Verwaltungsgericht Magdeburg Beschluss, 11. Apr. 2013 - 9 B 140/13
Gericht
Gründe
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Der Eilrechtsschutzantrag ist zulässig und begründet.
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Der Antragsteller wendet sich mit seinem vorläufigen Rechtsschutzantrag nach § 123 VwGO gegen eine drohende Abschiebung nach Ungarn aufgrund der Bestimmungen nach der Dublin-II-Verordnung. Auch wenn diesbezüglich noch kein konkreter Verbringungstermin mitgeteilt wurde, ist dem Gericht aus anderen Fällen bekannt, dass der entsprechende von dem Dublin-Referat in Dortmund erstellte ablehnende Bescheid, dem Asylbewerber erst am Tage seiner Überstellung durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde persönlich zugestellt bzw. ausgehändigt wird (vgl. VG Stuttgart, Beschluss v. 02.07.2012, A 7 K 1877/12; juris) oder auch dem bestellten Verfahrensbevollmächtigten erst auf Nachfrage überhaupt bekannt gegeben wird (vgl. VG Augsburg, Beschluss v. 05.07.2011, Au 6 S 11.30264; juris). Allein diese bekannte Verfahrensweise lässt faktisch keinen geordneten einstweiligen Rechtsschutz im Falle der Abschiebung zu und begegnet erheblichen rechtlichen Bedenken (so auch: VG Stuttgart, Beschluss v. 02.07.2012, A 7 K 1877/12; VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 01.06.2011, 5a L 576/11.A; bereits früher: VG Hannover, Beschluss v. 10.12.2009, 13 B 6047/09; VG Schleswig, Beschluss v. 12.08.2009, 9 B 37/09; alle juris). Daher muss effektiver Eilrechtsschutz vorliegend auch schon vor Erlass eines Bescheides bzw. Mitteilung des konkreten Abschiebetermins möglich sein. Zudem soll vorliegend der der ablehnende Bescheid vom 18.03.2013 dem Prozessbevollmächtigten lediglich formlos übersandt worden sein (vgl. zum Ganzen bezüglich der Italien-Fälle, nur: VG Magdeburg, Beschluss v. 17.07.2012, 9 B 148/12; juris).
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Der Zulässigkeit des Antrags steht § 34 a Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) nicht entgegen. Danach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nicht im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes ausgesetzt werden. Die vorläufige Untersagung der Abschiebung kommt nach § 123 VwGO jedoch in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Frage stellende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist. Dies ergibt sich aus der gebotenen Verfassungskonformen Auslegung der Norm (vgl.: BVerfG, U. v. 14.05.1996, 2 BvR 1938, 2315 und Beschlüsse vom 08.09.2009, 2 BvQ 56/09, und vom 08.12.2009, 2 BvR 2780/09; VG Gelsenkirchen, B. v. 01.02.2011, 7 a L 85/11.A; juris).
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Vorliegend bestehen im Sinne des vorläufigen Rechtsschutzes hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese Voraussetzungen auf Ungarn zutreffen könnten. Es ist öffentlichkeits- und gerichtsbekannt, dass einige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht hinnehmbare Probleme bei der Durchführung der tatsächlichen Asylantragsgewährung haben und nicht die Kernanforderungen des EU-Flüchtlingsrechts zur Durchführung von Asylverfahren gewährleisten. Dazu zählt neben Griechenland, Bulgarien (VG Magdeburg, GB v. 21.02.2012, 9 A 82/11; juris) und Italien (vgl. nur: VG Magdeburg, Beschluss v. 17.07.2012, 9 B 148/12; juris) auch Ungarn.
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Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO prüfen die Mitgliedsstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates stellt, wobei grundsätzlich Kap. III, Art. 10 der Dublin II-VO der Staat zuständig ist, dessen Grenze illegal überschritten wurde. Dies wäre wohl vorliegend Ungarn. Trotz dessen kann nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO ein Mitgliedsstaat einen im Inland gestellten Asylantrag prüfen. Ein insoweit bestehendes Ermessen ist jedenfalls dann auf null reduziert, wenn ein Verweisen auf den Staat der Einreise die Durchführung eines richtlinienkonformen Asylverfahrens nicht gewährleistet. Denn anderenfalls läge ein Verstoß gegen Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor. Nach Art. 18 der Charta wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28.07.1951 und des Protokolls vom 31.01.1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet. Aus diesem Grund muss jeder Mitgliedsstaat das Asylverfahren selbst durchführen, wenn das in Richtlinien statuierte formelle oder materielle Asylrecht in einem Mitgliedsstaat nicht zur Anwendung gelangt (vgl. ausführlich: VG Magdeburg, GB v. 21.11.2011, 9 A 100/11; Urt. v. 26.07.2011, 9 A 346/10 MD mit Verweis auf VG Frankfurt, Urt. v. 08.07.2009, 7 K 4376/07; alle juris). Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21.12.2011 (C-411/10 und C-493/10; juris).
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Das Gericht ist davon überzeugt, dass – zumindest derzeitig – ein rechtsstaatliches Asylverfahrens in Ungarn nicht gewährleistet ist. Das Schutzniveau, welches die Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004) insbesondere in Art. 28 (Sozialleistungen) und in Art. 31 (Zugang zu Wohnraum) festlegt, kann dort ebenso wenig gewährleistet werden wie ein richtlinienkonformes Asylverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003. Ferner wird gegen die Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2011) zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern verstoßen. Weiter bestehen erhebliche Bedenken, ob ein Zurückschicken des Klägers nicht ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellt. Dabei sind die derzeitigen augenblicklichen und tatsächlichen Verhältnisse des Mitgliedsstaates Ungarn zu bewerten.
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Diese Bedenken des Gerichts werden von der überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geteilt (vgl. nur: VG Ansbach, Beschluss v. 07.01.2013, AN 11 EE 13.30006; VG Stuttgart, Beschluss v. 14.08.2012, A 7 K 2589/12, jeweils m. w. Nachw.; alle juris). Insbesondere aus dem UNHCR Positionspapier vom April 2012 und dem Bericht von Pro Asyl vom 15.03.2012 ergibt sich, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen in Ungarn europäischen Standards nicht entsprechen. Misshandlungen in der Haft und Ruhigstellung renitenter Flüchtlinge mittels Medikamenten sei regelmäßig zu beobachten. Gerade nach der Dublin-II-Verordnung an Ungarn überstellte Asylbewerber müssten mit ihrer Inhaftierung und Abschiebung rechnen (vgl. VG Trier, Urteil v. 30.05.2012, 5 K 967/11.TR; juris; mit Verweis auf Stellungnahme des österreichischen Büros des UNHCR und Auskunft des AA vom 09.11.2011 an VG Regensburg sowie Bericht des ungarischen Helsinki-Komitees). Weitere derartige Auskünfte ergeben sich aus den im Internet zugänglichen Berichten der genannten Organisationen, wonach UNHCR Menschenrechtverletzungen im ungarischen Asylsystem belegt und über dramatische Situationen von Flüchtlingen in Ungarn berichtet.
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An dieser Einschätzung ändert zur Überzeugung des Gerichts nichts, dass der ungarische Staat wohl seit Ende 2012/Anfang 2013 bemüht ist, durch gesetzliche Vorgaben diesen Missständen zu begegnen. Nach dem update (Dezember 2012) des UNHCR-Berichts vom Oktober und April 2012 (einzusehen über: Informationsverbund Asyl & Migration: www.asyl.net/) sollen nunmehr die Asylgründe von Asylsuchenden auch inhaltlich geprüft werden und die Praxis, Asylsuchende in Haft zu nehmen sei stark rückläufig und werde staatlich wie richterlich kontrolliert. Demnach haben sich erkennbar aktuell das Verwaltungsgericht Potsdam (Beschluss v. 26.02.2013, 6 L 50/13.A; juris) und das Verwaltungsgericht Trier (Beschluss v. 15.01.2013, 5 L 51/13.TR; juris) der Rechtsauffassung angeschlossen, dass – nunmehr- keine unionswidrige Asylpraxis in Ungarn mehr zu befürchten sei und daher die Voraussetzungen für das Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr vorlägen.
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Dieser Rechtsauffassung schließt sich das erkennende Gericht mit dem Verwaltungsgericht Hannover (Beschluss v. 18.03.2013, 1 B 2448/13; einzusehen über www.asyl.net) nicht an. Denn – und darauf weist auch das VG Hannover hin – handelt es sich um einen Regelungsentwurf, wobei dem erkennenden Gericht nicht klar ist, ob dieser zwischenzeitlich vom ungarischen Parlament verabschiedet und umgesetzt wurde. Jedenfalls – und das ist entscheidend – ist nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen, dass dadurch tatsächlich eine Änderung in der Praxis eingetreten ist. Dies gilt es in dem Hauptsacheverfahren zu klären. Für das vorliegende Eilrechtsschutzverfahren gilt vielmehr, dass zum augenblicklichen Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung weiterhin von den eklatanten und erschreckenden nicht unionskonformen Verhältnissen bezüglich des Umgangs mit Asylbewerbern in Ungarn auszugehen ist. Denn diese Berichterstattung fällt noch drastischer aus als z. B. die zum Umgang mit Asylbewerbern in Italien.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
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(1) Auf Antrag kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint.
(2) Für den Erlaß einstweiliger Anordnungen ist das Gericht der Hauptsache zuständig. Dies ist das Gericht des ersten Rechtszugs und, wenn die Hauptsache im Berufungsverfahren anhängig ist, das Berufungsgericht. § 80 Abs. 8 ist entsprechend anzuwenden.
(3) Für den Erlaß einstweiliger Anordnungen gelten §§ 920, 921, 923, 926, 928 bis 932, 938, 939, 941 und 945 der Zivilprozeßordnung entsprechend.
(4) Das Gericht entscheidet durch Beschluß.
(5) Die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 gelten nicht für die Fälle der §§ 80 und 80a.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.