Die Kläger wenden sich gegen ihre Rücküberstellung nach Ungarn.
2 Die 1989 und 1992 geborenen Kläger zu 1 und zu 2 sind afghanische Staatsangehörige. Sie reisten am 15. Juni 2014 gemeinsam mit ihren 2010 und 2014 geborenen Kindern, den Klägern zu 3 und zu 4, nach eigenen Angaben über Ungarn und Österreich auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am 8. Juli 2014 einen Asylantrag.
Ein EURODAC-Treffer ergab Hinweise auf die Zuständigkeit Ungarns zur Durchführung des Asylverfahrens. Einem Übernahmeersuchen vom 22. August 2014 stimmten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 29. August 2014 zu und erklärten ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 11. September 2014 lehnte daraufhin die Beklagte den Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Ungarn an. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Asylantrag sei nach § 27 a AsylVfG unzulässig, weil Ungarn für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich. Der Asylantrag werde daher in Deutschland nicht materiell geprüft. Der Bescheid wurde am 16. September 2014 zur Post gegeben.
Gegen diesen Bescheid ließen die Kläger am 24. September 2014 Klage erheben mit dem Antrag,
den Bescheid vom 11. September 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland fortzusetzen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Beklagte ihr in Art. 17 Dublin III-VO eingeräumtes Ermessen zugunsten der Kläger ausüben müsse und den Asylantrag in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe. Darüber hinaus habe sich die Klägerin zu 2 bereits im Juni 2014 wegen Depressionen in ambulante psychiatrische Behandlung begeben. Nach Erhalt des streitgegenständlichen Bescheids sei es zu einer Äußerung von Suizidabsichten gekommen. Der Klage beigefügt war eine Kopie einer ärztlichen Notfalleinweisung vom 18. September 2014 wegen Suizidgefahr nach bereits zweimaligem Suizidversuch und wohl schwerer Traumatisierung in jüngster Vergangenheit. Ebenfalls vorgelegt wurde ein Arztbericht eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 25. Juni 2014, in dem bescheinigt wird, dass die Klägerin zu 2 sich mit einem depressiven und halluzinatorischen Syndrom vorgestellt habe. Auf der Flucht seien bereits zwei Suizidversuche erfolgt.
Dem ebenfalls gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wurde mit Beschluss vom 1. Oktober 2014 (Az. Au 6 S. 14.50238) stattgegeben.
Im weiteren Verlauf wurde ein psychodiagnostischer Befund des Kompetenzzentrums für Psychotraumatologie der Universität Konstanz vom 12. November 2014 vorgelegt, in dem die erstellende Diplompsychologin zu dem Ergebnis kam, dass bei der Klägerin zu 2 eine posttraumatische Belastungsstörung und Depression mit hoher Suizidalität vorliege, deren Symptomatik durch die aktuelle Lebenssituation verkompliziert und erhöht werde. Auf die weiteren Ausführungen des in den Gerichtsakten vorhandenen umfänglichen Gutachtens wird verwiesen.
Die Beklagte legte die Behördenakte vor, stellte aber keinen Antrag.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 1. Oktober 2014 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylVfG). Mit der Ladung übersandte das Gericht eine Liste der Erkenntnismittel und Auskünfte, die es bei seiner Entscheidung verwerte.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte, sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Durchführung ihres Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 11. September 2014 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts ist ein isoliertes Aufhebungsbegehren statthaft und zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes auch ausreichend. Die Entscheidungen nach §§ 27 a und 34 a Abs. 1 AsylVfG stellen Verwaltungsakte i.S. des § 42 Abs. 1 VwGO dar, deren isolierte Aufhebung - anders als in sonstigen Fällen eines Verpflichtungsbegehrens - ausnahmsweise zulässig ist, weil schon ihre Beseitigung grundsätzlich zur formellen und materiellen Prüfung des gestellten Asylantrags führt (BayVGH, U.v. 28.2.2014 - 13a B 13.30295 - Rn. 21; VG Stuttgart, U.v. 28.2.2014 - A 12 K 383/14 - juris Rn. 25; VG Düsseldorf, U.v. 10.2.2014 - 25 K 8830/13.A - juris Rn. 18).
2. Rechtsgrundlage für die Entscheidung der Beklagten über die Unzulässigkeit des Asylantrags ist in Fällen der vorliegenden Art grundsätzlich § 27 a AsylVfG i.V.m. § 31 Abs. 1 AsylVfG, wobei eine mit diesem Ausspruch verbundene Abschiebungsanordnung regelmäßig ihre Rechtsgrundlage in § 34 a Abs. 1 AsylVfG findet. Nach § 27 a AsylVfG ist ein in Deutschland gestellter Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Eu ropäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Die Kläger haben einen Anspruch auf Durchführung ihres Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO. Damit liegen die Voraussetzungen des § 27 a AsylVfG nicht vor.
aa) Die Kläger haben zwar in Ungarn unstreitig Asylanträge gestellt, über die noch nicht in der Sache entschieden worden ist. Ungarn wäre somit grundsätzlich gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. Nr. L 180 S. 31, im Folgenden: Dublin-III-VO) für die Durchführung der Asylverfahren zuständig.
bb) Abweichend von den allgemeinen Zuständigkeitsbestimmungen sind in Kapitel IV der Dublin-III-VO jedoch Regelungen enthalten, unter welchen Umständen das Verfahren über den internationalen Schutz von einem Mitgliedstaat übernommen werden kann. So kann ein an sich unzuständiger Mitgliedstaat nach Art. 17 Dub-lin-III-VO beschließen, einen Antrag auf internationalen Schutz abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO zu prüfen, sofern dies beispielsweise aus humanitären Gründen erforderlich erscheint, weil andernfalls eine Verletzung der EMRK zu befürchten wäre. Auch wenn grundsätzlich davon ausgegangen werden muss, dass die Zuständigkeitskriterien nach der Dublin III-VO ein EMRK-konformes Ergebnis liefern, bietet die in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessensentscheidung die erforderliche Flexibilität, um die EMRK-Konformität auch in von der Verordnung nicht allgemein vorhersehbaren besonderen Fällen zu garantieren.
Nach Überzeugung des Gerichts ziehen vorliegend die gesundheitliche Verfassung der Klägerin zu 2 und die besondere Schutzbedürftigkeit der erst 2010 und 2014 geborenen Kläger zu 3 und zu 4 zwingend die Verpflichtung zum Selbsteintritt nach sich. Nach dem in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnenen Eindruck und der vorliegenden ärztlichen Stellungnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2 im Falle einer Überstellung nach Ungarn in eine ernsthafte gesundheitliche Gefährdungslage geraten würde. Der psychodi-agnostischer Befund des Kompetenzzentrums für Psychotraumatologie der Universität Konstanz vom 12. November 2014, der in allen Punkten die Anforderungen erfüllt, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an ärztliche Atteste bzw. Gutachten gestellt werden (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 -10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 = juris Rn. 156), stellt fest, dass bei der Klägerin zu 2 eine hohe Suizidalität vorliege. Sie leide an einer schweren chronischen posttraumatischen Belastungsstörung mit psychotischen Symptomen wie optischen Halluzinationen und Verfolgungswahn. Die Symptomatik werde durch ihre Lebenssituation verkompliziert und erhöht. Sie sei in nahezu allen Bereichen des alltäglichen Lebens in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt. Dass die Klägerin zu 2 in psychischen Ausnahmesituationen einen Suizid als persönlichen Ausweg ernsthaft in Betracht zieht, ist durch die Tatsache belegt, dass sie bereits während der Flucht zwei Suizidversuche unternommen hatte.
Für die Beurteilung, ob die Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führt, kommt es dabei nicht nur darauf an, ob der betroffene Asylbewerber den Abschiebungsvorgang ohne konkrete erhebliche Gesundheitsgefahren übersteht, sondern entscheidend ist, ob die Rückführung in den Mitgliedstaat und die damit notwendige völlige Neuorientierung und Hilflosigkeit im konkreten Einzelfall zu einer persönlich empfundenen Ausnahmesituation führen kann. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass Asylbewerber bei der Rückführung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat weder über ein soziales Netzwerk noch über verwandtschaftliche Hilfe verfügen. Auch gehören die europäischen Mitgliedstaaten in der Regel einem anderen Kulturkreis an, in dem Gepflogenheiten und Verhaltensregeln gelten, die sich vom Herkunftsland der Flüchtlinge in der Regel grundlegend unterscheiden. Diese Umstände sind bei der Beurteilung der konkreten Gefährdungssituation zu überstellender Flüchtlinge zu beachten. Besonders in den Blick zunehmen ist dabei ins besondere auch der Gesichtspunkt der Familieneinheit und des Kindeswohls (vgl. auch BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 1795/14 - Asylmagazin 2014, 341).
Angesichts der psychischen Verfassung der Klägerin zu 2, der Tatsache, dass sie für zwei kleine Kinder, eines davon im Säuglingsalter verantwortlich ist und den in Ungarn vorherrschenden Bedingungen insbesondere für Rückkehrer nach dem Dublin-Verfahren (vgl. hierzu VG Oldenburg, B.v. 18.6.2014 - 12 B 1238/14 - juris Rn. 33) besteht aus Sicht des Gerichts unter Berücksichtigung der psychologischen Begutachtung der Klägerin zu 2 durch die Universität Konstanz vom 12. November 2014 die ernsthaft zu befürchtende Gefahr, dass die Klägerin zu 2 in einer von ihr als ausweglos empfundenen Situation zu konkreten selbstverletzenden- oder suizidalen Handlungen greifen kann. Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2 ihr Asylverfahren in Ungarn nicht durchführen kann, ohne einer ernsthaften gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Im Hinblick auf die besondere Schutzbedürftigkeit der Kläger zu 3 und zu 4 ist aufgrund der hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 GG das Ermessen zugunsten der Kläger auszuüben. Im Hinblick auf die Familieneinheit gilt dies ebenso für den Kläger zu 1. Hierbei ist auch zu beachten, dass die Kläger aufgrund ihrer besonderen gesundheitlichen und familiären Situation voraussichtlich nicht in der Lage sein würden, sich mit dem in Ungarn nötigen Nachdruck um ihre Belange im Asylverfahren zu kümmern.
b) Durch den Nichtgebrauch des Selbsteintrittsrechts werden die Kläger auch in ihren Rechten verletzt.
Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO soll auch dem Interesse des jeweiligen Asylbewerbers an der Gewährung effektiven Rechtsschutzes dienen. Die Regelung eröffnet die Möglichkeit, Grund- und Menschenrechte bei der Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrages zuständigen Mitgliedsstaates zu berücksichtigen. Nach Art. 21 der Richtlinie 2013/33 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl L 180, S. 96) ist im einzelstaatlichen Recht die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen zu berücksichtigen. Die Ermessensausübung kann durch nationales Verfassungsrecht, primäres Unionsrecht und Völkervertragsrecht, die nicht durch die Dublin III-VO verdrängt werden und die ihrerseits subjektive Rechts begründen, geleitet sein (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.7.2012 - 2 LB 163/10 - juris Rn. 38). Wenn demnach die Überstellung humanitären Interessen des Asylsuchenden zuwiderläuft, etwa weil er wegen einer schweren Erkrankung besonders schutzbedürftig ist, kann sich das in Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO eingeräumte Ermessen zu einem Anspruch des Asylsuchenden auf Selbsteintritt verdichten, auf den dieser sich berufen kann. Davon ist im konkreten Fall aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls im Falle der Kläger auszugehen.
c) Damit erweist sich auch die gegenüber den Klägern nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG ergangene Abschiebungsanordnung als rechtswidrig.
3. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylVfG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.