss vom 13.12.2002 - 1 A 384/02 - juris; HessVGH, Beschluss vom 07.02.2001 - 6 ZU 695/99.A - AuAS 2001, 203; vom 17.01.2003 - 3 ZU 484/01.A - AuAS 2003, 69; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.03.2012 - 12 A 35/12 - juris; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 08.02.2002 - A 2 S 293/99 - juris; Schl-HolstOVG, Beschluss vom 03.09.2003 - 3 LA 87/03 - AuAS 2004, 9; Bader u.a., VwGO, 5. Aufl., § 138 Rdn. 32; vgl. auch ausdrücklich für die Verfassungsbeschwerde BVerfG, Kammerbeschluss vom 05.02.2002 - 2 BvR 1399/01 - juris; anderer Ansicht aber BVerwG, Beschluss vom 27.02.2001 - 1 B 206.00 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 46; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27.12.1993 - A 16 S 2147/93 - VBlBW 1994, 160; vom 20.10.2006 - A 9 S 1157/06 - InfAuslR 2007, 116, SächsOVG, Beschluss vom 26.5.2005 - 3 B 16/02.A - NVwZ-RR 2006, 741; BayVGH, Beschluss vom 18.12.2003 - 9 ZB 03.31193 - AuAS 2004, 180; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl., § 86 Rdn. 19; anderer Ansicht auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 22.09.2009 - 1 BvR 3501/08 - juris, ohne jedoch auf diese allein einfach-rechtliche Fragestellung überhaupt einzugehen).
16 
Der Senat kann auch offen lassen, ob ein sog. Hilfsbeweisantrag nicht ohnehin nur eine Beweisanregung darstellt, die keine Gehörsrüge, sondern nur die Aufklärungsrüge eröffnet (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 30.11.2004 - 1 B 48.04 - juris; anderer Ansicht aber etwa BVerwG, Beschluss vom 27.02.2001 - 1 B 206.00 -).
17 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylVfG.
18 
Prozesskostenhilfe war wegen mangelnder Erfolgsaussichten nicht zu bewilligen (vgl. § 166 VwGO, § 114 ZPO).
19 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn1.das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,2.bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes aus

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Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn

1.
das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war,
2.
bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war,
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(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
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2.
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1.
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der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1986 in Leonberg geborene Kläger ist lediger und kinderloser türkischer Staatsangehöriger. Nach der Geburt lebte er zunächst einige Jahre bei seinen Eltern in Deutschland und wuchs dann bis zu seinem 9. Lebensjahr gemeinsam mit seinem älteren Bruder bei seiner Großmutter in der Türkei auf. In der Türkei besuchte er die 1. und 2. Klasse der Grundschule. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, hielt sich auch in dieser Zeit in Deutschland rechtmäßig als Arbeitnehmer auf. 1995 kehrte der Kläger dann zu seinen Eltern nach Sindelfingen zurück. Der Kläger besuchte in Deutschland zunächst eine Vorbereitungsklasse, dann die Grundschule und wechselte nach der 4. Klasse Grundschule auf das Gymnasium. Von dort musste er nach der 6. Klasse aufgrund unzureichender Leistungen auf die Realschule wechseln. Nachdem er dort die 6. Klasse wiederholt hatte, verließ er schließlich wegen Verhaltensauffälligkeiten und Fehlzeiten die Realschule ohne Abschluss. Im Jahre 2001 und nach dem Besuch verschiedener Schulen erreichte er den Hauptschulabschluss mit dem Notendurchschnitt von 2,3. Eine danach begonnene Lehre als Kfz-Mechaniker endete vorzeitig, weil ihm betriebsbedingt gekündigt worden war. Eine abgeschlossene Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen, da er einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker wegen eigenen Fehlverhaltens wieder verlor. Danach hielt er sich bis 2003 immer wieder vorübergehend in der Türkei auf. Nach seiner Rückkehr trennten sich seine Eltern; er lebte in der Folgezeit bei seiner Mutter. Er ging nach seiner Rückkehr auch nur gelegentlichen unselbständigen Erwerbstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. durch Inhaftierungen unterbrochen waren. Zuletzt arbeitete er von Juni 2008 bis März 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma, jedoch wurde das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsverweigerung fristlos gekündigt.
Ihm wurde am 21.05.1997 eine bis 22.02.2002 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach verlängert wurde, zuletzt gültig bis zum 28.05.2009. Einen Verlängerungsantrag stellte er nicht.
Bereits im Alter von 12 Jahren begann der Kläger mit regelmäßigem Alkoholkonsum, wenig später mit dem zusätzlichen Konsum von Haschisch und Ecstacy sowie Kokain und Heroin. In der Zeit von Oktober 2006 bis Sommer 2007 nahm er - im Zuge einer Bewährungsauflage - an Gesprächen der Drogenberatung Sindelfingen teil, räumte dort seinen Drogenkonsum aber nur teilweise ein. Nach dem Ergebnis eines vom Landgericht Stuttgart in Auftrag gegebenen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 11.11.2009 ist beim Kläger zwar von einem anhaltenden, schädlichen politoxikomanen Alkohol-und Drogenmissbrauch mit im zeitlichen Verlauf wechselndem Ausmaß auszugehen, nicht hingegen von einer Suchterkrankung im engeren Sinne mit körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit. Im Übrigen diagnostizierte der Gutachter beim Kläger eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
Am 29.09.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu zwei Freizeitarresten und zur Erbringung von Arbeitsleistungen.
Am 17.01.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 12.03.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17.01.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einem Jahr Jugendstrafe, die erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 31.08.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der beiden vorgenannten Verurteilungen wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einem Jahr und vier Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung im Berufungsverfahren (vgl. Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18.11.2004) zur Bewährung ausgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang war er bereits vorübergehend vom 10.10.2003 bis 21.11.2003 sowie vom 25.05.2004 bis 18.11.2004 in Untersuchungshaft genommen worden.
Am 25.10.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der drei vorgenannten Verurteilungen wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten.
10 
Am 22.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der vier vorgenannten Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 2 Jahre und sechs Monaten. Der Rest der Strafe wurde bis zum 03.09.2009 zur Bewährung ausgesetzt.
11 
Von einer Ausweisung sahen die Ausländerbehörden zunächst ab, sprachen aber am 15.05.2002 (durch die Ausländerbehörde der Stadt Sindelfingen) sowie am 15.08.2006 (durch das Regierungspräsidium) eine ausländerrechtliche Verwarnung aus.
12 
Am 20.04.2009 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart festgenommen und verbüßte während der U-Haft auch Ersatzfreiheitsstrafen aus vorangegangenen Verurteilungen.
13 
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 04.12.2009, rechtskräftig seit dem 16.04.2010, wurde er wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er in den Morgenstunden des 20.04.2009 zusammen mit einem Mittäter maskiert und mit einem Messer bewaffnet eine Spielothek betreten und den dort Angestellten mit einem auf ihn gerichteten Messer bedroht und zur Freigabe des Weges zur Kassenschublade veranlasst hatte. Dabei erbeuteten sie Bargeld in Höhe von mindestens 4.000,- EUR das sie allerdings auf der anschließenden Flucht größtenteils wieder verloren.
14 
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger mit Verfügung vom 25.06.2010 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei auf seine Kosten an und wies ihn darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, dass seine Abschiebung für den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt werde. Die Ausweisungsverfügung wurde als Ermessensausweisung auf § 55 Abs. 1 AufenthG gestützt. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bestehe, weil der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Seine Ausweisung setze daher außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche, hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung durch ein persönliches Verhalten voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Straftaten. Mit ausführlicher Begründung bejahte das Regierungspräsidium eine solche Wiederholungsgefahr im Bereich der Gewaltkriminalität. Sie komme in der schweren und besonders häufigen Straffälligkeit, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der Ergebnislosigkeit der Hafterfahrung und der ausländerrechtlichen Verwarnungen zum Ausdruck und werde durch die fortbestehende Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkt. Auch ein unterstellter beanstandungsfreier Haftvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu, zumal bereits eine vorherige Haftverbüßung keinerlei nachhaltige Wirkung auf sein Verhalten gehabt habe. Wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegen. Zu seinen Gunsten greife kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG ein, denn ein solcher gelte nur für Unionsbürger. Nationaler Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG greife nicht, weil der Kläger nicht im Besitz der dafür erforderlichen Aufenthaltserlaubnis sei. Unter Würdigung und Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe und auch im Hinblick auf den Schutz nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kam das Regierungspräsidium Stuttgart zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung wegen der durch den Kläger wiederholt begangenen schwerwiegenden Verstöße und der Wiederholungsgefahr verhältnismäßig sei.
15 
Der Kläger erhob am 06.07.2010 zum Verwaltungsgericht Stuttgart Klage und machte geltend: Er lebe seit 1 1/2 Jahrzehnten im Bundesgebiet. Sein Aufenthaltsrecht stütze sich auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG. Der Umstand, dass der Kläger gutachterlich als dissoziale Persönlichkeit eingeordnet worden sei, rechtfertige seine Ausweisung nicht. Die Anpassungsschwierigkeiten in der Türkei wären für ihn unlösbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ausweisung wäre eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates. Eine solche Gefahr stelle der Kläger nicht dar. In der Sache verdeutliche auch EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - Rs C-145/09 , dass nach dem Maßstab des Art. 28 Abs. 3 lit. a) 2004/38/EG eine Ausweisung des Klägers ausscheide. Seine Straftat gefährde die Sicherheit des Staates nicht.
16 
Der Beklagte trat unter Berufung auf die Ausführungen in der angegriffenen Verfügung der Klage entgegen.
17 
Mit Urteil vom 28.03.2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Das Regierungspräsidium habe die Ausweisung zutreffend auf § 55 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 und 14 ARB 1/80 gestützt und den Kläger ermessensfehlerfrei aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze, denn er sei in Deutschland geboren worden und habe über fünf Jahre bei seinem Vater, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe, gelebt. Das Aufenthaltsrecht gelte unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst eine Beschäftigung ausübe oder nicht. Aufgrund dieser Rechtsstellung bestehe für den Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80, und er könne, selbst wenn er nach nationalem Recht einen Ist-Ausweisungstatbestand (§ 53 AufenthG) verwirklicht habe, nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters finde Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Unionsbürgerrichtlinie auf den Status des Klägers weder Anwendung noch sonst Berücksichtigung. Das Regierungspräsidium Stuttgart sei weiter mit Recht davon ausgegangen, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Ausweisung des Klägers nicht entgegenstehe. Eine Ausweisung des Klägers komme lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut gegeben sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe diese Voraussetzungen zutreffend bejaht. Es bestehe nach der Verurteilung vom 04.12.2009 eine erhebliche Gefahr, dass der Kläger wieder ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten begehen werde. Im angefochtenen Bescheid habe das Regierungspräsidium eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen und beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter Straftaten der Beschaffungs- und Gewaltkriminalität festgestellt. Dabei habe es sich auf die Vielzahl der seit 2000 begangenen Delikte, auf die hohe Rückfallgeschwindigkeit, auf seine Unbelehrbarkeit auch nach entsprechenden Verwarnungen und Inhaftierungen gestützt. Selbst die Tatsache, dass einer seiner Brüder im Jahre 2004 bereits wegen schwerer Straftaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben worden und ihm damit die ausländerrechtlichen Folgen von delinquentem Verhalten ganz konkret vor Augen geführt worden seien, habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die angesichts des strafrechtlichen Werdegangs große Gefahr weiterer Gewaltkriminalität werde auch durch die vom Gutachter festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstruktur verstärkt. Da der Kläger keine Aufenthaltserlaubnis besitze, genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG keinen besonderen Ausweisungsschutz. Das Regierungspräsidium habe das Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Danach seien bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung habe das Regierungspräsidium zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei und sich seit rund 1 1/2 Jahrzehnten, bis auf kurze Unterbrechung, ununterbrochen rechtmäßig hier aufgehalten habe. Das Regierungspräsidium habe ferner die Entwicklung der Lebensverhältnisse des Klägers während seines lang andauernden Aufenthalts berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass er zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nur gelegentlich unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen, überwiegend aber beschäftigungslos gewesen sei. Er habe sich im Bundesgebiet keine sichere wirtschaftliche Lebensgrundlage aufgebaut. Seine fehlende Integration komme auch in beharrlichen Verstößen gegen die deutsche (Straf-) Rechtsordnung zum Ausdruck. Das Regierungspräsidium habe zutreffend die wirtschaftliche Bindung des Klägers im Bundesgebiet durch sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt. Es habe ferner das Ermessen auch im Hinblick auf die persönlichen Bindungen des Klägers, nämlich seine Beziehung zu seiner noch lebenden Mutter und seinem Onkel, pflichtgemäß ausgeübt. Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit dem Kläger in einer familiären Lebensgemeinschaft lebten, seien gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinreichend berücksichtigt worden. Zutreffend sei erkannt worden, dass die Ausweisung mit der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Kläger künftig daran hindere, die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und dass damit ein Eingriff in Art. 6 GG vorliege. Allerdings verbiete Art. 6 GG auch einen für die Beteiligten schwerwiegenden Eingriff nicht schlechthin. Im vorliegenden Fall beruhe die Ausweisung auf einem wiederholten, schweren kriminellen Fehlverhalten des Klägers. Der staatliche Schutz der Gesellschaft vor etwaigen weiteren Beeinträchtigungen habe ebenfalls Verfassungsrang und müsse in diesem Fall wegen der konkreten Wiederholungsgefahr Vorrang genießen. Der Kläger habe die zu einem Eingriff in Art. 6 GG führenden Gründe selbst geschaffen. Die Bindung zu seinen Familienangehörigen habe ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Die Bindung eines volljährigen erwachsenen Menschen zu seinen Verwandten sei ferner durch eine fortschreitende „Abnabelung" geprägt. Dem Kläger könne daher eine eigenverantwortliche Lebensführung zugemutet werden. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt. Angesichts der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten sei der Allgemeinheit das Risiko einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers unter dem Gesichtspunkt des vorrangigen Schutzes der Bevölkerung vor Gewaltdelikten nicht zuzumuten. Die Ausweisung sei zur Erreichung des beabsichtigten Zwecks erforderlich und angemessen. Ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen durch schwerwiegende Straftaten sei nicht ersichtlich. Die Rückkehr in seine Heimat sei dem Kläger auch zuzumuten. Zwar sei er in Deutschland geboren und aufgewachsen; trotzdem sei davon auszugehen, dass er als Sohn türkischer Staatsangehöriger die türkische Sprache mindestens in den Grundzügen beherrsche. Dafür sprächen auch sein mehrmonatiger Schulaufenthalt in der Türkei und seine kurzzeitigen Aufenthalte dort. Auch einer seiner Brüder, der bereits 2004 dorthin abgeschoben worden sei, lebe in seinem Heimatland. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie vom Regierungspräsidium nicht bereits bei Erlass befristet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbotes nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle insofern auf die Umstände des Einzelfalls ab. Angesichts des hier mit der Ausweisung verfolgten gewichtigen öffentlichen Interesses und der demgegenüber geringer wiegenden Belange des Klägers sei es nicht ermessensfehlerhaft, ihn zunächst unbefristet auszuweisen, die Frage der Befristung aber von seiner künftigen persönlichen Entwicklung abhängig zu machen und in einem gesonderten Verfahren zu prüfen. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen völker- und europarechtlichen Vorschriften. Einer Ausweisung des Klägers stehe nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen, denn der hier überwundene Ausweisungsschutz des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sei weitergehend als derjenige aus Art. 3 Abs. 3 ENA. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen das durch Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Zwar stelle die Ausweisung einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Dieser sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn die Ausweisung sei, wie dargelegt, in § 55 AufenthG gesetzlich vorgesehen, und sie stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Grundordnung unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig sei. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage habe ebenfalls keinen Erfolg.
18 
Am 01.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Er berief sich zunächst auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und darauf, dass nach den vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tsakouridis aufgestellten Grundsätzen im Falle der Ausweisung die Resozialisierung des Klägers gefährdet wäre. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Sache Ziebell macht der Kläger nunmehr geltend, die angegriffene Verfügung sei schon wegen der Verletzung des sog. Vier-Augen-Prinzips des Art. 9 RL 64/221/EWG aufzuheben, das mit Rücksicht auf die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.03.2011 - 6 K 2480/10 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 aufzuheben.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Berufung zurückzuweisen.
23 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen und stellt insbesondere ein subjektives Recht des Klägers auf Resozialisierung infrage. Ein derartiger Rechtsanspruch würde dazu führen, dass nahezu jede Ausweisung eines straffälligen Ausländers ausgeschlossen sei. Im Übrigen seien die Überlegungen des EuGH in der Rechtssache Tsakouridis ungeachtet der nicht möglichen Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie nicht übertragbar, weil türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 inne hätten, keine Freizügigkeit innerhalb der Union genössen. Das sog. Vier-Augen-Prinzip gelte entgegen der Auffassung des Klägers nicht mehr weiter. Denn zum einen wäre die Fortgeltung mit Art. 59 ZP unvereinbar. Ungeachtet dessen sei dieses auch nicht durch die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 aufrechterhalten, weil diese sich nur an die Mitgliedstaaten wende.
24 
Der Senat hat eine Stellungnahme der JVA Heilbronn über die Entwicklungen des Klägers im Vollzug eingeholt. Insoweit wird auf das Schreiben der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 verwiesen.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26 
Dem Senat lagen die Ausländerakten, die Akten des Regierungspräsidiums sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Ausnahmsweise kann eine kürzere Frist gesetzt oder von einer Fristsetzung abgesehen werden, wenn dies im Einzelfall zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn

1.
der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will, oder
2.
von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.
Unter den in Satz 2 genannten Voraussetzungen kann darüber hinaus auch von einer Abschiebungsandrohung abgesehen werden, wenn
1.
der Aufenthaltstitel nach § 51 Absatz 1 Nummer 3 bis 5 erloschen ist oder
2.
der Ausländer bereits unter Wahrung der Erfordernisse des § 77 auf das Bestehen seiner Ausreisepflicht hingewiesen worden ist.
Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert oder für einen längeren Zeitraum festgesetzt werden. § 60a Absatz 2 bleibt unberührt. Wenn die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder der Abschiebungsandrohung entfällt, wird die Ausreisefrist unterbrochen und beginnt nach Wiedereintritt der Vollziehbarkeit erneut zu laufen. Einer erneuten Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.

(2) In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. Gebietskörperschaften im Sinne der Anhänge I und II der Verordnung (EU) 2018/1806 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 303 vom 28.11.2018, S. 39), sind Staaten gleichgestellt.

(3) Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. In der Androhung ist der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt.

(4) Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.

(5) In den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 bedarf es keiner Fristsetzung; der Ausländer wird aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben. Die Abschiebung soll mindestens eine Woche vorher angekündigt werden.

(6) Über die Fristgewährung nach Absatz 1 wird dem Ausländer eine Bescheinigung ausgestellt.

(7) Liegen der Ausländerbehörde konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder in § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde, setzt sie abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine Ausreisefrist, die so zu bemessen ist, dass er eine Entscheidung über seine Aussagebereitschaft nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 3 oder nach § 25 Absatz 4b Satz 2 Nummer 2 treffen kann. Die Ausreisefrist beträgt mindestens drei Monate. Die Ausländerbehörde kann von der Festsetzung einer Ausreisefrist nach Satz 1 absehen, diese aufheben oder verkürzen, wenn

1.
der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder
2.
der Ausländer freiwillig nach der Unterrichtung nach Satz 4 wieder Verbindung zu den Personen nach § 25 Absatz 4a Satz 2 Nummer 2 aufgenommen hat.
Die Ausländerbehörde oder eine durch sie beauftragte Stelle unterrichtet den Ausländer über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen für Opfer von in § 25 Absatz 4a Satz 1 genannten Straftaten.

(8) Ausländer, die ohne die nach § 4a Absatz 5 erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit beschäftigt waren, sind vor der Abschiebung über die Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 und Artikel 13 der Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen (ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24), zu unterrichten.

Tenor

Der Bescheid des Landratsamts ... vom 18.10.2006 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums ... vom 15.02.2007 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, den Klägern Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Die Kläger - ein Ehepaar und deren minderjährige Kinder - sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit.
Die Kläger Ziffer 1 bis 5 reisten im Mai 2001 in das Bundesgebiet ein und suchten um Asyl nach. Die Klägerin Ziffer 6 wurde erst nach der Einreise im Bundesgebiet geboren.
Mit unanfechtbarem Bescheid vom 06.08.2001 stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zugunsten der Kläger Ziffer 1 bis 5 fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.
Ein von der Klägerin Ziffer 6 nachträglich eingeleitetes Asylverfahren blieb hingegen erfolglos (Bescheid des Bundesamts vom 26.2.2003).
Mit Bescheid vom 25.02.2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine Feststellung vom 06.08.2001. Die hiergegen zum Verwaltungsgericht Stuttgart erhobene Klage blieb ohne Erfolg (vgl. U. v. 27.07.2005 - A 6 K 10480/05).
Am 16.10.2001 wurden den Klägern Aufenthaltsbefugnisse erteilt, zuletzt als bis 15.10.2006 gültige Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Bei der Klägerin Ziffer 6 beruhte die Aufenthaltserlaubnis auf § 33 AufenthG.
Am 18.07.2006 beantragten sie die Verlängerung Aufenthaltserlaubnisse.
Nach Anhörung lehnte das Landratsamt Heilbronn mit Verfügung vom 18.10.2006 die Anträge ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 15.02.2007 zurückgewiesen.
Am 07.03.2007 haben die Kläger Klage erhoben.
10 
Zur Begründung verweisen sie auf die aktuelle Lage im Irak, die eine Abschiebung nicht zulasse, weshalb die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG vorlägen.
11 
Sie beantragen,
12 
den Bescheid des Landratsamts ... vom 18.10.2006 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums ... vom 15.02.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihnen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.
13 
Der Beklagte ist der Klage aus den Gründen der angegriffenen Bescheid entgegn getreten.
14 
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
15 
Dem Gericht lagen die Ausländerakten der Kläger sowie die Widerspruchsakten vor.

Entscheidungsgründe

 
16 
Die zulässigen Klagen haben Erfolg.
17 
1. Die Kläger Ziffer 1 bis 5 haben jeweils einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG (in entsprechender Anwendung). Denn ihrer Abschiebung steht gegenwärtig in Bezug auf den Irak ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach Art. 15 lit. c) RL 2004/83/EG v. 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL). Insoweit kann offen bleiben, ob auch eine „extreme Gefahrenlage“ im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BVerwG zu § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. zuletzt U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – AuAS 2007, 30 m.w.N.) vorliegt.
18 
Dies ergibt sich aus Folgendem: Nach Art. 15 lit. c QRL, der in Ermangelung einer fristgemäßen Umsetzung durch die Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 38 QRL) seit 11.10.2006 unmittelbar anzuwenden ist, liegt ein ernsthafter, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährung subsidiären Schutzes auslösender ernsthafter Schaden u.a. dann vor, wenn nach Maßgabe des Kriterienkatalogs des Art. 4 Abs. 3 QRL eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gegeben ist. Diesen Vorgaben ist die grundsätzliche Differenzierung zwischen allgemeinen Gefahren, die dann im Falle des Fehlens einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu einem erheblich unterschiedlichem Prognosemaßstab und damit Schutzniveau führen, fremd. Eine Übertragung dieser Grundsätze und somit eine Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG wäre mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar (vgl. nunmehr aber auch eine dahingehende Änderung in Art. 1 Nr. 48 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union. BT-Drucks. 16/5056). Aus den vorgenannten Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie ergeben sich keine zureichenden Anhaltspunkte, wonach nur extreme Gefahrenlagen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewährung subsidiären Schutzes führen können, was aber die Folge der nationalen Regelung wäre, da nach der Rechtsprechung des BVerwG hier in dieser zugespitzten Konstellation zumindest aus verfassungsrechtlichen Gründen Abschiebungsschutz zu garantieren und zu gewähren ist. Denn dann würden im Verhältnis zu allen anderen Fallkonstellationen des subsidiären Schutzes sowohl ein abweichender Gefahrprognosemaßstab wie auch eine qualifizierte Rechtsgutsbeeinträchtigung Gültigkeit beanspruchen. Noch viel weniger lässt sich der QRL entnehmen, dass die Gewährung unterhalb dieser Schwelle von einer sog. „politischen Leitentscheidung“ abhängig gemacht werden darf mit der Konsequenz, dass gegen das Unterlassen, eine solche zu treffen, keine Rechtsschutzmöglichkeit eröffnet ist (vgl. GK-AufenthG § 23 Rdn. 17 ff.; § 60a Rdn. 13). In der Begründung des Gesetzesentwurfs (vgl. BT-Drucks. 16/5056) wird allerdings auf die 26. Begründungserwägung der QRL verwiesen, wonach „Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.“ Dieser Erwägungssatz trägt jedoch eine Übertragung der zu § 60 Abs. 7 AufenthG entwickelten Grundsätze des nationalen Rechts nicht. Zwar sind derartige Begründungserwägungen durchaus integraler Bestandteil des jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakts, sie sind aber nicht unmittelbar Inhalt und Gegenstand der einzelnen Rechtsnorm, da sie sonst genau an dieser Stelle platziert worden wären. Sie haben vielmehr die Funktion einer (gewissermaßen amtlichen) Auslegungshilfe, aber nur sofern überhaupt Auslegungsbedarf besteht (vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU- und EG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 220 Rdn. 23). Insbesondere stellen sie kein Mittel dar, um eindeutige Bestimmungen, die unmittelbar normative Wirkung haben, zu entwerten oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren. Die hier in den Blick zu nehmenden Normen sind aber keineswegs unklar; sie sind auch durchaus ausdifferenziert. Die Probleme stellen sich erst bei der praktischen Anwendung und hier v.a. bei der Tatsachenfeststellung und Tatsachenbewertung. Hinzu kommt, dass es hier allein um Gefahren geht, die aus kriegerischen internationalen oder binnennationalen Konflikten resultieren. Das hier zugrunde liegende und regelmäßig anzutreffende Gefahrenszenario ist aber typischer Weise dann so beschaffen, dass die gesamte Bevölkerung oder jedenfalls ganze Gruppen der Bevölkerung betroffen sein können. Dies wird auch durch die zusätzliche Aufnahme des Kriteriums der „willkürlichen Gewalt“, das bemerkenswerterweise gemeinschaftsrechtwidrig nicht in das nationale Recht übernommen werden soll, deutlich gemacht, das den Inhalt der konkret-individuellen Gefahrenprognose sogar tendenziell modifiziert, weil ihm die Vorstellung immanent ist, dass die Gewalt „jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort“ trifft bzw. treffen kann und bei wertender Betrachtungsweise unkalkulier- und unberechenbar ist und sich daher einer quantitativen Bewertung entziehen muss (etwa im Sinne von mehr als 50 v.H. oder eines bestimmten Prozentsatzes von Toten an der Gesamtbevölkerung, so aber im Ansatz verfehlt SaarlOVG, B.v. 09.03.2007 – 3 Q 113/06 – juris, abgesehen davon, dass die zahllosen Schwerverletzen überhaupt nicht erwähnt werden). Bemerkenswerterweise wird in anderen sprachlichen Fassungen auch nicht der Begriff der Willkür verwendet, vielmehr ist - nicht völlig identisch und das hier inmitten stehende Problem u.U. angemessener beschreibend – die Rede von „violence aveugle“, „violenzia indiscriminata“, „violencia indiscriminada“ bzw. „indiscriminate violence“. Mit diesem Inhalt ist eine Parallele zu den jeweiligen Art. 3 der vier Genfer Konventionen vom 12.8.1949 (BGBl. 1954 II, 783 ff., 813 ff., 838 ff. 917 ff.) unübersehbar, die alle jeweils möglichst umfassend den Schutz der nicht beteiligten Zivilbevölkerung im Auge haben. Diese Überlegungen zeigen deutlich, dass mittels einer Überhöhung eines bloßen Erwägungssatzes der unmittelbar normative Sinngehalt des Art. 15 lit. c) QRL ausgehöhlt und der Regelfall tendenziell zum Nichtanwendungsfall würde. Der 26. Erwägungssatz geht vielmehr in eine vollständig andere Richtung. Um dessen Bedeutung zutreffend zu erfassen, muss daran erinnert werden, dass der subsidiäre Schutz nach Art. 15 QRL in lit. c) nur einen engen und kleinen Ausschnitt möglicher Gefahren erfasst, denen die Bevölkerung eines Staates ausgesetzt sein kann, insbesondere keine Gefahren, die ihren Grund in Hunger, schlechter medizinischer Versorgung etc. haben. Mit dem Erwägungssatz wird der vornehmlichen Funktion von Erwägungssätzen entsprechend lediglich dieser Umstand und das in diesem Zusammenhang zugrunde liegende legislatorische Konzept hervorgehoben, ohne dass irgendein unmittelbarer normativer Bezug zu Art. 15 lit. c) QRL hergestellt wird. Allenfalls kann man ihn gewissermaßen als Appell an den Normanwender verstehen in dem Sinne, dass nicht etwa vorschnell eine individuelle Gefahr bejaht werden soll und darf mit dem pauschalen und undifferenzierten (auch Emotionen weckenden) Argument, es herrsche Krieg oder Bürgerkrieg (wie hier wohl auch HessVGH, U.v. 09.11.2006 – 3 UE 3238/03.A – juris; wenig überzeugend aber OVGNW, B.v. 21.03.2007 – 20 A 5164/04.A – juris, ohne dass es aber entscheidungserheblich darauf ankam). Um Missverständnissen vorzubeugen, ist nochmals darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich die Feststellung, dass ein innerstaatlicher Konflikt bestehe, im Rahmen dessen es zu willkürlicher Gewalt kommt, allein unzureichend ist. Vielmehr ist immer zusätzlich erforderlich, dass nach den Kriterien des Art. 4 Abs. 3 QRL zusätzlich ein dem Betroffenen drohender ernsthafter Schaden festgestellt werden kann (vgl. insgesamt auch UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 zur 26. Begründungserwägung, http:/www.unhcr.de).
19 
Einer Berücksichtigung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote steht im vorliegenden Fall nicht entgegen, dass die Kläger Ziffer 1 bis 5 ein Asylverfahren durchgeführt hatten, in dem zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen waren (vgl. § 24 Abs. 2 AsylVfG) und auch mit negativem Ergebnis geprüft worden waren (vgl. § 42 AsylVfG). Denn das Verwaltungsgericht hatte in seinem Urteil vom 27.07.2005 (A 6 K 10480/05) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. zuletzt U.v. 04.05.2006 - A 2 S 1122/05) mit Rücksicht auf einen bestehenden Abschiebestopperlass in Bezug auf den Irak keine Prüfung der Frage vorgenommen, ob in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG die Voraussetzungen einer sog. extremen Gefahrenlage vorliegen. In einer derartigen Fallkonstellation ist es aber geboten, im ausländerrechtlichen Streit um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG eine Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG durch die Ausländerbehörde und später durch das Verwaltungsgericht zuzulassen. Andernfalls würde die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass diesem Personenkreis im Falle des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Regelfall ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, unterlaufen (vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerwG, U.v. 27.06.2006 - 1 C 14.05 - NVwZ 2006, 1418 die Frage aber noch offen lassend).
20 
Im vorliegenden Fall ist allerdings § 25 Abs. 3 AufenthG nicht unmittelbar anwendbar, wenn eine Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfolgt, sondern lediglich ein solches nach Art. 15 lit. c) QRL. Hier ist infolge der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie eine Lücke entstanden. Denn § 25 Abs. 5 AufenthG ist nach der gesetzlichen Systematik des § 25 AufenthG nicht einschlägig, da diese Vorschrift im Gegensatz zu der des § 25 Abs. 3 (und auch der Absätze 1 und 2) ausschließlich nicht zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote erfassen soll. Da aber der in § 25 Abs. 3 AufenthG getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers die Wertung zugrunde liegt, dass alle sonstigen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote zu einem privilegierten Regelanspruch führen sollen, ist es gerechtfertigt die Lücke durch eine entsprechende Anwendung des Absatzes 3 und nicht der des Absatzes 5 zu schließen. Im Übrigen und unbeschadet dessen folgt ein Anspruch auf Legalisierung auch aus Art. 24 Abs. 1 QRL.
21 
Aufgrund der vom Gericht verwerteten Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass gegenwärtig im Irak (mit Ausnahme der drei unter kurdischer Verwaltung stehenden nördlichen Provinzen) ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, der zu einer individuellen Bedrohung jedes einzelnen Mitglieds der Zivilgesellschaft infolge von willkürlicher Gewalt führt. Dies wird im Einzelnen anschaulich, nachvollziehbar und überzeugend von UNHCR („UNHCR-Hinweise zu den Schutzbedürfnissen und Möglichkeiten der Rückkehr von Irakern, die sich außerhalb des Iraks aufhalten“ v. 18.12.2006; vgl. auch Auskunft an VG Köln v. 05.04.2007), dem Auswärtigen Amt (vgl. Lagebericht vom 11.01.2007, S. 5 und 15 ff.; vgl. auch dessen Reisewarnung und Aufforderung zum Verlassen des Iraks vom 24.11.2006), von ai (v. 07.12.2006 an VG Leipzig) und Chatham House („Accepting Realities in Iraq“ v. Mai 2007) beschrieben. Zwar besteht keine vollständige Klarheit über die genaue Zahl von getöteten Zivilpersonen, die unmittelbar Opfer von Bombenanschlägen wurden. Eher konservative Schätzungen gehen dahin, dass im Jahre 2006 mindestens 34.000 Iraker auf diese Weise zu Tode kamen und weitere 36.000 erheblich verletzt wurden. Die von der Zeitschrift Lancet hochgerechnete Zahl von Todesopfern von 650.000 für die Zeit des gesamten Konflikts wird zwar in Zweifel gezogen. Immerhin ist aber zu bemerken, dass die irakische Regierung selbst in offiziellen Stellungnahmen für diesen Zeitraum von 150.000 Toten gesprochen hat (vgl. zu alledem taz v. 27.04.2007 und Deutsche Welle vom 25.04.2007), wobei bei den Zahlen über Todesopfer immer mitzudenken ist, dass es in diesem Kontext darüber hinaus in sicherlich erheblichem Umfang auch zu (nur) Verletzten gekommen sein wird, die aber im Rahmen des subsidiären Schutzes bei der Risikobewertung gleichfalls in den Blick zu nehmen sind. Jedenfalls ist insgesamt zu konstatieren, dass gegenwärtig eine Lagebeschreibung derart realistisch ist, dass es - wie nach Art. 15 lit. c) QRL vorausgesetzt - „jeden, jederzeit und an jedem Ort“ treffen kann. Im Gefolge dieser Geschehnisse kommt es unübersehbar zu einer fortschreitenden Auflösung des gesamten Staatswesen, was eine überbordende Kriminalität ausgelöst hat (vgl. AA Lagebericht S. 15 f.; ai S. 2), wodurch das Risiko für die Zivilbevölkerung einen ernsthaften Schaden erleiden zu müssen, zusätzlich erhöht wird, weil staatliche Organe keinen Schutz mehr bieten können (vgl. Art. 6 f. QRL), z.T. auch nicht mehr leisten wollen, weil die zuständigen Amtsträger mit kriminellen Banden zusammenarbeiten (vgl. ai S. 3; vgl. zur besonders prekären Situation von Frauen Deutsches Orient-Institut v. 22.12.2006 an VG Ansbach). Das Gleiche gilt für das Gesundheitswesen und die allgemeine Versorgung generell, die als vor dem Zusammenbruch stehend geschildert werden (vgl. ICRC, „Civilians without Protection“ v. Mai 2007). Faktum ist, dass es mittlerweile im Irak bereits mehr als 1,6 Millionen sog. Binnenvertriebener gibt und etwa die gleiche Zahl von Irakern nach Syrien, Jordanien, den Libanon, die Türkei und andere Staaten in der Region geflohen sind (vgl. UNHCR v. 18.12.2006, S. 2). Zwar würden derart begründete Gefahren für sich betrachtet noch nicht auf den subsidiären Schutz nach Art. 15 lit. c) QRL hinführen. Sind diese jedoch eine unmittelbare Folge eines bestehenden innerstaatlichen gewaltsamen Konflikts, so müssen diese bei der Gesamtbeurteilung mit einbezogen werden. Eine isolierte Betrachtung wäre nicht nur realitätsfern, wenn nicht gar unmöglich, sie würde auch mit dem humanitären Anliegen des subsidiären Schutzes in unauflösbaren Widerspruch geraten. Zwar war die Sicherheitslage im Südirak zunächst weniger brisant, mittlerweile ist aber auch dort eine erhebliche Verschlechterung eingetreten (vgl. AA Lagebericht S. 16), sodass nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass dort jedenfalls ein zumutbarer interner Schutz offen stünde.
22 
Grundsätzlich anders ist allerdings die Lage in den drei kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak (vgl. UNHCR v. 18.12.2006, 4; AA Lagebericht S. 15 f.), auch wenn die jüngsten Anschläge (vgl. FR v. 11.05.2007) erste Zweifel an einem Fortbestand der dortigen Situation aufkommen lassen. Ein zumutbarer interner Schutz (vgl. Art. 8 QRL) steht jedoch in diesem Gebiet nur solchen Irakern offen, die von dort stammen oder aber zumindest auf ein soziales und familiäres Netzwerk zurückgreifen können, das in der Funktion einer Art von Bürgen auftreten kann (vgl. AA Lagebericht, S. 28. UNHCR v. 18.12.2006, S. 4; Deutsches Orient-Institut v. 13.11.2006 an VGH Baden-Württemberg). Hierauf können die Kläger jedoch, wie die mündliche Verhandlung ergeben hat, nicht zurück greifen. Sie sind zwar kurdische Volkszugehörige. Sie sind aber, wie auch die Eltern bzw. Großeltern der Kläger in der Nähe von Mosul geboren und haben dort immer gelebt. Über Angehörige in den kurdischen Provinzen verfügen sie nicht.
23 
Da keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalls oder der Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG gegeben sind, war der Beklagte einschränkungslos zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse zu verpflichten (vgl. auch § 5 Abs. 3 1. Hs. AufenthG).
24 
2. Der Anspruch der Klägerin Ziffer 6, bei der wegen der negativen unanfechtbaren Entscheidung des Bundesamts § 42 AsylVfG eine Berücksichtigung des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht möglich ist, ergibt sich aus § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Zwar erfüllt sie nicht alle Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG, allerdings ist mit Rücksicht auf den aufenthaltsrechtlichen Status der Eltern und übrigen Angehörigen von deren Erfüllung abzusehen. Nichts anderes gilt in Bezug auf § 5 Abs. 2 (vgl. dessen Satz 2) AufenthG.
25 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Gründe

 
16 
Die zulässigen Klagen haben Erfolg.
17 
1. Die Kläger Ziffer 1 bis 5 haben jeweils einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG (in entsprechender Anwendung). Denn ihrer Abschiebung steht gegenwärtig in Bezug auf den Irak ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach Art. 15 lit. c) RL 2004/83/EG v. 29.04.2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL). Insoweit kann offen bleiben, ob auch eine „extreme Gefahrenlage“ im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BVerwG zu § 60 Abs. 7 AufenthG (vgl. zuletzt U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – AuAS 2007, 30 m.w.N.) vorliegt.
18 
Dies ergibt sich aus Folgendem: Nach Art. 15 lit. c QRL, der in Ermangelung einer fristgemäßen Umsetzung durch die Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 38 QRL) seit 11.10.2006 unmittelbar anzuwenden ist, liegt ein ernsthafter, eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährung subsidiären Schutzes auslösender ernsthafter Schaden u.a. dann vor, wenn nach Maßgabe des Kriterienkatalogs des Art. 4 Abs. 3 QRL eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gegeben ist. Diesen Vorgaben ist die grundsätzliche Differenzierung zwischen allgemeinen Gefahren, die dann im Falle des Fehlens einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG zu einem erheblich unterschiedlichem Prognosemaßstab und damit Schutzniveau führen, fremd. Eine Übertragung dieser Grundsätze und somit eine Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG wäre mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar (vgl. nunmehr aber auch eine dahingehende Änderung in Art. 1 Nr. 48 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union. BT-Drucks. 16/5056). Aus den vorgenannten Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie ergeben sich keine zureichenden Anhaltspunkte, wonach nur extreme Gefahrenlagen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewährung subsidiären Schutzes führen können, was aber die Folge der nationalen Regelung wäre, da nach der Rechtsprechung des BVerwG hier in dieser zugespitzten Konstellation zumindest aus verfassungsrechtlichen Gründen Abschiebungsschutz zu garantieren und zu gewähren ist. Denn dann würden im Verhältnis zu allen anderen Fallkonstellationen des subsidiären Schutzes sowohl ein abweichender Gefahrprognosemaßstab wie auch eine qualifizierte Rechtsgutsbeeinträchtigung Gültigkeit beanspruchen. Noch viel weniger lässt sich der QRL entnehmen, dass die Gewährung unterhalb dieser Schwelle von einer sog. „politischen Leitentscheidung“ abhängig gemacht werden darf mit der Konsequenz, dass gegen das Unterlassen, eine solche zu treffen, keine Rechtsschutzmöglichkeit eröffnet ist (vgl. GK-AufenthG § 23 Rdn. 17 ff.; § 60a Rdn. 13). In der Begründung des Gesetzesentwurfs (vgl. BT-Drucks. 16/5056) wird allerdings auf die 26. Begründungserwägung der QRL verwiesen, wonach „Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.“ Dieser Erwägungssatz trägt jedoch eine Übertragung der zu § 60 Abs. 7 AufenthG entwickelten Grundsätze des nationalen Rechts nicht. Zwar sind derartige Begründungserwägungen durchaus integraler Bestandteil des jeweiligen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakts, sie sind aber nicht unmittelbar Inhalt und Gegenstand der einzelnen Rechtsnorm, da sie sonst genau an dieser Stelle platziert worden wären. Sie haben vielmehr die Funktion einer (gewissermaßen amtlichen) Auslegungshilfe, aber nur sofern überhaupt Auslegungsbedarf besteht (vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU- und EG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 220 Rdn. 23). Insbesondere stellen sie kein Mittel dar, um eindeutige Bestimmungen, die unmittelbar normative Wirkung haben, zu entwerten oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren. Die hier in den Blick zu nehmenden Normen sind aber keineswegs unklar; sie sind auch durchaus ausdifferenziert. Die Probleme stellen sich erst bei der praktischen Anwendung und hier v.a. bei der Tatsachenfeststellung und Tatsachenbewertung. Hinzu kommt, dass es hier allein um Gefahren geht, die aus kriegerischen internationalen oder binnennationalen Konflikten resultieren. Das hier zugrunde liegende und regelmäßig anzutreffende Gefahrenszenario ist aber typischer Weise dann so beschaffen, dass die gesamte Bevölkerung oder jedenfalls ganze Gruppen der Bevölkerung betroffen sein können. Dies wird auch durch die zusätzliche Aufnahme des Kriteriums der „willkürlichen Gewalt“, das bemerkenswerterweise gemeinschaftsrechtwidrig nicht in das nationale Recht übernommen werden soll, deutlich gemacht, das den Inhalt der konkret-individuellen Gefahrenprognose sogar tendenziell modifiziert, weil ihm die Vorstellung immanent ist, dass die Gewalt „jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort“ trifft bzw. treffen kann und bei wertender Betrachtungsweise unkalkulier- und unberechenbar ist und sich daher einer quantitativen Bewertung entziehen muss (etwa im Sinne von mehr als 50 v.H. oder eines bestimmten Prozentsatzes von Toten an der Gesamtbevölkerung, so aber im Ansatz verfehlt SaarlOVG, B.v. 09.03.2007 – 3 Q 113/06 – juris, abgesehen davon, dass die zahllosen Schwerverletzen überhaupt nicht erwähnt werden). Bemerkenswerterweise wird in anderen sprachlichen Fassungen auch nicht der Begriff der Willkür verwendet, vielmehr ist - nicht völlig identisch und das hier inmitten stehende Problem u.U. angemessener beschreibend – die Rede von „violence aveugle“, „violenzia indiscriminata“, „violencia indiscriminada“ bzw. „indiscriminate violence“. Mit diesem Inhalt ist eine Parallele zu den jeweiligen Art. 3 der vier Genfer Konventionen vom 12.8.1949 (BGBl. 1954 II, 783 ff., 813 ff., 838 ff. 917 ff.) unübersehbar, die alle jeweils möglichst umfassend den Schutz der nicht beteiligten Zivilbevölkerung im Auge haben. Diese Überlegungen zeigen deutlich, dass mittels einer Überhöhung eines bloßen Erwägungssatzes der unmittelbar normative Sinngehalt des Art. 15 lit. c) QRL ausgehöhlt und der Regelfall tendenziell zum Nichtanwendungsfall würde. Der 26. Erwägungssatz geht vielmehr in eine vollständig andere Richtung. Um dessen Bedeutung zutreffend zu erfassen, muss daran erinnert werden, dass der subsidiäre Schutz nach Art. 15 QRL in lit. c) nur einen engen und kleinen Ausschnitt möglicher Gefahren erfasst, denen die Bevölkerung eines Staates ausgesetzt sein kann, insbesondere keine Gefahren, die ihren Grund in Hunger, schlechter medizinischer Versorgung etc. haben. Mit dem Erwägungssatz wird der vornehmlichen Funktion von Erwägungssätzen entsprechend lediglich dieser Umstand und das in diesem Zusammenhang zugrunde liegende legislatorische Konzept hervorgehoben, ohne dass irgendein unmittelbarer normativer Bezug zu Art. 15 lit. c) QRL hergestellt wird. Allenfalls kann man ihn gewissermaßen als Appell an den Normanwender verstehen in dem Sinne, dass nicht etwa vorschnell eine individuelle Gefahr bejaht werden soll und darf mit dem pauschalen und undifferenzierten (auch Emotionen weckenden) Argument, es herrsche Krieg oder Bürgerkrieg (wie hier wohl auch HessVGH, U.v. 09.11.2006 – 3 UE 3238/03.A – juris; wenig überzeugend aber OVGNW, B.v. 21.03.2007 – 20 A 5164/04.A – juris, ohne dass es aber entscheidungserheblich darauf ankam). Um Missverständnissen vorzubeugen, ist nochmals darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich die Feststellung, dass ein innerstaatlicher Konflikt bestehe, im Rahmen dessen es zu willkürlicher Gewalt kommt, allein unzureichend ist. Vielmehr ist immer zusätzlich erforderlich, dass nach den Kriterien des Art. 4 Abs. 3 QRL zusätzlich ein dem Betroffenen drohender ernsthafter Schaden festgestellt werden kann (vgl. insgesamt auch UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 zur 26. Begründungserwägung, http:/www.unhcr.de).
19 
Einer Berücksichtigung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote steht im vorliegenden Fall nicht entgegen, dass die Kläger Ziffer 1 bis 5 ein Asylverfahren durchgeführt hatten, in dem zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen waren (vgl. § 24 Abs. 2 AsylVfG) und auch mit negativem Ergebnis geprüft worden waren (vgl. § 42 AsylVfG). Denn das Verwaltungsgericht hatte in seinem Urteil vom 27.07.2005 (A 6 K 10480/05) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. zuletzt U.v. 04.05.2006 - A 2 S 1122/05) mit Rücksicht auf einen bestehenden Abschiebestopperlass in Bezug auf den Irak keine Prüfung der Frage vorgenommen, ob in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG die Voraussetzungen einer sog. extremen Gefahrenlage vorliegen. In einer derartigen Fallkonstellation ist es aber geboten, im ausländerrechtlichen Streit um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG eine Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG durch die Ausländerbehörde und später durch das Verwaltungsgericht zuzulassen. Andernfalls würde die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass diesem Personenkreis im Falle des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Regelfall ein Aufenthaltstitel zu erteilen ist, unterlaufen (vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerwG, U.v. 27.06.2006 - 1 C 14.05 - NVwZ 2006, 1418 die Frage aber noch offen lassend).
20 
Im vorliegenden Fall ist allerdings § 25 Abs. 3 AufenthG nicht unmittelbar anwendbar, wenn eine Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht erfolgt, sondern lediglich ein solches nach Art. 15 lit. c) QRL. Hier ist infolge der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie eine Lücke entstanden. Denn § 25 Abs. 5 AufenthG ist nach der gesetzlichen Systematik des § 25 AufenthG nicht einschlägig, da diese Vorschrift im Gegensatz zu der des § 25 Abs. 3 (und auch der Absätze 1 und 2) ausschließlich nicht zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote erfassen soll. Da aber der in § 25 Abs. 3 AufenthG getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers die Wertung zugrunde liegt, dass alle sonstigen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote zu einem privilegierten Regelanspruch führen sollen, ist es gerechtfertigt die Lücke durch eine entsprechende Anwendung des Absatzes 3 und nicht der des Absatzes 5 zu schließen. Im Übrigen und unbeschadet dessen folgt ein Anspruch auf Legalisierung auch aus Art. 24 Abs. 1 QRL.
21 
Aufgrund der vom Gericht verwerteten Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass gegenwärtig im Irak (mit Ausnahme der drei unter kurdischer Verwaltung stehenden nördlichen Provinzen) ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, der zu einer individuellen Bedrohung jedes einzelnen Mitglieds der Zivilgesellschaft infolge von willkürlicher Gewalt führt. Dies wird im Einzelnen anschaulich, nachvollziehbar und überzeugend von UNHCR („UNHCR-Hinweise zu den Schutzbedürfnissen und Möglichkeiten der Rückkehr von Irakern, die sich außerhalb des Iraks aufhalten“ v. 18.12.2006; vgl. auch Auskunft an VG Köln v. 05.04.2007), dem Auswärtigen Amt (vgl. Lagebericht vom 11.01.2007, S. 5 und 15 ff.; vgl. auch dessen Reisewarnung und Aufforderung zum Verlassen des Iraks vom 24.11.2006), von ai (v. 07.12.2006 an VG Leipzig) und Chatham House („Accepting Realities in Iraq“ v. Mai 2007) beschrieben. Zwar besteht keine vollständige Klarheit über die genaue Zahl von getöteten Zivilpersonen, die unmittelbar Opfer von Bombenanschlägen wurden. Eher konservative Schätzungen gehen dahin, dass im Jahre 2006 mindestens 34.000 Iraker auf diese Weise zu Tode kamen und weitere 36.000 erheblich verletzt wurden. Die von der Zeitschrift Lancet hochgerechnete Zahl von Todesopfern von 650.000 für die Zeit des gesamten Konflikts wird zwar in Zweifel gezogen. Immerhin ist aber zu bemerken, dass die irakische Regierung selbst in offiziellen Stellungnahmen für diesen Zeitraum von 150.000 Toten gesprochen hat (vgl. zu alledem taz v. 27.04.2007 und Deutsche Welle vom 25.04.2007), wobei bei den Zahlen über Todesopfer immer mitzudenken ist, dass es in diesem Kontext darüber hinaus in sicherlich erheblichem Umfang auch zu (nur) Verletzten gekommen sein wird, die aber im Rahmen des subsidiären Schutzes bei der Risikobewertung gleichfalls in den Blick zu nehmen sind. Jedenfalls ist insgesamt zu konstatieren, dass gegenwärtig eine Lagebeschreibung derart realistisch ist, dass es - wie nach Art. 15 lit. c) QRL vorausgesetzt - „jeden, jederzeit und an jedem Ort“ treffen kann. Im Gefolge dieser Geschehnisse kommt es unübersehbar zu einer fortschreitenden Auflösung des gesamten Staatswesen, was eine überbordende Kriminalität ausgelöst hat (vgl. AA Lagebericht S. 15 f.; ai S. 2), wodurch das Risiko für die Zivilbevölkerung einen ernsthaften Schaden erleiden zu müssen, zusätzlich erhöht wird, weil staatliche Organe keinen Schutz mehr bieten können (vgl. Art. 6 f. QRL), z.T. auch nicht mehr leisten wollen, weil die zuständigen Amtsträger mit kriminellen Banden zusammenarbeiten (vgl. ai S. 3; vgl. zur besonders prekären Situation von Frauen Deutsches Orient-Institut v. 22.12.2006 an VG Ansbach). Das Gleiche gilt für das Gesundheitswesen und die allgemeine Versorgung generell, die als vor dem Zusammenbruch stehend geschildert werden (vgl. ICRC, „Civilians without Protection“ v. Mai 2007). Faktum ist, dass es mittlerweile im Irak bereits mehr als 1,6 Millionen sog. Binnenvertriebener gibt und etwa die gleiche Zahl von Irakern nach Syrien, Jordanien, den Libanon, die Türkei und andere Staaten in der Region geflohen sind (vgl. UNHCR v. 18.12.2006, S. 2). Zwar würden derart begründete Gefahren für sich betrachtet noch nicht auf den subsidiären Schutz nach Art. 15 lit. c) QRL hinführen. Sind diese jedoch eine unmittelbare Folge eines bestehenden innerstaatlichen gewaltsamen Konflikts, so müssen diese bei der Gesamtbeurteilung mit einbezogen werden. Eine isolierte Betrachtung wäre nicht nur realitätsfern, wenn nicht gar unmöglich, sie würde auch mit dem humanitären Anliegen des subsidiären Schutzes in unauflösbaren Widerspruch geraten. Zwar war die Sicherheitslage im Südirak zunächst weniger brisant, mittlerweile ist aber auch dort eine erhebliche Verschlechterung eingetreten (vgl. AA Lagebericht S. 16), sodass nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass dort jedenfalls ein zumutbarer interner Schutz offen stünde.
22 
Grundsätzlich anders ist allerdings die Lage in den drei kurdisch verwalteten Provinzen im Nordirak (vgl. UNHCR v. 18.12.2006, 4; AA Lagebericht S. 15 f.), auch wenn die jüngsten Anschläge (vgl. FR v. 11.05.2007) erste Zweifel an einem Fortbestand der dortigen Situation aufkommen lassen. Ein zumutbarer interner Schutz (vgl. Art. 8 QRL) steht jedoch in diesem Gebiet nur solchen Irakern offen, die von dort stammen oder aber zumindest auf ein soziales und familiäres Netzwerk zurückgreifen können, das in der Funktion einer Art von Bürgen auftreten kann (vgl. AA Lagebericht, S. 28. UNHCR v. 18.12.2006, S. 4; Deutsches Orient-Institut v. 13.11.2006 an VGH Baden-Württemberg). Hierauf können die Kläger jedoch, wie die mündliche Verhandlung ergeben hat, nicht zurück greifen. Sie sind zwar kurdische Volkszugehörige. Sie sind aber, wie auch die Eltern bzw. Großeltern der Kläger in der Nähe von Mosul geboren und haben dort immer gelebt. Über Angehörige in den kurdischen Provinzen verfügen sie nicht.
23 
Da keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalls oder der Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 S. 2 AufenthG gegeben sind, war der Beklagte einschränkungslos zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse zu verpflichten (vgl. auch § 5 Abs. 3 1. Hs. AufenthG).
24 
2. Der Anspruch der Klägerin Ziffer 6, bei der wegen der negativen unanfechtbaren Entscheidung des Bundesamts § 42 AsylVfG eine Berücksichtigung des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht möglich ist, ergibt sich aus § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Zwar erfüllt sie nicht alle Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG, allerdings ist mit Rücksicht auf den aufenthaltsrechtlichen Status der Eltern und übrigen Angehörigen von deren Erfüllung abzusehen. Nichts anderes gilt in Bezug auf § 5 Abs. 2 (vgl. dessen Satz 2) AufenthG.
25 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

(1) Gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ist ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden.

(2) Im Falle der Ausweisung ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen. Ansonsten soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung oder Abschiebungsanordnung nach § 58a unter der aufschiebenden Bedingung der Ab- oder Zurückschiebung und spätestens mit der Ab- oder Zurückschiebung erlassen werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Frist beginnt mit der Ausreise. Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der Befristung nach Satz 5 angeordnete längere Befristung.

(3) Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten.

(4) Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das zusammen mit einer Ausweisung erlassen wurde, ist zu berücksichtigen, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlängert werden. Absatz 3 gilt entsprechend.

(5) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Absatz 4 gilt in diesen Fällen entsprechend.

(5a) Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots soll 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde. Absatz 4 Satz 4 und 5 gilt in diesen Fällen entsprechend. Eine Verkürzung der Frist oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist grundsätzlich ausgeschlossen. Die oberste Landesbehörde kann im Einzelfall Ausnahmen hiervon zulassen.

(5b) Wird der Ausländer auf Grund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a aus dem Bundesgebiet abgeschoben, soll ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. In den Fällen des Absatzes 5a oder wenn der Ausländer wegen eines in § 54 Absatz 1 Nummer 1 genannten Ausweisungsinteresses ausgewiesen worden ist, kann im Einzelfall ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen werden. Absatz 5a Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5c) Die Behörde, die die Ausweisung, die Abschiebungsandrohung oder die Abschiebungsanordnung nach § 58a erlässt, ist auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots zuständig.

(6) Gegen einen Ausländer, der seiner Ausreisepflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet werden, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird nicht angeordnet, wenn Gründe für eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a vorliegen, die der Ausländer nicht verschuldet hat.

(7) Gegen einen Ausländer,

1.
dessen Asylantrag nach § 29a Absatz 1 des Asylgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, dem kein subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 nicht festgestellt wurde und der keinen Aufenthaltstitel besitzt oder
2.
dessen Antrag nach § 71 oder § 71a des Asylgesetzes wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat,
kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anordnen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wird mit Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag wirksam. Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 Satz 3 bis 6, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1, 2 und 4 gelten entsprechend. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mit seiner Anordnung nach Satz 1 zu befristen. Bei der ersten Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Satz 1 soll die Frist ein Jahr nicht überschreiten. Im Übrigen soll die Frist drei Jahre nicht überschreiten. Über die Aufhebung, Verlängerung oder Verkürzung entscheidet die zuständige Ausländerbehörde.

(8) Vor Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde. Im Falle der Absätze 5a und 5b ist für die Entscheidung die oberste Landesbehörde zuständig.

(9) Reist ein Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet ein, wird der Ablauf einer festgesetzten Frist für die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet gehemmt. Die Frist kann in diesem Fall verlängert werden, längstens jedoch um die Dauer der ursprünglichen Befristung. Der Ausländer ist auf diese Möglichkeit bei der erstmaligen Befristung hinzuweisen. Für eine nach Satz 2 verlängerte Frist gelten die Absätze 3 und 4 Satz 1 entsprechend.

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28. März 2011 – 6 K 2480/10 – wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

 
Der am ...1986 in Leonberg geborene Kläger ist lediger und kinderloser türkischer Staatsangehöriger. Nach der Geburt lebte er zunächst einige Jahre bei seinen Eltern in Deutschland und wuchs dann bis zu seinem 9. Lebensjahr gemeinsam mit seinem älteren Bruder bei seiner Großmutter in der Türkei auf. In der Türkei besuchte er die 1. und 2. Klasse der Grundschule. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, hielt sich auch in dieser Zeit in Deutschland rechtmäßig als Arbeitnehmer auf. 1995 kehrte der Kläger dann zu seinen Eltern nach Sindelfingen zurück. Der Kläger besuchte in Deutschland zunächst eine Vorbereitungsklasse, dann die Grundschule und wechselte nach der 4. Klasse Grundschule auf das Gymnasium. Von dort musste er nach der 6. Klasse aufgrund unzureichender Leistungen auf die Realschule wechseln. Nachdem er dort die 6. Klasse wiederholt hatte, verließ er schließlich wegen Verhaltensauffälligkeiten und Fehlzeiten die Realschule ohne Abschluss. Im Jahre 2001 und nach dem Besuch verschiedener Schulen erreichte er den Hauptschulabschluss mit dem Notendurchschnitt von 2,3. Eine danach begonnene Lehre als Kfz-Mechaniker endete vorzeitig, weil ihm betriebsbedingt gekündigt worden war. Eine abgeschlossene Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen, da er einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker wegen eigenen Fehlverhaltens wieder verlor. Danach hielt er sich bis 2003 immer wieder vorübergehend in der Türkei auf. Nach seiner Rückkehr trennten sich seine Eltern; er lebte in der Folgezeit bei seiner Mutter. Er ging nach seiner Rückkehr auch nur gelegentlichen unselbständigen Erwerbstätigkeiten nach, die immer wieder von Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. durch Inhaftierungen unterbrochen waren. Zuletzt arbeitete er von Juni 2008 bis März 2009 bei einer Zeitarbeitsfirma, jedoch wurde das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsverweigerung fristlos gekündigt.
Ihm wurde am 21.05.1997 eine bis 22.02.2002 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die anschließend mehrfach verlängert wurde, zuletzt gültig bis zum 28.05.2009. Einen Verlängerungsantrag stellte er nicht.
Bereits im Alter von 12 Jahren begann der Kläger mit regelmäßigem Alkoholkonsum, wenig später mit dem zusätzlichen Konsum von Haschisch und Ecstacy sowie Kokain und Heroin. In der Zeit von Oktober 2006 bis Sommer 2007 nahm er - im Zuge einer Bewährungsauflage - an Gesprächen der Drogenberatung Sindelfingen teil, räumte dort seinen Drogenkonsum aber nur teilweise ein. Nach dem Ergebnis eines vom Landgericht Stuttgart in Auftrag gegebenen forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 11.11.2009 ist beim Kläger zwar von einem anhaltenden, schädlichen politoxikomanen Alkohol-und Drogenmissbrauch mit im zeitlichen Verlauf wechselndem Ausmaß auszugehen, nicht hingegen von einer Suchterkrankung im engeren Sinne mit körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit. Im Übrigen diagnostizierte der Gutachter beim Kläger eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.
Der Kläger ist strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten:
Am 29.09.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu zwei Freizeitarresten und zur Erbringung von Arbeitsleistungen.
Am 17.01.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen wegen gefährlicher Körperverletzung zu acht Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 12.03.2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17.01.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einem Jahr Jugendstrafe, die erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Am 31.08.2004 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der beiden vorgenannten Verurteilungen wegen Diebstahls und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einem Jahr und vier Monaten Jugendstrafe, deren Vollstreckung im Berufungsverfahren (vgl. Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18.11.2004) zur Bewährung ausgesetzt wurde. In diesem Zusammenhang war er bereits vorübergehend vom 10.10.2003 bis 21.11.2003 sowie vom 25.05.2004 bis 18.11.2004 in Untersuchungshaft genommen worden.
Am 25.10.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der drei vorgenannten Verurteilungen wegen schweren Raubes zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten.
10 
Am 22.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Böblingen unter Einbeziehung der vier vorgenannten Verurteilungen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Jugendstrafe von 2 Jahre und sechs Monaten. Der Rest der Strafe wurde bis zum 03.09.2009 zur Bewährung ausgesetzt.
11 
Von einer Ausweisung sahen die Ausländerbehörden zunächst ab, sprachen aber am 15.05.2002 (durch die Ausländerbehörde der Stadt Sindelfingen) sowie am 15.08.2006 (durch das Regierungspräsidium) eine ausländerrechtliche Verwarnung aus.
12 
Am 20.04.2009 wurde der Kläger aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Stuttgart festgenommen und verbüßte während der U-Haft auch Ersatzfreiheitsstrafen aus vorangegangenen Verurteilungen.
13 
Mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 04.12.2009, rechtskräftig seit dem 16.04.2010, wurde er wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass er in den Morgenstunden des 20.04.2009 zusammen mit einem Mittäter maskiert und mit einem Messer bewaffnet eine Spielothek betreten und den dort Angestellten mit einem auf ihn gerichteten Messer bedroht und zur Freigabe des Weges zur Kassenschublade veranlasst hatte. Dabei erbeuteten sie Bargeld in Höhe von mindestens 4.000,- EUR das sie allerdings auf der anschließenden Flucht größtenteils wieder verloren.
14 
Nach vorheriger Anhörung wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Kläger mit Verfügung vom 25.06.2010 aus dem Bundesgebiet aus, drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei auf seine Kosten an und wies ihn darauf hin, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Gleichzeitig wurde er darauf hingewiesen, dass seine Abschiebung für den Zeitpunkt der Haftentlassung angekündigt werde. Die Ausweisungsverfügung wurde als Ermessensausweisung auf § 55 Abs. 1 AufenthG gestützt. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, dass besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bestehe, weil der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze. Seine Ausweisung setze daher außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche, hinreichend schwere und gegenwärtige Gefährdung durch ein persönliches Verhalten voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem setze die Ausweisung nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 einen Extremfall voraus, also die konkrete und hohe Wiederholungsgefahr weiterer schwerwiegender Straftaten. Mit ausführlicher Begründung bejahte das Regierungspräsidium eine solche Wiederholungsgefahr im Bereich der Gewaltkriminalität. Sie komme in der schweren und besonders häufigen Straffälligkeit, der hohen Rückfallgeschwindigkeit, der Ergebnislosigkeit der Hafterfahrung und der ausländerrechtlichen Verwarnungen zum Ausdruck und werde durch die fortbestehende Alkohol- und Drogenabhängigkeit verstärkt. Auch ein unterstellter beanstandungsfreier Haftvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu, zumal bereits eine vorherige Haftverbüßung keinerlei nachhaltige Wirkung auf sein Verhalten gehabt habe. Wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der hohen konkreten Wiederholungsgefahr weiterer schwerer Straftaten stehe Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 einer Ausweisung nicht entgegen. Zu seinen Gunsten greife kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG ein, denn ein solcher gelte nur für Unionsbürger. Nationaler Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG greife nicht, weil der Kläger nicht im Besitz der dafür erforderlichen Aufenthaltserlaubnis sei. Unter Würdigung und Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe und auch im Hinblick auf den Schutz nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG kam das Regierungspräsidium Stuttgart zu dem Ergebnis, dass eine Ausweisung wegen der durch den Kläger wiederholt begangenen schwerwiegenden Verstöße und der Wiederholungsgefahr verhältnismäßig sei.
15 
Der Kläger erhob am 06.07.2010 zum Verwaltungsgericht Stuttgart Klage und machte geltend: Er lebe seit 1 1/2 Jahrzehnten im Bundesgebiet. Sein Aufenthaltsrecht stütze sich auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Seine Ausweisung verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) RL 2004/38/EG. Der Umstand, dass der Kläger gutachterlich als dissoziale Persönlichkeit eingeordnet worden sei, rechtfertige seine Ausweisung nicht. Die Anpassungsschwierigkeiten in der Türkei wären für ihn unlösbar. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Ausweisung wäre eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates. Eine solche Gefahr stelle der Kläger nicht dar. In der Sache verdeutliche auch EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - Rs C-145/09 , dass nach dem Maßstab des Art. 28 Abs. 3 lit. a) 2004/38/EG eine Ausweisung des Klägers ausscheide. Seine Straftat gefährde die Sicherheit des Staates nicht.
16 
Der Beklagte trat unter Berufung auf die Ausführungen in der angegriffenen Verfügung der Klage entgegen.
17 
Mit Urteil vom 28.03.2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab und führte aus: Das Regierungspräsidium habe die Ausweisung zutreffend auf § 55 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 7 Satz 1 und 14 ARB 1/80 gestützt und den Kläger ermessensfehlerfrei aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Das Regierungspräsidium sei zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger eine Rechtsposition aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 besitze, denn er sei in Deutschland geboren worden und habe über fünf Jahre bei seinem Vater, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehört habe, gelebt. Das Aufenthaltsrecht gelte unabhängig davon, ob der Familienangehörige selbst eine Beschäftigung ausübe oder nicht. Aufgrund dieser Rechtsstellung bestehe für den Kläger der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80, und er könne, selbst wenn er nach nationalem Recht einen Ist-Ausweisungstatbestand (§ 53 AufenthG) verwirklicht habe, nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Entgegen der Rechtsauffassung des Klägervertreters finde Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Unionsbürgerrichtlinie auf den Status des Klägers weder Anwendung noch sonst Berücksichtigung. Das Regierungspräsidium Stuttgart sei weiter mit Recht davon ausgegangen, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Ausweisung des Klägers nicht entgegenstehe. Eine Ausweisung des Klägers komme lediglich aus spezialpräventiven Gründen in Betracht, wenn eine tatsächliche und schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 ARB 1/80 vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Das sei der Fall, wenn ein Ausweisungsanlass von besonderem Gewicht bestehe, der sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit ergebe, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohe und damit eine gewichtige Gefahr für ein wichtiges Schutzgut gegeben sei. Das Regierungspräsidium Stuttgart habe diese Voraussetzungen zutreffend bejaht. Es bestehe nach der Verurteilung vom 04.12.2009 eine erhebliche Gefahr, dass der Kläger wieder ähnlich gelagerte schwerwiegende Straftaten begehen werde. Im angefochtenen Bescheid habe das Regierungspräsidium eine umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen und beim Kläger eine konkrete Wiederholungsgefahr ähnlich gelagerter Straftaten der Beschaffungs- und Gewaltkriminalität festgestellt. Dabei habe es sich auf die Vielzahl der seit 2000 begangenen Delikte, auf die hohe Rückfallgeschwindigkeit, auf seine Unbelehrbarkeit auch nach entsprechenden Verwarnungen und Inhaftierungen gestützt. Selbst die Tatsache, dass einer seiner Brüder im Jahre 2004 bereits wegen schwerer Straftaten aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgeschoben worden und ihm damit die ausländerrechtlichen Folgen von delinquentem Verhalten ganz konkret vor Augen geführt worden seien, habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die angesichts des strafrechtlichen Werdegangs große Gefahr weiterer Gewaltkriminalität werde auch durch die vom Gutachter festgestellte dissoziale Persönlichkeitsstruktur verstärkt. Da der Kläger keine Aufenthaltserlaubnis besitze, genieße er nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG keinen besonderen Ausweisungsschutz. Das Regierungspräsidium habe das Ermessen nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG fehlerfrei ausgeübt. Danach seien bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. In seiner Entscheidung habe das Regierungspräsidium zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren sei und sich seit rund 1 1/2 Jahrzehnten, bis auf kurze Unterbrechung, ununterbrochen rechtmäßig hier aufgehalten habe. Das Regierungspräsidium habe ferner die Entwicklung der Lebensverhältnisse des Klägers während seines lang andauernden Aufenthalts berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass er zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nur gelegentlich unselbständigen Erwerbstätigkeiten nachgegangen, überwiegend aber beschäftigungslos gewesen sei. Er habe sich im Bundesgebiet keine sichere wirtschaftliche Lebensgrundlage aufgebaut. Seine fehlende Integration komme auch in beharrlichen Verstößen gegen die deutsche (Straf-) Rechtsordnung zum Ausdruck. Das Regierungspräsidium habe zutreffend die wirtschaftliche Bindung des Klägers im Bundesgebiet durch sein freies Zugangsrecht zum deutschen Arbeitsmarkt berücksichtigt. Es habe ferner das Ermessen auch im Hinblick auf die persönlichen Bindungen des Klägers, nämlich seine Beziehung zu seiner noch lebenden Mutter und seinem Onkel, pflichtgemäß ausgeübt. Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten und mit dem Kläger in einer familiären Lebensgemeinschaft lebten, seien gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG hinreichend berücksichtigt worden. Zutreffend sei erkannt worden, dass die Ausweisung mit der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Kläger künftig daran hindere, die Familieneinheit in der Bundesrepublik Deutschland zu leben und dass damit ein Eingriff in Art. 6 GG vorliege. Allerdings verbiete Art. 6 GG auch einen für die Beteiligten schwerwiegenden Eingriff nicht schlechthin. Im vorliegenden Fall beruhe die Ausweisung auf einem wiederholten, schweren kriminellen Fehlverhalten des Klägers. Der staatliche Schutz der Gesellschaft vor etwaigen weiteren Beeinträchtigungen habe ebenfalls Verfassungsrang und müsse in diesem Fall wegen der konkreten Wiederholungsgefahr Vorrang genießen. Der Kläger habe die zu einem Eingriff in Art. 6 GG führenden Gründe selbst geschaffen. Die Bindung zu seinen Familienangehörigen habe ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, eine Vielzahl von Straftaten zu begehen. Die Bindung eines volljährigen erwachsenen Menschen zu seinen Verwandten sei ferner durch eine fortschreitende „Abnabelung" geprägt. Dem Kläger könne daher eine eigenverantwortliche Lebensführung zugemutet werden. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt. Angesichts der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten sei der Allgemeinheit das Risiko einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers unter dem Gesichtspunkt des vorrangigen Schutzes der Bevölkerung vor Gewaltdelikten nicht zuzumuten. Die Ausweisung sei zur Erreichung des beabsichtigten Zwecks erforderlich und angemessen. Ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen durch schwerwiegende Straftaten sei nicht ersichtlich. Die Rückkehr in seine Heimat sei dem Kläger auch zuzumuten. Zwar sei er in Deutschland geboren und aufgewachsen; trotzdem sei davon auszugehen, dass er als Sohn türkischer Staatsangehöriger die türkische Sprache mindestens in den Grundzügen beherrsche. Dafür sprächen auch sein mehrmonatiger Schulaufenthalt in der Türkei und seine kurzzeitigen Aufenthalte dort. Auch einer seiner Brüder, der bereits 2004 dorthin abgeschoben worden sei, lebe in seinem Heimatland. Die Ausweisung sei auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil sie vom Regierungspräsidium nicht bereits bei Erlass befristet worden sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die Frage der Befristung eines Aufenthaltsverbotes nur eines von mehreren Kriterien im Rahmen der einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Ausweisung am Maßstab des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle insofern auf die Umstände des Einzelfalls ab. Angesichts des hier mit der Ausweisung verfolgten gewichtigen öffentlichen Interesses und der demgegenüber geringer wiegenden Belange des Klägers sei es nicht ermessensfehlerhaft, ihn zunächst unbefristet auszuweisen, die Frage der Befristung aber von seiner künftigen persönlichen Entwicklung abhängig zu machen und in einem gesonderten Verfahren zu prüfen. Die Ausweisung verstoße ferner nicht gegen völker- und europarechtlichen Vorschriften. Einer Ausweisung des Klägers stehe nicht das Europäische Niederlassungsabkommen (ENA) vom 13.12.1955 entgegen, denn der hier überwundene Ausweisungsschutz des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sei weitergehend als derjenige aus Art. 3 Abs. 3 ENA. Die Ausweisung verstoße auch nicht gegen das durch Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Zwar stelle die Ausweisung einen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK dar. Dieser sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, denn die Ausweisung sei, wie dargelegt, in § 55 AufenthG gesetzlich vorgesehen, und sie stelle eine Maßnahme dar, die in einer demokratischen Grundordnung unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig sei. Die gegen die Abschiebungsandrohung gerichtete Klage habe ebenfalls keinen Erfolg.
18 
Am 01.04.2011 hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und diese zugleich begründet. Er berief sich zunächst auf den besonderen Ausweisungsschutz des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und darauf, dass nach den vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Tsakouridis aufgestellten Grundsätzen im Falle der Ausweisung die Resozialisierung des Klägers gefährdet wäre. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Sache Ziebell macht der Kläger nunmehr geltend, die angegriffene Verfügung sei schon wegen der Verletzung des sog. Vier-Augen-Prinzips des Art. 9 RL 64/221/EWG aufzuheben, das mit Rücksicht auf die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 weiter anzuwenden sei.
19 
Der Kläger beantragt,
20 
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.03.2011 - 6 K 2480/10 - zu ändern und die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 aufzuheben.
21 
Der Beklagte beantragt,
22 
die Berufung zurückzuweisen.
23 
Er macht sich die Ausführungen im angegriffenen Urteil zu eigen und stellt insbesondere ein subjektives Recht des Klägers auf Resozialisierung infrage. Ein derartiger Rechtsanspruch würde dazu führen, dass nahezu jede Ausweisung eines straffälligen Ausländers ausgeschlossen sei. Im Übrigen seien die Überlegungen des EuGH in der Rechtssache Tsakouridis ungeachtet der nicht möglichen Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie nicht übertragbar, weil türkische Staatsangehörige, die eine Rechtsposition nach dem ARB 1/80 inne hätten, keine Freizügigkeit innerhalb der Union genössen. Das sog. Vier-Augen-Prinzip gelte entgegen der Auffassung des Klägers nicht mehr weiter. Denn zum einen wäre die Fortgeltung mit Art. 59 ZP unvereinbar. Ungeachtet dessen sei dieses auch nicht durch die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 aufrechterhalten, weil diese sich nur an die Mitgliedstaaten wende.
24 
Der Senat hat eine Stellungnahme der JVA Heilbronn über die Entwicklungen des Klägers im Vollzug eingeholt. Insoweit wird auf das Schreiben der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 verwiesen.
25 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26 
Dem Senat lagen die Ausländerakten, die Akten des Regierungspräsidiums sowie die Gefangenenpersonalakten vor.

Entscheidungsgründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Gründe

 
27 
Die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen die Verfügung des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.06.2010 zu Recht abgewiesen, denn der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
I.
28 
Die mit Bescheid vom 25.06.2010 verfügte Ausweisung leidet nicht deshalb an einem unheilbaren Verfahrensfehler, weil das nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vom 25.02.1964 (ABl. 56 vom 04.04.1964, S. 850) vorgesehene „Vier-Augen-Prinzip“ nicht beachtet wurde. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08.12.2011 in der Rechtssache C-371/08 - hinreichend ersehen lässt, entfaltet diese zum 30.04.2006 aufgehobene Bestimmung keine Wirkungen mehr für den verfahrensrechtlichen Ausweisungsschutz assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger (1.). Auch aus geltenden unionsrechtlichen Verfahrensgarantien folgt nicht die Notwendigkeit, ein Vorverfahren durchzuführen (2.). Die Stillhalteklauseln gebieten keine andere Betrachtung (3.). Die Erforderlichkeit eines Vorverfahrens ergibt sich schließlich nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens (4.).
29 
1. Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG war bei einer ausländerrechtlichen Entscheidung über die Ausweisung ein weiteres Verwaltungsverfahren durchzuführen, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorlag und sofern nicht im gerichtlichen Verfahren eine Zweckmäßigkeitsprüfung vorgesehen war. Diese für Angehörige der Mitgliedstaaten (vgl. zum personellen Anwendungsbereich Art. 1 dieser Richtlinie) geltende Regelung erstreckte der Europäische Gerichtshof auf die Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 65 ff.). Fehlte es an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens, so war die Ausweisung unheilbar rechtswidrig (BVerwG, Urteil vom 13.09.2005 - 1 C 7.04 - Rn. 12 ff., BVerwGE 124, 217, vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - Rn. 14 ff., BVerwGE 124, 243 und vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - Rn. 23 ff., BVerwGE 129, 162).
30 
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die im Rahmen der Art. 48, 49 und 50 EGV (später Art. 39, 40, 41 EG und nunmehr Art. 45 ff. AEUV) geltenden Grundsätze soweit wie möglich auf türkische Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzen. Dies beruht auf den Erwägungen, dass in Art. 12 des Assoziierungsabkommens die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln 48, 49 und 50 des „Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft“ leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen, dass Art. 36 ZP die Fristen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (nunmehr und im Folgenden: Union) und der Türkei festlegt, dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln vorsieht und dass der Beschluss 1/80 bezweckt, im sozialen Bereich die Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 04.10.2007- Rs. C-349/06 Rn. 29, vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn. 61 ff., vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 Rn. 42 ff. und vom 10.02.2000 - Rs. C-340/97 Rn. 42 f.). In der Rechtssache „Dörr und Ünal“ (Rn. 65 ff.) heißt es, es sei nach diesen Erwägungen geboten, die in Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG niedergelegten Grundsätze als auf türkische Arbeitnehmer, die die im Beschluss Nr. 1/80 eingeräumten Rechte besitzen, übertragbar anzusehen, und weiter:
31 
„….Um effektiv zu sein, müssen die individuellen Rechte von den türkischen Arbeitnehmern vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Damit die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gewährleistet ist, ist es unabdingbar, diesen Arbeitnehmern die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, und es muss ihnen somit ermöglicht werden, sich auf die in den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 64/221 vorgesehenen Garantien zu berufen. Diese Garantien sind nämlich, wie der Generalanwalt …ausführt, untrennbar mit den Rechten verbunden, auf die sie sich beziehen.“
32 
In der Entscheidung „Ziebell“ knüpft der Gerichtshof an die Ausführungen im Urteil „Dörr und Ünal“ an und legt dar (Rn. 58), dass
33 
„…die Grundsätze, die im Rahmen der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags gelten, so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden, die Rechte aufgrund der Assoziation EWG-Türkei besitzen. Wie der Gerichtshof entschieden hat, muss eine solche Analogie nicht nur für die genannten Artikel des Vertrags gelten, sondern auch für die auf der Grundlage dieser Artikel erlassenen sekundärrechtlichen Vorschriften, mit denen die Artikel durchgeführt und konkretisiert werden sollen (vgl. zur Richtlinie 64/221 u.a. Urteil Dörr und Ünal)“.
34 
Durch den Terminus „Analogie“, der etwa auch in der französischen und englischen Fassung des Urteils verwendet wird, ist klargestellt, dass die Inhalte des - für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten - maßgeblichen Sekundärrechts nicht deshalb auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angewandt werden, weil diese allgemeine Rechtsgrundsätze sind, die ggfs. auch losgelöst von der Wirksamkeit der jeweiligen Regelung noch Geltung beanspruchen können, sondern dass es sich um eine entsprechende Übertragung geltenden Rechts handelt. Eine Vorschrift kann jedoch nur solange analog angewandt werden, wie sie selbst Gültigkeit beansprucht. Mit der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG entfällt deshalb - wie der Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ darlegt - die Grundlage für ihre entsprechende Anwendung.
35 
Dass aufgrund dieser Aufhebung nicht mehr „traditionell auf die in der Richtlinie 64/221/EWG festgeschriebenen Grundsätze abgestellt“ werden kann (Rn. 76) und der Richtlinie insgesamt, d.h. in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht, keine Bedeutung mehr zukommt, ist nach den Ausführungen im Urteil „Ziebell“ (insb. Rn. 77 ff.) und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt hinreichend geklärt. Dem Europäischen Gerichtshof war aufgrund des Vorlagebeschlusses des Verwaltungsgerichtshofs vom 22.07.2008 und der beigefügten Akten bekannt, dass auf die dort streitgegenständliche Ausweisungsverfügung vom 06.03.2007 das „Vier-Augen-Prinzip“ des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht mehr angewandt, vielmehr gegen die Ausweisungsentscheidung direkt Klage erhoben worden ist. Das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.08.2009 (1 C 25.08 - AuAS 2009, 267) führt sogar ausdrücklich aus, dass - sollte der in Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG für Unionsbürger geregelte Ausweisungsschutz nicht auf assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige zu übertragen sein - sich die Frage stellt, ob Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG gleichwohl weiterhin anzuwenden ist oder stattdessen die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden, die das „Vier-Augen-Prinzip“ abgelöst haben (BVerwG, a.a.O., Rn. 26). Hätte der Gerichtshof dem im Verfahren „Ziebell“ nicht eingehaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ - und sei es auch mit Blick auf besondere oder allgemeine unionsrechtliche Verfahrensgarantien, die Standstillklauseln oder das Assoziationsabkommen an sich - noch irgendeine rechtliche Relevanz zu Gunsten des Klägers beigemessen, so hätte es nahegelegen, unabhängig von der konkreten Vorlagefrage hierzu Ausführungen zu machen. Die Tatsache, dass der Gerichtshof die Aufhebung der Richtlinie insgesamt besonders hervorhebt, und der Umstand, dass er den Ausweisungsschutz für türkische Staatsangehörige mit einer Rechtsposition nach dem ARB 1/80 zudem ausdrücklich auf einen anderen unionsrechtlichen Bezugsrahmen im geltenden Recht stützt, belegen, dass die Richtlinie 64/221/EWG nach Auffassung des Gerichtshofs in Gänze nicht mehr zur Konkretisierung des formellen und materiellen Ausweisungsschutzes des Klägers herangezogen werden kann. Hätte der Gerichtshof den Inhalten der Richtlinie 64/221/EWG noch irgendeine Bedeutung beigemessen, so hätte es sich im Übrigen auch aufgedrängt, für das materielle Ausweisungsrecht - etwa in Anknüpfung an die Rechtssachen „Cetinkaya“ (Urteil vom 11.11.2004 - Rs. C-467/02 - Rn. 44 ff.) oder „Polat“ (Urteil vom 04.10.2007 -Rs. C-349/06 - Rn. 30 ff.) - den dort erwähnten Art. 3 der Richtlinie 64/221/ EWG ausdrücklich weiterhin fruchtbar zu machen. Diesen Weg hat der Gerichthof in der Rechtssache „Ziebell“ jedoch ebenfalls nicht beschritten. An dieser Sicht vermag – entgegen der Auffassung des Klägers – auch der Umstand nichts zu ändern, dass für die Anwendung des am 21.06.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits geschlossenen Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002 L 114, S. 6) die Richtlinie 64/221/EWG nach wie vor vorübergehend Bedeutung hat (vgl. Art. 5 Abs. 2 des Anhangs I).
36 
2. Es ist nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahrensgarantien für einen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Ausweisung wendet, nunmehr ebenfalls aus der Richtlinie 2003/109/EG (Art. 10, Art. 12 Abs. 4), aus Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG oder aus den auch im Unionsrecht allgemeinen anerkannten Grundsätzen eines effektiven Rechtsschutzes ergeben. Denn die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens ist in keinem dieser Fälle geboten.
37 
a) Art 12 Abs. 4 der Richtlinie 2003/109/EG sieht vor, dass einem langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betroffenen Mitgliedstaat der Rechtsweg gegen seine Ausweisung offen steht. Art. 10 Abs. 2 dieser Richtlinie normiert, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte Rechtsbehelfe u.a. gegen den Entzug seiner Rechtsstellung einlegen kann. Welche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, bestimmt sich jedoch allein nach dem nationalen Recht. Ein Vorverfahren als einzuräumender Rechtsbehelf ist nach der Richtlinie nicht vorgeschrieben.
38 
b) Auch soweit man für die einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einzuräumenden Verfahrensgarantien Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG heranziehen wollte, folgt hieraus nichts anderes. Die Erwägungen zu den Besonderheiten der Unionsbürgerschaft haben den Gerichtshof in der Rechtssache „Ziebell“ im Anschluss an die Ausführungen des Generalanwalts bewogen, den Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung, wie in Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen, nicht im Rahmen der Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 auf die Garantien gegen die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger zu übertragen (vgl. im Einzelnen Rn. 60 ff. und Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - Rs. C-371/08 - Rn. 42 ff.). Selbst wenn man der Auffassung wäre, die Spezifika der Unionsbürgerschaft (vgl. zu deren Begriff und Inhalt auch Bergmann , Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl. 2012, Stichwort „Unionsbürgerschaft“) stünden lediglich der Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie 2004/38/EG auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige entgegen und nicht der Übertragung der im gleichen Kapitel enthaltenen Verfahrensgarantien nach Art. 30 f., leidet die Ausweisungsverfügung nicht an einem Verfahrensfehler. Der Gerichtshof hat sich im Urteil „Ziebell“ nicht dazu geäußert, ob diese Bestimmungen insoweit analogiefähig sind bzw. ihnen jedenfalls allgemein geltende Grundsätze zu entnehmen sind (vgl. auch Art. 15 der Richtlinie 2004/38/EG), die in Anknüpfung allein an die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Notwendigkeit deren verfahrensrechtlichen Schutzes ihre Berechtigung haben, oder ob auch diesen ein spezifisch unionsbürgerbezogener Inhalt zukommt. Für letzteres könnte etwa Art. 31 Abs. 3 S. 2 dieser Richtlinie angeführt werden, wonach das Rechtsbehelfsverfahren gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 nicht unverhältnismäßig ist; auch die Bezugnahme in Art. 31 Abs. 2, letzter Spiegelstrich auf Art. 28 Abs. 3 könnte dafür sprechen. Dies bedarf jedoch keiner Entscheidung, denn die Verfahrensgarantien nach Art. 30 f. der Richtlinie 2004/38/EG schreiben die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens bei der Ausweisung von Unionsbürgern nicht vor (diese Frage lediglich ansprechend BVerfG, Kammerbeschluss vom 24.10.2011 - 2 BvR 1969/09 - juris Rn. 40), so dass der Kläger selbst bei ihrer Anwendbarkeit kein für ihn günstigeres Ergebnis herleiten könnte.
39 
Nach Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen die Betroffenen gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. Aus dieser Bestimmung folgt aber nicht die Verpflichtung des Mitgliedstaates, außer dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Ausweisungsverfügung (zusätzlich) ein behördliches Rechtsbehelfsverfahren vorzuhalten und in diesem auch die Überprüfung der Zweckmäßigkeit einer Ausweisung zu ermöglichen. Wie sich schon aus dem Wortlaut ergibt („..und gegebenenfalls bei einer Behörde…“), trägt diese Bestimmung lediglich dem - heterogenen - System des Rechtsschutzes der Mitgliedstaaten Rechnung und lässt deren Berechtigung unberührt, ein Rechtsbehelfsverfahren auch noch bei einer Behörde zu eröffnen. Ein solches ist jedoch in Baden-Württemberg nicht mehr vorgesehen. Erlässt das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt - wie dies für die Ausweisung eines in Strafhaft befindlichen Ausländers zutrifft (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO) -, so ist hiergegen unabhängig von dem zugrundeliegenden Rechtsgebiet im Anwendungsbereich des seit 22.10.2008 geltenden § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO (GBl. 2008, 343) i.V.m. § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO das Vorverfahren nicht statthaft. Aufgrund vergleichbarer, wenn auch regelungstechnisch teilweise von einem anderen Ansatz ausgehender Landesgesetze entspricht es einer bundesweit anzutreffenden Rechtspraxis, ein Widerspruchsverfahren vor Erhebung einer Klage nicht mehr vorzuschreiben (vgl. z.B. auch Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO, § 16a HessAGVwGO, § 8a NdsAGVwGO). Dass die Unionsbürgerrichtlinie nicht dazu zwingt, ein dem gerichtlichen Rechtsschutz vorgeschaltetes Widerspruchsverfahren zu schaffen, folgt im Übrigen eindeutig aus ihrer Entstehungsgeschichte.
40 
Der Vorschlag der Kommission für die Unionsbürgerrichtlinie (KOM 2001/0257/endgültig, ABl. C 270 E vom 25.09.2001, S. 150) sah ursprünglich vor, dass u.a. bei der Ausweisung der Betreffende bei den Behörden oder den Gerichten des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen kann; ist der behördliche Weg vorgesehen, entscheidet die Behörde außer bei Dringlichkeit erst nach Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmemitgliedstaates, vor dem es dem Betreffenden möglich sein muss, auf seinen Antrag hin seine Verteidigung vorzubringen. Diese Stelle darf nicht die Behörde sein, die befugt ist, die Ausweisungsentscheidung zu treffen (vgl. im Einzelnen den - hier verkürzt wiedergegebenen - Wortlaut des Entwurfs zu Art. 29 Abs. 1 und 2). In der Begründung des Vorschlags zu Art. 29 heißt es ausdrücklich:
41 
„Ein lückenloser Rechtsschutz schließt nicht aus, dass ein Mitgliedstaat vorsieht, dass ein Rechtsbehelf bei einer Behörde eingelegt werden kann. In diesem Fall müssen die in Art. 9 der Richtlinie 63/221/EWG genannten Objektivitätsgarantien gegeben sein, insbesondere die vorherige Stellungnahme einer anderen Behörde, als die, die die Einreiseverweigerung oder die Ausweisung verfügen soll, sowie Garantie in Bezug auf die Rechte der Verteidigung.“
42 
In dem Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 6/2004 vom 05.12.2003 (ABl. C 54 E vom 02.03.2004, S. 12) hat Art. 31 Abs. 1 bereits - mit Zustimmung der Kommission - die Fassung, wie sie in der Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 enthalten ist (a.a.O., S. 26). Schon in dem geänderten Vorschlag der Kommission vom 15.04.2003 (KOM(2003) 199 endgültig) erhielt der Entwurf zu Art. 29 Abs. 1 die Fassung, dass „….der Betroffene bei den Gerichten und gegebenenfalls bei den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen“ kann. Durch diese Abänderung sollte klargestellt werden,
43 
„dass der Rechtsbehelf stets bei einem Gericht eingelegt werden muss und ein Rechtsbehelf bei einer Behörde nur dann ebenfalls zulässig ist, wenn der Aufnahmemitgliedstaats dies vorsieht (zum Beispiel bevor ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt werden kann).“
44 
Diese Begründung der Kommission im geänderten Vorschlag vom 15.04.2003 (a.a.O., S. 10) zu Art. 29 Abs. 1 hat sich der „Gemeinsame Standpunkt“ vom 05.12.2003 zu Eigen gemacht (a.a.O., S 27) und ferner Art. 29 Abs. 2 des Kommissionsentwurfs mit dem dort enthaltenen „Vier-Augen-Prinzip“ komplett gestrichen. Dieser ist mit Blick auf die von den Mitgliedstaaten stets vorzusehende Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts und der dort zu gewährenden Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung und der Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung über die Ausweisung beruht, für überflüssig erachtet worden (vgl. die Begründung des Rates, a.a.O., S. 29, 32).
45 
Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene „Vier-Augen-Prinzip“, das defizitäre gerichtliche Kontrollmechanismen und eine in den Mitgliedstaaten zum Teil vorherrschende geringe Kontrolldichte der gerichtlichen Entscheidungen kompensieren sollte, wurde somit in Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG durch eine Verbesserung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt (vgl. zur bewussten Abkehr von den in Art. 8 f der Richtlinie 64/221/ EWG vorgesehenen Verfahrensregelungen auch Erwägungsgrund 22 der Richtlinie 2004/38/EG). Der in Deutschland dem Kläger zur Verfügung stehende gerichtliche Rechtsschutz erfüllt die Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie.
46 
Es bleibt daher der Verfahrensautonomie des Mitgliedstaats überlassen, ob er bei einer Ausweisung eines Unionsbürgers zusätzlich zum gerichtlichen Rechtsschutz noch ein Widerspruchsverfahren vorsieht. Dass die in Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG enthaltene Formulierung „..und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einen Rechtsbehelf einlegen zu können“ bei diesem Verständnis nur noch eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit wiedergibt, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift.
47 
c) Auch die allgemeine unionsrechtliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs fordert nicht die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens. Selbst wenn man entgegen den Ausführungen oben unter 1.) der Auffassung wäre, der Gerichtshof habe sich im Urteil „Ziebell“ hierzu nicht der Sache nach geäußert, ist dies eindeutig.
48 
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof hat ein türkischer Arbeitnehmer, der die im ARB 1/80 eingeräumten Rechte besitzt, einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, um diese Rechte wirksam geltend machen zu können (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 02.06.2005 - Rs. C-136/03 Rn.67). Es entspricht einem allgemein anerkannten unionsrechtlichen Grundsatz, der sich aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ergibt und der in Art. 6 und 13 EMRK verankert ist, dass bei einem Eingriff in die Rechte des Betroffenen (hier: Eingriff in die Freizügigkeit des Arbeitnehmers) durch eine Behörde des Mitgliedstaats der Betroffene das Recht hat, seine Rechte vor Gericht geltend zu machen; den Mitgliedstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der eingeräumten Rechte dient (vgl. schon EuGH, Urteil vom 03.12.1992 - Rs. C-97/91 Rn.14, vom 15.10.1987 - Rs. C-222/86 Rn. 12 ff. und vom 15.05.1986 - Rs. C-222/84 Rn. 17 ff.). Zum Effektivitätsgrundsatz gehört, dass die gerichtliche Kontrolle die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung umfasst (EuGH, Urteil vom 15.10.1987 - Rs. C-222/84 Rn.15). Auch dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 22.12.2010 - Rs. C-279/09 Rn. 28, vom 15.04.2008 - Rs. C-268/06 Rn. 46, vom 13.03.2007 - Rs. C-432/05 Rn. 43 und vom 16.12.1976 - 33/76 Rn.5). Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen (EuGH, Urteil vom 21.12.2002 - Rs. C-473/00 Rn. 37 und vom 14.12.1995 - Rs. C-312/93 Rn.14).
49 
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze ist es nicht geboten, ein behördliches Vorverfahren mit einer diesem immanenten Rechtmäßigkeits- und Zweckmäßigkeitskontrolle einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzuschalten, das die Vorgaben des effektiven Rechtschutzes in jeder Hinsicht erfüllt. Auch Art. 19 Abs. 4 GG fordert dies übrigens gerade nicht (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 24.04.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - juris Rn. 105 m.w.N.). Ein Anspruch des Einzelnen auf ein „Maximum“ an Verfahrensrechten und den unveränderten Fortbestand einer einmal eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeit besteht nicht - zumal wenn diese wie das „Vier-Augen-Prinzip“ aus einer bestimmten historischen Situation als Kompensation für eine früher weit verbreitete zu geringe gerichtliche Kontrolldichte erfolgte.
50 
d) Aus dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes und dem „Recht auf gute Verwaltung“ nach Art. 41 GRCh (vgl. zu den dort eingeräumten Rechten Jarass, GRCh-Kommentar, 2010, Art. 41 Rn. 21 ff.) ergibt sich für den Kläger ebenfalls kein Recht auf Durchführung eines Vorverfahrens.
51 
3. Ein Widerspruchsverfahren ist ferner nicht mit Blick auf die assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln nach Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 ZP einzuräumen. Selbst wenn man die Ansicht nicht teilen würde, schon aus dem Urteil „Ziebell“ ergebe sich hinreichend deutlich, der Gerichtshof halte das Fehlen eines Vorverfahrens auch unter dem Aspekt der Stillhalteklauseln nicht für problematisch, lässt sich feststellen, dass dessen Abschaffung keinen Verstoß gegen die Stillhalteklauseln darstellt.
52 
a) Der Kläger kann sich als im Bundesgebiet geborener Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers auf Art. 13 ARB 1/80 berufen. Nach dieser am 01.12.1980 in Kraft getretenen Regelung dürfen die Mitgliedstaaten für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß ist, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Stillhalteklausel, die unmittelbar wirkt (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62, vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 58 f. und vom 20.09.1990 - Rs. C-192/89 Rn. 26), verbietet allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 in dem entsprechenden Mitgliedstaat galten (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62), wobei den Mitgliedstaaten auch untersagt ist, nach dem Stichtag eingeführte günstigere Regelungen wieder zurückzunehmen, selbst wenn der nunmehr geltende Zustand nicht strenger ist als der am Stichtag geltende (siehe zu dieser „zeitlichen Meistbegünstigungsklausel“ EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 49 ff ). Die Stillhalteklausel in Art. 13 ARB 1/80 verfolgt das Ziel, günstigere Bedingungen für die schrittweise Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu schaffen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 und vom 21.10.2003 - Rs. C-317/01 Rn. 72 ff.). Normadressat ist ausschließlich der einzelne Mitgliedstaat mit Blick auf dessen nationales Recht, nicht die Europäische Union als Vertragspartner des Assoziationsabkommens EWG/Türkei. Deren Befugnisse werden durch diese Stillhalteklausel nicht beschränkt. Vom Wortlaut her schützt das Unterlassungsgebot der Standstillklausel zwar ausschließlich den unveränderten Zugang zum Arbeitsmarkt, es entfaltet gleichwohl mittelbare aufenthaltsrechtliche Wirkungen, soweit ausländerrechtliche Maßnahmen zur Beeinträchtigung des Arbeitsmarktzugangs führen, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels erschwert wird (EuGH, Urteil vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 62 ff. und vom 29.04.2010 - Rs. C-92/09 Rn. 44 ff.) oder der Aufenthalt eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet beendet werden soll (vgl. auch Renner, 9. Aufl., 2011, § 4 Rn. 197). Bei der Bestimmung, wann eine Maßnahme eine „neue Beschränkung“ darstellt, orientiert sich der Gerichtshof gleichermaßen an den mit Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 ZP verfolgten Zielen und erstreckt die Tragweite der Stillhalteverpflichtung auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen (EuGH, Urteil vom 09.12.2010 - Rs. C-300/09 Rn. 52 ff.), wobei eine solche materieller und/oder verfahrensrechtlicher Art sein kann (EuGH, Urteil vom 21.07.2011 - Rs. C-186/10 Rn. 22, vom 29.04.2010 - Rs. C-92/07 Rn. 49, vom 17.09.2009 - Rs. C-242/06 Rn. 64 und vom 20.09.2007 - Rs. C-16/05 Rn. 69). Nach diesen Grundsätzen stellt die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens keine „neue Beschränkung“ dar.
53 
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 13 ARB 1/80 war nach dem damals geltenden § 68 VwGO und dem baden-württembergischen Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 22.03.1960 (GBl. 1960, 94) in der Fassung des Gesetzes vom 12.12.1979 (GBl. 1979, 549) auch bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehöriger ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Die in der vorliegenden Fallkonstellation nunmehr vorgesehene Zuständigkeit einer Mittelbehörde für den Erlass der Ausweisungsverfügung (§ 6 Nr. 1 AAZuVO) und das gesetzlich deswegen angeordnete Entfallen des Vorverfahrens (§ 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 15 Abs. 1 S. 1 AGVwGO BW vom 14.10.2008; vgl. auch die Vorgängervorschrift § 6a AGVwGO BW vom 01.07.1999) ist keine Änderung, die geeignet wäre, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erschweren oder die einem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten materiellen Rechte zu beeinträchtigen. Unabhängig davon, ob das Widerspruchsverfahrens nur als Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens angesehen wird (vgl. hierzu Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, Vor §§ 68 ff. Rn. 49), oder ob es auch als Teil des Prozessrechts begriffen wird (i.S.e. Doppelcharakters Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, Vorb § 68 Rn. 14), ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dessen Wegfall zu einer merklichen Verschlechterung der Rechtsposition türkischer Staatsangehöriger führt. Eine rechtliche Beeinträchtigung des Betroffenen durch die Abschaffung des Vorverfahrens wird im Übrigen auch nicht in anderen rechtlichen Konstellationen außerhalb des Aufenthaltsrechts angenommen.
54 
Grund für den letztlich allein rechtspolitisch gewählten Weg eines weitgehenden Ausschluss des Vorverfahrens in Baden-Württemberg war die Erkenntnis gewesen, dass entsprechend einer evaluierten Verwaltungspraxis jedenfalls in den Fällen, in denen das Regierungspräsidium die Ausgangsentscheidung getroffen hat, die Sach- und Rechtslage vor der ersten Verwaltungsentscheidung so umfassend geprüft wird, dass sich während des Vorverfahrens regelmäßig keine neuen Aspekte ergeben. Der Wegfall des Widerspruchsverfahrens in den Fällen der Ausgangszuständigkeit der Mittelbehörden dient nicht nur deren Entlastung, sondern vor allem auch der Verfahrensbeschleunigung (vgl. näher die Begründung zum entsprechenden Gesetzentwurf der Landesregierung, LT Drs. 12/3862 vom 16.03.1999 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ständigen Ausschusses vom 22.04.1999, LT Drs. 12/3976). Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens kann daher allenfalls als ambivalent begriffen werden. Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kommt in besonderem Maße dem Interesse des von einer Ausweisung betroffenen Ausländers entgegen, eine möglichst rasche gerichtliche Klärung zu erhalten. Zwar können etwa Mängel in der Ausweisungsentscheidung leichter behoben werden, wenn die Verwaltung „einen zweiten Blick“ hierauf wirft. Der Ausländer wird jedoch nicht belastet, wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht. Vielmehr verbessert dies unter Umständen sogar seine Erfolgschancen bei Gericht. Als Kläger kann er auch all das bei Gericht geltend machen, was er in einem Widerspruchsverfahren vortragen könnte; das Verwaltungsgericht unterzieht die Ausweisung einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle, die insbesondere auch eine volle Überprüfung ihrer Verhältnismäßigkeit einschließt. Lediglich die Zweckmäßigkeit einer Entscheidung kann durch das Verwaltungsgericht nicht geprüft werden, was aber bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkungen der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Übrigen kam es nach den Angaben des Vertreters des Beklagten zu Zeiten des noch bestehenden Widerspruchsverfahrens jedenfalls auf dem Gebiet des Ausländer- bzw. Aufenthaltsrechts praktisch nicht vor, dass allein aus Zweckmäßigkeitserwägungen von einer Ausweisung Abstand genommen wurde - gerade in den Fällen der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger und den hohen Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 spielte dieser Gesichtspunkt nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine Rolle, da er insoweit ausschließlich Rechtsvoraussetzungen und Rechtsgrenzen formuliert. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht wie auch das Assoziationsrecht für Beschränkungen der Freizügigkeit nicht zwingend eine Ermessensentscheidung verlange. Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere (nur) eine offene Güter- und Interessenabwägung, die das deutsche System von Ist- und Regelausweisung aber nicht zulasse. Nicht erforderlich sei eine behördliche Wahl zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten, ein Handlungsermessen der Ausländerbehörde. Die Ausweisung unterliege hinsichtlich der qualifizierten Gefahrenschwelle und des Verhältnismäßigkeitsprinzips voller gerichtlicher Kontrolle (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Lediglich deshalb, weil das nationale Recht neben der Ist- und Regelausweisung nur die Ermessensausweisung kennt, ist im Rahmen dieses Instrumentariums dann, wenn die Eingriffsschwelle des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 erreicht ist, gleichwohl eine Ermessensentscheidung zu treffen. National-rechtlich ist die Frage einer Überprüfung der Zweckmäßigkeit in einem weiteren Behördenverfahren gleichfalls weder in § 10 AuslG 1965 noch in den späteren Änderungen im Ausweisungsrecht vorgegeben.
55 
Abgesehen davon bedeutet die Stillhalteverpflichtung auch nicht, dass jede Facette des Verwaltungsverfahrens- und -prozessrechts einer Änderung entzogen wäre. Die Mitgliedstaaten verfügen aufgrund ihrer Verfahrensautonomie über einen Gestaltungsspielraum, der allerdings durch den Grundsatz der Effektivität und der Äquivalenz begrenzt wird (EuGH, Urteil vom 18.10.2011 -Rs. C-128/09 - Rn. 52). Lässt eine Änderung des Verfahrens aber - wie hier - die Effektivität des Rechtsschutzes mit Blick auf die dem türkischen Staatsangehörigen eingeräumten Rechte unverändert, so liegt keine „neue Beschränkung“ vor, zumal wenn man gebührend in Rechnung stellt, dass im Widerspruchsverfahren auch formelle wie materielle Fehler der Ausgangsbehörde zu Lasten des Betroffenen behoben werden können (Bader, VwGO, a.a.O., § 68 Rn. 4, 7, 10; § 79 Rn. 2 ff.).
56 
b) Geht man davon aus, dass der Kläger seine Eigenschaft als Arbeitnehmer nicht verloren hat und hält daher auch den am 20.12.1976 in Kraft getretenen Art. 7 ARB 2/76 für anwendbar, so gilt nichts anderes (vgl. zur Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 2/76 neben Art. 13 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 20.09.1990 -Rs. C-192/89 Rn. 18 ff.). Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten der Union und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Mit Art. 7 ARB 2/76 wird gegenüber Art. 13 ARB 1/80 insoweit nur der zeitliche Bezugspunkt für neue Beschränkungen verändert, ohne dass diese jedoch inhaltlich anders zu bestimmen wären.
57 
c) Ein Verstoß gegen die seit 01.01.1973 geltende Stillhalteklausel nach 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation - ZP - scheidet schon deshalb aus, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt selbstständig erwerbstätig war.
58 
4. Eine Fortgeltung des „Vier-Augen-Prinzips“ nach der Richtlinie 64/221/ EWG folgt auch nicht aus dem völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens.
59 
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 15.12.2006 (JURM(2006)12099) in der Rechtssache „Polat“ (C-349/06) die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Union) seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Verträge könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts bestehe gerade darin, dass sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können, heteronome Normsetzung komme in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die durch völkerrechtlichen Regelungen festgelegt sei, auswirken könnte (vgl. im Einzelnen die Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 Rn. 57 ff., beziehbar unter www.migrationsrecht.net). Diese Ausführungen sind nahezu wortgleich auch in der Stellungnahme enthalten, die die Kommission am 02.12.2008 in der Rechtssache „Ziebell“ abgegeben hat (JURM(08)12077 - Rn. 32 ff.)
60 
Diese Auffassung beruht jedoch allein auf einer eigenen Interpretation des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ vom 02.06.2005 (Rs. C-136/03 - Rn.61 bis 64) durch die Kommission (vgl. insoweit Rn. 57 der Stellungnahme im Verfahren C-349/06 und Rn. 33 der Äußerung in der Rechtssache C-371/08: „Die Kommission versteht diese Rechtsprechung wie folgt:“). Der Gerichtshof hat diese Interpretation allerdings weder im Urteil „Polat“ noch in späteren Entscheidungen aufgegriffen. Aus dem Urteil in der Rechtssache „Ziebell“ und dem dort eingeschlagenen Lösungsweg (siehe hierzu oben 1.) ergibt sich sogar mit aller Deutlichkeit, dass der Gerichtshof, der für sich die Kompetenz zur Auslegung des Assoziationsrechts in Anspruch nimmt, diese Auffassung nicht teilt. Die Ausführungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.04.2011 im Verfahren „Ziebell“ (vgl. insb. Rn. 57) lassen ebenfalls ersehen, dass auch von dieser Seite dem dogmatischen Ansatz der Kommission insoweit keine Bedeutung beigemessen wird. Die von der Kommission befürwortete Auslegung des Urteils in der Rechtssache „Dörr und Ünal“ überzeugt den Senat auch deshalb nicht, weil die Ansicht der Kommission zu dem Ergebnis führen könnte, dass in dieser Regelungsmaterie unter Umständen notwendig werdende Änderungen des Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären.
61 
Im Übrigen heißt es in der Stellungnahme der Kommission vom 15.12.2006 ebenso wie in derjenigen vom 02.12.2008, dass „in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklicht werden sollte, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei.“ Dieses Schutzniveau für die türkischen Staatsangehörigen wird jedoch durch die Abschaffung des „Vier-Augen-Prinzips“ bei gleichzeitig verbessertem Rechtsschutz gewahrt.
62 
Nach alledem liegt im Fall des Klägers durch die Nichtbeachtung des „Vier-Augen-Prinzips“ kein unheilbarer Verfahrensfehler vor.
II.
63 
Da der Kläger eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genießt, kann gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 sein Aufenthalt nur beendet werden, wenn dieses aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist.
64 
1. Nach der ständigen und mittlerweile gefestigten Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs ist in diesem Zusammenhang zur Auslegung der assoziationsrechtlichen Begrifflichkeiten auf die für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union geltenden Grundsätze zurückzugreifen (vgl. zuletzt Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 52, insbesondere auch Rn. 67 m.w.N.). Allerdings scheidet ein Rückgriff auf die weitergehenden Schutzwirkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 wegen der grundsätzlich unterschiedlichen durch diese Richtlinie vermittelten Rechtstellung des Unionsbürgers aus (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - Rs. C-371/08 Rn. 73).
65 
Der Europäische Gerichtshof ist hiernach der Auffassung, dass der Ausweisungsschutz nach der Aufhebung der bisher für seine Rechtsprechung zum Ausweisungsschutz von assoziationsrechtlich geschützten türkischen Staatsangehörigen sinngemäß bzw. analog (vgl. hierzu nunmehr EuGH, Urteil vom 08.12.2010 - Rs. C-317/08 Rn. 58) berücksichtigten Richtlinie 64/221 entsprechend den Grundsätzen des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 12 der Richtlinie 2003/109, der sog. Daueraufenthaltsrichtlinie zu bestimmen ist. Diejenigen Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines Daueraufenthaltsberechtigten genießen, können hiernach nur dann ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen (Urteil vom 08.12.2011 – Rs C-371/08 Rn. 79). Wie sich unschwer aus den weiteren Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil in der Sache Ziebell ablesen lässt (vgl. Rn. 80 ff.), folgt hieraus aber kein andersartiges Schutzniveau, als es bis zum Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtlinie für Freizügigkeit genießende Arbeitnehmer der Union galt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 26.02.1975 - Rs 67/74 ; vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ; vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ; vom 18.05.1982 - Rs. 115 und 116/81 ; vom 18.05.1989 - Rs. 249/86 ; vom 19.01.1999 - Rs C-348/96 ). Soweit der Gerichtshof die Tatsache anspricht, dass Herr Ziebell sich mehr als zehn Jahre ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält (vgl. Rn. 79, auch Rn. 46), wird damit kein eigenständiges erhöhtes materielles Schutzniveau eingeführt, sondern lediglich eine dem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegende Tatsache wiedergegeben. Diese Schlussfolgerung ist auch deshalb unausweichlich, weil der Daueraufenthaltsrichtlinie, anders als der Unionsbürgerrichtlinie eine Zehnjahresschwelle fremd ist. Vielmehr setzt der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nur einen fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt und darüber hinaus nach Art. 7 der Richtlinie die ausdrückliche Verleihung der Rechtsstellung voraus.
66 
Kann ein assoziationsrechtlich geschützter türkischer Staatsangehöriger nur dann ausgewiesen werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, so steht dem auch entgegen, dass die Ausweisungsverfügung auf wirtschaftliche Überlegungen gestützt wird.
67 
Weiter haben die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (Urteil vom 08.12.2011 - Rs C-371/08 Rn. 80).
68 
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Ausnahmen und Abweichungen von der Grundfreiheit der Arbeitnehmer eng auszulegen, wobei deren Umfang nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden kann (vgl. Rn. 81 mit dem Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 
Somit dürfen Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei dieser Prüfung müssen die Behörden zudem sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (vgl. Rn. 82 wiederum mit Hinweis auf das Urteil vom 22.12.2010 - Rs C-303/08 Rn. 57 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung).
70 
Eine Ausweisung darf daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung oder zum Zweck der Generalprävention, um andere Ausländer vor der Begehung von Straftaten abzuschrecken, angeordnet werden (Rn. 83 Urteil vom 22.12.2010, Bozkurt, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
71 
Der Gerichtshof betont im Urteil vom 08.12.2011 (Rn. 85) zudem ausdrücklich, dass die nationalen Gerichte und Behörden anhand der gegenwärtigen Situation des Betroffenen die Notwendigkeit des beabsichtigten Eingriffs in dessen Aufenthaltsrecht zum Schutz des vom Aufnahmemitgliedstaat verfolgten berechtigten Ziels gegen alle tatsächlich vorliegenden Integrationsfaktoren abwägen müssen, die die Wiedereingliederung des Betroffenen in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats ermöglichen. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob das Verhalten des türkischen Staatsangehörigen gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Sämtliche konkreten Umstände sind angemessen zu berücksichtigen, die für seine Situation kennzeichnend sind, wie namentlich besonders enge Bindungen des betroffenen Ausländers zur Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, in deren Hoheitsgebiet er geboren oder auch nur aufgewachsen ist.
72 
Demzufolge sind für die Feststellung der Gegenwärtigkeit der konkreten Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit auch alle nach der letzten Behördenentscheidung eingetretenen Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das in Rede stehende Grundinteresse darstellen soll (Rn. 84; vgl. u. a. Urteil vom 11.11.2004 - Rs C-467/02 Rn. 47).
73 
Wenn der Gerichtshof schließlich in der konkreten Antwort auf die Vorlagefrage (Rn. 86) noch davon spricht, dass die jeweilige Maßnahme für die Wahrung des Grundinteresses „unerlässlich“ sein muss, ohne dass dieses in den vorangegangenen Ausführungen näher angesprochen und erörtert worden wäre, so kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Ausweisungsentscheidung gewissermaßen die „ultima ratio“ sein muss und dem Mitgliedstaat keinerlei Handlungsalternative mehr offen stehen darf. Denn bei einem solchen Verständnis ginge der Schutz der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen weiter als der von Unionsbürgern, was mit Art. 59 ZP nicht zu vereinbaren wäre. Vielmehr wird mit dieser Formel mit anderen Worten nur der in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelte Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Maßnahme geeignet sein muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie insbesondere nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. etwa Urteil vom 26.11.2002 - Rs C-100/01 Rn. 43; vom 30.11.1995 - Rs C-55/94, Rn. 37; vom 28.10.1975 - Rs 36/75 ), wobei insoweit eine besonders sorgfältige Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
74 
Der vom Gerichtshof entwickelte Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern nur auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich auf „ein Grundinteresse der Gesellschaft, das tatsächlich berührt sein muss“. Dabei ist zu beachten, dass eine in der Vergangenheit erfolgte strafgerichtliche Verurteilung allein nur dann eine Ausweisung rechtfertigen kann, wenn die ihr zugrunde liegenden Umstände ein künftiges persönliches Verhalten erwarten lassen, das die beschriebene Gefährdung ausmacht (EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs C-482 und 493/01 ). Die Gefährdung kann sich allerdings auch allein aufgrund eines strafgerichtlich abgeurteilten Verhaltens ergeben (EuGH, Urteil vom 27.10.1977 - Rs. 30/77 ). Andererseits kann und darf es unionsrechtlich gesehen keine Regel geben, wonach bei schwerwiegenden Straftaten das abgeurteilte Verhalten zwangsläufig die hinreichende Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten begründet. Maßgeblich ist allein der jeweilige Einzelfall, was eine umfassende Würdigung aller Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen erfordert (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 30.06.1998 - 1 C 27.95 - InfAuslR 1999, 59). Wenn der Umstand, dass eine oder mehrere frühere strafrechtliche Verurteilungen vorliegen, für sich genommen ohne Bedeutung für die Rechtfertigung einer Ausweisung ist, die einem türkischen Staatsangehörigen Rechte nimmt, die er unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 ARB 1/80 ableitet (vgl. auch Urteil vom 04.10.2007 - C-349/06 Rn. 36), so muss das Gleiche erst recht für eine Maßnahme gelten, die im Wesentlichen nur auf die Dauer der Inhaftierung des Betroffenen gestützt wird.
75 
Der Gerichtshof billigt den Mitgliedstaaten bei der Beurteilung dessen, was ein eigenes gesellschaftliches „Grundinteresse“ sein soll, einen gewissen Spielraum zu (vgl. Urteil vom 28.10.1975 - Rs. 36/75 ). Gleichwohl bleiben die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gemeinschafts- bzw. unionsrechtliche Begriffe, die nicht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgelegt werden können.
76 
Für die Festlegung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts soll nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch bei der Anwendung der dargestellten unionsrechtlichen Grundsätze entsprechend dem allgemein geltenden aufenthalts- wie ordnungsrechtlichen Maßstab ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gelten mit der Folge, dass insbesondere bei einer Gefährdung des menschlichen Lebens oder bei drohenden schweren Gesundheitsbeeinträchtigungen auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts eine Aufenthaltsbeendigung rechtfertigen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3). Dieser Sichtweise ist mit den vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Dessen Rechtsprechung lassen sich keine verifizierbaren und tragfähigen Ansätze für eine derartige weitgehende Relativierung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes entnehmen; sie werden vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 02.09.2009 sowie in der dort in Bezug genommenen anderen Entscheidungen auch nicht bezeichnet. Das vom Gerichtshof gerade regelmäßig herausgestellte Erfordernis der engen Auslegung der Ausnahmevorschrift und die inzwischen in ständiger Spruchpraxis wiederholten Kriterien der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung eines gesellschaftlichen Grundinteresses, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Interesse einer möglichst umfassenden Effektivierung der Grundfreiheiten die Aufenthaltsbeendigung und damit die vollständige Unterbindung der jeweils in Frage stehenden Grundfreiheit unter dem strikten Vorbehalt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit steht, lassen ein solches Verständnis nicht zu. Es wäre auch nicht durch den den Mitgliedstaaten eingeräumten Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des jeweiligen Grundinteresses gedeckt. Denn andernfalls wäre gerade die hier unmittelbar unions- bzw. assoziationsrechtlich gebotene und veranlasste enge Auslegung nicht mehr gewährleistet (so schon Senatsurteil vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291).
77 
Dem restriktiven, vom Verhältnismäßigkeitsprinzip und „effet utile“ geprägten Verständnis des Gerichtshofs liegt abgesehen davon die Vorstellung einer die gesamte Union in den Blick nehmenden Sichtweise zugrunde. Alle Mitgliedstaaten haben nämlich auch eine Verantwortung für die gesamte Union (vgl. Art. 4 Abs. 3 EUV). Mit dieser wäre es schwerlich vereinbar, dass ein Mitgliedstaat ein zunächst einmal genuin auf seinem Territorium aufgetretenes und entstandenes Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Absenkung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs für sich so aus der Welt schafft, dass er sich des Verursachers dieses Risiko gewissermaßen zu Lasten aller anderen Mitgliedstaaten räumlich entledigt. Denn zunächst einmal bewirkt die Beendigung der Freizügigkeit und die Außer-Landes-Schaffung des früheren Straftäters durch einen EU-Mitgliedstaat im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten nichts und hätte keine Auswirkungen auf dessen Freizügigkeit in allen anderen Mitgliedstaaten. Allerdings wäre es einem anderen Mitgliedstaat nicht verwehrt, wenn der Betreffende dort gerade auch für diesen Mitgliedstaat eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellte, seinerseits die Freizügigkeit zu beschränken. Dennoch widerspricht diese Art von „Gefahrenexport“ zu Lasten anderer Mitgliedstaaten dem Geist des EU-Vertrags. Auch wenn diese Überlegungen im Rahmen der Assoziation EWG-Türkei nicht unmittelbar tragfähig sind, weil diese keine Freizügigkeit innerhalb der Union gewährleistet, so ändert dies angesichts des vom Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktizierten Übernahme der unionsrechtlichen Grundsätze nichts an der Gültigkeit der Annahme, dass ein „gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab“ auch nach Assoziationsrecht einer tragfähigen Grundlage entbehrt.
78 
Andererseits ist nach Auffassung des Senats das Kriterium der tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung nicht in dem Sinn zu verstehen, dass auch eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne der traditionellen Begrifflichkeit des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts vorliegen muss, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Von einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung kann daher nach Auffassung des Senats dann ausgegangen werden, wenn unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betroffenen einzustellenden Gesichtspunkte bei einer wertenden Betrachtungsweise mehr dafür spricht, dass der Schaden in einer überschaubaren Zeit eintreten wird.
79 
2. Ausgehend hiervon erweist sich die angegriffene Ausweisungsverfügung als ermessensfehlerfrei (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
80 
Aufgrund der langjährigen kriminellen Karriere, nach dem im letzten Strafverfahren erstellten Gutachten Dr. W... vom 11.11.2009 sowie der vom Senat eingeholten Stellungnahme der JVA Heilbronn vom 23.01.2012 (Frau G...), in der im Einzelnen dargestellt wird, dass der Kläger kaum Interesse an der Aufarbeitung seiner Vergangenheit an den Tag gelegt hat, besteht für den Senat kein Zweifel, das vom Kläger nach wie vor eine erhebliche konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher und schwerer Straftaten ausgeht, wodurch das für eine Ausweisung erforderliche Grundinteresse der Gesellschaft unmittelbar berührt ist. Es ist namentlich nach der Stellungnahme der JVA Heilbronn nichts dafür ersichtlich, dass sich beim Kläger etwas Grundsätzliches gebessert haben könnte. Es fehlt hiernach jeder greifbare und glaubhafte, geschweige denn Erfolg versprechende Ansatz dafür, dass der Kläger bereit sein könnte, sich seiner kriminellen Vergangenheit zu stellen und hieran aktiv zu arbeiten. Im Gegenteil: Aus der Stellungnahme wird hinreichend deutlich, dass der Kläger - von guten Arbeitsleistungen abgesehen -sich einer Aufarbeitung der grundlegenden Problematik konsequent verweigert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vom Beklagten angesprochene und verneinte Frage, ob ihm eine Resozialisierung im dem Land, in dem er geboren und überwiegend aufgewachsen ist, um deren Erfolg willen ermöglicht werden muss, nicht. Der Senat ist sich mit dem Regierungspräsidium Stuttgart der Tatsache bewusst, dass der Kläger, der nie wirklich längere Zeit in der Türkei gelebt hat, mit ganz erheblichen Problemen im Falle der Rückkehr konfrontiert sein wird. Andererseits geht der Senat davon aus, dass er mit Rücksicht auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Türkei im Kindesalter über die nötige Sprachkompetenz verfügt, um in der Türkei eine neue Basis für sein Leben finden zu können. Angesichts des von ihm ausgehenden erheblichen Gefährdungspotential für bedeutende Rechtsgüter erweist sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass er - nicht zuletzt bedingt durch seine häufige Straffälligkeit - zu keinem Zeitpunkt über eine gesicherte und gewachsene eigenständige wirtschaftliche Grundlage verfügt hat, die Ausweisung als verhältnismäßig: Sie stellt namentlich keinen unzulässigen Eingriff in sein durch Art. 8 EMRK geschützte Privatleben dar. Der Umstand, dass im Bundesgebiet noch nahe Angehörige des immerhin bereits knapp 26 Jahre alten Klägers leben, gebietet keine andere Sicht der Dinge.
81 
Auch die Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung hat keine neuen Aspekte ergeben. Vielmehr wurde die Stellungnahme vom 23.01.2012 bestätigt. Insbesondere konnte der Kläger keine plausible Erklärung dafür geben, weshalb er die verschiedenen Angebote im Strafvollzug zur Aufarbeitung seiner Taten nicht wahrgenommen hatte.
III.
82 
Die Ausweisung ist auch nicht etwa deshalb als rechtswidrig anzusehen, weil sie unbefristet erfolgt ist. Insbesondere ergibt sich solches nicht aus der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348/2008, S. 98 ff. – Rückführungsrichtlinie, im Folgenden RFRL), deren Art. 11 Abs. 1 grundsätzlich die Befristung des mit einer Rückkehrentscheidung einhergehenden Einreiseverbots anordnet. Denn eine Ausweisung ist schon keine Rückkehrentscheidung im Sinne dieser Richtlinie.
83 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 - juris) in diesem Zusammenhang u.a. ausgeführt:
84 
„Diese Richtlinie, deren Umsetzungsfrist am 24.12.2010 abgelaufen war, soll mit dem zum 26.11.2011 in Kraft getreten „Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex“ vom 22.11.2011 (BGBl. I, 2258) umgesetzt werden. Nach Art. 2 Abs. 1 RFRL findet sie auf solche Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten; sie regelt die Vorgehensweise zu deren Rückführung. Art. 3 Nr. 2 RFRL definiert den illegalen Aufenthalt wie folgt: „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet diese Mitgliedstaats“ (vgl. auch den 5. Erwägungsgrund).
85 
Der Umstand, dass eine Ausweisung gegebenenfalls erst das Aufenthaltsrecht des Ausländers zum Erlöschen bringt (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG) und damit dessen „illegalen Aufenthalt“ begründet (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), macht diese nicht zu einer Rückführungsentscheidung. Daran ändert nichts, dass nach der deutschen Rechtslage häufig die Abschiebungsandrohung mit der die Illegalität des Aufenthalts herbeiführenden Verfügung verbunden ist (vgl. hierzu den ausdrücklichen Vorbehalt in Art. 6 Abs. 6 RFRL). Art. 3 Nr. 4 RFRL umschreibt die Rückkehrentscheidung als „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird.“ Nach der Struktur des deutschen Aufenthaltsrechts stellt die Ausweisung hiernach aber keine „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 RFRL dar (so schon Urteile des Senats vom 04.05.2011 - 11 S 207/11 - InfAuslR 2011, 291, und vom 20.10.2011 - 11 S 1929/11 - juris ; Gutmann, InfAuslR 2011, 13; Westphal/Stoppa, Report Ausländer- und Europarecht Nr. 24, November 2011 unter www.westphal-stoppa.de; a.A. Hörich, ZAR 2011, 281, 283 f.; Fritzsch, ZAR 2011, 297, 302 f.; Stiegeler, Asylmagazin 2011, 62, 63 ff.; vorl. Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2010 zur einstweiligen Umsetzung der Richtlinie - Az.: M I 3 - 215 734/25, S. 3; vgl. auch Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 30.06.2011 - 24 K 5524/10 - juris). Dass die Ausweisung selbst nicht in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie fällt, macht auch folgende Überlegung deutlich: Die Richtlinie ist Teil des Programms der Union zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Mit ihr soll mitgliedstaatsübergreifend das Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung (aus dem gesamten Gebiet der Union) von solchen Drittstaatsangehörigen, die von vornherein oder nicht mehr die Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfüllen, vereinheitlicht und unter Wahrung der berechtigten Belange der Betroffenen und der Humanität effektiviert werden (vgl. etwa die 5. und 11. Begründungserwägung). Zugleich soll auch durch Einreiseverbote, die unionsweit Geltung beanspruchen, die vollzogene Aufenthaltsbeendigung für die Zukunft abgesichert werden (vgl. die 14. Begründungserwägung). Andererseits soll – gewissermaßen als Kehrseite des Einreiseverbots – durch dessen grundsätzliche Befristung unübersehbar den Betroffenen eine Perspektive der Rückkehr eröffnet werden. Der Zweck der Richtlinie geht jedoch nicht dahin, ein eigenständiges unionsrechtliches Instrumentarium zur Bekämpfung der Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die von Drittstaatsangehörigen ausgehen, namentlich von solchen, die bislang einen legalen Aufenthalt hatten. Der Aspekt der Wahrung bzw. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hat nur insoweit mittelbare, dort aber zentrale Relevanz, als es um die Modalitäten der Aufenthaltsbeendigung geht, wie sie etwa in Art. 7 und 8 bzw. Art. 15 ff. RFRL bestimmt sind. Er ist jedoch nicht der eigentliche Geltungsgrund der Richtlinie. Ob gegebenenfalls nach der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats eine Ausweisung auch eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie darstellen kann, ist insoweit unerheblich (vgl. zu Italien EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - C-61/11 PPU - [El Dridi] InfAuslR 2011, 320, Rn. 50).
86 
Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass nach dem nationalen Ausländerrecht eine Ausweisung auch gegenüber solchen Ausländern erlassen werden kann, die sich bereits illegal im Mitgliedstaat aufhalten. Auch eine derartige Ausweisung stellt nicht die Illegalität fest und erlegt nicht dem Betroffenen die Ausreisepflicht auf. Die Feststellung der Illegalität und damit der bereits bestehenden Ausreisepflicht geschieht, da der Gesetzgeber kein eigenständiges Institut der „Rückkehrentscheidung“ eingeführt hat, nach dem nationalen Recht vielmehr typischerweise gerade durch die Abschiebungsandrohung – sofern nicht ausnahmsweise auf eine solche verzichtet werden darf (vgl. z.B. § 58a AufenthG); in diesem Fall wäre die Abschiebungsanordnung als Rückkehrentscheidung zu qualifizieren. Die Abschiebungsandrohung enthält auch die nach Art 7 RFRL in einer Rückkehrentscheidung zu setzende Frist für eine freiwillige Ausreise (vgl. § 59 Abs. 1 a.F. sowie § 59 Abs. 1 AufenthG n.F.).
87 
Die Ausweisung ist nicht etwa deshalb als „Rückkehrentscheidung“ anzusehen, weil sie nach nationalem Recht als solche ausgestaltet wäre. Wie ausgeführt, verbindet allerdings nach der bisherigen, wie auch nach der aktuellen Rechtslage das nationale Recht in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG mit der Ausweisung ausdrücklich ein Einreiseverbot, das in Satz 2 zusätzlich um das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels erweitert wird. Zwar bestimmt Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL ausdrücklich, dass auch in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen kann. Das nationale Recht kann danach vorsehen, dass selbst dann, wenn kein Fall des Absatzes Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL vorliegt (d.h. keine Fristsetzung in der Abschiebungsandrohung oder tatsächliche Abschiebung), in Folge einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot verhängt werden kann. Es muss sich jedoch immer noch um eine Rückkehrentscheidung handeln. Das ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, an die Ausweisung ein Einreiseverbot zu knüpfen, überschreitet die begrifflichen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie. Daran ändert der Umstand nichts, dass der nationale Gesetzgeber der (irrigen) Auffassung war, mit der Regelung des § 11 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG spezifisch und ausschließlich für die Ausweisung von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch zu machen (vgl. ausdrücklich BTDrucks 17/5470, S. 39). Diese „Opt-Out-Klausel“ beträfe etwa den Abschiebungsfall des § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG; insoweit wurde aber in Bezug auf die Folgen einer Abschiebung gerade hiervon kein Gebrauch gemacht. Da die Ausweisung keine Rückkehrentscheidung darstellt, steht die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, nach wie vor an die Ausweisung selbst ein zunächst unbefristetes Einreiseverbot zu knüpfen, nicht im Widerspruch zu unionsrechtlichen Vorgaben (vgl. hierzu noch im Folgenden).“
88 
Ergänzend und vertiefend ist noch auszuführen: Gegen die Annahme, die Ausweisung sei keine Rückkehrentscheidung, kann auch nicht die Legaldefinition des „illegalen Aufenthalts“ in Art. 3 Nr. 2 RFRL eingewandt werden. Zwar erweckt der pauschale und undifferenzierte Verweis auf Art. 5 SDK auf den ersten Blick den Eindruck, es könnten auch Fälle gemeint sein, in denen materielle Einreise- bzw. Aufenthaltsvoraussetzungen nicht (mehr) erfüllt sind und somit auch in einem solchen Fall ein illegaler Aufenthalt vorläge. Dagegen sprechen aber bereits das in Art. 6 Abs. 6 RFRL vorausgesetzte Verständnis des „legalen Aufenthalts“ und der dort vorgenommenen ausdrücklichen Abgrenzung zur „Rückkehrentscheidung“. Entscheidend für ein Verständnis im Sinne eines allein formell zu verstehenden illegalen Aufenthalts spricht die Begründung des Kommissionsentwurfs (vgl. KOM/2005/ 0391endg vom 1.9.2005). Hiernach ist der Befund eindeutig. Unter I 3 Ziffer 12 wird ausdrücklich ausgeführt, dass Regelungsgegenstand der Richtlinie nicht die Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung/Sicherheit sei. Unter I 4 wird zu „Kapitel II“ weiter dargelegt, die Vorschriften der Richtlinie seien auf jede Art von illegalem Aufenthalt anwendbar (z.B. Ablauf eines Visums, Ablauf eines Aufenthaltstitels, Widerruf oder Rücknahme eines Aufenthaltstitels, endgültige Ablehnung eines Asylantrags, Aberkennung des Flüchtlingsstatus, illegale Einreise). Nicht Gegenstand seien die Gründe und Verfahren für die Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthalts. Für dieses Verständnis spricht auch die in Anspruch genommene Rechtsgrundlage des Art. 63 Abs. 3 lit. b) EG. Im Übrigen entspricht der im Gesetzgebungsverfahren neu eingefügte Verweis auf Art. 5 SDK sachlich dem früheren Verweis auf Art. 5 SDÜ, der auch materielle Regelungen enthielt. Demzufolge stellen auch Widerruf, Rücknahme oder nachträgliche Befristung keine Rückkehrentscheidung dar.
89 
Ausgehend hiervon war der Beklagte unionsrechtlich nicht gehalten, von vornherein von Amts wegen eine Befristung der Ausweisung auszusprechen.
90 
Eine Befristung war auch nicht aus sonstigen Gründen der Verhältnismäßigkeit auszusprechen, namentlich um dem Kläger eine Rückkehrperspektive zu eröffnen. Zum einen bestünde eine solche im Falle des ledigen Klägers nach Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ohnehin nicht. Zum anderen besteht gegenwärtig keine tatsächlich ausreichend gesicherte Grundlage für eine solche Entscheidung, da eine sachgerechte Prognose, dass überhaupt und ggf. wann der Ausweisungsanlass entfallen sein wird, nicht angestellt werden kann. Es wäre unauflöslich widersprüchlich, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung das Vorliegen der (hohen) Ausweisungsvoraussetzungen anzunehmen und gleichzeitig eine sachgerechte Prognose anstellen zu wollen, dass diese mit hinreichender Sicherheit bereits zu einem bestimmten Zeitpunkt entfallen sein werden. Daher hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch fehlerfrei vorsorglich eine Befristung abgelehnt. Wenn die Bestimmung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG für den Fall einer auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruhenden Ausweisung eine Überschreitung der Fünfjahresfrist zulässt, ohne dass dieses von bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen abhängig gemacht wird, so ist dem die Option immanent, ausnahmsweise von der Setzung einer Frist abzusehen, wenn, wie im vorliegenden Fall, eine Frist sachgerecht und willkürfrei überhaupt nicht bestimmt werden kann. Zur Klarstellung weist der Senat ausdrücklich darauf hin, dass diese nationale Vorgabe, da es sich bei der Ausweisung schon keine Rückkehrentscheidung handelt, keine Umsetzung des Unionsrechts darstellt, weshalb insoweit auch keine Entscheidung von Amts wegen getroffen werden muss (anders für eine allein generalpräventiv begründete Ausweisung nunmehr BVerwG, Urteil vom 14.02.2012 - 1 C 7.11).
91 
Wollte man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Ausweisung als Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie qualifizieren, so hätte der nationale Gesetzgeber hier von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht und die formellen wie materiellen Befristungsvorgaben des Art. 11 Abs. 2 RFRL ohne Verstoß gegen Unionsrecht nicht in nationales Recht umgesetzt. Die Tatsache, dass er gleichwohl das nationale Recht insoweit gegenüber der früheren Rechtslage modifiziert und auch dem Grundsatz nach bei strafgerichtlichen Verurteilungen eine Fünfjahresfrist vorgegeben hätte, die im Einzelfall überschritten werden darf, stellt kein unzulässiges teilweises Gebrauchmachen von der Opt-Out-Klausel dar, sondern nur die Wahrnehmung eines eigenständigen nationalen Gestaltungsspielraums (a.A. wohl OVGNW, Urteil vom 13.12.2011 - 12 B 19.11 - juris).
92 
Abgesehen davon könnte, wenn wie hier eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 Satz 2 RFRL vorliegt – nicht anders als im nationalen Recht – im Ausnahmefall die Bestimmung einer Frist vorläufig unterbleiben, sofern, wie bereits oben ausgeführt, eine solche gegenwärtig nicht bestimmt werden kann. Der Beklagte hätte daher, wie dargelegt, zu Recht von einer Bestimmung abgesehen, wenn man die vom Senat nicht geteilten Auffassung verträte, dass hier Art. 11 Abs. 2 RFRL uneingeschränkt anzuwenden wäre.
IV.
93 
Die vom Beklagten verfügte Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 und 5 AufenthG. Bereits aus deren Begründung ergibt sich hinreichend deutlich, dass sie nur für den Fall des Eintritts der Unanfechtbarkeit Geltung beanspruchen soll. Im Übrigen hat der Beklagte dies in der mündlichen Verhandlung nochmals ausdrücklich klargestellt.
94 
Im Zusammenhang mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung war auch im Hinblick auf unionsrechtliche Vorgaben keine Entscheidung über die Befristung eines mit einer späteren Abschiebung einhergehenden Einreiseverbots zu treffen.
95 
Der Senat hat im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11) hierzu ausgeführt:
96 
„Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass demgegenüber unter dem Aspekt des Einreiseverbots die Abschiebungsandrohung sowie die Abschiebungsanordnung einer abweichenden und differenzierten Betrachtung bedürfen. Nach Art. 11 Abs. 1 UA 1 RFRL gehen „Rückkehrentscheidungen“ mit einem Einreiseverbot einher, a) falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, oder b) falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. Gemäß Art. 11 Abs. 1 UA 2 RFRL kann in anderen Fällen eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen. Nach Art. 11 Abs. 2 RFRL wird die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Art. 3 Nr. 6 RFRL definiert das Einreiseverbot als die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht. Daraus folgt, dass spätestens mit der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eines „illegal aufhältigen“ Ausländers von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 RFRL) über das Einreiseverbot und dessen Dauer zu treffen ist (vgl. auch den 14. Erwägungsgrund). Mit diesen unionsrechtlichen Vorgaben ist es bereits nicht zu vereinbaren, wenn § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an die Abschiebung selbst unmittelbar kraft Gesetzes ein Einreiseverbot knüpft. Es ist demnach unerlässlich, dass die zuständige Behörde entweder in der Rückkehrentscheidung (also etwa der Abschiebungsandrohung) oder in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang hiermit für den unter Umständen noch nicht feststehenden Fall einer späteren Vollstreckung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UA 1 lit. b) RFRL) von Amts wegen eine individuelle Einzelfallentscheidung trifft. Spätestens jedoch mit der Anordnung der Abschiebung, ungeachtet der Frage, ob es sich hierbei um einen Verwaltungsakt handelt oder nicht (vgl. GK-AufenthG, § 58 AufenthG Rn. 52 ff.), oder aber wiederum in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit muss diese Entscheidung über ein Einreiseverbot und dessen Befristung getroffen werden, wobei nach Art. 11 Abs. 2 RFRL eine Befristung des Einreiseverbots die Regel ist und ein unbefristetes Verbot allenfalls ausnahmsweise erfolgen kann. Diesen Vorgaben genügt § 11 Sätze 1, 3 und 4 AufenthG nicht (a.A. Saarl. OVG, Beschluss vom 18.10.2011 - 2 A 352/11 - a.a.O.). Mit der aktuellen Regelung, wonach erst später und nur auf Antrag eine Befristung vorzunehmen ist, würde das von der Richtlinie intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „auf den Kopf gestellt“ und das unbefristete Einreiseverbot zunächst zum gesetzlichen Regelfall ausgestaltet. Dies lässt sich auch nicht mit einer dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich eingeräumten Verfahrensautonomie rechtfertigen (so aber Thym und Kluth in der Anhörung des Innenausschusses am 27.6.2011, Drs 17(A)282 F, S. 3 bzw. 17(4)282 A, S. 2). Denn der Rekurs auf eine dem Grundsatz nach richtigerweise anzuerkennende Verfahrensautonomie wäre hier unauflösbar widersprüchlich, weil mit der Konzeption der Richtlinie unvereinbar. Der Vorbehalt zugunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie reicht nur soweit, als Unionsrecht keine abweichenden bindenden Vorgaben enthält, was hier gerade der Fall ist. Diese Konzeption dient im Übrigen nicht nur den öffentlichen Interessen der Mitgliedstaaten und der Union (vgl. 14. Erwägungsgrund), sondern soll, wie bereits erwähnt, auch den Betroffenen sofort eine Rückkehrperspektive für die Zukunft eröffnen (oder ausnahmsweise auch deutlich machen, dass eine solche jedenfalls derzeit nicht besteht). Die Entscheidung der Behörde hat daher nach der Konzeption des Art. 11 RFRL auch von Amts wegen zu erfolgen. Dieses bereits von Anfang an festzusetzende Einreiseverbot unterliegt dann weitergehend nach Art. 11 Abs. 3 RFRL der Überprüfung und Korrektur. Demzufolge hat die Ausländerbehörde entgegen § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spätestens im Zuge der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung eine Entscheidung darüber zu treffen, wie lange das Einreiseverbot gelten soll.
97 
Zur Klarstellung seiner Ausführungen im Urteil vom 07.12.2011 (11 S 897/11 – juris Rn. 83) weist der Senat auch darauf hin, dass die oben (vgl. III.) dargestellte Einschränkung hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen auch in Bezug auf die nach einer Ausweisung ergehende Rückkehrentscheidung und das mit ihr einhergehende Einreiseverbot selbst gilt, weil die Bundesrepublik Deutschland nach dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG nicht nur hinsichtlich der Folgewirkungen der Ausweisung, sondern auch hinsichtlich derer einer späteren Abschiebung insoweit von der „Opt-Out-Klausel“ des Art. 2 Abs. 2 lit. b) RFRL Gebrauch gemacht hat, die allgemein alle Fälle einer aufgrund bzw. infolge einer strafgerichtlichen Entscheidung eintretenden Rückehrpflicht betrifft.
98 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
99 
Die Revision wird zugelassen, weil die unter III. und IV. aufgeworfenen Fragen der Anwendung und Auslegung der Rückführungsrichtlinie Fragen grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
100 
Beschluss vom 10. Februar 2012
101 
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG auf 5.000,-- EUR festgesetzt.
102 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

(1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

(2) Die Berufung ist nur zuzulassen,

1.
wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen,
2.
wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,
3.
wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
4.
wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
5.
wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.

(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.

(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.

(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.

(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.

(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.

(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.

(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.

(11) (weggefallen)

(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.

(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.

(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.

(1) Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden.

(2) Ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag kann nur durch einen Gerichtsbeschluß, der zu begründen ist, abgelehnt werden.

(3) Der Vorsitzende hat darauf hinzuwirken, daß Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende tatsächliche Angaben ergänzt, ferner alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden.

(4) Die Beteiligten sollen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Schriftsätze einreichen. Hierzu kann sie der Vorsitzende unter Fristsetzung auffordern. Die Schriftsätze sind den Beteiligten von Amts wegen zu übermitteln.

(5) Den Schriftsätzen sind die Urkunden oder elektronischen Dokumente, auf die Bezug genommen wird, in Abschrift ganz oder im Auszug beizufügen. Sind die Urkunden dem Gegner bereits bekannt oder sehr umfangreich, so genügt die genaue Bezeichnung mit dem Anerbieten, Einsicht bei Gericht zu gewähren.

Tenor

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 9. Juni 2006 - A 2 K 259/06 - wird abgelehnt.

Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

 
Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
Der in Anspruch genommene Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensmangels in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) bei der Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen rechtfertigt aus den mit dem Antrag angeführten Gründen die Zulassung der Berufung nicht.
Die Klägerin hat einen Gehörsverstoß bereits nicht ausreichend und schlüssig dargelegt, obwohl dies erforderlich gewesen wäre (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG). Hierzu ist in dem Antrag auf Zulassung der Berufung mitzuteilen, welchen Inhalt die behaupteten und als übergangen gerügten Beweisthemen der Hilfsbeweisanträge hatten. Denn es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofs, das Vorbringen der Klägerin anhand der Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts zu ergänzen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.2005 - 1 B 10.05 -, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 36 zur Darlegungslast nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Hilfsanträge sind so wiederzugeben, dass der Verwaltungsgerichtshof anhand der Zulassungsbegründungsschrift nachprüfen kann, ob die Behauptung in ihrem Ausgangspunkt zutrifft. Es ist gerade Sinn des Darlegungserfordernisses, die Überprüfung im Zulassungsverfahren durch einen vollständigen Sachvortrag soweit als möglich zu entlasten. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wäre im Übrigen auch unbegründet. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung gestellten Hilfsbeweisanträge liegt nicht vor. Es wäre nur dann der Fall gewesen, wenn das Verwaltungsgericht die Beweisanträge aus Gründen abgelehnt hätte, die im geltenden Prozessrecht keine Stütze finden (BVerfGE 69, 141 (144) m.w.N.). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Insbesondere durfte das Verwaltungsgericht die Hilfsbeweisanträge, soweit diese auf Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens zum Verfolgungsvortrag gerichtet sind, als unzulässig zurückweisen, weil es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, sich selbst nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen. Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegt als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.02.2005, a.a.O.). Bei den Hilfsbeweisanträgen ging es auch nicht darum, wie dies nunmehr im Zulassungsantrag anzuklingen scheint, durch ein Sachverständigengutachten klären zu lassen, ob das Aussageverhalten der Klägerin aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung beeinflusst war und das Verwaltungsgericht deshalb zu einer anderen Beweiswürdigung hätte gelangen können. Dem Umstand, dass es Aufgabe der Verwaltungsgerichte ist, die Frage nach der Glaubhaftigkeit und dem Wahrheitsgehalt des von dem Schutzsuchenden zur Stützung seines Begehrens im gerichtlichen Verfahren unterbreiteten konkreten Sachverhaltes zu beantworten, entspricht es aus medizinischer Sicht, dass eine posttraumatische Belastungsstörung nur diagnostiziert werden kann, wenn ein Trauma nachgewiesen ist, wenn also vom Gericht, nicht vom Gutachter, nachgewiesen bzw. wahrscheinlich gemacht werden kann, dass das behauptete traumatisierende Ereignis stattgefunden hat. Der objektive Ereignisaspekt ist nicht Gegenstand der gutachtlichen Untersuchung zur posttraumatischen Belastungsstörung. Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann nicht sicher geschlossen werden, ob tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war (vgl. Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 ff.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Zulassungsverfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.

(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.

(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.

(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.

(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.

(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.

(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.

(1) Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die grenzüberschreitende Prozesskostenhilfe innerhalb der Europäischen Union gelten ergänzend die §§ 1076 bis 1078.

(2) Mutwillig ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht.