Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

II. Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Ist es von vornherein ausgeschlossen, dass die Verhängung und der anschließende Vollzug einer Freiheitsstrafe dazu führen, dass die Integrationsverbindungen eines im Alter von drei Jahren in den Aufnahmemitgliedstaat eingereisten Unionsbürgers als abgerissen zu betrachten sind mit der Folge, dass kein ununterbrochener Aufenthalt von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 vorliegt und daher kein Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 zu gewähren ist, wenn der Unionsbürger nach der Einreise im Alter von drei Jahren sein gesamtes bisheriges Leben in diesem Aufnahmemitgliedstaat verbracht hat, keine Bindungen zum Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit mehr hat und die Straftat, die zur Verhängung und zum Vollzug einer Freiheitsstrafe führt, erst nach einem 20jährigem Aufenthalt begangen worden ist?

2. Falls Frage 1 verneint wird: Ist bei der Frage, ob der Vollzug einer Freiheitsstrafe zum Abreißen der Integrationsverbindungen führt, diejenige Freiheitsstrafe außer Betracht zu lassen, die für die Straftat verhängt worden ist, die den Anlass für die Ausweisung bildet?

3. Falls Fragen 1 und 2 verneint werden: Nach welchen Kriterien ist zu bestimmen, ob der betroffene Unionsbürger in einem solchen Fall dennoch in den Genuss des Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 kommt?

4. Falls Fragen 1 und 2 verneint werden: Gibt es zwingende unionsrechtliche Vorgaben für die Bestimmung des „genauen Zeitpunkts, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt“ und zu dem eine umfassende Beurteilung der Situation des betroffenen Unionsbürgers vorzunehmen ist, um zu prüfen, inwieweit die Diskontinuität des Aufenthalts in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen diesen daran hindert, in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes zu kommen?

Gründe

 
I.
Der Kläger ist griechischer Staatsangehöriger. Er verfügt in Deutschland über ein Daueraufenthaltsrecht (§ 4a FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 ff. Richtlinie 2004/38/EG). Er klagt gegen die mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 25. November 2014 auf der Grundlage des § 6 FreizügG/EU verfügte Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (sog. Verlustfeststellung). Diese Maßnahme stellt die Ausweisung im Sinne des Art. 28 der Richtlinie 2004/38 vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl EU Nr. L 158 vom 30. April 2004 S. 77, Berichtigung ABl EU vom 29. Juni 2004 Nr. L 229 S. 35), dar.
Der Kläger ist im Oktober 1989 in Griechenland geboren. Nach der Trennung seiner Eltern reiste er im Jahre 1993 im Alter von drei Jahren gemeinsam mit seiner Mutter nach Deutschland. Hier lebten bereits seit 1989 seine Großeltern mütterlicherseits als Arbeitnehmer. Sie sind mittlerweile Rentner. Die Mutter des Klägers arbeitet seit 1993 im Bundesgebiet. Sie bezog zu keinem Zeitpunkt für sich oder den Kläger Sozialhilfe. Sie besitzt neben der griechischen inzwischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Tante des Kläger legte in Deutschland das Abitur ab. Nach Studium und Arbeitsaufenthalt in Griechenland zwischen den Jahren 1997 bis 2010 kehrte sie nach Deutschland zurück und ist hier erwerbstätig.
Der Kläger wurde von seinem Vater im Alter von acht Jahren gegen den Willen seiner Mutter absprachewidrig für zwei Monate nach Griechenland geholt und konnte erst nach Einschaltung der zuständigen staatlichen Stellen wieder nach Deutschland kommen. Abgesehen von dieser Zeit und kurzfristigen Urlaubsreisen innerhalb Deutschlands und in das Ausland während der Schulferien hält sich der Kläger seit dem Jahre 1993 bis heute ununterbrochen in xxx und Umgebung auf. Dies gilt auch für seine Mutter und die weiteren Familienangehörigen.
Der Kläger besuchte den Kindergarten und die Schule. Er erreichte 2006 den Hauptschulabschluss, der in der Bundesrepublik Deutschland eine wesentliche Grundlage jeder weiteren schulischen oder beruflichen Ausbildung ist. Er beherrscht dementsprechend die deutsche Sprache. Seine Fähigkeiten in Griechisch beschränken sich darauf, sich in gebrochener Sprache mündlich zu verständigen. Trotz Förder- und Berufsbildungsmaßnahmen gelang es ihm in der Folgezeit nicht, eine Ausbildung zu absolvieren. Grund sind Verhaltensauffälligkeiten. Beim Kläger liegt eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor. Außerdem leidet er seit seiner Kindheit an einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Er nimmt nach wie vor das Medikament „Ritalin“ (Arzneistoff: Methylphenidat). Während seiner Schulzeit erhielt er therapeutische Maßnahmen wie Ergotherapie, Verhaltenstherapie und Gespräche bei einem Psychologen. Auch nach seiner Schulzeit wurde er immer wieder therapeutisch behandelt, unter anderem im April 2011 mehrere Wochen in einer psychiatrischen Tagesklinik.
Der Kläger spielte Keyboard in einer Schulband, war ab dem Jahre 2000 bei den Pfadfindern und bis zum 17. Lebensjahr bei der Freiwilligen Feuerwehr (Jugendfeuerwehr). Ferner spielte er Fußball in einem Sportverein. Mitglieder des Vereins waren vorwiegend türkischstämmige Migranten. Während seiner Schulzeit war der Kläger aufgrund der Berufstätigkeit seiner Mutter nach Ende des Unterrichts nachmittags und während der Ferien in einer Betreuungseinrichtung. Als Kind und Jugendlicher unternahm er gemeinsam mit anderen jungen Menschen dieser Gruppe unter pädagogischer Leitung auch Ausflüge und Fahrten. Aktivitäten, an denen der Kläger teilnahm, waren etwa Zelten, Wildwassersurfen, Snowboardfahren in Bayern oder Kanufahren am Lago Maggiore.
Der Kläger lebte bis Juni 2012 gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in häuslicher Gemeinschaft. Der Stiefvater des Klägers ist in Deutschland geboren und hat die griechische und die deutsche Staatsangehörigkeit. Die beiden Stiefbrüder des Klägers studieren in Deutschland. Der Kläger bezog im Juni/Juli 2012 ein kleines Appartement. Mahlzeiten nahm er jedoch auch danach teilweise bei seiner Mutter, seiner Tante oder den Großeltern ein. Seine Mutter sorgte bei Bedarf auch für seinen Lebensunterhalt, indem sie etwa die Miete oder Lebensmittel für ihn bezahlte. Der Kläger arbeitete zuletzt im November und Dezember 2012 bei einem Online-Versandhändler. Danach war er arbeitslos.
Ende August 2012 nahm der Kläger ein Handy, das im nicht gehörte, in seinen Besitz. Als die Eigentümerin des Handys die Rückgabe des Mobiltelefons von ihm verlangte, bedrohte er sie. Einige Tage später forderte er von ihr die Zahlung von 300 Euro, sonst würde er die Nacktbilder von ihr, die sich auf dem Handy befanden, im Internet veröffentlichen. Zur Zahlung des Geldes kam es nicht. Wegen dieser Straftaten und des Besitzes eines Schlagrings erließ das Amtsgericht Pforzheim am 7. November 2012 einen Strafbefehl und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen wegen Unterschlagung, Nötigung, versuchter Erpressung und vorsätzlichen unerlaubten Besitzes einer verbotenen Waffe. Der Kläger akzeptierte diesen Strafbefehl und hatte deswegen einschließlich der Verfahrenskosten einen Betrag in Höhe von etwa 3.000 Euro zu zahlen.
Da der Kläger finanzielle Probleme hatte und insbesondere das Geld nicht besaß, um die Geldstrafe zu bezahlen, beschloss er, sich durch den Überfall einer Spielhalle Geld zu verschaffen. Am 10. April 2013 betrat er am späten Abend in Motorradkleidung eine Spielhalle. Er hatte das dunkle Visier des Motorradhelms heruntergeklappt. Er führte eine voll funktionsfähige und mit Gummischrot geladene Pistole mit sich. Die Waffe hatte er sich illegal durch einen Bekannten beschafft. Zu diesem Zeitpunkt waren keine anderen Gäste mehr anwesend, sondern nur noch eine weibliche Angestellte. Dies wusste der Kläger. Er bedrohte die junge Frau, in dem er ihr die Waffe im Abstand von etwa 10 bis 20 cm an den Kopf hielt. Er veranlasste sie auf diese Weise, ihm insgesamt 4.200 Euro zu übergeben. Die Angestellte war durch die Tat geschockt, konnte aber nach drei Tagen jedenfalls wieder tagsüber arbeiten. Die Verhaftung des Klägers erfolgte bereits zwei Tage nach der Tat. Er hatte in der Spielhalle eine mitgebrachte Pizzaschachtel zurückgelassen. Die darauf befindlichen Fingerabrücke führten zu seiner Identifizierung.
Das Landgericht Karlsruhe verurteilte den Kläger am 9. Dezember 2013 wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen einer Schusswaffe und vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Munition zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten. Das Landgericht hatte einen Facharzt für Psychiatrie als Gutachter hinzugezogen und aufgrund dessen Begutachtung festgestellt, dass der Kläger bei der Tat voll schuldfähig gewesen war. Die Rechtskraft des Strafurteils trat am 1. Mai 2014 ein, nachdem der Bundesgerichtshof die vom Kläger gegen das Urteil des Landgerichts eingelegte Revision als unbegründet verworfen hatte.
10 
Der Kläger befindet sich seit 12. April 2013 bis heute ununterbrochen in Haft, zunächst in Untersuchungshaft und seit 1. Mai 2014 in Strafhaft. Die Untersuchungshaft war von 15. Mai 2013 bis 12. August 2013 unterbrochen, weil der Kläger in dieser Zeit die mit Strafbefehl vom November 2012 verhängte Geldstrafe im Wege der Ersatzfreiheitsstrafe verbüßte.
11 
Die Justizvollzugsanstalt erstellte unter Einbeziehung von fachärztlichen und psychologischen Äußerungen mehrere Berichte über den Kläger, unter anderem am 31. August 2015 und 17. März 2016. In den Berichten heißt es insbesondere: Der Kläger sei nach wie vor unreif. Die bei ihm seit seiner Kindheit bestehenden Verhaltensauffälligkeiten setzten sich während des bisherigen Strafvollzugsverlaufs ohne Besserungen fort. Er habe sich bislang mit seiner Straftat nicht hinreichend auseinandergesetzt. Er zeichne sich auch gegenwärtig unter anderem durch Rechthaberei, Uneinsichtigkeit, geringe Akzeptanz der Regeln und Grenzen, langsames Arbeitstempo und provokantes Verhalten aus. Er suche bei Problemen keine Ursache bei sich, sondern immer nur bei anderen. Mehrere diagnostische und therapeutische Maßnahmen seien in der Vergangenheit an der fehlenden Mitwirkung des Klägers gescheitert. Ohne eine umfassende sozialtherapeutische Behandlung bestehe nach fachärztlicher Prognose die Gefahr, dass er nach Entlassung aus der Haft neue erhebliche Straftaten begehe.
12 
Der Kläger wird in der Haftanstalt von seiner Mutter, seinen Großeltern, seinem Stiefvater und seiner Tante so oft, wie dies nach den geltenden Regeln möglich ist, besucht. Zusätzlich unterhält er mit diesen regelmäßige briefliche und telefonische Kontakte.
13 
Nach vorheriger Anhörung des Klägers stellte die zuständige Ausländerbehörde, das Regierungspräsidium Karlsruhe, mit Bescheid vom 25. November 2014 den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland fest. Es befristete die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben Jahre nach Verlassen des Bundesgebietes. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einem Monat nach Rechtskraft der Verlustfeststellung zu verlassen. Für den Fall der Nichtausreise wurde ihm die Abschiebung nach Griechenland angedroht. Die Behörde begründete im Einzelnen, weshalb die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG vorliegen und weshalb sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die auch verhältnismäßige Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet im Wege einer Ermessensentscheidung verfügt hat.
14 
Auf die Klage des Klägers hob das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Urteil vom 10. September 2015 die Verlustfeststellung auf und ließ wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung zu. Das beklagte Land Baden-Württemberg verteidigt in seiner fristgerecht eingelegten und auch im Übrigen zulässigen Berufung die Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung.
15 
Der Kläger macht im gerichtlichen Verfahren geltend, dass die von ihm begangene Straftat aufgrund ihrer konkreten Merkmale nicht der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG unterfalle. Auf die materielle Schutznorm des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG könne er sich berufen. Er halte sich seitdem er drei Jahre alt sei ununterbrochen in Deutschland auf. Er sei hier von Kindheit an vollständig sozialisiert worden und integriert. Mit Griechenland verbinde ihn nur seine Staatsangehörigkeit. Er könne weder Griechisch schreiben noch lesen und seine mündlichen Fähigkeiten seien schlecht. Mit seinem Vater telefoniere er zwei Mal im Jahr. Ansonsten habe er keine Kontakte nach Griechenland. Im Fall eines schon als kleines Kind eingereisten Unionsbürgers, der erstmals als (junger) Erwachsener - wie er im Alter von 23 Jahren - eine Straftat begehe, dürfe eine Haftstrafe von vornherein nicht dazu führen, dass ihm nunmehr der Schutz der Zehn-Jahres-Frist nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG abgesprochen werden könnte. Außerdem habe er jetzt begonnen an seinem Verhalten zu arbeiten. Er nehme seit kurzem die Möglichkeiten zu einer Berufsausbildung in der Justizvollzugsanstalt wahr. Die theoretische Prüfung für den Gabelstaplerführerschein habe er schon bestanden. Er habe auch ab Ende April 2016 erneut einen Platz zur Diagnostik in der Sozialtherapeutischen Abteilung einer hierauf spezialisierten Justizvollzugsanstalt bekommen.
II.
16 
Der Senat setzt den Rechtsstreit aus, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) zu den im Tenor formulierten Fragen einzuholen. Die Fragen betreffen die Auslegung von Unionsrecht, insbesondere Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38/EG.
17 
1. Für die gerichtliche Überprüfung der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalts eines Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ist nach nationalem Recht grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend. Die Entscheidungserheblichkeit dieses Zeitpunktes folgt aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2005 (1 C 30.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:030804U1C30.02.0] - BVerwGE 121, 297 ff.), das sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (C-482/01 und C-493/01 - [ECLI:EU:C:2004:262] -) stützt. Mit der Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts weg von dem der letzten Behördenentscheidung hin zu derjenigen der zeitlich späteren Gerichtsentscheidung ist insbesondere sichergestellt, dass für die Prognose einer vom Unionsbürger ausgehenden Gefahr und für die an den Grund- und Menschenrechten zu orientierenden Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme eine aktuelle Tatsachengrundlage berücksichtigt wird. Damit wird etwa einer nachträglichen Verminderung der Gefährdung durch den Unionsbürger zu Gunsten seiner Freizügigkeit Rechnung getragen (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, a.a.O., Rn. 77 ff.).
18 
Die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit richtet sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1722). Die hier einschlägigen Regelungen sind seit 28. August 2007 in Kraft (BGBl. I S. 1970). Auf spätere Änderungen des nationalen Rechts kommt es hier nicht an.
19 
Folgende nationale Regelungen bilden den rechtlichen Rahmen dieses Rechtsstreits:
20 
§ 6 Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
(1) Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 kann unbeschadet des § 2 Absatz 7 und des § 5 Absatz 4 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Artikel 45 Absatz 3, Artikel 52 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) festgestellt und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte eingezogen werden. Aus den in Satz 1 genannten Gründen kann auch die Einreise verweigert werden. Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn es sich um Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten handelt, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen im Bundesgebiet getroffen werden, und wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt.
(2) Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Absatz 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
(3) Bei der Entscheidung nach Absatz 1 sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
(4) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden.
(5) Eine Feststellung nach Absatz 1 darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Für Minderjährige gilt dies nicht, wenn der Verlust des Aufenthaltsrechts zum Wohl des Kindes notwendig ist. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
(6) bis (8) …..
21 
Die Regelungen in § 6 FreizügG/EU dienen unter anderem der Umsetzung von Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG (vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, Bundestagsdrucksache 16/5065 vom 13. April 2007, S. 211). Dieser lautet wie folgt:
22 
Art. 28 Schutz vor Ausweisung
(1) Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.
(2) Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.
(3) Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie
a) ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder
b) …..
23 
2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen einer Klärung durch den Gerichtshof. Nach den Feststellungen des Senats liegen die für eine Verlustfeststellung § 6 Abs. 5 FreizügG/EU i.V.m. Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 nach zehnjährigem Aufenthalt erforderlichen zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht vor.
24 
Gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist die rechtskräftige Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren eine Fallgruppe, bei der eine Verlustfeststellung aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit in Betracht kommt. Die vorliegende Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu fünf Jahren und acht Monaten ist damit über der Mindesthöhe der strafrechtlichen Verurteilung, ab der nach dem nationalen Recht die Prüfung einer Verlustfeststellung insoweit überhaupt erst in Frage kommt.
25 
Diese Fallgruppe stellt nur auf die tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe wegen einer Vorsatztat ab. Sie nimmt keine Verknüpfung mit einem bestimmten Delikt oder einer bestimmten Gruppe von Straftaten vor. Um den unionsrechtlichen Anforderungen der Bestimmung und Auslegung der öffentlichen Sicherheit zu genügen und gleichzeitig auch eine hinreichende Abgrenzung zur öffentlichen Ordnung sicher zu stellen, bedarf es im nationalen Recht stets noch einer Einzelfallwürdigung, ob aus der Straftat selbst zu schließen ist, dass der Betroffene in Zukunft eine Gefahr für die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9. April 2009 - 13 S 342/09 -, juris Rn. 21 ; OVG Saarland, Urteil vom 30. April 2015 - 2 A 265/14 -, UA S. 23 ff.; Hoppe, in: HTK AuslR, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU 03/2016 Nr. 3.2. und 3.3.; Cziersky-Reis, in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl., 2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 42 ff.; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl., 2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 63). Dies ist im Fall des Klägers zu verneinen.
26 
Der EuGH hat entschieden, dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 [ECLI:EU:C:2010:708] - Rn. 45 m.w.N.; im Folgenden: Tsakouridis). Die Tat des Klägers hat offensichtlich keinen Bezug hierzu.
27 
Zwar können nach Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Tsakouridis (im Einzelnen Rn. 46 ff.) und P.I. (näher Urteil vom 22. Mai 2012 - C-348/09 [ECLI:EU:C:2012:300] - Rn. 21 ff.; im Folgenden: P.I.) auch Straftaten im Bereich besonders schwerer Kriminalität (wie etwa die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV genannten Delikte Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität) eine Bedrohung für die Sicherheit des Mitgliedstaats sein. Zudem dürfte es nicht ausgeschlossen sein, jenseits potentiell grenzüberschreitender oder in irgendeiner Form organisierter Straftaten auch Delikte, die den von elementaren menschenrechtlichen Wertvorstellungen geprägten Kernbestand des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes betreffen (so OVG Saarland, Urteil vom 30. April 2015 - 2 A 265/14 -, UA S. 25 bzgl. Mord), im Einzelfall als besonders schwerwiegende Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 fallen können, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist.
28 
Keine dieser Voraussetzungen ist im Fall des Klägers erfüllt. Es handelte sich vielmehr um eine singuläre Tat, die ihren Ursprung in einer diffusen Lebenslage einer Einzelperson hat. Sie war nicht Teil einer komplexen Kriminalität und auch nicht in einen Organisationszusammenhang krimineller Machenschaften und Milieus eingebettet. Sie führte zu einem Vermögensschaden von etwa 4.200 Euro, wobei diese Beute aber zum größten Teil schon kurze Zeit später wieder aufgefunden werden konnte. Die Tat war in ihren Wirkungen begrenzt. Ein Gefährdungspotential für die Allgemeinheit bestand zu keinem Zeitpunkt. Ort und Zeit des Überfalls waren im Voraus so bestimmt, dass keine weiteren unbeteiligten Personen außer der Angestellten der Spielhalle am Tatort anwesend waren. Diese war auch nicht unmittelbar physisch zu Schaden gekommen.
29 
Sofern der Kläger über den besonderen Ausweisungsschutz wegen eines mindestens zehnjährigen Aufenthalts verfügt, müsste die Verlustfeststellung aufgehoben werden. Hätte der Kläger nicht mehr den höchsten Ausweisungsschutz für einen Unionsbürger, könnte die Verlustfeststellung nach dem vorliegenden Sachverhalt allerdings wegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Ordnung auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 und 4 FreizügG/EU i.V.m. Art. 28 Abs. 2 Richtlinie 2004/38 aufrechterhalten werden.
30 
3. Zur ersten Vorlagefrage
Nach der Konzeption des Ausweisungsschutzes des Art. 28 der Richtlinie 2004/38 besteht ein dreistufiges System aufeinander aufbauender Schutzstufen, die Ausfluss der fortschreitenden Integration des Unionsbürgers sind. Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte (vgl. auch den ursprünglichen Kommissionsentwurf KOM/2001/0257 endg. - COD 2001/0111, ABl Nr. 270 E vom 25.09.2001, S. 0150 -0160) dieser Regelung und die Erwägungsgründe 23 und 24 verdeutlichen, dass eine Ausweisung ab Eintritt der dritten Stufe des Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) nur noch in ganz engen Grenzen erfolgen darf (siehe hierzu ausführlich Guild/Peers/Tomkin, The EU Citizenship Directive, A Commentary, 2014, S. 267 ff., 276 ff.).
31 
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die mit der Richtlinie 2004/38 geschaffene Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen auf das Maß der Integration der betroffenen Person im Aufnahmemitgliedstaat gestützt, so dass dieser Schutz umso stärker ist, je besser der Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat integriert ist (Tsakouridis, Rn. 24 f.; Urteil vom 16. Januar 2014 - C-400/12 [ECLI:EU:C:2014:9] - Rn. 30 f.; im Folgenden: M.G.).
32 
Im Verfahren P.I. hat der Generalanwalt ausgeführt, Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 enthalte eine nach zehnjährigem Aufenthalt vermutete Integration, die im konkreten Fall aufgrund der während dieses Zeitraums begangenen schwerwiegenden Straftat zu verneinen sei (Schlussanträge des Generalanwalts Bot [ECLI:EU:C:2012:123] vom 6. März 2012, Rn. 55 ff.). Der EuGH hat in seinem Urteil vom 22. Mai 2012 diese Argumentation nicht aufgegriffen (vgl. auch Guild/Peers/ Tomkin, a.a.O, S. 268). Er hat vielmehr angenommen, auch Straftaten im Bereich besonders schwerer Kriminalität - wie die in Artikel 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV genannten - könnten zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit begründen.
33 
Im Verfahren M.G. hat der EuGH nunmehr festgestellt, dass Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe grundsätzlich die Kontinuität des für die Gewährung des verstärkten Schutzes erforderlichen Aufenthalts im Sinne von Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 unterbrechen (M.G., Rn. 30 ff. - auch unter Anknüpfung an Überlegungen aus dem Urteil vom 16. Januar 2014 - C-378/12 [E-CLI:EU:C:2014:13] - Rn. 25 f.; vgl. zu den Konsequenzen dieser Rechtsprechung Hoppe, HTK AuslR, § 6 Abs. 5 FreizügG/EU 03/2016 Nr. 2.1).
34 
Im Fall M.G. war die von der Ausweisung Betroffene erst als Erwachsene in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist. Auch im Fall Tsakouridis hatte der Betreffende als Erwachsener nach wie vor Bindungen an den Herkunftsstaat (Aufenthalt und Erwerbstätigkeit dort).
35 
Der vorliegende Fall und insbesondere die persönliche Entwicklung und Situation des Klägers (siehe oben unter I.) unterscheiden sich jedoch grundlegend von den Sachverhalten, die den vorgenannten Entscheidungen zugrunde liegen. Der Kläger lebt seit seiner Einreise in frühester Kindheit bis heute im Aufnahmemitgliedstaat. Seine kurzzeitigen Urlaubsreisen lassen seinen Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet unberührt. Seine komplette Sozialisation ist ausschließlich in Deutschland erfolgt. Hier hat er sich vollständig in das gesellschaftliche Leben integriert. Ferner hat er keinerlei tragfähige Anknüpfungspunkte mehr an seinen Herkunftsstaat. Die Straftat ist zudem nicht Ausdruck einer zunehmend die Rechtsordnung missachtenden und sich von der deutschen Gesellschaft und ihren grundlegenden Werten entfernenden Haltung. Letzteres wäre zum Beispiel der Fall, wenn sich der Kläger unter Abwendung von der Gesellschaft und typischerweise auch der Familie radikalisiert hätte. Der nach etwa 20jährigem Aufenthalt begangene Überfall im April 2013 und die dem als Anlass vorausgehende Verurteilung unter anderem wegen der Aneignung eines Handys einige Monate zuvor sind auch im Zusammenhang mit der dissozialen Persönlichkeit und der Unreife des Klägers zu sehen. So hält die Dokumentation der Justizvollzugsanstalt zu den psychologischen Daten des Klägers am 5. August 2014 (Band III der Gefangenenpersonalakten) unter anderem fest: „Im Gesamtbild wirkt er völlig unreif, keinesfalls einem 25jährigen entsprechend, sondern eher einem 17-jährigen….Er ist mit großer Wahrscheinlichkeit kein Schlägertyp, sondern vielmehr ein Angeber und eher ein Angsthase und träumt vielleicht davon ein „großer Starker“ zu sein.“
36 
Nach Auffassung des Senats ist der personelle Anwendungsbereich des besonderen Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 in einem Fall wie dem des Klägers, der im Aufnahmemitgliedstaat fest „verwurzelt“ ist, von vornherein keiner restriktiven Bestimmung zugänglich. Dass starke Bindungen an den Aufnahmemitgliedstaat durch Strafhaft nicht reduziert werden, findet sich auch in der Rechtsprechung des Europäisches Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Beschluss vom 19. März 2013 - Nr. 45971/08 - Rn. 26, FamRZ 2014, 367). Im Übrigen ist durch den EuGH - wenn auch in anderem Kontext - entschieden, dass aufgrund fortgeschrittener Integration in den Aufnahmemitgliedstaat bereits erworbene (Aufenthalts-)rechte durch den Vollzug einer Freiheitsstrafe nicht verloren gehen (EuGH, Urteil vom 16. Februar 2006 - C-502/04 [ECLI:EU:C:2006:112] - Rn. 18 ff., insb. Rn. 26 zu Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates; vgl. ferner Urteil vom 7. Juli 2005 - C-373/03 [ECLI:EU:C:2005:434] -Rn. 28 zu Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates).
37 
Davon ausgehend ist der Senat der Überzeugung, dass im Fall einer festen Verwurzelung im Aufnahmemitgliedstaat bei gleichzeitig fehlendem tatsächlichen Bezug zum Heimatstaat die Verbüßung von Strafhaft die Integrationsverbindung nicht abreißen lassen kann. Die gegenteilige Auffassung führte dazu, dass es Unionsbürger geben könnte, denen die Integrationsverbindungen zum Aufnahmemitgliedstaat aus rechtlichen Gründen abgesprochen werden, während sie zu ihrem Heimatmitgliedstaat tatsächlich keine Integrationsverbindungen aufgebaut haben.
38 
4. Zur zweiten Vorlagefrage
Der Senat ist der Ansicht, dass diese Frage zu bejahen wäre. Der hohe Ausweisungsschutz auf der letzten Stufe des Art. 28 der Richtlinie 2004/38 würde seine intendierte Wirksamkeit verlieren, wenn bei einem zehnjährigen rechtmäßigen Aufenthalt die Verhängung und der Vollzug einer nach diesem Zeitraum begangenen Straftat, die Anlass für die Ausweisung ist, gleichzeitig als Beleg für die Unterbrechung der Kontinuität des Aufenthalts durch ein Abreißen der Integrationsverbindungen anzusehen wäre. Dies gilt insbesondere dann, wenn - wie in Deutschland - nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats die Verlustfeststellung nur aufgrund einer verwaltungsrechtlichen Entscheidung der Ausländerbehörde ergehen kann, die ihrerseits die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe voraussetzt und die Strafhöhe mit fünf Jahren Freiheitsstrafe nach nationalem Recht bedingt, dass sich der Betreffende in Strafhaft befindet. Nach dem deutschen Recht kann die Vollstreckung nur bei Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden (§ 56 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs). Der Unionsbürger befindet sich also zu dem Zeitpunkt, zu dem die Verlustfeststellung verfügt wird, grundsätzlich in Strafhaft.
39 
Bei einer derartigen Ausgestaltung des nationalen Rechts, die unionsrechtlich zulässig ist, käme der Betroffene nie in den Genuss des erhöhten Ausweisungsschutzes, obwohl Ausweisungsschutz ja gerade für eine Person konzipiert ist, die sich nicht rechtstreu verhält und - von der Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 als typisch vorausgesetzt - in ganz besonderem Maße straffällig geworden ist (vgl. hierzu auch Guild/Peers/Tomkin, a.a.O., S. 278; Azoulai, The (Mis)Construction of the European Individual, EUI Working Papers LAW 2014/14, insb. S. 15 ff.).
40 
Die Möglichkeit, den erhöhten Ausweisungsschutz nur dann zu bejahen, wenn im Einzelfall eine Integrationsprüfung im Verwaltungsverfahren für seinen Fortbestand streitet, erachtet der Senat nicht für zielführend. Dies trägt dem Schutzgedanken des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 nicht in dem gebotenen Maße Rechnung.
41 
Zu einem wohnt einer solchen Prüfung zwangsläufig eine Rechtsunsicherheit inne, weil Integration etwas Tatsächliches ist, das nicht rechtlich einheitlich determiniert ist (vgl. insbesondere Azoulai, a.a.O., S. 4 ff.). Zum anderen sind die Bindungen des Betroffenen, die unter anderem seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat einschließen, nach Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 unabhängig von der erreichten Stufe des Ausweisungsschutzes vor jeder Verfügung einer Ausweisung zu prüfen. Eine doppelte Integrationsprüfung im Rahmen einer einzigen Ausweisungsentscheidung entspricht nicht der Intention der Richtlinie.
42 
Im Übrigen würde die Notwendigkeit der Prüfung des Fortbestands der Integration im Rahmen des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 dazu führen, dass Unionsbürger, deren Ausweisung aufgrund einer - der schon andauernden Strafvollstreckung nachfolgenden -Verwaltungsentscheidung verfügt wird, ohne sachlichen Grund gegenüber Unionsbürgern benachteiligt werden, die in einem Mitgliedstaat leben, der die Ausweisung im Wege der Strafe oder Nebenstrafe erlässt (vgl. Art. 33 der Richtlinie 2004/38 sowie auch unten zur vierten Vorlagefrage). Im Zeitpunkt der Verhängung der (Neben-) Strafe der Ausweisung dürfte es regelmäßig an einem Vollzug einer Freiheitsstrafe fehlen, so dass der Ausweisungsschutz schon im Ansatz keiner entsprechenden Relativierung zugänglich ist. Da die Richtlinie 2004/38 aber beide Verfahrensmöglichkeiten für eine Ausweisung gleichermaßen zulässt, steht Unionsrecht insoweit der Geltung unterschiedlicher materieller Schutzstandards entgegen.
43 
Schließlich kann es Gründe für eine Ausweisung geben, die von einer Freiheitsstrafe und deren Vollzug unabhängig sind und solches nicht voraussetzen, etwa wenn der Betreffende gegen gewichtige außenpolitische Interessen des Mitgliedstaats agiert. Eine Relativierung der Zehnjahresfrist je nach Art des Ausweisungsanlasses ist im Schutzkonzept des Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 aber nicht angelegt.
44 
5. Zur dritten Vorlagefrage
Aus dem Urteil Tsakouridis (Rn. 32 bis 34) ergibt sich, dass das ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) Richtlinie 2004/38, nämlich ob sich ein Unionsbürger in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, zu verneinen ist, wenn die zuvor mit diesem geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind. Dies setzt dem Urteil zufolge eine umfassende Beurteilung unter Einbeziehung aller in jedem Einzelfall relevanten Umstände voraus, insbesondere die Dauer jeder einzelnen Abwesenheit des Betroffenen vom Aufnahmemitgliedstaat, die Gesamtdauer und die Häufigkeit der Abwesenheiten sowie die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, diesen Mitgliedstaat zu verlassen. Zu prüfen ist nämlich, ob die fraglichen Abwesenheiten bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen des Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert hat. Auch nennt der EuGH als einen zu berücksichtigenden Umstand noch „die im Gefängnis verbrachte Zeit“ (a.a.O., Rn. 34).
45 
Der Gerichtshof bezieht sich im Urteil M.G. (Rn. 36) für die gebotene umfassende Beurteilung, ob die Integrationsverbindungen mit dem Aufnahmemitgliedstaat abgerissen sind, auf die vorstehenden Ausführungen unter Randnummer 34 des Urteils Tsakouridis. Die dort genannten Umstände sind jedoch auf einen Fall bezogen, indem der Betreffende mehrfach den Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich verlassen hatte und in dem Land seiner Staatsangehörigkeit auch selbstständig berufstätig gewesen war, weshalb sich dann auch die vom Gerichtshof erörterte Frage einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes in einen anderen Mitgliedstaat stellte. Sie passen nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nicht, auch nicht entsprechend, für die Prüfung, ob trotz Verbüßung einer Freiheitsstrafe der Betreffende noch in den Genuss des besonderen Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) Richtlinie 2004/38 kommen kann.
46 
Während das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) des Vereinten Königreiches bei der Prüfung, ob auch in Ansehung der Haft die Integrationsverbindungen dennoch in einer Weise bestehen, dass der Betroffene in den Genuss des verstärkten Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie kommt, eine Abwägungsentscheidung unter Berücksichtigung aller für und gegen den Betreffenden sprechenden Gesichtspunkte aus seinem bisherigen Leben vornimmt und sich dabei wohl methodisch an Art. 8 EMRK bzw. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 anlehnt (vgl. MG(prison-Article 28(3) (a) of Citizens Directive) Portugal [2014] UKUT 00392 (IAC); Entscheidung vom 18. September 2015 - Appeal Number DA/00115/2015), ist der Senat der Auffassung, dass es - sofern man eine Unterbrechung durch Haft überhaupt für relevant erachtet - der Feststellung von Kriterien bedarf, die auf die Strafhaft bezogen sind, um feststellen zu können, ob ausnahmsweise keine Unterbrechung der Integrationsverbindungen eintritt. Denn nach den Ausführungen des EuGH im Urteil M.G. ist nicht die Straftat als solche der Grund für die Diskontinuität, sondern die Strafhaft.
47 
Strafhaft umfasst nicht die Untersuchungshaft per se und auch nicht die Ersatzfreiheitsstrafe, die verhängt wird, weil eine Geldstrafe nicht bezahlt wird. Nach dem ab 1. Januar 1977 geltenden Strafvollzugsgesetz des Bundes - StVollzG - (BGBl I S. 581) und dem Justizvollzugsgesetzbuch für Baden-Württemberg - JVollzGB - vom 10. November 2009 (GBl. S. 545) bedeutet Strafhaft in Deutschland nicht, dass der Betreffende „weggesperrt“ wird und außerhalb der Gesellschaft steht. Ungeachtet dessen, dass Strafhaft aus Gründen des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit und der Generalprävention erfolgt, sind wesentliche Grundsätze des nationalen Strafvollzugs aber auch, dass das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen wird und im Vollzug der Freiheitsstrafe der Gefangene fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (vgl. §§ 1, 2 JVollzGB Buch 3; ebenso §§ 2, 3 StVollzG).
48 
Diese Prinzipien und die konkrete Gestaltung des Strafvollzugs sind durch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und die Grundrechte, insbesondere die Achtung der Menschenwürde und die Wahrung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, determiniert (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 18. März 2015 - 2 BvR 1111/13 -, juris Rn. 30 ff.).
49 
Das Strafvollzugsrecht geht auch davon aus, dass der Gefangene an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugsziels mitwirkt (§ 3 JVollzGB Buch 3; § 4 StVollzG). Für den Ablauf des Vollzugs wird ein Vollzugsplan erstellt, der mit dem Gefangenen zu erörtern ist, und der in regelmäßigen Abständen zu überprüfen ist (§ 5 JVollzGB Buch 3; § 7 StVollzG). Arbeit, arbeitstherapeutische Beschäftigung, Ausbildung und Weiterbildung einschließlich der Möglichkeit, anerkannte Schulabschlüsse zu erreichen, dienen insbesondere dem Ziel, Fähigkeiten für eine Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern (im Einzelnen §§ 42 ff. JVollzGB Buch 3; §§ 37 ff. StVollzG). Der deutsche Strafvollzug kennt ferner die Möglichkeit einer Unterbringung im offenen Vollzug, Lockerungen im Strafvollzug wie insbesondere die Berufstätigkeit außerhalb der Strafanstalt mit oder ohne Aufsicht, Ausgang oder Urlaub aus der Haft; sozialtherapeutische Einrichtungen sind auf Gefangene ausgerichtet, die zur Resozialisierung besonderer therapeutischer Mittel und sozialer Hilfen bedürfen (vgl. §§ 7 ff. JVollzGB Buch 3; §§ 10 ff. StVollzG). Besuch, Telekommunikation und Schriftwechsel dienen der Pflege der sozialen Beziehungen des Gefangenen (§§ 19 ff. JVollzGB Buch 3; §§ 23 ff. StVollzG).
50 
Ausgehend hiervon kommen nach Auffassung des Senats neben der Dauer der Strafhaft vor allem folgende Kriterien in Betracht: Art des Vollzugs, Auseinandersetzung mit und Aufarbeitung der Straftat, allgemeines Verhalten im Vollzug, Annahme und Durchführung von therapeutischen Angeboten, die seitens der Justizvollzugsanstalt befürwortet werden, Arbeitseinsatz, Teilnahme an Maßnahmen der schulischen Bildung und der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Mitwirkung beim Vollzugsplan und der Erreichung der Ziele nach dem Vollzugsplan sowie Aufrechterhaltung von persönlichen und familiären Bindungen im Aufnahmemitgliedstaat.
51 
6. Zur vierten Vorlagefrage
Der EuGH erachtet im Urteil M.G. (Rn. 35) für die Frage, inwieweit die Diskontinuität des Aufenthalts in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung des Betroffenen diesen daran hindert, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen jeweils zu dem „genauen Zeitpunkt, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt“ für maßgeblich.
52 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergeben sich weder aus dem nationalen Recht noch aus Unionsrecht Vorgaben für den Zeitpunkt, zu dem die Behörde die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ausspricht (BVerwG, Beschluss vom 11. September 2015 - 1 B 39/15 [ECLI:DE:BVerwG:2015:110915B1B39.15.0] - Rn. 21, InfAuslR 2016, 1). Das BVerwG weist unter Bezugnahme auf M.G. (Rn. 35) und Tsakouridis (Rn. 32) darauf hin, dass dem EuGH zufolge eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen sei, zu dem sich die Frage der Ausweisung stelle und dass sich aus dieser Rechtsprechung (Tsakouridis Rn. 12 f.; ähnlich P.I. Rn. 10 f.) zudem ergebe, dass der EuGH keine Einwände gegen eine Verlustfeststellung nach Verbüßung von weniger als zwei Jahren einer auf insgesamt sechs Jahre und sechs Monate festgesetzten Haftstrafe erhoben habe. Legt man dies zugrunde, so kann dies zu folgenden Konsequenzen führen:
53 
Erlässt die Ausländerbehörde sehr zeitnah die Verlustfeststellung, ist die Dauer der Strafhaft möglicherweise noch relativ kurz. Wartet sie hingegen zunächst die Entwicklung des Unionsbürgers im Strafvollzug ab, z. B. weil er dort eine Therapie aufgenommen hat, kann dies einerseits zu seinen Gunsten wirken, weil ggfs. eine Verminderung der von ihm ausgehenden Gefahr eintritt. Ein vorläufiges Abwarten der Ausländerbehörde kann sich aber auch zum Nachteil des Unionsbürgers auswirken, weil dann die Dauer der in Strafhaft verbrachten Zeit, die der EuGH als ein Kriterium im Rahmen der Prüfung des Abreißens der mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen ansieht, zunimmt.
54 
Denkbar wäre ferner in Anknüpfung an die Entscheidung Orfanopoulos und Oliveri (Rn. 77 ff.), sogar stets als maßgebenden Zeitpunkt auch für die Frage, ob sich ein Unionsbürger auf den Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 berufen kann, denjenigen der mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Tatsachengerichts anzusehen (so OVG Saarland, Urteil vom 30. April 2015 - 2 A 265/14 -, UA S. 21 ff.).
55 
Da der Betroffene die Dauer eines gerichtlichen Verfahrens nicht in der Hand hat, kann ein längerer Zeitraum zwischen dem Erlass der Ausweisungsverfügung und der Beurteilung dieser Verfügung durch das zuständige Gericht zur Folge haben, dass mit zunehmender Dauer der Haft die Diskontinuität des Aufenthalts zunimmt und dies - gemeinsam mit weiteren Faktoren wie etwa dem Verhalten in der Haft - dazu führen kann, dass das Gericht zu einer (nunmehr vorliegenden) Desintegration gelangt.
56 
In Mitgliedstaaten, in denen die Ausweisung als Strafe oder als Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe erfolgen kann, müssen nach Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Voraussetzungen der Artikel 27, 28 und 29 eingehalten werden, womit sich die Frage des entscheidungserheblichen Zeitpunkts für das Vorliegen des besonderen Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 ebenfalls stellt. So kennt beispielsweise das französische Recht neben der Ausweisung durch Verwaltungsentscheidung auch für Unionsbürger die sog. l’interdiction judiciare du territoire français (ITF), allgemein als Nebenstrafe, eventuell auch als Hauptstrafe, die durch den Strafrichter verhängt wird (vgl. Article 131-30 ff. code pénal sowie Gisti, Les cahiers juridiques, Les droits des citoyens et des citoyennes, Octobre 2014, p. 36 ff., 40; Gisti, Les cahiers juridiques, La double peine judiciaire, L’interdiction du territoire français, 2008, p. 8 ff.).
57 
Auch mit Blick auf die unterschiedlichen Entscheidungssysteme bedarf es der Klärung, welches der für die Sach- und Rechtslage maßgebende Zeitpunkt ist, um festzustellen, ob dem Betroffenen der erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2004/38 zusteht. Nach Auffassung des Senats handelt es sich bei der Frage der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt, nicht nur um eine Ausgestaltung des innerstaatlichen Gerichtsverfahrensrechts, die allein an den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz zu messen wäre (EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995 - C-430/93 und C-431/93 [ECLI: EU:C:1995:441] - mit weiteren Nachweisen). Vielmehr wird mit der Bestimmung dieses maßgeblichen Zeitpunkts das materielle Schutzniveau, das dem Unionsbürger zugutekommen soll, festgelegt. Dieses Schutzniveau darf nach der Überzeugung des Senats nicht von der Ausgestaltung des Prozessrechts des jeweiligen Mitgliedstaats abhängen (siehe auch oben Rn. 42 zu Frage 2). Ungeachtet der aufgezeigten Schwäche (siehe oben Rn. 55) erachtet der Senat für die Prüfung, ob die Integrationsverbindungen trotz der Verbüßung von Strafhaft nicht unterbrochen sind, den Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung als am ehesten geeignet, um eine unionsweit gleichmäßige Handhabung des Art. 28 der Richtlinie 2004/38 sicherzustellen.
58 
III.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Der Senat ersucht den Gerichtshof nach Artikel 95 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union den Namen des Klägers des Ausgangsverfahrens sowie dessen Aufenthaltsort vor der Inhaftierung zu anonymisieren.

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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 27. Apr. 2016 - 11 S 2081/15 zitiert 9 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 56 Strafaussetzung


(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig au

Strafvollzugsgesetz - StVollzG | § 2 Aufgaben des Vollzuges


Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.

Strafvollzugsgesetz - StVollzG | § 7 Vollzugsplan


(1) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) wird ein Vollzugsplan erstellt. (2) Der Vollzugsplan enthält Angaben mindestens über folgende Behandlungsmaßnahmen: 1. die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug,2. die Verlegung in ein

Strafvollzugsgesetz - StVollzG | § 3 Gestaltung des Vollzuges


(1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich i

Strafvollzugsgesetz - StVollzG | § 4 Stellung des Gefangenen


(1) Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern. (2) Der Gefangene unterliegt den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Fr

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Bundesverwaltungsgericht Beschluss, 11. Sept. 2015 - 1 B 39/15

bei uns veröffentlicht am 11.09.2015

Gründe 1 Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Soweit sie den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) ge

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 09. Apr. 2009 - 13 S 342/09

bei uns veröffentlicht am 09.04.2009

Tenor Das Verfahren wird ausgesetzt. Dem Europäischen Gerichtshof werden gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist der in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG
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Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Beschluss, 12. Apr. 2018 - 11 S 428/18

bei uns veröffentlicht am 12.04.2018

Tenor Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10. Januar 2018 - 5 K 3884/16 - wird abgelehnt.Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.Der Streitwert für das Zulassungsverfa

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Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Dem Europäischen Gerichtshof werden gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG vom 29.04.2004 verwendete Begriff der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ dahingehend auszulegen, dass nur unabweisbare Gefährdungen der äußeren oder inneren Sicherheit des Mitgliedstaats eine Ausweisung rechtfertigen können und hierzu nur zählen die Existenz des Staates mit seinen wesentlichen Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit, das Überleben der Bevölkerung sowie die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker?

2. Unter welchen Voraussetzungen geht der nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erreichte erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG wieder verloren? Ist in diesem Zusammenhang der Verlusttatbestand für das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG entsprechend anzuwenden?

3. Für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Geht der erhöhte Ausweisungsschutz allein durch den Zeitlablauf verloren, unabhängig von den maßgeblichen Gründen für die Abwesenheit?

4. Ebenfalls für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Ist eine zwangsweise Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme vor Ablauf des Zweijahreszeitraums geeignet, den erhöhten Ausweisungsschutz zu erhalten, auch wenn im Anschluss an die Rückkehr zunächst für längere Zeit von den Grundfreiheiten kein Gebrauch gemacht werden kann?

Gründe

 
I.
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet sowie gegen die ihm angedrohte Abschiebung.
Der am … 1978 im Bundesgebiet geborene Kläger ist griechischer Staatsangehöriger und seit Oktober 2001 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis/EG. Im Jahr 1996 machte er seinen Hauptschulabschluss; eine Berufsausbildung schloss er jedoch nicht ab. Von März 2004 bis Mitte Oktober 2004 betrieb er auf Rhodos einen Crêpe-Stand. Er kehrte sodann in die Bundesrepublik Deutschland zurück und arbeitete ab Dezember 2004 in einem Fitnessstudio. Mitte Oktober 2005 kehrte er nach Rhodos zurück und betrieb seinen Crêpe-Stand weiter. Am 22.11.2005 erließ das Amtsgericht Stuttgart einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Am 19.11.2006 wurde er in Rhodos festgenommen und am 19.03.2007 nach Deutschland überführt. Seitdem befindet er sich in Haft.
Der Kläger ist wie folgt vorbestraft:
1. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 14.10.1998 wegen Besitzes eines verbotenen Gegenstandes: Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen.
2. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 15.06.1999 wegen gefährlicher Körperverletzung: Geldstrafe in Höhe 100 Tagessätzen.
3. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart-Bad Cannstatt vom 08.02.2000 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung: Geldstrafe von 50 Tagessätzen.
4. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts Stuttgart vom 05.09.2002 wegen Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung: Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen.
5. Durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28.08.2007 wegen unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen: Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten.
Mit Bescheid vom 19.08.2008 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart nach Anhörung des Klägers den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet fest und drohte die Abschiebung nach Griechenland ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise an.
10 
Zur Begründung führte das Regierungspräsidium aus: Mit dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 28.08.2007 werde das Mindeststrafmaß von 5 Jahren Freiheitsstrafe überschritten, so dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG bzw. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vorlägen. Das persönliche Verhalten des Klägers gefährde aktuell die öffentliche Ordnung. Die von ihm begangenen Betäubungsmittelstraftaten seien ausgesprochen schwerwiegend. Es bestehe eine konkrete Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei offensichtlich allein aus finanziellen Gründen bereit gewesen, sich am illegalen Handel mit Rauschgift aktiv zu beteiligen. Die mit dem Handeltreiben von Betäubungsmitteln verbundenen Probleme für rauschgiftabhängige Personen und für die Gesellschaft seien ihm vollkommen gleichgültig gewesen. Es bestehe ein Grundinteresse der Gesellschaft daran, dass die besonders sozial schädliche Rauschgiftkriminalität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wirksam bekämpft werde. Der Kläger sei entweder nicht willens oder nicht in der Lage gewesen, sich an die bestehende Rechtsordnung zu halten. Er habe mit einer ausgesprochen hohen kriminellen Energie Straftaten begangen. Ein eventuell beanstandungsfreies Verhalten im Strafvollzug lasse keinen Rückschluss auf eine fehlende Wiederholungsgefahr zu. Nachdem somit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 FreizügG/EU erfüllt seien, stehe die Entscheidung im Ermessen der Behörde. Sein privates Interesse, von der Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt wegen der Dauer seines langen rechtmäßigen Aufenthaltes verschont zu bleiben, überwiege nicht das herausragende öffentliche Interesse an der wirksamen Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass er erneut ähnlich gelagerte Straftaten begehe, sei ausgesprochen hoch. Da er sich in den letzten Jahren mehrere Monate in seinem Heimatland aufgehalten habe, sei nicht zu erwarten, dass er nach der Abschiebung in seinem Heimatland Schwierigkeiten haben werde, sich an die dortigen Lebensverhältnisse zu gewöhnen. Eventuelle persönliche Bindungen im Bundesgebiet hätten ihn nicht davon abgehalten, Straftaten zu begehen. Die Wiederholungsgefahr rechtfertige auch den Eingriff in das freie Zugangsrecht des Klägers als EG-Angehöriger zum deutschen Arbeitsmarkt. Die angeordnete Maßnahme sei geeignet, die vom Kläger ausgehende Gefahr zu beseitigen. Ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich. Durch die angeordnete Maßnahme werde eine bereits aufgebaute wirtschaftliche Existenzgrundlage nicht zerstört. Auch unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten seien gleichwertige Maßnahmen nicht erkennbar. Der besondere Ausweisungsschutz aus § 56 Abs. 1 AufenthG sei nicht höher einzustufen als der des § 6 FreizügG/EU. Der Eingriff in das Privat- und Familienleben des Klägers sei im Hinblick auf die von ihm verübten schwerwiegenden Straftaten im überwiegenden Interesse der Verteidigung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt, ohne dass gleichwertige private, familiäre Belange ersichtlich wären, die ein Absehen von der Feststellung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gebieten würden.
11 
Am 17.09.2008 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht erhoben und zur Begründung vorgetragen, seine Familie lebe zum großen Teil in Deutschland. Das Landgericht Stuttgart habe in seinem Urteil vom 28.08.2007 festgestellt, dass er nur untergeordnetes Bandenmitglied und auf Grund seiner familiären Verpflichtung in die Straftat involviert gewesen sei. Da er in Deutschland aufgewachsen sei und seine schulische Ausbildung in Deutschland genossen habe, sei eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht ersichtlich. Auch habe er eine intensive Bindung zu seinem in Deutschland lebenden Vater, der ihn regelmäßig in der JVA H. besuche. Die Tatsache, dass er sich freiwillig der Polizei gestellt habe, zeige, dass er mit den ihm vorgeworfenen Straftaten abgeschlossen habe. Im Rahmen einer Zukunftsprognose sei deshalb davon auszugehen, dass er nach Verbüßung der Strafhaft keine Gefahr für die öffentliche Ordnung mehr darstelle. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet sei somit unverhältnismäßig. In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers ergänzend vorgetragen, die Mutter des Klägers halte sich gegenwärtig bei deren Tochter in Australien auf. Ein Bruder befinde sich in Haft, ein weiterer Bruder sei noch auf der Flucht. Ab Frühjahr 2009 werde sich die Mutter endgültig wieder bei ihrem Ehemann in Deutschland aufhalten.
12 
Der Beklagte ist der Klage aus den Gründen des angegriffenen Bescheids entgegen getreten.
13 
Durch Urteil vom 24.11.2008 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid des Regierungspräsidiums vom 19.08.2008 aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt könne bei Unionsbürgern wie dem Kläger nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden, wobei die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht genüge, um eine derartige Entscheidung zu begründen. Es müsse ferner eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU). In Umsetzung von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG vom 29.04.2004 dürfe eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei mehr als zehnjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU). Zu Gunsten des Klägers greife § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ein, da er sich seit seiner Geburt und damit weit mehr als die letzten zehn Jahre im Bundesgebiet aufgehalten und er das Daueraufenthaltsrecht aufgrund seiner Aufenthalte auf Rhodos auch nicht verloren habe (§ 4a Abs. 7 FreizügG/EU). Zwar habe er sich von März 2004 bis Mitte Oktober 2004 sowie von Mitte Oktober 2005 bis März 2007 in Griechenland aufgehalten. § 6 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU fordere jedoch keinen ununterbrochenen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet. Da er im Bundesgebiet geboren sei und mit Ausnahme der genannten Aufenthaltszeiten in Griechenland sein gesamtes Leben im Bundesgebiet zugebracht habe, bestehe für das Gericht kein Zweifel daran, dass er sich auf § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen könne. Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums Stuttgart lägen jedoch die von § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU geforderten zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht vor. Der gemeinschaftsrechtliche Rechtsbegriff der öffentlichen Sicherheit umfasse nur die innere und die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates und sei damit enger als der Begriff der öffentlichen Ordnung, der auch die innerstaatliche Strafrechtsordnung umfasse. Es sei deshalb verfehlt, aus dem Überschreiten des in § 6 Abs. 5 S. 3 FreizügG/EU genannten Mindeststrafmaßes stets auf das Vorliegen von zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu schließen, wie dies im angefochtenen Bescheid geschehen sei. In Anwendung dieser Grundsätze gehe für das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit vom Kläger keine Bedrohung aus. Der Kläger stelle möglicherweise eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, jedoch keineswegs für den Bestand des Staates und seiner Institutionen oder das Überleben der Bevölkerung dar. Derartiges werde vom Beklagten auch nicht geltend gemacht.
14 
Gegen das am 07.01.2009 zugestellte Urteil hat der Beklagte rechtzeitig die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt und zugleich mit einer kurzen Begründung die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 22.07.2008 beantragt.
15 
Der Kläger verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts.
II.
16 
Der Senat setzt das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO aus, um gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten.
17 
Vorab weist der Senat darauf hin, dass die vom Beklagten vorgelegte Berufungsbegründung vom 26.01.2009 gerade noch dem Formerfordernis des § 124 Abs. 3 Satz 4 VwGO genügt. Zwar befasst sich der Schriftsatz in erster Linie mit der Frage einer Aussetzung des Berufungsverfahrens in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO im Hinblick auf das Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 22.07.2008 (13 S 1917/07), ohne einen förmlichen Berufungsantrag zu stellen; vielmehr hat der Beklagte ausdrücklich nur eine Aussetzung des Verfahrens beantragt. Ausnahmsweise ist aber ein förmlicher Berufungsantrag entbehrlich, wenn bei einer klaren prozessualen Ausgangs- und Interessenlage keinerlei Zweifel bestehen kann, welches Ziel der Rechtsmittelführer verfolgt (vgl. Bader u.a., VwGO, 4. Aufl., § 124a Rdn. 36 m.w.N.). Dieses ist hier aber der Fall. Auch die Begründung ist noch ausreichend, weil der Beklagte unzweideutig auf sein abweichendes, seinem Bescheid zugrunde liegendes Verständnis des Begriffs der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit verweist.
18 
Die vom Senat dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung unterbreiteten Fragen sind für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich. Wäre der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nicht in dem vom Senat für richtig gehaltenen engen Sinne zu verstehen, müsste die Klage abgewiesen werden. Das Gleiche wäre dann der Fall, wenn der erhöhte Ausweisungsschutz nicht nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG verloren ginge, sondern vielmehr bereits bei Vorliegen der hier die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG unterbrechenden Aufenthaltszeiten außerhalb des Aufnahmemitgliedstaates von Oktober 2005 bis März 2007.
19 
Zur Klarstellung weist der Senat im Hinblick auf das Vorbringen des Beklagten darauf hin, dass dem Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 22.07.2008 zwar die Problematik der im vorliegenden Verfahren zur Beantwortung gestellte Frage Ziffer 1 ebenfalls zugrunde liegt, dort aber nicht zur Vorabentscheidung unterbreitet worden war.
20 
1. Zur ersten Vorlagefrage:
21 
Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU - FreizügG/EU - i.d.F. v. 19.09.2007 können zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die nach einem zehnjährigen Aufenthalt eine Ausweisung rechtfertigen, nur dann vorliegen, wenn der oder die Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde und wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder von dem oder der Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
22 
Der Beklagte versteht den Begriff der öffentlichen Sicherheit entgegen der im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vertretenen Auffassung in einem weiteren Sinne. Nach seiner Sichtweise werden hiervon auch schwere kriminelle Taten, wie Betäubungsmitteldelikte erfasst, die sich aber vornehmlich gegen individuelle Rechtsgüter richten. Der Beklagte geht somit von einem Begriffsverständnis aus, dass die öffentliche Sicherheit die gesamte Rechtsordnung, insbesondere die Strafrechtsordnung umfasst.
23 
Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Vielmehr entnimmt er der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des primärrechtlichen Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“, dass hierunter nur die innere und äußere Sicherheit in dem in der Vorlagefrage Ziffer 1 beschriebenen engen Sinne zu verstehen ist (vgl. insbesondere U.v. 10.07.1984 - Rs. 72/83 - Campus Oil - Slg. 1984, 2727; U.v. 04.10.1991 - C-367/89 - Richardt und Les Accessoires Scientifique - Slg. I-4621; U.v. 26.10.1999 - C-273/97 - Sirdar - Slg. I-7403; U.v. 11.03.2003 - C-186/01 - Dory - Slg. I-2479). Dieses wird nach Auffassung des Senats auch in besonderem Maße deutlich zum Ausdruck gebracht im Urteil des Gerichtshofs v. 29.04.2004 (C-482/01 und C-4937/01 - Orfanopoulos und Olivieri - Slg. I-5257), in dem die schwere Kriminalität, namentlich auch aus dem Bereich der Drogendelikte ausschließlich und durchgängig unter dem Aspekt der „öffentlichen Ordnung“ erörtert wird. Die Betroffenheit bzw. Gefährdung eines „Grundinteresses der Gesellschaft“ im Sinne der ständigen Spruchpraxis der Europäischen Gerichtshofs (vgl. U.v. 29.04.2004 C-482/01 und C-4937/01 – a.a.O.) ist damit lediglich eine notwendige Bedingung für die Bejahung eines zwingenden Grundes der öffentlichen Sicherheit.
24 
Es sind für den Senat keine durchgreifenden Einwände ersichtlich, weshalb dieses Begriffsverständnis nicht auf die sekundärrechtliche Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG zu übertragen sein sollte. Dann aber kann die nationale Bestimmung des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, die zwingende Gründe dann als gegeben ansieht, wenn neben einer strafgerichtlichen Verurteilung „die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist“ nicht abweichend ausgelegt und angewandt werden. Darüber hinaus wäre die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens 5 Jahren, weder eine notwendige noch eine hinreichende gemeinschaftsrechtliche Bedingung für die Eröffnung eines Ausweisungsermessens.
25 
Für ein enges Verständnis des Begriffs der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ spricht zudem der dreistufige Schutzmechanismus des Art. 28 RL 2004/38/EG, der auf der ersten und zweiten Stufe noch die Gründe der öffentlichen Ordnung als für eine Ausweisung bzw. Verlustfeststellung relevant anerkennt, nicht mehr jedoch auf der - hier zu erörternden - dritten Stufe, während zugleich die bereits bei der Gruppe der Daueraufenthaltsberechtigten (Absatz 2) erforderlichen „schwerwiegenden Gründe“ nochmals in ihrem Gewicht nach in den Fällen des Absatzes 3 erhöht werden, wenn hiernach zwingende, d.h. unabweisbare Gründe gefordert werden. Dass die Ausweisung auf der dritten Stufe nur äußerstenfalls und im Sinne einer „ultima ratio“ erfolgen soll, wird auch unübersehbar im 23. und 24. Erwägungsgrund zum Ausdruck gebracht und nicht zuletzt auch durch den Umstand unterstrichen, dass der Kommissionsentwurf ursprünglich schon bei Daueraufenthaltsberechtigten (vgl. Art. 26 Abs. 2 des Entwurfs) einen absoluten Ausweisungsschutz vorsah (vgl. KOM/2001/0257 endg - ABl. C Nr. 270 E v. 25.09.2001. 150; wie hier auch etwa Harms, in: Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 6 FreizügG/EU, Rdn. 21 ff.).
26 
2. Zur zweiten Vorlagefrage:
27 
Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG macht nach seinem Wortlaut den erhöhten Ausweisungsschutz nur von einem mindestens zehnjährigen Aufenthalt abhängig, der nicht einmal rechtmäßig gewesen sein muss. Da der Kläger sich seit seiner Geburt bis März 2004 und sodann wieder ab Oktober 2004 rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hatte, gibt der vorliegende Fall keine Veranlassung, der Frage nachzugehen, ob über den bloßen zehnjährigen Aufenthalt hinaus weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um in den Genuss des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG zu gelangen, insbesondere ob der Aufenthalt rechtmäßig gewesen sein muss, ob zunächst sogar die Stufe des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 RL 2004/38/EG erreicht worden sein muss und ob danach auch bis zum Erreichen des zehnjährigen Aufenthalts die Bestimmung des Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG entsprechend anzuwenden wäre.
28 
Der vorliegende Fall gibt allerdings Anlass, die Frage aufzuwerfen, ob und unter welchen Voraussetzungen der erhöhte Ausweisungsschutz wieder entfallen kann. Die Richtlinie selbst enthält keine Regelung, die sich unmittelbar mit dieser Frage befasst. Der Senat vermag allerdings keinen nachvollziehbaren Grund zu erkennen, weshalb diese Rechtsstellung gewissermaßen auf Lebenszeit beibehalten werden soll, wenn der oder die Betroffene auf Dauer keinerlei inhaltlichen und räumlichen Bezug zu diesem Mitgliedstaat mehr hat und eine dauerhafte Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat oder auch in einem Drittstaat erfolgt. Der Senat entnimmt vielmehr dem Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG, der sich mit den Voraussetzungen eines Verlustes des Daueraufenthaltsrechts befasst, eine Wertung, die auch auf den Fall des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG übertragen werden kann und eine entsprechende Anwendung rechtfertigt. Nicht möglich ist nach Auffassung des Senats hingegen ein Rückgriff auf Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Denn bei dieser Bestimmung handelt es sich um einen Regelungskomplex, der eine gänzlich andere Ausgangs- und Interessenlage betrifft, geht es hierbei doch um die Frage, welche Unterbrechungen des Aufenthalts, die vor dem Erwerb des erhöhten Ausweisungsschutzes liegen, schädlich bzw. unschädlich für den Erwerb dieser Rechtsstellung sind. Zudem hätte dies zur Folge, dass der höhere Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG u. U. leichter verloren gehen könnte als der weniger starke Schutz nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG.
29 
3. Zur dritten Vorlagefrage:
30 
Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG stellt nach seinem Wortlaut lediglich darauf ab, dass den oder die Betreffende für die Dauer von mehr als zwei aufeinander folgenden Jahren vom Aufnahmemitgliedstaat abwesend war, ohne nach den Gründen für diese Abwesenheit zu fragen. Insbesondere wird hiernach nicht darauf abgestellt, dass etwa bis zu zweijährige Abwesenheiten nur dann unschädlich sein sollen, wenn sie aus einem der Natur nach nur vorübergehenden Grund erfolgt sind, wie dies der Tendenz nach in Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG getan wird. Umgekehrt ist nach dem Wortlaut auch eine Abwesenheit von über zwei Jahren schädlich, selbst wenn sie auf einem der Natur nach nur vorübergehenden Grund beruhen sollte. Der Wortlaut der Bestimmung des Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG und der hiernach deutliche Gegensatz zu Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG lässt nach Auffassung des Senats auch keine entsprechende Einschränkung zu, weshalb es allein auf den bloßen Zeitablauf ankommt, nicht jedoch auf die für die Betroffenen maßgeblichen Gründe für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat.
31 
4. Zur vierten Vorlagefrage:
32 
Im Falle des Klägers, der zwischen dem Aufenthalt in Griechenland von März bis Oktober 2004 wieder ein Jahr bis Oktober 2005 in der Bundesrepublik Deutschland lebte und sich sodann bis März 2007 erneut in Griechenland aufhielt, liegen die Voraussetzungen einer Abwesenheit für mehr als „zwei aufeinander folgende Jahre“ nicht vor. Allerdings zeichnet sich die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland im März 2007, die zur Unterbrechung und zum Neubeginn des Zweijahreszeitraum führen konnte, durch die Besonderheit aus, dass diese nicht in Ausübung einer gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit erfolgte, sondern unfreiwillig im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme, die in der Folge dazu führte, dass der Kläger über mehrere Jahre von einer der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten keinen Gebrauch machen konnte und, solange er nicht etwa vorzeitig gem. § 57 StGB zur Bewährung in Freiheit kommt, auch weiter keinen Gebrauch machen kann. Soweit der Kläger allerdings in der Strafhaft gegen Entgelt einer Beschäftigung nachgehen sollte, was dem Senat nicht im Einzelnen bekannt ist, wäre allerdings zu erwägen, dass er Arbeitnehmer im Sinne von Art. 39 EG ist. Dächte man daher diese zwangsweise Rückkehr hinweg, so läge eine über zweijährige Abwesenheit vor, die den erhöhten Ausweisungsschutz entfallen ließe. Da aber der erhöhte Ausweisungsschutz durch eine auch langjährige Inhaftierung im Aufnahmemitgliedstaat allein, die dazu führt, dass die Betroffenen tatsächlich nicht von ihren Grundfreiheiten Gebrauch machen können, nicht tangiert wird, spricht nach Auffassung des Senats nichts dafür, dass eine zwangsweise Rückkehr nicht geeignet sein soll, den Zweijahreszeitraum wieder zu unterbrechen.
33 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.

(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen.

(3) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird die Vollstreckung nicht ausgesetzt, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung sie gebietet.

(4) Die Strafaussetzung kann nicht auf einen Teil der Strafe beschränkt werden. Sie wird durch eine Anrechnung von Untersuchungshaft oder einer anderen Freiheitsentziehung nicht ausgeschlossen.

Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.

(1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.

(2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken.

(3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, daß er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.

(1) Der Gefangene wirkt an der Gestaltung seiner Behandlung und an der Erreichung des Vollzugszieles mit. Seine Bereitschaft hierzu ist zu wecken und zu fördern.

(2) Der Gefangene unterliegt den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit. Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, dürfen ihm nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerläßlich sind.

(1) Auf Grund der Behandlungsuntersuchung (§ 6) wird ein Vollzugsplan erstellt.

(2) Der Vollzugsplan enthält Angaben mindestens über folgende Behandlungsmaßnahmen:

1.
die Unterbringung im geschlossenen oder offenen Vollzug,
2.
die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt,
3.
die Zuweisung zu Wohngruppen und Behandlungsgruppen,
4.
den Arbeitseinsatz sowie Maßnahmen der beruflichen Ausbildung oder Weiterbildung,
5.
die Teilnahme an Veranstaltungen der Weiterbildung,
6.
besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen,
7.
Lockerungen des Vollzuges und
8.
notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung.

(3) Der Vollzugsplan ist mit der Entwicklung des Gefangenen und weiteren Ergebnissen der Persönlichkeitserforschung in Einklang zu halten. Hierfür sind im Vollzugsplan angemessene Fristen vorzusehen.

(4) Bei Gefangenen, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder 182 des Strafgesetzbuches zu Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden sind, ist über eine Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt jeweils nach Ablauf von sechs Monaten neu zu entscheiden.

Gründe

1

Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Soweit sie den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) genügt, ist sie unbegründet.

2

1. Die Beschwerde wendet sich zunächst mit Verfahrensrügen sowie der Grundsatzrüge gegen die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, im Fall des Klägers reichten "Gründe der öffentlichen Ordnung" im Sinne von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU für die Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts aus, während zutreffenderweise "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" im Sinne von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erforderlich seien (Beschwerdebegründung S. 2 - 4). Unter Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers und der gerichtlichen Aufklärungspflicht sei das Gericht von einer Unterbrechung des mehr als zehn Jahre dauernden Aufenthalts des Klägers in Deutschland infolge der Verbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe wegen Mordes ausgegangen.

3

Die in diesem Zusammenhang erhobenen Rügen führen mangels Erheblichkeit für das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung nicht zur Revisionszulassung. Denn das Berufungsgericht stützt seine Entscheidung - trotz der aus seiner Sicht erfolgten rechtserheblichen Unterbrechung des maßgeblichen Zehn-Jahres-Zeitraums - darauf, dass selbst bei unterstellter Kontinuität des Aufenthalts die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erfüllt seien, weil "angesichts des vom Kläger begangenen Mordes, der zu der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe geführt hat, mit Blick auf Strafmaß sowie Art und Schwere der Straftat und die von ihm ausgehende gegenwärtige Gefahr sogar zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit für die Maßnahme vorliegen" (UA S. 23). Das Gericht prüft im weiteren Verlauf - entgegen der Darstellung der Beschwerde - auch keineswegs nur noch "Gründe der öffentlichen Ordnung", sondern schließt sich den Ausführungen des Verwaltungsgerichts an, dass der begangene Mord unter den Rechtsbegriff der öffentlichen Sicherheit nach Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürger-Richtlinie bzw. nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gefasst werden könne (UA S. 26). Auch bei Prüfung der Gegenwärtigkeit der vom Kläger ausgehenden Gefahr nach mittlerweile neunjährigem Strafvollzug bejaht das Gericht "nicht nur schwerwiegende, sondern sogar zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit für die Verlustfeststellung" (UA S. 31). Auch die Ermessensentscheidung des Beklagten misst es an den Maßstäben, die beachtet werden müssen, "wenn ein zwingender Grund der öffentlichen Sicherheit vorliegt" (UA S. 31 unten).

4

Damit kommt es für das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung nicht darauf an, ob die Feststellungen zur Unterbrechung des Zehn-Jahres-Zeitraums verfahrensfehlerfrei ergangen sind oder sich hierzu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen.

5

2. Die Beschwerde rügt des Weiteren, das Oberverwaltungsgericht habe verfahrensfehlerhaft, namentlich unter Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers, eine Prognose zu der vom Kläger ausgehenden Gefahr angestellt (Beschwerdebegründung S. 4).

6

2.1 Fehlerhaft sei zunächst, dass das Gericht bei der Gefährdungsprognose allein auf das abgeurteilte Verhalten des Klägers abgestellt habe, hingegen die bereits erfolgte positive Entwicklung des Klägers während der Strafhaft nicht berücksichtigt habe (begonnene Ausbildung, erfolgreicher Drogenentzug) und auch nicht die zu erwartende weitere positive Entwicklung in der Haft, z.B. infolge der zukünftig vorgesehenen einzeltherapeutischen Aufarbeitung der Tat (Beschwerdebegründung S. 5 und 7). Auf derartige Umstände habe der Kläger hingewiesen, deswegen verletze das Vorgehen des Gerichts seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Diese Rüge greift nicht durch.

7

Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 - 1 C 13.11 - BVerwGE 144, 230 Rn. 10). Mit ihren Darlegungen zeigt die Beschwerde die geltend gemachte Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs jedoch nicht auf. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich - und so auch hier - davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte brauchen sich dabei nicht mit jedem Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Aus einem Schweigen der Urteilsgründe zu Einzelheiten des Prozessstoffs allein kann noch nicht der Schluss gezogen werden, das Gericht habe diese nicht bei seiner Entscheidung berücksichtigt. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs kann daher nur dann festgestellt werden, wenn es sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen der Beteiligten nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 24. Juli 2014 - 1 B 10.14 - unter Hinweis auf BVerfGE 54, 43 <46> juris Rn. 9). Solche besonderen Umstände zeigt die Beschwerde nicht auf.

8

Das angefochtene Urteil stellt bei seiner Gefährdungsprognose schon im Ausgangspunkt nicht allein auf die strafrechtliche Verurteilung ab, sondern darauf, dass die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (UA S. 26). Danach offenbaren die vom Kläger begangenen Straftaten, die seiner Verurteilung u.a. wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung im Jahr 2005 und wegen Mordes im Jahr 2008 zugrunde liegen, dass der Kläger schwerwiegende charakterliche Defizite und eine deutliche Neigung habe, vermeintliches, insbesondere von ihm als Angriff auf seine Ehre verstandenes Fehlverhalten anderer selbst zu bestrafen bzw. seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen (UA S. 27). Der begangene Mord aus niedrigen Beweggründen, u.a. die "Hinrichtung" durch drei aufgesetzte Schüsse, ließen ein außergewöhnlich hohes Maß an krimineller Energie und charakterlichen Mängeln erkennen (UA S. 28). Bei der aktuellen Gefährlichkeitsprognose bezieht das Gericht zudem die Entwicklung des Klägers während der mittlerweile neunjährigen Haft ein, zieht dazu die Vollzugspläne zweier Haftanstalten heran, würdigt die Kontakte zu seinen Töchtern und deren Mutter (UA S. 29), seine begonnene Ausbildung zum Koch (UA S. 30) und die Tatsache, dass er während seiner Haftzeit ausweislich der negativen Kontrollergebnisse keine Drogen mehr genommen hat (UA S. 28). Das Gericht hat diese vom Kläger vorgetragenen Umstände demnach zur Kenntnis genommen, allerdings anders gewertet als dies die Beschwerde für richtig hält. Daraus lässt sich ein Gehörsverstoß jedoch nicht ableiten. Kein Gehörsverstoß liegt auch darin, dass das Gericht ein gefahrbestärkendes Element darin sieht, dass der Kläger seine Mordtat bisher nicht erfolgreich therapeutisch aufgearbeitet hat, weil ihm die Möglichkeit einer solchen Therapie noch nicht eingeräumt wurde (UA S. 29). Denn das Gericht hat nur die Tatsache selbst berücksichtigt, dem Kläger aber keinen Vorwurf dahin gemacht, zu einer solchen Therapie nicht bereit zu sein.

9

2.2 Die Beschwerde rügt des Weiteren fehlende gerichtliche Aufklärungsmaßnahmen zu den zu erwartenden positiven Auswirkungen der Haft auf die Persönlichkeit des Klägers in der Zukunft. Dies verletze die gerichtliche Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts. Das Gericht habe aus eigener Kompetenz gar keine verlässliche Prognoseentscheidung treffen können; hierfür sei vielmehr der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung beantragte Sachverständigenbeweis erforderlich gewesen, den das Gericht jedoch nicht erhoben habe (Beschwerdebegründung S. 6 lit. bb).

10

Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich jedoch keine Verletzung der dem Gericht nach § 86 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht. Das Berufungsgericht war insbesondere nicht zu einer Aufklärung dahin verpflichtet, welche Wirkungen auf den Kläger von einer zukünftigen therapeutischen Aufarbeitung der Straftaten zu erwarten seien (vgl. Beschwerdebegründung S. 5 unten). Vielmehr durfte das Gericht davon ausgehen, dass derartige zukünftige Entwicklungen nichts über die aktuelle vom Kläger ausgehende Gefährdung aussagen.

11

Das Gericht durfte auch die in der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2015 beantragte Beweiserhebung ablehnen. Dort hatte der Kläger die Einholung eines medizinisch-psychologischen oder eines psychologisch-kriminologischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache beantragt, dass er nach der Tatbegehung und nach der strafgerichtlichen Feststellung eine nachhaltige Verhaltens- und Einstellungsänderung vollzogen habe, die eine Abwendung vom kriminellen Milieu bedeute (1) und dass nunmehr keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die erneute Begehung schwerer Straftaten mehr bestehe (2). Das Oberverwaltungsgericht hat die Beweisanträge mit der Begründung abgelehnt, dass die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafgerichtlichen Verurteilungen von den Gerichten grundsätzlich ohne Hinzuziehung von Sachverständigen beurteilt werden könne, da die Gerichte sich mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegten, die den Richtern allgemein zugänglich seien. Ergänzend wies der Vorsitzende darauf hin, dass das Gericht die vorliegenden Erkenntnisquellen insoweit für ausreichend halte (vgl. Niederschrift über die mündliche Verhandlung S. 3 f.).

12

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können die Tatsacheninstanzen einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens im Allgemeinen nach tatrichterlichem Ermessen gemäß § 98 VwGO in entsprechender Anwendung des § 412 ZPO oder mit dem Hinweis auf die eigene Sachkunde - wie hier - verfahrensfehlerfrei ablehnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 - 1 C 13.11 - BVerwGE 144, 230 Rn. 11). Das Tatsachengericht muss seine Entscheidung für die Beteiligten und das Rechtsmittelgericht aber nachvollziehbar begründen und ggf. angeben, woher es seine Sachkunde hat. Das ist hier erfolgt. Das Berufungsgericht ist dabei der Rechtsprechung des Senats gefolgt, wonach sich das Tatsachengericht bei der Gefahrenprognose im Fall der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Danach bedarf es der Hinzuziehung eines Sachverständigen nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 - 1 C 13.11 - BVerwGE 144, 230 Rn. 12). Solche besonderen Umstände hat die Beschwerde nicht dargelegt.

13

3. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, inwieweit in der unterlassenen Aufklärung, welche Wirkungen aus fachkundiger Sicht im Fall einer zukünftigen therapeutischen Aufarbeitung erwartet werden können, eine Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - (BVerwGE 121, 297) liegen soll (vgl. Beschwerdebegründung S. 5 unten). Die Beschwerde stellt nicht - wie geboten - jeweils zur gleichen Rechtsvorschrift ergangene Rechtssätze des Berufungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts einander gegenüber (zu den Darlegungsanforderungen an eine Divergenzrüge vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. April 2013 - 1 B 22.12 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 66 Rn. 21). Sowohl aus dem fristgerecht eingegangenen Beschwerdevorbringen als auch aus dem Schriftsatz vom 9. September 2015 wird zudem nicht ersichtlich, dass insoweit gegenüber der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 4. Oktober 2012 - 1 C 13.11 - BVerwGE 144, 230 Rn. 11) erneuter rechtsgrundsätzlicher Klärungsbedarf besteht.

14

4. Auch aus den weiteren Darlegungen der Beschwerde zur mangelnden Berücksichtigung einer Alkohol- und Drogensucht des Klägers ergibt sich die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers nicht (Beschwerdebegründung S. 6 lit. cc). Die Beschwerde begründet ihre Rüge damit, das angefochtene Urteil stütze sich hinsichtlich des Einflusses des Alkohol- und Drogenmissbrauchs des Klägers auf die begangene Straftat auf Feststellungen aus dem Gutachten des Herrn Dr. G... aus dem Strafverfahren des Klägers. Das sei unzureichend, weil sich der Sachverständige nur mit der Frage der Schuldfähigkeit des Klägers aufgrund seines Alkohol- und Drogenmissbrauchs auseinandergesetzt habe. Das trifft nicht zu. Das Berufungsurteil leitet seine Feststellung, dass der begangene Mord nicht auf den Alkohol- und Drogenmissbrauch des Klägers zurückzuführen sei, vielmehr aus den Darlegungen des Landgerichts Saarbrücken in seinem Urteil vom 7. Februar 2007 zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Klägers bei der Begehung des Mordes ab, denen das Gutachten des gerichtspsychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. R... zugrunde lag (UA S. 28). Auf das vom Kläger vorgelegte Gutachten des Dr. G... geht das Urteil nur insoweit ein, als es dieses nicht für geeignet hält, die als überzeugend befundenen Ausführungen des Strafgerichts durchgreifend in Frage zu stellen (UA S. 28). Daher fehlt es auch an hinreichenden Darlegungen für die hierzu zusätzlich geltend gemachte Aufklärungsrüge.

15

5. Weiter greift die Beschwerde die Begründung an, mit der das Oberverwaltungsgericht eine vom Kläger ausgehende Gefahr auch während der Verbüßung seiner Haftstrafe bejaht (Beschwerdebegründung S. 8 f. lit. a und b). So sei etwa die Feststellung des Gerichts rein spekulativ, der Kläger habe in der JVA im Rahmen seiner Ausbildung zum Koch Zugang zu Messern, so dass Übergriffe auf Mitgefangene möglich seien. Die fehlenden Feststellungen hierzu begründeten einen Verfahrensmangel. Ebenso spekulativ seien die Ausführungen des Gerichts, der Kläger könne aus Rache seinen Mittäter gefährden, und von ihm gehe im Fall von Vollzugslockerungen die Gefahr aus, aus Wut oder wegen Verletzung in seinem Ehrgefühl einen Menschen zu verletzen oder gar zu töten oder alte Rechnungen begleichen zu wollen.

16

Mit dieser Verfahrensrüge wendet sich die Beschwerde der Sache nach gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts zur Gefahrenprognose. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Grundsätze der Beweiswürdigung revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Ein Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet. Ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn sich der gerügte Fehler hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts, abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2012 - 10 B 2.12 - juris m.w.N.). Einen solchen qualifizierten Mangel der Beweiswürdigung zeigt die Beschwerde jedoch nicht auf. Denn das Berufungsgericht tritt mit den von der Beschwerde genannten Argumenten zunächst nur der Auffassung des Klägers und des erstinstanzlichen Gerichts entgegen, eine Wiederholungsgefahr sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil sich der Kläger in Haft befinde (UA S. 30). Ferner geht das Gericht nicht von der feststehenden Tatsache aus, dass der Kläger in der Anstaltsküche Zugang zu Messern hat, sondern erwähnt das nur beispielhaft mit dem Zusatz "gegebenenfalls" (UA S. 30). Im Übrigen wird aus den Darlegungen der Beschwerde nicht ersichtlich, aus welchen Gründen es eine grobe Verletzung der Grundsätze der Beweiswürdigung darstellen soll, wenn das Berufungsgericht aus der wiederholten Trennung des Klägers von seinem Mittäter O. in der Haft wegen dessen Furcht vor Übergriffen des Klägers gefolgert hat, dass auch bei Gefangenen Übergriffe von Mitgefangenen in der Haft nicht auszuschließen sind (UA S. 30). Entsprechendes gilt für die Ausführungen des Gerichts zu drohenden, vom Kläger ausgehenden Gefahren im Rahmen von Vollzugslockerungen (UA S. 30 f.). Eines Sachverständigengutachtens zur Gefahrenprognose bedarf es - entgegen des erneuten Vorbringens der Beschwerde (Beschwerdebegründung S. 9 lit. b) - aus den bereits oben dargelegten Gründen (Ziffer 2.2 dieses Beschlusses) nicht.

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6. Die Beschwerde beruft sich weiter darauf (Beschwerdebegründung S. 9 lit. c), die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zu einer Gefährdung innerhalb der Haft begründeten eine Divergenz zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - (BVerwGE 121, 297). Nach diesem Urteil ist für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr u.a. zu prüfen, ob eine (etwa erfolgte) Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftaten mehr begehen wird, und was sich ggf. aus einer (erfolgten) Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) ergibt (a.a.O. S. 306). Folgte man hingegen der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts und unterstellte ohne konkrete Anhaltspunkte bereits eine Gefährdung während der Haft, ergäbe sich nach Auffassung der Beschwerde zwangsläufig, dass den Betroffenen die besagte Prüfung abgeschnitten würde.

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Für die Darlegung einer Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO fehlt es schon an der Darlegung eines Rechtssatzes des Berufungsgerichts, mit dem es dem o.g. Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts widersprochen hat. Die Rüge einer lediglich fehlerhaften Anwendung eines Rechtssatzes des Bundesverwaltungsgerichts - wie hier - genügt hierfür nicht. Davon abgesehen wird aber auch eine fehlerhafte Anwendung im konkreten Fall nicht aufgezeigt. Denn die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehen sich auf die Notwendigkeit, die Folgen einer erfolgten Verbüßung einer Strafhaft und einer erfolgten Strafaussetzung zur Bewährung zu würdigen. Die von der Beschwerde beanstandeten Ausführungen des Berufungsgerichts beziehen sich aber auf die Gefahrenprognose während der Zeit der Haftverbüßung sowie auf Vollzugslockerungen.

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7. Die Beschwerde sieht des Weiteren Bedarf für eine grundsätzliche Klärung zur "Frage einer bereits während der Haft bestehenden Gefährdungslage" (Beschwerdebegründung S. 10 oben). Sie ist der Auffassung, die Rechtfertigung des staatlichen Strafanspruchs und insbesondere der Resozialisierungsanspruch des Betroffenen müssten bei der Prognoseentscheidung berücksichtigt werden. Könnte man den Straftäter wegen einer bestehenden Gefährdungslage zu Beginn seiner Haft ausweisen und ihm sein Freizügigkeitsrecht absprechen, drohe die Gefahr, dass zukünftige positive Wirkungen des Strafvollzuges unberücksichtigt blieben. Die spezialpräventive Rechtfertigung des staatlichen Strafanspruchs würde ad absurdum geführt. Die Frage einer bereits während der Haft bestehenden Gefährdungslage sei bislang durch die Rechtsprechung - insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts - noch nicht geklärt.

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Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) setzt voraus, dass eine klärungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufgeworfen wird. Eine solche lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Denn sie formuliert keine präzise rechtliche Fragestellung, sondern weist lediglich auf bestimmte Probleme hin, die sich bei der Beurteilung der von einem Straftäter ausgehenden Gefährdung im Zeitpunkt der Verbüßung seiner Haft ergeben. Im Übrigen ist aber in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass es für die Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt auf eine gegenwärtige und nicht auf eine zukünftige Gefährdung der öffentlichen Ordnung ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <305 f.>). Das entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. Urteil vom 29. April 2004 - C-482/01 und C-493/01 [ECLI:EU:C:2004:262], Orfanopoulos und Oliveri - Rn. 77 bis 79). Die Voraussetzung einer gegenwärtigen Gefährdung muss danach grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erfüllt sein, zu dem die Ausweisung erfolgt (EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - C-482/01 und C-493/01 - Rn. 79), hier also im Zeitpunkt der Haftverbüßung, auch wenn dann die Entwicklung des Klägers während der Gesamtdauer der Haft lediglich zu prognostizieren ist, weil sie noch ebenso wenig feststeht wie sein Verhalten im Rahmen etwaiger zukünftiger Vollzugslockerungen oder einer eventuellen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung.

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8. Kein rechtsgrundsätzlicher Klärungsbedarf besteht für die von der Beschwerde aufgeworfene, hiermit im Zusammenhang stehende Frage, zu welchem Zeitpunkt die Ausländerbehörde überhaupt die Entscheidung über die Verlustfeststellung ermessensfehlerfrei treffen kann (Beschwerdebegründung S. 10 lit. a). Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es für die Rechtmäßigkeit einer ausländerbehördlichen Entscheidung über den Verlust des Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers darauf an, ob der Betroffene eine gegenwärtige und schwer wiegende Gefahr für wichtige Rechtsgüter darstellt (Gefährdung der öffentlichen Ordnung) und das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das private Interesse am Verbleib des Unionsbürgers in Deutschland deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <306>). Vorgaben für den Zeitpunkt, zu dem die Behörde die Verlustfeststellung ausspricht, ergeben sich weder aus dem nationalen Recht noch aus Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen "jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt" (vgl. Urteile vom 16. Januar 2014 - C-400/12 [ECLI:EU:C:2014:9], M.G. - Rn. 35 und vom 23. November 2010 - C-145/09 [ECLI:EU:C:2010:708], Tsakouridis - Rn. 32). Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich zudem, dass der Gerichtshof keine Einwände gegen eine Verlustfeststellung nach Verbüßung von weniger als zwei Jahren einer auf insgesamt sechs Jahre und sechs Monate festgesetzten Haftstrafe erhoben hat (vgl. EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 - Rn. 12 f.; ähnlich im Urteil vom 22. Mai 2012 - C-348/09 [ECLI:EU:C:2012:300], P.I. - Rn. 10 f.). Einer positiven Entwicklung des Unionsbürgers nach Erlass der Verlustfeststellung - etwa durch eine erfolgreiche Therapie während der Strafhaft - kann durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 18.14 - DVBl 2015, 780 Rn. 22 ff.).

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9. Die Beschwerde sieht Verstöße gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs darin, dass das Berufungsgericht bei der Überprüfung der lange Zeit vor Haftende getroffenen Ermessensentscheidung "die zu erwartenden positiven Auswirkungen des weiteren Strafvollzuges" nicht einbezogen habe (Beschwerdebegründung S. 11 lit. b) und im Fall der Vollstreckung der Verlustfeststellung später als zwei Jahre nach ihrem Erlass dann nach Art. 33 Abs. 2 Unionsbürger-Richtlinie erneut eine Überprüfung erfolgen müsse - allerdings ohne vorheriges rechtliches Gehör des Klägers (Beschwerdebegründung S. 11 f. lit. a).

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Aus beiden Rügen ergibt sich keine Verletzung des klägerischen Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Denn bei der Prüfung, ob dem Berufungsgericht ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist von dessen materiellrechtlicher Rechtsauffassung auszugehen, auch wenn diese - wofür hier nichts ersichtlich ist (vgl. oben Ziffer 8) - verfehlt sein sollte (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 17 m.w.N.). Nach dem für die Beurteilung eines Gehörsverstoßes maßgeblichen materiellrechtlichen Ansatz des Berufungsgerichts, der eine Berücksichtigung etwaiger positiver Entwicklungen bei einer Entscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU gerade nicht abschneidet, kam es aber auf die von der Beschwerde genannten Umstände für das Berufungsurteil nicht an.

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10. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

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11. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.