Verwaltungsgericht München Beschluss, 09. Juli 2014 - 23 S 14.50308
Gericht
Gründe
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 1. Juni 2014 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom ... Mai 2014 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge nigerianischer Staatsangehöriger der Volkszugehörigkeit der Ibo, der über Griechenland und Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland gelangte und am 7. März 2014 einen Asylantrag stellte.
Nach Feststellung eines entsprechenden EURODAC-Ergebnisses erklärte auf Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 28. April 2014 die zuständige ungarische Behörde mit Schreiben vom 5. Mai 2014 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags, nachdem der Antragsteller dort bereits im Juli 2013 Asylantrag gestellt hatte.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom ... Mai 2014, zugestellt am 26. Mai 2014, erklärte die Antragsgegnerin den Asylantrag für unzulässig (Nr. 1). Die Abschiebung nach Ungarn wurde angeordnet (Nr. 2).
Durch Schriftsatz vom 1. Juni 2014, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 1. Juni 2014, erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers hiergegen Klage (M 23 K 14.30807) und beantragte für das vorliegende Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass in Ungarn systemische Mängel bei der Durchführung der Asylverfahren und der Unterbringung bestünden. Dies bedinge den Selbsteintritt Deutschlands.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Mit der am 6. September 2013 in Kraft getretenen Neuregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO im vorliegenden Fall statthaft; er wurde auch fristgerecht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids gestellt.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage lassen sich die Erfolgsaussichten der Klage vorliegend nicht abschließend bewerten.
Zwar bezweifelt das Gericht die grundsätzliche Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags nicht, nachdem der Kläger dort - zweifelsohne - einen Asylantrag gestellt hatte. Ungarn ist als Mitgliedsstaat der Europäischen Union kraft Gesetzes sicherer Drittstaat und haben die ungarischen Behörden ihre Zuständigkeit anerkannt (Art. 18 I der VO (EU) Nr. 604/2013 - „Dublin-III“).
Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezember 2011 (C-411/10
Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Entscheidung vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 u. a. -juris) muss es sich aufdrängen, dass der betreffende Ausländer von einem der dort im Einzelnen bezeichneten und vom normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfall betroffen ist.
Die Frage, ob in Ungarn solcherlei Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vorliegen und ob eine Überstellung nach Ungarn einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet (vgl. in diesem Sinne z. B. VG Ansbach, B. v. 7.1.2013 - AN 11 E 13.30006; VG Magdeburg, B. v. 11.4.2013 - 9 B 140/13; VG Stuttgart, B. v. 14.8.2012 - A 7 K 2589/12, jeweils m. w. N. - alle juris; vgl. auch VG Freiburg, B. v. 28.8.2013 - A 5 K 1406/13; a.A. z. B. VG Aachen, B. v. 16.11.2012 - 6 L 335/12.A; VG Augsburg, B. v. 25.7.2013 - Au 7 S 13.30210; VG Potsdam, B. v. 26.2.2013 - 6 L 50/13a; VG Saarland, B. v.19.2.2013 - 3 L 397713; VG Trier, B. v.15.1.2013 - 5 L 51/13.TR - alle juris) und in der des Verwaltungsgerichts München überwiegend (a. A.: bsp. B. v. 27.1.2014 - M 4 S 14.30066 und B. vom 11.2.2014 - M 21 S 14.30102) als offen erachtet (vgl. bsp. B. v. 11.11.13 - M 18 S 13.31119; B. v. 11.10.13 - M 11 S 13.30995 u. B. v. 15.1 und 7.2.2014 - M 23 S 13.31390 und M 23 S 14.30155).
Obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage liegt soweit ersichtlich - abgesehen von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts Sachsen- Anhalts vom 31. Mai 2013 (4 L 169/12) und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
Nach Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt sei weder aus der Stellungnahme des Helsinki Komitees vom 8. April 2013 noch aus dem Bericht des UNHCR vom April 2013 hinreichend ersichtlich, dass die (zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht in Kraft getretenen) Gesetzesänderungen im ungarischen Asylgesetz zu systemischen Mängeln führten. Berichte zu Haftbedingungen aus der Vergangenheit würden sich auf Fälle automatischer Inhaftierung von Asylbewerbern und Dublin-Rückkehrern beziehen; eine solche automatische Inhaftierung finde gerade nicht mehr statt.
Weiterhin hat der Europäische Gerichtshof in einer Kammerentscheidung vom 6. Juni 2013 für Recht erkannt, dass die Abschiebung nach Ungarn keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt (Case of Mohammed v. Austria - Application No. 2283/12 unter http://hudoc.echr.coe.int.). Als Grundlage für diese Bewertung zieht der Gerichtshof dabei auch maßgeblich den Bericht des UNHCR vom Dezember 2012 („Note on Dublin transfers to Hungary of people who transited through Serbia - update“) zu den Gesetzesänderungen in Ungarn heran.
Nicht bzw. nur zum Teil berücksichtigt werden konnten dort allerdings die zwischenzeitlich vorliegenden neueren Erkenntnisse, wonach in Ungarn insbesondere zum 1. Juli 2013 eine erneute Gesetzesänderung in Kraft getreten ist, bei der Inhaftierungen von Asylbewerbern für einen Zeitraum bis zu sechs Monaten vorgesehen sind. Sowohl UNHCR als auch der Europäische Flüchtlingsrat sowie das ungarische Helsinki Komitee warnen, dass die Rechtsgrundlagen für eine Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz suchen, zu weit seien und daher ein erhebliches Risiko einer umfassenden Inhaftierung von Asylbewerbern bestehe (vgl. UNHCR, UNHCR Comments and Recommendations on the Draft Modification of certain migration-related Legislative Acts for the Purpose of Legal Harmonisation, 12.4.2013, S. 7 f, S. 10; European Council on Refugees and Exiles - ECRE Weekly Bulletin, 14.6.2013, S. 3; Hungarian Helsinki Committee, Brief Information Note on the Main Asylum-Relates Legal Changes in Hungary as of 1 July 2013, S. 2 unter www.helsinki.hu). Die Gesetzesänderung sieht - neben anderen Gründen - als Grund für die Inhaftierung von Asylbewerbern die Feststellung ihrer Identität oder Nationalität vor, und wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Asylsuchende das Asylverfahren verzögert oder vereitelt oder Fluchtgefahr bei ihm besteht (vgl. Hungarian Helsinki Committee, a. a. O., S. 2). UNHCR äußert dabei in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf die Vermutung, dass Hauptziel dieser (zeitlich vorgezogenen) Gesetzesänderung eine Senkung der Zahl der Asylanträge sei. Inhaftierung würde als Instrument zur Kontrolle von Migration eingesetzt, um illegale Einreise zu pönalisieren und unrechtmäßige Weiterwanderung zu verhindern (vgl. UNHCR, a. a. O., S. 7 f). Weiterhin berichtet das ungarische Helsinki Komitee davon, dass im Hinblick auf die steigende Zahl der Asylsuchenden in Ungarn (mehr als 10.000 Asylbewerber seien im Zeitraum von Januar bis Juni 2013 registriert worden) die Hauptaufnahmeeinrichtung in Debrecen deutlich überbelegt sei (über 1.300 Asylsuchende Mitte Juni), was zu ernsthaften Problemen geführt habe, insbesondere zu einer eklatanten Verschlechterung der hygienischen Bedingungen. Auch der aktuelle Bericht der Arbeitsgruppe über willkürliche Inhaftierungen des „United Nations Human Rights Office of the High Commissioner“ über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 kritisiert die Inhaftierungspraxis in Ungarn, insbesondere auch die fehlenden effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten und mahnt solide Verbesserungen an (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner - Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon conclusion of its visit to Hungary - 23. September - 2. October 2013 - S. 4). Ebenso kommt der aktualisierte und ergänzte Bericht von Pro Asyl „Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, zu dem Ergebnis, dass in Ungarn derzeit von „systemischen Mängeln“ in den Aufnahmebedingungen auszugehen sei. Es sei aufgrund des massiven Anstiegs von Asylanträgen davon auszugehen, dass die „systemischen Mängel“ noch weiter zunehmen würden. Sollte der Großteil der Asylantragsteller, die sich derzeit in anderen EU-Staaten aufhielten, zurück nach Ungarn überstellt werden, so wären die vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende keinesfalls in der Lage, eine menschenwürdige Unterbringung zu gewährleisten (vgl. Pro Asyl, Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, Stand: Oktober 2013). Auch der aktualisierte Bericht des ungarischen Helsinki Komitees (Hungarian Helsinki Committee, „Information Note On Asylum-Seekers In Detention And In Dublin Procedures In Hungary”, Stand: Mai 2014, der aida Länderbericht (aida, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, Stand: 30. April 2014) sowie die Stellungnahme des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf (vgl. B. v. 28.5.2014 - 13 L 172/14.A - juris ) bestätigen diese erheblichen Bedenken.
Insbesondere im Hinblick auf diese neueren Erkenntnisquellen sind die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung derzeit nicht hinreichend abschätzbar. Eine Prüfung bleibt dem zeitnahen Hauptsacheverfahren vorbehalten. Das Gericht hat für die Streitsache bereits den 30. Juli 2014 als Erörterungstermin bestimmt, um die Erkenntnismittel zu diskutieren. Vorliegend ist bei der demzufolge anzustellenden Abwägung das Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung über seine Klage nicht zwangsweise nach Ungarn rücküberstellt zu werden, höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer möglichst umgehenden Rückführung des Antragstellers.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.