Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz Urteil, 08. Juni 2015 - VGH N 18/14

ECLI:ECLI:DE:VERFGRP:2015:0608.VGHN18.14.0A
bei uns veröffentlicht am08.06.2015

Tenor

1. Das Landesgesetz über die Eingliederung der Verbandsgemeinde Maikammer in die Verbandsgemeinde Edenkoben vom 20. Dezember 2013 (GVBl. S. 541) ist mit Artikel 49 Absatz 1 bis 3 der Verfassung für Rheinland-Pfalz unvereinbar und daher nichtig.

2. Gemäß § 20 Abs. 3 des Landesgesetzes über den Verfassungsgerichtshof wird angeordnet:

a) Die Antragstellerin wird bis zu einer Neuwahl ihres Verbandsgemeinderates von dem aufgrund der Wahl vom 7. Juni 2009 gewählten Rat verwaltet. Eine Neuwahl des Verbandsgemeinderates ist bis spätestens zum 31. Januar 2016 durchzuführen.

b) Die Wirksamkeit der in der Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils ergangenen Rechtshandlungen der Verbandsgemeinde Edenkoben betreffend die Antragstellerin wird von der Nichtigkeit des Landesgesetzes über die Eingliederung der Verbandsgemeinde Maikammer in die Verbandsgemeinde Edenkoben nicht berührt. Sie gelten, soweit die Antragstellerin zuständig gewesen wäre, als für diese ergangen.

3. Das Land Rheinland-Pfalz hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

1

Mit ihrem Antrag wendet sich die Antragstellerin, die Verbandsgemeinde Maikammer, gegen ihre Auflösung und Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben im Rahmen einer Kommunal- und Verwaltungsreform.

I.

2

Die letzte große kommunale Funktions- und Gebietsreform fand in Rheinland-Pfalz Ende der 1960er Jahre/ Anfang der 1970er Jahre statt. Sie diente der Anpassung der kommunalen Strukturen an die gewachsenen Ansprüche im modernen Sozial- und Rechtsstaat. Ziel war es, Kommunen angemessener Größe zu schaffen, um eine effiziente Aufgabenwahrnehmung zu ermöglichen und dadurch die kommunale Selbstverwaltung zu stärken (vgl. hierzu LT-Drucks. 6/17, S. 18 ff., LT-Drucks. 6/698, S. 28 ff.; ferner Stamm, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 49 Rn. 6 m.w.N.; vertiefend Steinbicker, in: Junkernheinrich/Lorig [Hrsg.], Kommunalreformen in Deutschland, 2013, S. 213 ff.).

3

Mehr als 40 Jahre später hat der Landtag Rheinland-Pfalz beschlossen, eine weitere Kommunal- und Verwaltungsreform durchzuführen. Diese beinhaltet neben der Änderung zahlreicher Zuständigkeiten (vgl. hierzu das Zweite Landesgesetz zur Kommunal- und Verwaltungsreform vom 28. September 2010, GVBl. S. 280) auf einer ersten Stufe insbesondere eine Gebietsreform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden. Hierdurch sollen die Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft dieser kommunalen Gebietskörperschaften gestärkt werden. Anlässe für die Änderung der Gebietsstrukturen seien, so der Gesetzgeber, im Wesentlichen demografische Veränderungen, die Situation der öffentlichen Finanzen, technische und soziale Entwicklungen sowie eine Änderung des Aufgabenspektrums der Verwaltungen (so LT-Drucks. 15/4488, S. 1, 21). Auf einer zweiten Stufe der Reform sollen bis zum Jahr 2019 die Strukturen der Landkreise und kreisfreien Städte optimiert werden (vgl. hierzu auch LT-Drucks. 15/4488, S. 32, LT-Drucks. 16/1081).

II.

4

Am 8. September 2010 beschloss der Landtag das Erste Landesgesetz zur Kommunal- und Verwaltungsreform, das am 5. Oktober 2010 im Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet wurde (GVBl. 272). Artikel 1 dieses Gesetzes beinhaltet das Landesgesetz über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsreform – KomVwRGrG – (im Folgenden: Grundsätzegesetz), das unter anderem die Kriterien für eine Änderung der Gebietsstrukturen festlegt.

5

§ 1 bis § 3 KomVwRGrG lauten wie folgt:

6

§ 1
Ziele

7

(1) Ein Ziel der Kommunal- und Verwaltungsreform sind kommunale Gebietskörperschaften, die unter besonderer Berücksichtigung der demografischen Entwicklungen und des Einsatzes neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere im Rahmen von E-Government, in der Lage sind, langfristig die eigenen und die übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Zu diesem Zweck sollen Aufgabenzuständigkeiten verändert und die Leistungsfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und die Verwaltungskraft der verbandsfreien Gemeinden und der Verbandsgemeinden im Interesse einer bestmöglichen Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger durch Gebietsänderungen verbessert werden. Der Freiwilligkeit gebietlicher Veränderungen wird hierbei der Vorrang eingeräumt.

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(2) Darüber hinaus ist zur Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerledigung eine Erweiterung der gemeinsamen Wahrnehmung von Aufgaben und der gemeinsamen Unterhaltung öffentlicher Einrichtungen durch öffentliche und private Stellen angestrebt; dies gilt insbesondere für eine Zusammenarbeit kommunaler Gebietskörperschaften, die ihren Sitz in derselben Gemeinde haben. Mit Dienstleistungsangeboten der kommunalen Gebietskörperschaften sollen die Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger zur schnellen, qualitativ hochwertigen und kostengünstigen Abwicklung ihrer Verwaltungsangelegenheiten und die Unterstützung der Ortsgemeinden und der Ortsbezirke in Verwaltungsangelegenheiten verbessert werden. Ein Ziel der Kommunal- und Verwaltungsreform ist auch eine stärkere direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in kommunalen Selbstverwaltungsangelegenheiten, um das Potenzial des in Rheinland-Pfalz sehr ausgeprägten bürgerschaftlichen Engagements zur Verwirklichung des Gemeinwohlziels verstärkt nutzen zu können. Dazu sollen notwendige Voraussetzungen geschaffen und erweitert werden.

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§ 2
Grundsätze der Verbesserung kommunaler Gebietsstrukturen

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(1) Zur Stärkung der Leistungsfähigkeit, der Wettbewerbsfähigkeit und der Verwaltungskraft der verbandsfreien Gemeinden und der Verbandsgemeinden werden die vorhandenen Gebietsstrukturen dieser kommunalen Gebietskörperschaften bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahlen im Jahr 2014 verbessert.

11

(2) Eine ausreichende Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft haben in der Regel

12

1. verbandsfreie Gemeinden mit mindestens 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und

13

2. Verbandsgemeinden mit mindestens 12 000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

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Maßgebend ist die vom Statistischen Landesamt Rheinland-Pfalz zum 30. Juni 2009 festgestellte amtliche Zahl der Personen, die mit alleiniger Wohnung oder, sofern eine Person mehrere Wohnungen hat, mit ihrer Hauptwohnung in der verbandsfreien Gemeinde oder der Verbandsgemeinde gemeldet sind.

15

(3) Unterschreitungen der Mindestgröße nach Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 sind in der Regel unbeachtlich bei Verbandsgemeinden mit mindestens 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die eine Fläche von mehr als 100 Quadratkilometern und mehr als 15 Ortsgemeinden haben. Aus besonderen Gründen können Unterschreitungen der Mindestgrößen nach Absatz 2 Satz 1 unbeachtlich sein, wenn die verbandsfreien Gemeinden und die Verbandsgemeinden die Gewähr dafür bieten, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Besondere Gründe sind vor allem landschaftliche und topografische Gegebenheiten, die geografische Lage einer kommunalen Gebietskörperschaft unmittelbar an der Grenze zu einem Nachbarstaat oder einem Nachbarland, die Wirtschafts- und Finanzkraft, die Erfordernisse der Raumordnung sowie die Zahl der nicht kasernierten Soldatinnen und Soldaten, Zivilangehörigen und Familienangehörigen der ausländischen Stationierungsstreitkräfte, soweit diese nicht den deutschen Meldevorschriften unterliegen.

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(4) Verbandsfreie Gemeinden und Verbandsgemeinden sollen mit benachbarten verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden desselben Landkreises zusammengeschlossen werden. Eine Ausnahme von Satz 1 kann zugelassen werden, vor allem wenn innerhalb desselben Landkreises ein Zusammenschluss zu einer verbandsfreien Gemeinde oder Verbandsgemeinde mit einer ausreichenden Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft nicht möglich ist. Ferner können im Ausnahmefall die Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde in mehrere andere Verbandsgemeinden eingegliedert, die Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde und die Ortsgemeinden mehrerer anderer Verbandsgemeinden zu neuen Verbandsgemeinden zusammengeschlossen sowie eine Ortsgemeinde aus einer Verbandsgemeinde ausgegliedert und in eine andere Verbandsgemeinde eingegliedert werden.

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(5) Bei dem Zusammenschluss kommunaler Gebietskörperschaften sind vor allem die Erfordernisse der Raumordnung, landschaftliche und topografische Gegebenheiten, die öffentliche Verkehrsinfrastruktur, die Wirtschaftsstruktur und historische und religiöse Bindungen und Beziehungen zu berücksichtigen.

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§ 3
Freiwillige Gebietsänderungen

19

(1) Im Falle der freiwilligen Eingliederung einer verbandsfreien Gemeinde oder einer Verbandsgemeinde in eine Verbandsgemeinde sind Beschlüsse des Gemeinderates der bisherigen verbandsfreien Gemeinde, der Verbandsgemeinderäte der bisherigen und der aufnehmenden Verbandsgemeinde sowie der Ortsgemeinderäte der Ortsgemeinden der bisherigen und der aufnehmenden Verbandsgemeinde erforderlich, mit denen übereinstimmend der Wille zu dieser freiwilligen Gebietsänderung erklärt wird. Im Falle der freiwilligen Eingliederung der Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde in mehrere andere Verbandsgemeinden sind Beschlüsse nach Satz 1 des Verbandsgemeinderates der bisherigen Verbandsgemeinde und der Ortsgemeinderäte ihrer Ortsgemeinden sowie der Verbandsgemeinderäte der aufnehmenden Verbandsgemeinden und der Ortsgemeinderäte ihrer Ortsgemeinden erforderlich. Im Falle der freiwilligen Umgliederung einer Ortsgemeinde aus einer Verbandsgemeinde in eine andere Verbandsgemeinde sind Beschlüsse nach Satz 1 der Ortsgemeinderäte und der Verbandsgemeinderäte dieser kommunalen Gebietskörperschaften erforderlich. Die Zustimmung der Ortsgemeinden nach den Sätzen 1 bis 3 gilt als erteilt, wenn jeweils mehr als die Hälfte der Ortsgemeinden der bisherigen und der aufnehmenden Verbandsgemeinde zugestimmt hat und in diesen Ortsgemeinden jeweils mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner der bisherigen und der aufnehmenden Verbandsgemeinde wohnt.

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(2) Im Falle der freiwilligen Bildung einer neuen verbandsfreien Gemeinde oder Verbandsgemeinde aus verbandsfreien Gemeinden oder Verbandsgemeinden sind Beschlüsse nach Absatz 1 Satz 1 der Gemeinderäte der bisherigen verbandsfreien Gemeinden oder der Verbandsgemeinderäte der bisherigen Verbandsgemeinden und der Ortsgemeinderäte ihrer Ortsgemeinden erforderlich. Im Falle des freiwilligen Zusammenschlusses der Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde mit den Ortsgemeinden mehrerer anderer Verbandsgemeinden zu neuen Verbandsgemeinden sind Beschlüsse nach Absatz 1 Satz 1 der Verbandsgemeinderäte der bisherigen Verbandsgemeinden und der Ortsgemeinderäte ihrer Ortsgemeinden erforderlich. Absatz 1 Satz 4 gilt entsprechend.

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(3) Im Hinblick auf eine freiwillige Änderung des Gebiets kommunaler Gebietskörperschaften, die verschiedenen Landkreisen angehören, sind die betroffenen Landkreise vorher zu hören.

22

(4) Die Beschlussfassung und die Anhörung nach den Absätzen 1 bis 3 müssen bis zum 30. Juni 2012 erfolgen.

23

(5) Eine Gebietsänderung, die aus Gründen des Gemeinwohls erforderlich ist und nicht freiwillig erfolgt, wird nach vorheriger Anhörung der beteiligten kommunalen Gebietskörperschaften ohne deren Zustimmung durch Gesetz geregelt.

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§ 4
Wahl der Organe und Rechtsstellung der hauptamtlichen Wahlbeamtinnen und Wahlbeamten auf Zeit

25

(…)

26

(5) Eine Wahl für die frei werdende Stelle der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters einer verbandsfreien Gemeinde mit weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern oder einer Verbandsgemeinde mit weniger als 12 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, abgesehen von einer Verbandsgemeinde mit mindestens 10 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die eine Fläche von mehr als 100 Quadratkilometern und mehr als 15 Ortsgemeinden hat, bedarf vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahlen im Jahr 2014 einer Genehmigung der Aufsichtsbehörde; § 2 Abs. 2 Satz 2 gilt entsprechend. Die Genehmigung darf für einen Zeitraum von längstens einem Jahr ab dem Freiwerden der Stelle versagt werden. Für diesen Zeitraum kann die Aufsichtsbehörde die bisherige Bürgermeisterin oder den bisherigen Bürgermeister als beauftragte Person der verbandsfreien Gemeinde oder Verbandsgemeinde bestellen. Die beauftragte Person nimmt die Aufgaben der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters auf Kosten der verbandsfreien Gemeinde oder Verbandsgemeinde wahr.
(…)

(…)

III.

27

Zur Vorbereitung der Gebietsreform hatte im Auftrag des Ministeriums des Innern und für Sport Prof. Dr. Junkernheinrich eine „begleitende Gesetzesfolgenabschätzung zu den Entwürfen des Ersten und Zweiten Landesgesetzes zur Kommunal- und Verwaltungsreform in Rheinland-Pfalz“ (Stand: 13. April 2010) – im Folgenden: begleitende Gesetzesfolgenabschätzung – durchgeführt. Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass in fiskalischer Hinsicht kleine Gemeinden im Durchschnitt deutlich schlechter dastehen als einwohnerstarke Gemeinden. Dies spiegele sich zum einen in ihren überwiegend negativen Haushaltsergebnissen und darüber hinaus auch in der Höhe ihrer Kassenkreditverbindlichkeiten wider. Beide Indikatoren korrespondierten deutlich mit der Gemeindegröße. Die fiskalischen Unterschiede gingen wesentlich auf ortsgrößenbedingte Kostendifferenzen zurück. Zwar stelle die Einwohnerzahl nicht die einzige Bestimmungsgröße für die Höhe des administrativen Ressourcenverbrauchs dar, doch insbesondere im fiskalisch besonders bedeutsamen Bereich der allgemeinen Verwaltung (Einzelplan 0) habe sie einen deutlich spürbaren Einfluss. Im Verbandsgemeindebereich ergäben sich im Hinblick auf eine künftige Mindestortsgröße zwei methodisch begründbare Wirtschaftlichkeitsgrenzen. Die erste liege bei einer Einwohnerzahl von 10.700, die zweite bei etwa 13.000 Einwohnern.

IV.

28

Unter dem 1. August 2012 legte Prof. Dr. Junkernheinrich im Auftrag des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur ein Gutachten mit dem Titel „Fusion von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz – Teil A – Prüfung der Ausnahmegründe von der Fusionspflicht im Rahmen der territorialen Neugliederung rheinland-pfälzischer Verbandsgemeinden und verbandsfreier Gemeinden“ (im Folgenden: Gutachten Junkernheinrich Teil A) vor. Darin untersuchte er, welche verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden die primären Ausnahmegründe nach § 2 Abs. 3 Satz 1 KomVwRGrG bzw. die besonderen Ausnahmegründe nach § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG erfüllten. Der besondere Grund der Wirtschafts- und Finanzkraft im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 3 KomVwRGrG wurde dabei anhand der Steuerkraft ermittelt. Er soll bei denjenigen verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden vorliegen, deren Steuerkraft in Euro je Einwohner in den Jahren 2001 bis 2009 im Mehrjahresdurchschnitt positiv vom jeweiligen Gebietstyp abgewichen ist. Für die Annahme, dass die verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde die Gewähr einer langfristigen, wirtschaftlichen sowie bürger-, sach- und ortsnahen Wahrnehmung der Aufgaben in fachlich hoher Qualität im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG biete, mussten zwei Kriterien erfüllt sein: Das erste Kriterium erforderte einen im Neunjahresdurchschnitt ausgeglichenen Finanzierungssaldo. Das zweite Kriterium verlangte, dass die jeweilige verbandsfreie Gemeinde oder Verbandsgemeinde seit dem Jahr 2007 maximal ein Jahr mit negativem Finanzierungssaldo aufwies. Dabei gelangte der Gutachter zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin zwar den Ausnahmegrund der besonderen Wirtschafts- und Finanzkraft erfülle. Sie sei jedoch nicht dauerhaft leistungsfähig, da sie zwar im Zeitraum 2007 bis 2009 maximal ein Defizitjahr aufweise, allerdings über keinen ausgeglichenen Finanzierungssaldo im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2009 verfüge.

V.

29

1. Mit Schreiben vom 17. Oktober 2012 an den Bürgermeister der Antragstellerin sowie den Bürgermeister der Verbandsgemeinde Edenkoben teilte das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur mit, dass für die Antragstellerin nach Maßgabe des Landesgesetzes über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsreform ein gemeindeimmanenter Gebietsänderungsbedarf gesehen und unter Zugrundelegung der Empfehlungen von Prof. Dr. Junkernheinrich erwogen werde, einen Zusammenschluss mit der Verbandsgemeinde Edenkoben herbeizuführen. Der Antragstellerin wurde hierzu die Möglichkeit zur Stellungnahme gewährt, wovon sie mit Schreiben vom 10. Januar 2013 Gebrauch machte.

30

Mit Schreiben vom 3. Mai 2013 informierte das Ministerium die betroffenen verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden, darunter auch die Antragstellerin darüber, dass Gesetzesentwürfe zu Gebietsänderungen vorbereitet würden. Die Landesregierung sei allerdings bereit, im Gesetzesentwurf die Gebietsänderung für einen späteren Zeitpunkt, spätestens aber zum 1. Juli 2019 vorzusehen, sofern die betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften der jeweilig vorgesehenen Gebietsänderung zustimmten.

31

2. Nachdem die Antragstellerin von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hatte, gab ihr das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur mit Schreiben vom 17. Juni 2013 zum Entwurf eines Landesgesetzes über die Eingliederung der Verbandsgemeinde Maikammer in die Verbandsgemeinde Edenkoben Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 20. August 2013. Daraufhin beantragte die Antragstellerin unter dem 12. Juli 2013 eine Fristverlängerung bis zum 15. September 2013, deren Notwendigkeit sie vor allem damit begründete, dass sich der Zeitraum für die Einreichung einer Stellungnahme im Wesentlichen auf die rheinland-pfälzischen Sommerferien beschränke. Ferner beantragte sie, ihr Einsicht in sämtliche Verfahrensakten zu dem Gesetzesentwurf zu gewähren und ihr sämtliche dem Gutachten von Prof. Dr. Junkernheinrich zugrunde liegenden statistischen Daten zur Verfügung zu stellen. Nachdem das Ministerium die Anträge abgelehnt hatte, nahm die Antragstellerin unter dem 23. August 2013 zu dem geplanten Gesetz Stellung. Zusätzlich fand am 5. November 2013 vor dem Innenausschuss des Landtages ein Anhörungsverfahren zu dem Gesetzesentwurf statt, zu dem unter anderem der Bürgermeister der Antragstellerin und der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Edenkoben geladen worden waren.

VI.

32

1. Am 13. Dezember 2013 beschloss der Landtag das Landesgesetz über die Eingliederung der Verbandsgemeinde Maikammer in die Verbandsgemeinde Edenkoben (im Folgenden: Eingliederungsgesetz Maikammer bzw. MaikammerEinglG) in der Fassung des Gesetzesentwurfs der Landesregierung (LT-Drucks. 16/2794). Das Gesetz wurde am 30. Dezember 2013 im Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet (GVBl. S. 541). Es lautet auszugsweise wie folgt:

33

§ 1

Die Verbandsgemeinde Maikammer wird am 1. Juli 2014 in die Verbandsgemeinde Edenkoben eingegliedert.

34

§ 2

Die Verbandsgemeinde Edenkoben führt ihren Namen unverändert fort. Ihr Sitz bleibt die Stadt Edenkoben.

35

§ 3

36

(1) Der Verbandsgemeinderat und die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister der umgebildeten Verbandsgemeinde Edenkoben werden am Tage der allgemeinen Kommunalwahlen im Jahr 2014 neu gewählt. Eine etwaige Stichwahl zur Wahl der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters der umgebildeten Verbandsgemeinde findet am 14. Tag nach der ersten Wahl statt. Für die Vorbereitung und die Durchführung der Wahlen ist das gemeinsame Gebiet der Verbandsgemeinden Maikammer und Edenkoben maßgeblich. Die Wahlzeit des neuen Verbandsgemeinderates Edenkoben beginnt am 1. Juli 2014. Die Wahlzeiten der bisherigen Verbandsgemeinderäte der Verbandsgemeinden Maikammer und Edenkoben und die Amtszeiten ihrer jeweils am 30. Juni 2014 amtierenden Bürgermeister enden mit Ablauf des 30. Juni 2014.

37

(2) Die am 30. Juni 2014 amtierenden Bürgermeister der Verbandsgemeinden Maikammer und Edenkoben haben für den Rest der Amtszeiten, für die sie ernannt worden sind, einen Anspruch auf Verwendung als hauptamtliche Beigeordnete der umgebildeten Verbandsgemeinde Edenkoben. Eine Verpflichtung zur Übernahme eines gleich oder geringer zu bewertenden Amtes im Sinne des § 27 Abs. 3 des Landesbeamtengesetzes (LBG) in Verbindung mit § 18 Abs. 1 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) vom 17. Juni 2008 (BGBl. I S. 1010) in der jeweils geltenden Fassung besteht nicht. Bei einer Versetzung in den einstweiligen Ruhestand findet § 83 Abs. 8 des Landesbeamtenversorgungsgesetzes vom 18. Juni 2013 (GVBl. S. 157, BS 2032-2) entsprechende Anwendung.

38

(3) Wird der am 30. Juni 2014 amtierende Bürgermeister der Verbandsgemeinde Maikammer oder Bürgermeister der Verbandsgemeinde Edenkoben in das Amt des Bürgermeisters oder für den Rest seiner Amtszeit, für die er ernannt worden ist, als hauptamtlicher Beigeordneter der umgebildeten Verbandsgemeinde Edenkoben berufen, gilt das Beamtenverhältnis als nicht unterbrochen.

39

§ 4

40

(1) Die Rechtsstellung der Beamtinnen und Beamten sowie Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger richtet sich nach § 27 Abs. 3 LBG in Verbindung mit den §§ 16 bis 19 BeamtStG und § 40 LBG.

41

(2) … .

(…)

42

§ 13

43

Soweit in diesem Gesetz nichts Abweichendes geregelt ist, gilt ergänzend das Landesgesetz über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsreform.

44

2. In der Begründung zum Gesetzesentwurf vom 24. September 2013 (LT-Drucks. 16/2794) wird von einem Gebietsänderungsbedarf der Antragstellerin ausgegangen. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen, auch bei Zugrundelegung des Bevölkerungsstandes vom 30. Juni 2012 werde die erforderliche Mindesteinwohnerzahl von 12.000 Einwohnern mit 8.025 Einwohnern deutlich unterschritten. Die Antragstellerin weise zwar eine überdurchschnittliche Wirtschafts- und Finanzkraft auf. Auch sei im Hinblick auf die demografische Entwicklung ein leicht positiver Trend erkennbar. Es lägen dennoch keine besonderen Voraussetzungen vor, die eine Unterschreitung der Mindesteinwohnerzahlen ausnahmsweise rechtfertigten. Trotz der im Landesvergleich relativ guten Werte bei der Wirtschafts- und Finanzkraft und der demografischen Entwicklung seien diese dennoch nicht ausreichend, um ein Unterschreiten der Mindesteinwohnerzahl ausnahmsweise zuzulassen. Die Antragstellerin nehme weder in der Region Rheinpfalz noch im Landkreis Südliche Weinstraße eine demografische oder finanzielle Sonderstellung ein. Zwar sei bei der Antragstellerin die Voraussetzung der Gewährleistung einer dauerhaften Leistungsfähigkeit nach § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG gegeben. Allerdings müsse bei der Beurteilung, ob der besondere Ausnahmegrund der Wirtschafts- und Finanzkraft mit einer entsprechenden dauerhaften Leistungsfähigkeit nach § 2 Abs. 3 KomVwRGrG ausreiche, um ein Unterschreiten der Mindestgröße zuzulassen, berücksichtigt werden, dass die Antragstellerin mit 7.958 Einwohnern zum 30. Juni 2009, einer Gesamtfläche von 39,73 qkm und drei Ortsgemeinden deutlich hinter der grundsätzlich geforderten Zahl von 12.000 Einwohnern und den durchschnittlichen territorialen Größenverhältnissen für Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz, aber auch im regionalen Vergleich zurückbleibe. Wie in der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung dargelegt, ließen sich die dauerhafte Handlungs- und Tragfähigkeit kleiner Kommunen nicht gewährleisten, und zwar selbst für den Fall nicht, dass diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch vergleichsweise wirtschaftlich arbeiteten. Auch unter Berücksichtigung der guten Wirtschafts- und Finanzkraft, der deutlich unterdurchschnittlichen Verschuldung und der voraussichtlich nicht erheblich abnehmenden bzw. gegebenenfalls sogar leicht ansteigenden Bevölkerungszahl hebe sich die Antragstellerin nicht in einer solchen Weise von den durchschnittlichen Werten der Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz bzw. in ihrer Region ab, die eine Ausnahme von der Fusionspflicht rechtfertigen könnten. Eine überdurchschnittliche Wirtschafts- und Finanzkraft müsse mit einer den gesetzgeberisch angestrebten Größenverhältnissen zumindest annähernd entsprechenden Größe von kommunalen Gebietskörperschaften einhergehen, um ein Unterschreiten der Mindesteinwohnerzahl ausnahmsweise zuzulassen. Es sei auch nicht ersichtlich, weshalb bei der Beurteilung der Frage, ob ein Unterschreiten der Mindesteinwohnerzahl ausnahmsweise zugelassen werden solle, nicht auch ein regionaler Vergleich herangezogen werden könne.

B.

45

Mit ihrem Antrag vom 21. Februar 2014 macht die Antragstellerin geltend, durch das Gesetz über ihre Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben in ihrer kommunalen Selbstverwaltungsgarantie verletzt zu sein. Sie sei im Gesetzgebungsverfahren nur unzureichend angehört worden. Weder die Landesregierung noch der Gesetzgeber hätten sich ernsthaft bemüht, ein authentisches Meinungsbild der Bevölkerung vor Ort einzuholen. Sie sei ferner daran gehindert gewesen, zu der Gesetzesbegründung umfassend Stellung und Einfluss auf das Ergebnis nehmen zu können, da ihre Anträge auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten des federführenden Ministeriums abgelehnt und ihr die dem Gutachten Junkernheinrich zugrunde liegenden statistischen Daten nicht überlassen worden seien. Wie sich nachträglich herausgestellt habe, sei es durch die Übermittlung unrichtiger Zahlen für das Jahr 2009 infolge eines Verbuchungsfehlers zu falschen Feststellungen des Gutachters bezüglich des Finanzierungssaldos in den Jahren 2001 bis 2009 gekommen. Sie sei zudem in ihrem Anhörungsrecht durch die Weigerung des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur, die Frist zur Stellungnahme zu verlängern, verletzt worden. Schließlich ergebe sich aus den Äußerungen verschiedener Mitglieder der damaligen Landesregierung und dem Ablauf des Anhörungsverfahrens, insbesondere aus der interessensgeleiteten (parteipolitischen) Auswahl der anzuhörenden Personen, dass es sich um eine nicht ergebnisoffene Anhörung gehandelt habe.

46

Darüber hinaus seien Leitbild und Leitlinien der Kommunal- und Verwaltungsreform, wie sie im inzident zu prüfenden Grundsätzegesetz normiert seien, verfassungswidrig. Es fehle an einer nachvollziehbaren Begründung für die Bestimmung der gesetzlichen Mindesteinwohnerzahl in § 2 Abs. 2 KomVwRGrG. Die Festlegung der Mindestgröße von 12.000 Einwohnern weiche zudem deutlich von der Praxis in anderen Bundesländern ab. Sie liege für Verbandsgemeinden und Ämter regelmäßig unterhalb der 10.000 Einwohnergrenze. Die vom Gesetzgeber bei der Bestimmung der Mindesteinwohnerzahlen vorgenommene Differenzierung zwischen verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden sei widersprüchlich. Vor dem Hintergrund, dass verbandsfreie Gemeinden grundsätzlich mehr Aufgaben wahrnähmen als Verbandsgemeinden, müsse von den verbandsfreien Gemeinden grundsätzlich eine höhere Leistungsfähigkeit eingefordert werden als von den Verbandsgemeinden. Bemesse sich die Leistungsfähigkeit nach Auffassung des Gesetzgebers aber im Wesentlichen anhand der Größe der Gebietskörperschaft, dann sei es nicht schlüssig, wenn – wie hier geschehen – der Gesetzgeber die Mindestgröße einer verbandsfreien Gemeinde niedriger festsetze als die Mindestgröße einer Verbandsgemeinde. Systemwidrig sei es zudem, dass die Neugliederungsmaßnahmen gemäß § 2 Abs. 4 KomVwRGrG grundsätzlich nur innerhalb der bestehenden Kreisgrenzen erfolgen könnten, diese aber durch den Gesetzgeber als revisionsbedürftig erachtet würden. Denn zum einen schränke die Bindung an die Kreisgrenzen die Suche nach sinnvollen Lösungen ein. Zum anderen führe § 2 Abs. 4 KomVwRGrG zu einer Gebietsreform mit Verfallsdatum, wenn sich der Gesetzgeber auf der zweiten Reformstufe nicht seiner Handlungsmöglichkeiten berauben wolle. Unverhältnismäßig sei es zudem, dass eine Verbandsgemeinde, welche die Zielsetzung des § 1 Abs. 1 KomVwRGrG und damit zugleich das Tatbestandskriterium der Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 3 KomVwRGrG erfülle, gleichwohl zum Gegenstand einer Neugliederungsmaßnahme gemacht werden könne. § 2 Abs. 3 Satz 2 und 3 KomVwRGrG müssten daher verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass der Gesetzgeber bei verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden, die den Nachweis der dauerhaften Leistungsfähigkeit erbringen könnten und für die auch das Vorliegen besonderer Gründe festgestellt werden könne, von Neugliederungsmaßnahmen Abstand nehmen müsse.

47

Das Eingliederungsgesetz sei zudem verfassungswidrig, weil es nicht durch Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei. Der Gesetzgeber habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht umfassend ermittelt. Bei seiner Entscheidung, sie, die Antragstellerin, in die Verbandsgemeinde Edenkoben einzugliedern, habe er sich im Ergebnis auf einzelne ausgewählte statistische Daten eines einzelnen Haushaltsjahres gestützt, die jedoch nicht geeignet seien, verlässliche Bewertungen für die Wirtschafts-, Finanz- und Leistungskraft abzuleiten. Er habe außerdem nicht, wie geschehen, auf die Bruttoausgaben/Sachkosten der Verbandsgemeinde einschließlich der ihr angehörenden Ortsgemeinden abstellen dürfen. Auch sei die Höhe der Ausgaben nicht aussagekräftig, weil der Gesetzgeber grundsätzlich die Wirtschafts- und Finanzkraft einer Verbandsgemeinde sowie deren Leistungsfähigkeit an die Einnahmenseite knüpfe. Den Gutachten, auf denen das Eingliederungsgesetz beruhe, lägen außerdem bloße Planzahlen bzw. fehlerhafte Daten zugrunde. Nach ihren eigenen Berechnungen auf der Grundlage der jeweiligen Haushaltsergebnisse der Jahre 2001 bis 2009 sei der Finanzierungssaldo für diesen Zeitraum im Durchschnitt positiv. Der vom Statistischen Landesamt ermittelte negative Haushaltssaldo für das Jahr 2009 basiere außerdem auf einem Verbuchungsfehler. Der Gesetzgeber habe ferner – abweichend von seiner Praxis – das Einsparpotenzial bezogen auf die Eingliederung der Antragstellerin nicht überschlägig ermittelt. Hier sei jedenfalls eine Plausibilitätsprüfung erforderlich gewesen, zumal nach dem von ihr in Auftrag gegebenen Gutachten von Dr. Röske (im Folgenden: Gutachten Röske) von einem negativen Fusionseffekt von mindestens 60.000,00 € jährlich auszugehen sei und auch vergangene Gebietsreformen gezeigt hätten, dass sich das erwartete Einsparpotenzial nicht regelmäßig realisieren lasse.

48

Die Leitbilder des Grundsätzegesetzes seien zudem nicht systemgerecht umgesetzt worden. Die willkürliche Stückelung von Eingliederungsmaßnahmen, die lediglich zehn Gebietskörperschaften zum 1. Juli 2014 betreffe, sei mit der Ausrichtung des Grundsätzegesetzes auf eine systematisch abgestimmte, flächendeckende Reform bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahl im Jahre 2014 nicht in Einklang zu bringen. Für ein derartiges Vorgehen bestünden keine sachlichen Gründe. Die Begründung des Gesetzgebers, wonach die Verschonung einiger Gebietskörperschaften zum Teil darauf zurückzuführen sei, dass für die übrigen Gebietskörperschaften eine Neugliederung über Kreisgrenzen hinaus für sinnvoll erachtet werde, widerspreche § 2 Abs. 4 KomVwRGrG. Schließlich habe das Innenministerium durch sein Angebot, die Gebietsänderung erst bis zum Jahr 2019 zu vollziehen, sofern der Gebietsänderung verbindlich zugestimmt werde, die Regelungssystematik vollständig ausgehöhlt.

49

Der Gesetzgeber verstoße außerdem insofern gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit, als er die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs. 3 KomVwRGrG willkürlich anwende. So würden einerseits Ausnahmen gewährt, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht vorlägen, andererseits werde dort von Ausnahmen abgesehen, wo die Voraussetzungen für eine Ausnahme erfüllt seien. Ihre Auflösung, d.h. die Auflösung der Antragstellerin, sei evident systemwidrig, da sie den Nachweis erbracht habe, dauerhaft leistungsfähig zu sein. Dies werde ihr mittlerweile auch durch den Gesetzgeber attestiert.

50

Die Abwägung der Vor- und Nachteile einer Eingliederung sei unvollständig und evident fehlerhaft. So habe der Gesetzgeber das Einsparpotenzial nicht ermittelt, sondern stattdessen das vorgelegte Gutachten Röske ausgeblendet, wonach die erwarteten Einspareffekte von 15 bis 20 % sich nicht realisieren ließen. Die erzwungene und übereilte Auflösung und Eingliederung würden, wie sich aus dem Gutachten ergebe, weder kurzfristig noch mittel- und langfristig spürbare Kosteneinsparungen zur Folge haben. Es seien vielmehr Mehrkosten durch die Vernetzung der beiden Verwaltungsstandorte zu erwarten, die auch mittel- und langfristig nicht durch die Eingliederung eingespart werden könnten. Die erheblich nachteiligen steuerlichen Auswirkungen des Übergangs der Wasserwerke und Kanalwerke Maikammer sowie der „Energieprojekte und Kalmitbad Maikammer“ AöR seien zudem nicht berücksichtigt worden.

51

Der Gesetzgeber habe zudem nicht hinreichend in Rechnung gestellt, dass die Fusion zu einer Schwächung des bürgerschaftlichen Engagements und zu einem Verlust an Teilhabemöglichkeiten führe. Er habe außerdem die Vergleichsmaßstäbe in unzulässiger Weise verengt, wenn er sie, die Antragstellerin, nur mit den durchweg leistungsstarken Verbandsgemeinden des Landkreises Südliche Weinstraße vergleiche. Der Begriff der Leistungsfähigkeit könne nicht regional unterschiedlich ausgelegt werden. Der Gesetzgeber betreibe zudem ein „Rosinenpicken“, wenn er sich gezielt auf bestimmte statistische Kennziffern beschränke und den Bewertungsmaßstab willkürlich ändere, je nachdem, welches Ergebnis für die jeweilige Argumentation benötigt werde. Einer Verbandsgemeinde, die, wie die Antragstellerin, wachse, während Land, Region und Kreis schrumpften, deren Steuerkraft dauerhaft um knapp 10 % die durchschnittliche Steuerkraft einer Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz übersteige, die im Gegensatz zur Mehrheit der Verbandsgemeinden im Land nicht auf Kassenkredite zurückgreifen müsse, deren Schuldenstand um rund 50 % unterhalb der Schulden einer durchschnittlichen Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz liege und auch landkreisweit durchschnittlich sei, könne nicht unterstellt werden, dass sie nicht deutlich von den durchschnittlichen rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinden abweiche. Die fusionierte Verbandsgemeinde entspreche zudem im Hinblick auf ihre Größe, Anzahl der Ortsgemeinden und Einwohnerzahl nicht dem gesetzgeberischen Leitbild.

52

Schließlich sei das Eingliederungsgesetz auch unverhältnismäßig. Ihre Auflösung und Eingliederung seien zur Erreichung der gesetzgeberischen Zwecke nicht geeignet. Sie führten weder zu einer Verbesserung der fiskalischen Situation noch der demografischen Entwicklung. Das Eingliederungsgesetz bewirke auch keinen Disparitätenausgleich. Denn es mache aus einer kleinen und einer normalgroßen Verbandsgemeinde eine deutlich zu große Verbandsgemeinde. Das angestrebte Ziel gleichförmiger territorialer Größenverhältnisse ohne Stärkung der vorhandenen Leistungsfähigkeit werde auf diese Weise zum Selbstzweck. Die Zwangsfusion sei auch nicht erforderlich, da durch eine Ausweitung der interkommunalen Kooperation mit den Nachbargemeinden das Ziel der Schaffung und Stärkung leistungsfähiger Verbandsgemeinden mindestens in gleicher Weise hätte erreicht werden können. Ferner sei ihr, der Antragstellerin, eine Auflösung und Eingliederung binnen weniger Wochen und Monate nicht zumutbar.

53

Das angefochtene Gesetz verstoße zudem gegen den Grundsatz der interkommunalen Gleichbehandlung. Sie, die Antragstellerin, werde als eine von nur wenigen Gebietskörperschaften, welche die gesetzliche Mindesteinwohnerzahl unterschritten, aufgelöst. Die Mehrzahl der Verbandsgemeinden mit weniger als 12.000 Einwohnern werde hingegen über den 1. Juli 2014 hinaus in ihrem Bestand unverändert belassen. Hierfür fehlten sachliche Gründe. Sofern der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang auf die anstehende Landkreisreform verweise, überzeuge dies nicht, da die Kommunalreform nach den Leitlinien innerhalb der bestehenden Landkreise erfolgen solle. Die Ungleichbehandlung folge ferner aus der willkürlichen Anwendung bzw. Nichtanwendung der Ausnahmegründe nach § 2 Abs. 3 KomVwRGrG sowie aus der „zeitlichen Ungleichbehandlung“, die das Grundsätzegesetz nicht vorsehe.

C.

54

Der Verfassungsgerichtshof hat dem Landtag und der Landesregierung Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

I.

55

Der Landtag hält den Antrag für unbegründet. Die Eingliederung werde den prozeduralen und materiellen Anforderungen gerecht. Dem Anhörungsgebot sei ausreichend Genüge getan worden. Es sei nicht ersichtlich, dass die regierungsseitig bemessene Frist von zwei Monaten zur Stellungnahme nicht genügt habe, zumal die Antragstellerin bereits am 17. Oktober 2012 über die beabsichtigte Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben informiert worden sei. Es sei für die Antragstellerin auch nicht unzumutbar gewesen, innerhalb der Sommerferien eine Sitzung des Verbandsgemeinderates einzuberufen. Ungeachtet dessen sei die Antragstellerin, wie ihre Einlassung vom 23. August 2013 belege, offenbar in der Lage gewesen, ihre Bedenken gegen die Eingliederung umfassend vortragen zu können. Neben der schriftlichen Anhörung sei die Antragstellerin zudem durch den Innenausschuss des Landtages mündlich angehört worden. Der Vorwurf mangelnder Ergebnisoffenheit des Gesetzgebungsverfahrens sei haltlos. Hinsichtlich des Kreises der Anzuhörenden sei der Innenausschuss übereingekommen, zu den Gesetzesentwürfen jeweils fünf Auskunftspersonen anzuhören. Deren Benennung richte sich gemäß der Geschäftsordnung des Landtages nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Es liege in der Natur des parlamentarischen Beratungsprozesses begründet, dass die dort zu treffenden Entscheidungen von den Akteuren nach grundsätzlich eigenen parlamentspolitischen Maßstäben getroffen würden. Verfassungsrechtlich vorgegeben sei lediglich die Anhörung der von der Maßnahme betroffenen Körperschaften. Diese sei hier erfolgt. Das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur habe auch der Antragstellerin nicht zu Unrecht die Einsichtnahme in die Verfahrensakten und den Zugang zu relevantem Datenmaterial versagt. Dieser Einwand ziele schon nicht auf das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren und hätte gegenüber der Landesregierung gerichtlich geltend gemacht werden müssen. Der Sachverhalt sei auch nicht mit Blick auf die zugrunde liegende Datenbasis unrichtig oder falsch ermittelt worden. Bei der Prüfung des Gebietsänderungsbedarfs sei das aktuellste vom Statistischen Landesamt zur Verfügung gestellte Datenmaterial verwendet worden. Der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht verpflichtet gewesen, auf die Steuerkraft der Antragstellerin ab dem Jahr 2010 abzustellen, zumal hierfür lediglich Planzahlen vorgelegen hätten.

56

Die Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeinde Edenkoben sei gemeinwohlorientiert. Mit der Reform verfolge der Gesetzgeber das legitime Ziel, die Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft der kommunalen Selbstverwaltung effizient und nachhaltig zu steigern. Er habe sich vor allem aufgrund der zu erwartenden demografischen Entwicklung und der Verschuldungssituation der kommunalen Haushalte zur Veränderung kommunaler Gebietsstrukturen veranlasst sehen dürfen. Ohne Gegenmaßnahmen sei eine Beeinträchtigung der aktuellen und langfristigen Aufgabenwahrnehmung zu befürchten. Die im Grundsätzegesetz festgelegten Leitlinien seien geeignet, den Gemeinwohlbegriff in verfassungskonformer Weise zu konkretisieren. Die im Rahmen einer begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung mittels einer Varianzanalyse festgelegte Mindestgröße von 12.000 Einwohnern pro Verbandsgemeinde sei nachvollziehbar begründet. Schon wegen der Eigenart der kommunalen Struktur in Rheinland-Pfalz seien die Richtwerte anderer Bundesländer nicht übertragbar. Die Ausnahmeregelungen schlössen eine verfassungsrechtlich problematische schematische Anwendung der Mindesteinwohnerzahlen aus.

57

Die in Umsetzung der Leitbilder und Leitlinien erfolgte Auflösung und Eingliederung der Antragstellerin sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit ihrer um ein Drittel unter dem Richtwert von 12.000 Einwohnern liegenden Einwohnerzahl sei eine Ausnahme für die Antragstellerin nach § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG trotz ihrer festgestellten Leistungskraft nicht zu rechtfertigen. Gebietliche Alternativen seien in hinreichender Weise abgewogen und in vertretbarer Weise abgelehnt worden. Die Eingliederungsentscheidung sei auch nicht systemwidrig. Der Gesetzgeber verstehe die Reform als einen mehrstufigen und sukzessiv zu verwirklichenden Prozess. Dies sei vom Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt, der sich über die zukünftigen Entscheidungen ein hinreichend sicheres Urteil bilden müsse. Allein der Hinweis der Antragstellerin auf mehrheitlich verschont gebliebene Gemeinden genüge für die substantiierte Behauptung systemwidrigen Verhaltens und eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nicht.

II.

58

Die Landesregierung ist ebenfalls der Ansicht, das angegriffene Gesetz sei verfassungsmäßig. Eine Anhörung der Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde sei entgegen der Annahme der Antragstellerin von Verfassungs wegen nicht geboten. Ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht sei auch nicht darin begründet, dass das Innenministerium der Antragstellerin nicht die angeforderten statistischen Daten überlassen habe. Mit der Übersendung des über 110-seitigen Gesetzesentwurfs sei sie sowohl über den Inhalt der geplanten Verwaltungsreform als auch über die hieraus zu ziehenden Folgerungen für ihre konkrete Interessenlage im Bilde gewesen. Zudem sei die Antragstellerin bereits am 17. Oktober 2012 über den beabsichtigten Zusammenschluss mit der Verbandsgemeinde Edenkoben unterrichtet worden. Ein potenzieller Gebietsänderungsbedarf durch Unterschreiten der Mindesteinwohnergrenze sei ihr außerdem bereits mit der Bekanntmachung des Grundsätzegesetzes vom 28. September 2010 bekannt gewesen. Es habe auch kein Recht auf Einsicht in die Verfahrensakten des Ministeriums bestanden. Der Antrag der Antragstellerin sei in Anbetracht der Fülle des angefallenen Materials im Übrigen viel zu unsubstantiiert gewesen, um überhaupt bearbeitet werden zu können. Eine Verlängerung der Anhörungsfrist zum Gesetzesentwurf sei verfassungsrechtlich nicht geboten gewesen. Die Behauptung der Antragstellerin, der Gesetzesentwurf sei ihr erst während der Sommerferien vom 8. Juli bis 16. August 2013 zugegangen, treffe nicht zu. Das Schreiben des Innenministeriums datiere unter dem 17. Juni 2013. Daher sei davon auszugehen, dass mittels Verkürzung der Einladungsfrist eine Erstbefassung des Verbandsgemeinderates noch vor Beginn der Sommerferien hätte erreicht werden können. Es sei ferner nicht ersichtlich, dass der Rat während der Sommerferien beschlussunfähig gewesen wäre. Das Anhörungsverfahren durch den Innenausschuss des Landtages, das nach der Anhörung durch die Landesregierung an sich nicht mehr erforderlich gewesen sei, sei ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Welche Personen ein parlamentarisches Gremium anhöre, sei einer Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof nicht zugänglich.

59

Das Leitbild und die Leitlinien des Grundsätzegesetzes seien ebenfalls verfassungsgemäß. Die Bestimmung künftiger Einwohnerzahlen kommunaler Gebietskörperschaften durch den Gesetzgeber erfolge in einer Abwägung, deren Ergebnis der Gesetzgeber in für das ganze Land geltenden Regelungen typisieren dürfe. Es entspreche den Anforderungen an ein informationsbasiertes rationales Gesetzgebungsverfahren, dass sich der Gesetzgeber bei der Festlegung der Mindesteinwohnerzahlen auch auf ein als begleitende Gesetzesfolgenabschätzung konzipiertes Expertengutachten gestützt habe. Die Festlegung der Mindesteinwohnerzahl für verbandsfreie Gemeinden sei nicht systemwidrig, zumal der Gesetzgeber nicht davon ausgegangen sei, dass die Leistungsfähigkeit linear zur Einwohnerzahl steige. Sofern die Antragstellerin beanstande, dass die Neugliederungsmaßnahmen der ersten Stufe grundsätzlich nur innerhalb der Kreisgrenzen erfolgen dürften, sei nicht ersichtlich, inwieweit sie hierdurch in ihrer Selbstverwaltungsgarantie betroffen sein könne. Denn ihre Eingliederung erfolge gerade innerhalb des Landkreises. Im Übrigen enge die zeitliche Trennung zwischen der Neugliederung auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden und der Neugliederung auf Kreisebene allenfalls Spielräume für die zweite Stufe ein. Die Geeignetheit der ersten Stufe werde hierdurch nicht relativiert.

60

Die Auflösung der Antragstellerin und ihre Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben entsprächen dem Gemeinwohl. Der Gesetzgeber habe den maßgeblichen Sachverhalt auch ausreichend aufgeklärt. Es sei dessen Sache, die zur systemgerechten Verwirklichung des von ihm formulierten Leitbildes relevanten Sachverhaltselemente auszuwählen und zu ermitteln. Im Übrigen seien die von einer kommunalen Neugliederung berührten Selbstverwaltungselemente nahezu „ad infinitum“ vermehrbar, so dass eine in jeder Hinsicht vollständige Ermittlung aller tatsächlichen Umstände von vornherein nicht erwartet werden könne. Eine Systemwidrigkeit ergebe sich entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht daraus, dass Neugliederungen der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden über die Kommunalwahl im Jahr 2014 hinaus erfolgen sollten. § 2 Abs. 1 KomVwRGrG sei keine Ausschlussfrist, sondern regele lediglich die (sachliche) Reichweite der ersten Stufe der Kommunalreform. Im Übrigen lägen sachliche Gründe für die Neugliederungsmaßnahmen über das Jahr 2014 hinaus vor. Aus einer vermeintlich systemwidrigen Anwendung von Ausnahmegründen könne die Antragstellerin keine Gleichheit im Unrecht beanspruchen.

61

Die hier vorgenommene Abwägung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit den bei jeder einzelnen Fusion erzielbaren Einsparungen sei der Gesetzgeber nicht verpflichtet. Es liege vielmehr innerhalb seiner Typisierungsbefugnis, von einer langfristigen Fusionsrendite durch Schaffung von auf größeren Einheiten basierenden kommunalen Strukturen auszugehen. Dass für die Antragstellerin das Vorliegen einer Ausnahme gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG nicht bejaht worden sei, stelle sich nicht als abwägungsfehlerhaft dar. Selbst wenn die Voraussetzungen auf Tatbestandsseite vorlägen, bestehe kein Recht der betroffenen Gemeinde, von einer Maßnahme der kommunalen Neugliederung verschont zu bleiben.

62

Die Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeinde Edenkoben sei schließlich auch verhältnismäßig. Sie sei zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet. Der Gesetzgeber sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin zumindest auf lange Sicht durch die Fusion verbessert werden könne. Eine interkommunale Zusammenarbeit sei nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kein milderes Mittel. Die Eingliederung könne der Antragstellerin ferner in zeitlicher Hinsicht zugemutet werden. Diese könne sich insbesondere nicht darauf berufen, es habe für sie vor Erlass des Eingliederungsgesetzes kein Anlass bestanden, sich mit den für den Fall der Herbeiführung der Gebietsänderung zu treffenden Maßnahmen auseinanderzusetzen. Eine Unzumutbarkeit der Umsetzung der Gebietsänderungsmaßnahme lasse sich auch nicht daraus ableiten, dass eine Verschiebung der Gebietsänderung bis zum Jahr 2019 im Falle eines Rechtsbehelfsverzichts möglich gewesen wäre. Die Initiative, Gebietsänderungen zu akzeptieren, wenn deren Wirksamwerden erst 2019 erfolge, sei nicht vom Innenminister, sondern von den Kommunen ausgegangen. Ein Verstoß gegen das Gebot interkommunaler Gleichbehandlung sei ebenfalls nicht festzustellen. Für die zeitliche Zurückstellung der weiteren Gebietsänderungen bestünden sachliche Gründe. Soweit die Antragstellerin geltend mache, sie sei durch eine willkürliche Anwendung der Ausnahmegründe des § 2 Abs. 3 KomVwRGrG ungleich behandelt worden, seien die von ihr herangezogenen Fälle Einzelfallentscheidungen, die einen Vergleich mit der Antragstellerin kaum zuließen.

D.

63

Der Antrag ist zulässig (I.) und begründet (II.).

I.

64

1. Der Antrag ist gemäß Art. 130 Abs. 1 Satz 2 Verfassung für Rheinland-Pfalz – LV – als Normenkontrolle auf kommunalen Antrag statthaft. Nach Art. 130 Abs. 1 Satz 1 LV kann die Landesregierung, der Landtag und jede Landtagsfraktion eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs darüber beantragen, ob ein Gesetz oder die sonstige Handlung eines Verfassungsorgans, soweit es sich nicht um eine Gesetzesvorlage handelt, verfassungswidrig ist. Den Antrag können nach Satz 2 auch Körperschaften des öffentlichen Rechts stellen – und damit auch die Antragstellerin als kommunale Gebietskörperschaft (vgl. § 64 Abs. 1 Satz 1 Gemeindeordnung – GemO –) –, soweit sie geltend machen, durch das Gesetz oder die sonstige Handlung eines Verfassungsorgans in eigenen Rechten verletzt zu sein.

65

Unter Rechten in diesem Sinne sind nur solche zu verstehen, die sich aus dem Wesen und der Aufgabe der Körperschaft ergeben, die also zu ihrem spezifisch hoheitlichen Aufgabenbereich gehören (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 14. November 1966 – VGH 5/66 –, AS 3, 19 [20]; Urteil vom 8. Februar 1971 – VGH 10/70 –, AS 12, 256 [257]; Urteil vom 18. April 1994 – VGH N 1/93 u.a. –, AS 24, 321 [332 f.]). Kommunale Gebietskörperschaften können sich daher im Wesentlichen auf die in Art. 49 Abs. 1 bis Abs. 3 LV verankerte Selbstverwaltungsgarantie und das zum Rechtsstaatsprinzip zählende Willkürverbot (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 8. Mai 1985 – VGH 2/84 –, AS 19, 339 [340]) berufen, sowie auf solche Vorschriften, die ihrem Inhalt nach geeignet sind, das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitzubestimmen (VerfGH RP, Urteil vom 18. April 1994 – VGH N 1/93 u.a. –, AS 24, 321 [333]; vgl. ferner BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 1980 – 2 BvR 584/76 u.a. –, BVerfGE 56, 298 [310]; VerfGH NRW, Urteil vom 15. September 1986 – 17/85 –, OVGE 39, 292 [293]). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Antragstellerin macht geltend, durch ihre in § 1 MaikammerEinglG geregelte Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben in ihrer durch Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV geschützten Selbstverwaltungsgarantie verletzt zu sein.

66

Eine Verfassungsbeschwerde nach Art. 130a LV, § 44 Landesgesetz über den Verfassungsgerichtshof – VerfGHG – scheidet hier demgegenüber als zulässige Verfahrensart aus. Zwar können Gemeinden bzw. Gemeindeverbände unter Berufung auf Art. 49 LV prinzipiell Verfassungsbeschwerde erheben (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 31. Mai 1995 – VGH B 3/95 –, AS 25, 146 [146 f.]; ferner Jutzi, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 130a Rn. 18). § 44 Abs. 4 VerfGHG enthält allerdings einen Vorrang des Antrags nach Art. 130 LV gegenüber der Verfassungsbeschwerde. Nach dieser Vorschrift ist nämlich die Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn – wie hier – eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nach Art. 130 Abs. 1 oder Abs. 2 LV beantragt werden kann oder hätte beantragen werden können (vgl. hierzu auch Jutzi, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 130a Rn. 18; ferner LT-Drucks. 12/1643, S. 12).

67

2. Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht entgegen, dass die Antragstellerin gemäß § 1 MaikammerEinglG seit dem 1. Juli 2014 aufgelöst und somit rechtlich nicht mehr existent ist. Denn für die Dauer des Verfahrens gegen den ihre Auflösung bewirkenden Rechtsakt gelten Gemeinden und Gemeindeverbände als fortbestehend. Dies resultiert aus dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, da anderenfalls der Existenzverlust der Gebietskörperschaft nicht rügefähig bliebe (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 6. Dezember 2011 – 2 BvR 1470/11 –, juris, Rn. 7; VerfGH NRW, Beschluss vom 9. April 1976 – 58/75 –, OVGE 31, 309 [310]; VerfGH Saarland, Urteil vom 22. März 1993 – Lv 3/91 –, NVwZ 1994, 481; VerfG Brandenburg, Urteil vom 15. September 1994 – VfgBbg 3/93 –, juris, Rn. 37).

68

3. Die Antragstellerin wird im Verfahren zulässigerweise durch ihren zuletzt amtierenden Bürgermeister vertreten (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 14. Juni 1971 – VGH 7/70 –, AS 12, 153 [159 ff.]; ferner Th. Schmidt, JA 2008, 763 [765]). Da der Bürgermeister der Antragstellerin nicht von dem Anspruch auf Verwendung als hauptamtlicher Beigeordneter der umgebildeten Verbandsgemeinde Edenkoben für den Rest der Amtszeit, für die er ernannt worden ist (vgl. § 3 Abs. 2 MaikammerEinglG), Gebrauch gemacht hat und damit nicht im Dienst der Verbandsgemeinde Edenkoben steht, ist es mangels der Gefahr eines Interessenwiderstreits nicht veranlasst, die Prozessfähigkeit der Antragstellerin über ihren Rat herzustellen (so aber VerfGH NRW, Urteil vom 18. Dezember 1970 – 11/70 –, OVGE 26, 306 [310 f.]; Urteil vom 18. Dezember 1970 – 13/70 –, OVGE 26, 316 [318] unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung; wie hier VerfG Brandenburg, Urteil vom 14. Juli 1994 – VfgBbg 4/93 –, LKV 1995, 118). Es erscheint darüber hinausgehend auch sachgerechter, die Fiktion des Fortbestehens von Organen zum Zwecke der Prozessführung auf den Bürgermeister der aufgelösten kommunalen Gebietskörperschaft zu beschränken (ebenso Bosse, DÖV 1976, 34 [35]), zumal nach § 64 Abs. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 GemO grundsätzlich dem Bürgermeister die Vertretung der Gemeinde obliegt.

II.

69

Der Antrag ist auch begründet. § 1 MaikammerEinglG verletzt die Antragstellerin in ihrer in Art. 49 Abs. 1 bis Abs. 3 LV verankerten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie verlangt bei der Auflösung und Eingliederung von Verbandsgemeinden – ebenso wie im Falle der Auflösung und Eingliederung von Gemeinden –, dass die betroffenen Gebietskörperschaften angehört werden und der Eingriff in den individuellen Bestand dem Gemeinwohl dient (1.). Zwar ist die Antragstellerin in verfassungsrechtlicher Hinsicht ausreichend angehört worden (2.). Es kann allerdings nicht festgestellt werden, dass ihre Auflösung dem Gemeinwohl entspricht (3.).

70

1. Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV garantiert den Gemeinden und Gemeindeverbänden das Recht der Selbstverwaltung (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 14. Februar 2012 – VGH N 3/11 –, AS 41, 29 [37]). Hierzu zählt – ebenso wie zu der durch Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz – GG – geschützten Selbstverwaltungsgarantie – auch die Gewährleistung der Gemeinde als Institution, d.h. die Existenz von Gemeinden als solchen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [77 f.]; Urteil vom 17. Dezember 1969 – VGH 10/69 –, AS 11, 271 [273]; zu Art. 28 Abs. 2 GG vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [107]; ferner Mehde, in: Maunz/Dürig [Hrsg.], GG [Stand: Dezember 2014], Art. 28 Abs. 2 Rn. 40 ff.). Damit schützt die Verfassung die einzelne Gemeinde zwar nicht individuell in ihrem Bestand. Sie verlangt allerdings, dass im gesamten Landesgebiet Gemeinden als Verwaltungsträger mit örtlichem Wirkungskreis bestehen (vgl. hierzu auch Stamm, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 49 Rn. 5).

71

Für die Gemeindeverbände in Form der Verbandsgemeinden besteht eine derartige institutionelle verfassungsrechtliche Garantie zwar nicht. Die Verfassung garantiert vielmehr nur den Mindestinhalt ihrer Selbstverwaltungsrechte, sobald die Verbandsgemeinden – „wenn auch von der Verfassung ungerufen – ins Leben getreten sind“ (VerfGH RP, Urteil vom 17. Dezember 1969 – VGH 10/69 –, AS 11, 271 [273]). Allerdings steht auch die Auflösung von Verbandsgemeinden ebenso wenig im Belieben des Gesetzgebers wie die Auflösung von Gemeinden. Vielmehr sind hierbei formelle und materielle Mindestanforderungen zu beachten. Zum Inhalt der Selbstverwaltungsgarantie, so wie sie geschichtlich gewachsen ist, gehört zum einen, dass bei Eingriffen in die kommunale Gebietsstruktur die betroffenen Gebietskörperschaften angehört werden (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [101 f.]; Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [133 f.]; Urteil vom 22. Dezember 1969 – VGH 43/69 –, AS 11, 280 [281]; zur entsprechenden Judikatur des Bundesverfassungsgerichts bzw. der Verfassungsgerichte der Länder: BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50; Beschluss vom 17. Januar 1979 – 2 BvL 6/76 –, BVerfGE 50, 195 [202]; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [107]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [640]; VerfGH Sachsen, Urteil vom 29. Mai 2009 – Vf. 79-II-08 –, juris, Rn. 321). Dies dient der prozeduralen Absicherung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [24]; zum Rechtsgüterschutz durch Verfahren im Rahmen von Art. 28 Abs. 2 GG vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. November 2014 – 2 BvL 2/13 –, DÖV 2015, 335 [336] m.w.N.). Das Erfordernis der Anhörung ist zudem Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [134]; BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [51]). In materieller Hinsicht darf eine Gemeinde in ihrem individuellen Bestand zum anderen nur geändert oder aufgelöst werden, wenn dieser Eingriff dem Gemeinwohl dient (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [78 ff.]; Urteil vom 17. Dezember 1969 – VGH 10/69 –, AS 11, 271 [273 ff.]; BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50; Beschluss vom 17. Januar 1979 – 2 BvL 6/76 –, BVerfGE 50, 195 [203 f.]; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [107]).

72

Diese Voraussetzungen gelten ebenso für die Gebietsänderungen von Verbandsgemeinden (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. Dezember 1969 – VGH 10/69 –, AS 11, 271 [273 f.]; Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [121 f.]: Landkreise).

73

2. Die hier vorgenommene Anhörung der Antragstellerin ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

74

a) Die inhaltlichen Anforderungen an das verfassungsrechtlich gebotene Anhörungsverfahren sind in der Verfassung nicht festgelegt. Sie ergeben sich allerdings aus dem Sinn dieses Rechtsinstituts (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [104 f.]): Die Entscheidung des Gesetzgebers bezüglich einer Neugliederungsmaßnahme erfordert eine Abwägung der verschiedenen, häufig gegenläufigen Interessen (siehe hierzu näher unten D.II.3.b)cc)(1)). Diese Abwägung kann sachgerecht nicht ohne eine Anhörung der betroffenen Gebietskörperschaften erfolgen. Sie stellt sogar eine wichtige Weichenstellung für eine fehlerfreie Abwägung dar (Perne, LKRZ 2014, 276 [280]). Denn durch sie soll dem Gesetzgeber eine möglichst umfassende Ermittlung des Sachverhalts und der Interessen der betroffenen Körperschaft ermöglicht werden, so dass er alle Argumente sorgfältig abwägen kann, die für und gegen die Maßnahme sprechen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [134]; BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 1979 – 2 BvL 6/76 –, BVerfGE 50, 195 [202]). Das Anhörungsrecht der kommunalen Gebietskörperschaften dient daher vornehmlich der Unterrichtung des Gesetzgebers und als dessen Entscheidungsgrundlage (Kneymeyer, in: Starck/Stern [Hrsg.], Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband III, 1983, S. 143 [158]). Die Anhörung ist daneben auch deshalb geboten, um die Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns werden zu lassen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [134]; BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 1979 – 2 BvL 6/76 –, BVerfGE 50, 195 [202]; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 4. September 2012 – LVG 3/11 –). Die Anhörung ermöglicht es ihnen, vor einer Entscheidung, die ihre Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [104 f.]; BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [24]).

75

Hierzu ist es allerdings notwendig, dass die betroffene Gebietskörperschaft von Art und Umfang sowie den wesentlichen Grundlagen des Gesetzesvorhabens so rechtzeitig Kenntnis erhält, dass sie ihre Einwendungen als amtliche Stellungnahme vortragen kann (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [25]). Es ist daher erforderlich, dass ihr in einem geordneten Verfahren innerhalb angemessener Frist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird (VerfGH RP, Urteil vom 5. Juli 1971 – VGH 21/70 –, AS 12, 320 [323]). Eine verfassungsrechtlich ordnungsgemäße Anhörung verlangt schließlich, dass die Anhörung ergebnisoffen durchgeführt wird. Stellungnahmen der betroffenen Gebietskörperschaft müssen daher vor einer abschließenden Entscheidung zur Kenntnis genommen werden und sind bei der Abwägung der für und gegen die Neugliederungsmaßnahme sprechenden Gründe zu berücksichtigen (VerfGH Sachsen, Urteil vom 25. November 2005 – Vf. 119-VIII-04 –, juris, Rn. 230 f.).

76

Nicht erforderlich ist es hingegen, den betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften bei der Ausgestaltung der Anhörung die gleichen Rechte einzuräumen, wie sie den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens aufgrund der Gewährleistung in Art. 6 Abs. 2 LV zustehen (vgl. hierzu auch VerfGH RP, Beschluss vom 8. Juli 1970 – VGH 2/70 –, AS 11, 402 [403]). Denn der aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie bzw. dem Rechtsstaatsprinzip erwachsende Anspruch auf Anhörung ist inhaltlich nicht identisch mit dem in Art. 6 Abs. 2 LV verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör, der neben dem Rechtsstaatsprinzip auch Ausfluss des Menschenwürdeschutzes ist, insoweit auch als „prozessuales Urrecht des Menschen“ bezeichnet wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 1980 – 2 BvR 701/80 –, BVerfGE 55, 1 [6]; BVerfG, Beschluss vom 9. März 1983 – 2 BvR 315/83 –, BVerfGE 63, 332 [337]) und der im funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 124 LV steht (vgl. Stahnecker, in Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 6 Rn. 30; zu Art. 103 Abs. 1 GG vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. November 1989 – 1 BvR 1011/88 –, BVerfGE 81, 123 [129]) .

77

Der Gesetzgeber ist deshalb befugt, die Möglichkeiten der Anhörung im Einzelfall nach seinem „freien Ermessen“ zu gestalten, solange nur das Anhörungsverfahren selbst effektiv bleibt. Die Anhörung ist kein streng formalisiertes Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [25]; Perne, LKRZ 2014, 276 [278]). Hieraus folgt auch, dass der Gesetzgeber und damit der Landtag als Verpflichteter des Anhörungsrechts (LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 31. Mai 1994 – LVG 1/94 –, LKV 1995, 75 [78]; Hoppe/Rengeling, Rechtsschutz bei der kommunalen Gebietsreform, 1973, S. 155) die Anhörung weder selbst noch durch seinen Fachausschuss durchführen muss. Es gibt schon im Hinblick auf die verfassungsrechtlich garantierte Parlamentsautonomie (Art. 85 LV) kein Recht der Gemeindevertreter auf eine unmittelbare – mündliche oder schriftliche – persönliche Aussprache mit den Abgeordneten. Der Gesetzgeber kann daher grundsätzlich auch auf die Ergebnisse einer von der Regierung durchgeführten Anhörung zurückgreifen (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [103 f.]).

78

b) Hieran gemessen ist die erforderliche Anhörung der Antragstellerin ordnungsgemäß durchgeführt worden.

79

Die ihr eingeräumte Frist zur schriftlichen Stellungnahme war insbesondere unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände des Einzelfalls im Ergebnis ausreichend (aa). Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Landtag zur Vorbereitung seiner Entscheidung zum Teil auf eine schriftliche Anhörung seitens des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur zurückgegriffen hat (bb). Die Gewährung einer Einsichtnahme in die Akten des Ministeriums war aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht geboten (cc). Auch steht es der Annahme einer zureichenden Anhörung nicht entgegen, dass der Antragstellerin die von ihr angeforderten statistischen Daten zu sämtlichen im Gutachten Junkernheinrich untersuchten Verbandsgemeinden nicht seitens des Ministeriums übermittelt wurden (dd). Im Rahmen der Anhörung bedurfte es keiner Einholung eines authentischen Meinungsbildes in der Bevölkerung (ee). Schließlich war die Anhörung auch hinreichend ergebnisoffen (ff).

80

aa) Der Antragstellerin ist vorliegend eine ausreichende Frist zur Stellungnahme gewährt worden.

81

(1) Was unter einer angemessenen Frist zu verstehen ist, lässt sich nach der Rechtsprechung nicht nach abstrakten Merkmalen festlegen. Da die Anhörung kein streng formalisiertes Verfahren ist, richtet sich die Dauer der Äußerungsfrist vielmehr nach den Gegebenheiten des jeweiligen Einzelfalles (VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [135]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [640]). Eine ordnungsgemäße Anhörung setzt allerdings voraus, dass die betroffene Körperschaft von Art und Umfang sowie den wesentlichen Grundlagen des Gesetzesvorhabens so rechtzeitig Kenntnis erhält, dass es ihr unter Mitwirkung der gewählten Bürgervertretung ermöglicht wird, sich im Rahmen einer amtlichen Stellungnahme fundiert und sachgerecht zu äußern (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [25]; VerfGH Sachsen, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf.4-VIII-94 –, LKV 1995, 115 [116]). In jedem Fall muss die Anhörung aber vor der abschließenden Lesung des betreffenden Gesetzes durchgeführt worden sein (VerfGH RP, Urteil vom 5. Juli 1971 – VGH 21/70 –, AS 12, 320 [323]). Im Zweifel ist die Anhörungsfrist eher großzügig zu bemessen (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [108]). Bei der Bemessung der Frist spielen zudem der Umfang der Neugliederung und die Schwierigkeit der auftretenden Sachfragen eine Rolle (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [641]; ferner BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [108]).

82

Von besonderer Bedeutung bei der Bestimmung der Anhörungsfrist ist zudem, ob der betroffenen Körperschaft das Neugliederungsvorhaben bereits seit längerem bekannt war und ihre Organe sich infolgedessen schon im Vorfeld des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens damit auseinandersetzen und dazu eine Meinung bilden konnten. Wie bereits dargelegt, hat die Anhörung der betroffenen kommunalen Gebietskörperschaft nämlich dienende Funktion. Durch sie soll vor allem der Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, den für seine spätere Abwägung erforderlichen Sachverhalt und damit im Zusammenhang stehend die Interessen der Gemeinde bzw. des Gemeindeverbandes zu ermitteln (siehe hierzu oben D.II.2.a); vgl. hierzu auch K.-F. Meyer, in: Gemeinde- und Städtebund Rheinland-Pfalz [Hrsg.], Festschrift für Steenbock, 2008, S. 1 [14]). Eine „Vorbefassung“ der Gebietskörperschaft versetzt diese aber zumindest in die Lage, in dem sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren rascher Stellung beziehen zu können, als wenn sie dort erstmalig mit einem Neugliederungsvorhaben konfrontiert wird. In diesen Fällen kann die Äußerungsfrist nach gefestigter Rechtsprechung entsprechend kürzer ausfallen (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [106 f.]; Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [135 f.]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [640]; VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2003 – VfGBbg 97/03 –, LKV 2004, 313 [315]; BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [112 f.]). So werden bei einem derartigen Vorlauf in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Fristen zwischen drei Wochen (so VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2003 – VfGBbg 97/03 –, LKV 2004, 313 [315]; ferner BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [112]: ein Monat [unter Hinweis auf die weitere Möglichkeit der mündlichen Stellungnahme in einer Sitzung des entsprechenden Landtagsausschusses]; ähnlich VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [106 f.]) und zwei Monaten (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [135 f.]) im Ergebnis noch als genügend erachtet.

83

(2) Hiervon ausgehend war die Frist zur Stellungnahme ausreichend bemessen. Der Antragstellerin wurde mit Schreiben des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur vom 17. Juni 2013 der Gesetzesentwurf betreffend ihre Auflösung und Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben übersandt. Hierzu hatte sie letztlich bis zum 23. August 2013 Gelegenheit zur Stellungnahme. Ihr standen mithin etwa zwei Monate zur Verfügung, um ihren Standpunkt zu dem Vorhaben darzulegen. Diese Frist war unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Anhörung sowie der Besonderheiten des Einzelfalls im Ergebnis ausreichend.

84

Diesem Ergebnis steht insbesondere nicht entgegen, dass der überwiegende Teil des Fristenlaufs, nämlich die Zeit vom 8. Juli bis 16. August 2013, in die rheinland-pfälzischen Sommerferien fiel. Zwar war in jener Zeit verstärkt mit urlaubsbedingter Abwesenheit der Ratsmitglieder zu rechnen. Dass ihr Rat während der Sommerferien beschlussunfähig im Sinne des § 39 Abs. 1 GemO gewesen sei, behauptet die Antragstellerin allerdings nicht. Hierauf kommt es jedoch im Ergebnis ebenso wenig an wie auf die von der Landesregierung aufgeworfene Frage, ob gegebenenfalls unter Verkürzung der Ladungsfrist eine Erstbefassung des Verbandsgemeinderats in dem etwa zweiwöchigen Zeitraum nach Zugang des Gesetzesentwurfs am 20. Juni 2013 und dem Beginn der Sommerferien am 8. Juli 2013 zu erreichen gewesen wäre.

85

Für eine ausreichende Frist zur Stellungnahme trotz der Ferienzeit spricht vor allem, dass die Antragstellerin mit dem Gesetzesvorhaben keinesfalls überrascht worden ist, sondern ihr die Absicht der Landesregierung zur Eingliederung ihres Gemeindegebiets in eine andere Verbandsgemeinde bereits seit mehreren Jahren bekannt war.

86

So ist sie zum einen schon mit Schreiben des Ministeriums des Innern und für Sport vom 26. Februar 2009 darüber informiert worden, dass die Landesregierung einen vordringlichen Gebietsänderungsbedarf für sie sehe, da sie nach den Eckpunkten zur Kommunal- und Verwaltungsreform die Kriterien erfülle, nach denen ein Handlungsbedarf für eine Optimierung der Gebietsstrukturen bestehe. Bereits diese Eckpunkte sahen vor, dass Verbandsgemeinden grundsätzlich mindestens 12.000 Einwohner haben müssten, weitere Gesichtspunkte wie die Wirtschafts- und Finanzkraft einer Kommune aber von Bedeutung sein könnten. Die Antragstellerin hat sich denn auch schon zu einem recht frühen Zeitpunkt dazu entschieden, die Erstellung eines privaten Gutachtens zu ihrer „fachlich und wirtschaftlich optimalen Aufgabenwahrnehmung“ in Auftrag zu geben und eine Bürgerbefragung durchzuführen. Sowohl im Gutachten Röske vom 20. Oktober 2011 als auch im Rahmen der Bürgerbefragung im Mai 2012 wurde sogar bereits eine Fusion der Antragstellerin mit der Verbandsgemeinde Edenkoben untersucht bzw. thematisiert.

87

Zum anderen informierte das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur schon mit Schreiben vom 17. Oktober 2012 die Bürgermeister der Antragstellerin und der Verbandsgemeinde Edenkoben ausdrücklich darüber, dass ein Zusammenschluss zwischen der Antragstellerin und der Verbandsgemeinde Edenkoben für Mitte 2014 geplant sei, und gewährte der Antragstellerin letztlich bis zum 15. Januar 2013 Gelegenheit zur Stellungnahme. Zu diesem Zeitpunkt war zum einen bereits das Landesgesetz über die Grundsätze der Kommunal- und Verwaltungsreform verabschiedet. Zum anderen lag das im Auftrag des Ministeriums von Prof. Dr. Junkernheinrich erstellte Gutachten vor, dessen Teil A vom 1. August 2012 die Prüfung der Ausnahmegründe von der Fusionspflicht zum Gegenstand hatte und dessen Teil B vom September 2012 eine Gebietsoptimierungsrechnung und Entwicklung von Neugliederungsoptionen enthielt. Auf diese beiden Gutachten ist das hier angegriffene Eingliederungsgesetz – wie auch die Antragstellerin feststellt – maßgeblich gestützt. Aus dem Schreiben der Antragstellerin an das Ministerium vom 29. November 2012 ergibt sich zudem, dass die Antragstellerin schon zu diesem Zeitpunkt mit der Prüfung der Gutachten beschäftigt war. Mit Schreiben vom 10. Januar 2013 an das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur hat die Antragstellerin unter anderem dargelegt, dass sie unter Zugrundelegung des Ansatzes im Gutachten Junkernheinrich Teil A leistungsfähig sei.

88

Mit Schreiben vom 3. Mai 2013 wurde die Antragstellerin darüber hinaus seitens des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur darüber informiert, dass nunmehr ein Gesetzesentwurf für ihre Zusammenlegung mit der Verbandsgemeinde Edenkoben erarbeitet werde.

89

Der Rat der Antragstellerin hat schließlich am 22. August 2013 zum geplanten Eingliederungsgesetz getagt und insoweit auch an der Stellungnahme der Antragstellerin mitgewirkt. In ihrer am 23. August 2013 beim Ministerium eingegangenen und als fristgemäß erachteten Stellungnahme hat die Antragstellerin denn auch auf 39 Seiten zahlreiche Einwände gegen eine Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben erhoben. So hat sie im Einzelnen etwa ausgeführt, weshalb die im Gesetzesentwurf genannten Ziele der Kommunal- und Verwaltungsreform nicht erreicht werden könnten. Es sei nicht nachzuvollziehen, weshalb Gebietsänderungen ausschließlich auf der Ebene der Verbandsgemeinden vorgenommen würden. Die Umsetzung der Reform in mehreren Stufen sei systemwidrig. Die erzwungene Eingliederung lasse sich nicht auf Gründe des Gemeinwohls stützen, da sie, die Antragstellerin, den Nachweis der dauerhaften Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit erbracht habe. Sie schneide in sämtlichen Kategorien besser ab als die Mehrheit der Verbandsgemeinden im Land, deren Existenz nicht bedroht sei. Die Landesregierung betreibe ein „Rosinenpicken“, indem sie je nach Argumentation zwischen einem Landesvergleich, Regionalvergleich oder Kreisvergleich wechsele. Der Gesetzesentwurf sei widersprüchlich, wenn er einerseits das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 KomVwRGrG anerkenne, andererseits aber angenommen werde, dass sie, die Antragstellerin, zu klein sei, um eigenständig zu bleiben. Die Eingliederung führe, wie sich aus dem Gutachten Röske ergebe, nicht zu dauerhaften finanziellen Vorteilen für die beiden Verbandsgemeinden, hierfür liefere der Gesetzesentwurf keine belastbaren Nachweise. Zu erwarten sei vielmehr eine erhebliche Kostensteigerung sowie eine Schwächung bürgerschaftlichen Engagements und ein Aufbrechen gewachsener regionaler Strukturen. Durch einen Ausbau der interkommunalen Zusammenarbeit ließen sich deutliche Einsparpotenziale ausschöpfen, ohne Mehrkosten zu generieren, wie sie kurz- und mittelfristig im Falle einer Eingliederung anfielen. Die Umsetzung einer Eingliederung bis zum 1. Juli 2014 sei schlicht unmöglich. Die Wahl des Namens einer neu zu bildenden Verbandsgemeinde dürfe die Belange der Bürgerinnen und Bürger nicht unberücksichtigt lassen.

90

Aus diesen umfangreichen Ausführungen lässt sich entnehmen, dass die Antragstellerin von Gegenstand, Zielsetzung und Inhalt des Gesetzesentwurfs vom 18. Juni 2013 keinesfalls überrascht worden ist und sie in der Lage war, sich innerhalb der ihr gesetzten Frist sachgerecht zu äußern.

91

Schließlich ist in Rechnung zu stellen, dass die Antragstellerin, vertreten durch ihren Bürgermeister, außerdem die Möglichkeit hatte, ihre Standpunkte zum Gesetzesentwurf noch einmal vor dem Innenausschuss des Landtages am 5. November 2013 darzulegen und auf Fragen der Abgeordneten zu antworten (zu einer vergleichbaren Konstellation vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [112 f.]). Diese Möglichkeit der Stellungnahme blieb durch die Teilnahme weiterer Personen unberührt. Da es sich zudem nur um eine ergänzende Anhörung handelte, kommt es auch nicht darauf an, ob die Ladungsfrist hierfür für sich betrachtet ausreichend bemessen war.

92

Alles in allem reichte daher die etwa achtwöchige Frist zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme sowie die ergänzende Anhörung vor dem Innenausschuss am 5. November 2013 aus, um den Zweck der Anhörung – die umfassende Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts und die Möglichkeit der Einflussnahme durch die Antragstellerin auf das Gesetzgebungsverfahren – zu erreichen.

93

bb) Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur die schriftliche Anhörung der Antragstellerin vorgenommen hat. Anhörungsverpflichteter ist zwar der Gesetzgeber. Die Anhörung muss von Verfassungs wegen aber nicht durch den Landtag selbst oder einen von ihm gebildeten Ausschuss erfolgen. Vielmehr kann sie auch durch staatliche Verwaltungsbehörden durchgeführt werden (vgl. grundlegend VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [103 f.]; Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [134]; Urteil vom 5. Juli 1971 – VGH 21/70 –, AS 12, 320 [323]; ebenso VerfGH NRW, Urteil vom 24. April 1970 – 13/69 –, OVGE 26, 270 [275]; NdsStGH, Urteil vom 14. Februar 1979 – StGH 2/77 –, juris, Rn. 599; StGH BW, Urteil vom 8. September 1972 – 6/71 –, DÖV 1973, 163 [168]; VerfG Brandenburg, Urteil vom 18. Dezember 2003 – VfGBbg 97/03 –, LKV 2004, 313 [314]; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 31. Mai 1994 – LVG 1/94 –, LKV 1995, 75 [78]; vgl. ferner VerfGH Sachsen, Urteil vom 29. Mai 2009 – Vf. 79-II-08 –, juris, Rn. 322; Urteil vom 10. November 1994 – Vf. 29-VIII-94 –).

94

Sichergestellt sein muss allein, dass der Gesetzgeber dem Zweck der Anhörung genügen kann. Dieser Zweck besteht aber nicht in einer persönlichen Aussprache der Gemeindevertreter mit den Abgeordneten. Es geht, wie bereits dargelegt (siehe hierzu oben D.II.2.a)), vielmehr darum, dass durch die Anhörung der für die Gebietsänderung maßgebliche Sachverhalt und die Interessen der einzelnen der von einem Gebietsänderungsgesetz betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften ermittelt werden, so dass der Gesetzgeber alle Argumente sorgfältig abwägen kann, die für und gegen die Neugliederungsmaßnahmen sprechen. Jedes Verfahren, das eine ordnungsgemäße Durchführung der Sachverhalts- und Interessenermittlung gewährleistet, wird daher dem Sinn dieses Rechtsinstituts gerecht (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [103 f.]; K.-F. Meyer, in: Gemeinde- und Städtebund Rheinland-Pfalz [Hrsg.], Festschrift für Steenbock, 2008, S. 1 [14]).

95

Diese Voraussetzungen sind aber nicht nur dann erfüllt, wenn der Landtag oder ein von ihm eingesetzter Ausschuss die betroffenen Gebietskörperschaften anhört, sondern auch, wenn er sich der staatlichen Verwaltungsbehörden bedient und auf deren Anhörung zurückgreift. Ein solcher Verfahrensgang bietet ebenfalls die Gewähr dafür, dass das wesentliche Ergebnis der Interessenermittlung dem Landtag bekanntgegeben wird, auf diese Weise in das Parlament einfließt und zur Grundlage der Entscheidung herangezogen werden kann. Demnach steht es zur Disposition des Parlaments, ob es die Anhörung selbst vornimmt oder die staatliche Verwaltung mit ihrer Durchführung beauftragen bzw. auf eine von dieser durchgeführten Anhörung zurückgreifen will (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [103 f.]).

96

Wird zudem ein Gesetzesentwurf nicht aus der Mitte des Parlaments eingebracht, sondern geht die Initiative von der Landesregierung aus, dann liegt es nahe, schon bei der Erstellung des Entwurfs die betroffenen Gebietskörperschaften anzuhören. Dies bietet den Vorteil, dass sie bereits zu einem äußerst früheren Zeitpunkt Einfluss auf den Gesetzesentwurf nehmen können. In Fällen dieser Art wird dem Parlament regelmäßig mit dem Gesetzesentwurf das wesentliche Ergebnis der Anhörung unterbreitet. Dieses hat dann zu beurteilen, ob es die Anhörung im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht, den Sachverhalt und die Interessen zu ermitteln, für ausreichend hält. Auch aus diesem Verfahrensablauf folgt, dass es für die von einer Gebietsänderung betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften keinen Rechtsanspruch auf Anhörung durch das Parlament selbst gibt. Dieser Grundsatz gilt nicht nur dann, wenn der Gesetzesentwurf von der Landesregierung, sondern auch, wenn er aus der Mitte des Parlaments eingebracht wird. Eine Rechtfertigung dafür, in beiden Fällen unterschiedlich zu verfahren, besteht nämlich nicht (VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [103 f.]).

97

Aus der Funktion der Anhörung als Instrument der Sachverhalts- und Interessenermittlung ergibt sich allerdings zugleich die einschränkende Voraussetzung, dass eine hinreichende Informationsübermittlung an den Gesetzgeber sichergestellt sein muss, sofern er die Anhörung nicht selbst bzw. durch einen Ausschuss durchführt (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 10. November 1994 – Vf. 29-VIII-94 –; ferner VerfGH NRW, Urteil vom 18. Dezember 1970 – 11/70 –, OVGE 26, 306 [311]). Dass dem vorliegend nicht Rechnung getragen wurde, behauptet weder die Antragstellerin, noch ist dies sonst ersichtlich. Die wesentlichen Punkte der schriftlichen Stellungnahme sind im Gegenteil im Gesetzesentwurf der Landesregierung umfassend wiedergegeben worden (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 56 ff.). Zweifel an einer ordnungsgemäßen Anhörung bestehen vorliegend schließlich umso weniger, als die Antragstellerin neben ihrer schriftlichen Stellungnahme die Möglichkeit hatte, ergänzend ihre Argumente vor dem Innenausschuss des Landtags vorzutragen.

98

cc) Das Recht der Antragstellerin auf Anhörung ist auch nicht dadurch verletzt worden, dass ihrem Antrag auf Einsichtnahme in die Verfahrensakten des Ministeriums des Innern, für Sport und Infrastruktur nicht entsprochen wurde. Dies ergibt sich zwar nicht, wie die Landesregierung meint, bereits daraus, dass der Antrag auf Akteneinsicht zu unsubstantiiert gewesen sei. Da der Antragstellerin der Inhalt der Akten gerade nicht bekannt war, konnte eine Präzisierung ihres Akteneinsichtsgesuchs denknotwendig nicht erfolgen.

99

Allerdings ist ein Akteneinsichtsrecht von der bei einer Gebietsreform verfassungsrechtlich gebotenen Anhörung nicht umfasst. Wie bereits dargelegt, verlangt der aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie bzw. dem Rechtsstaatsprinzip erwachsende Anspruch auf Anhörung nicht, dass den betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften die gleichen Rechte einzuräumen sind, wie sie den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens aufgrund der Gewährleistung in Art. 6 Abs. 2 LV zustehen (siehe hierzu oben D.II.2.a)). Der Umfang der Anhörungsrechts ergibt sich vielmehr auch hier wiederum aus dessen Sinn und Zweck: Erforderlich ist zwar, dass die betroffene Gemeinde oder Verbandsgemeinde nicht nur über die Tatsache ihrer Auflösung oder der Änderung ihres Gebietsbestandes, sondern auch über den wesentlichen Inhalt des Neugliederungsvorhabens einschließlich der in Betracht kommenden Begründung zu unterrichten ist (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 5. Juli 1971 – VGH 21/70 –, AS 12, 320 [324]; BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 1979 – 2 BvL 6/76 –, BVerfGE 50, 195 [203]; ferner BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [107 f.]). Hierzu gehören auch die Grundzüge der beabsichtigten Regelung, die Ziele, die Maßstäbe, die erwogenen Alternativen und die Gründe für die Wahl einer bestimmten Alternative. Denn ohne diese Information ist es den Trägern der kommunalen Selbstverwaltung nicht möglich, zu den Gründen des Gemeinwohls, die das Vorhaben verfassungsrechtlich legitimieren sollen, Stellung zu nehmen und ihrerseits mögliche Alternativen und für sie sprechende Gründe dem Gesetzgeber zur Kenntnis zu geben (VerfGH Sachsen, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf.4-VIII-94 –, LKV 1995, 115 [116]). Der Gesetzgeber ist jedoch nicht gehalten, über jedes Detail des geplanten Vorhabens zu informieren (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 23. Juni 1994 – Vf.4-VIII-94 –, LKV 1995, 115 [116]).

100

Daraus folgt zugleich, dass die kommunale Selbstverwaltungsgarantie erst recht keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Einsichtnahme in die Verfahrensunterlagen des Gesetzgebers bzw. des federführenden Ministeriums vermittelt. Aus einem bloßen Anhörungsrecht folgt keineswegs automatisch ein verfassungsunmittelbares Akteneinsichtsrecht. Einen allgemeinen Anspruch auf Aktensicht außerhalb des Regelungsbereichs spezialgesetzlicher Normen kennt die Rechtsordnung nicht. Dies gilt erst recht gegenüber dem Parlament (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Juni 1998 – 5 B 1634/97 –, NJW 1998, 3659 [3660]). Im Übrigen kann der Anspruch auf Anhörung gegenüber der Regierung nicht weiter gehen als gegenüber dem eigentlich Verpflichteten des Anhörungsrechts, nämlich dem Parlament.

101

Es ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, dass der Antragstellerin ohne die begehrte Akteneinsicht nicht genügend Informationen zur Verfügung standen, um zu der geplanten Eingliederung substantiiert Stellung nehmen und mögliche Alternativen aufzeigen zu können. Sie wurde mit Vorlage des Gesetzesentwurfs einschließlich seiner etwa hundertseitigen Begründung umfangreich über die Hintergründe der geplanten Auflösung und Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben informiert. So enthielt die Begründung neben allgemeinen Ausführungen, wie den Zielen und Gründen, den Grundsätzen und der Umsetzung der Gebietsreform, vor allem eine ausführliche Darlegung des Gebietsänderungsbedarfs der Antragstellerin einschließlich der Ausführungen zum Nichtvorliegen eines Ausnahmegrundes nach § 2 Abs. 3 KomVwRGrG und einer fehlenden Sonderstellung der Antragstellerin in der Region Rheinpfalz und im Landkreis Südliche Weinstraße sowie die Gründe für die Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben und gegen einen Zusammenschluss mit der Verbandsgemeinde Lambrecht (Pfalz) und der kreisfreien Stadt Neustadt an der Weinstraße. Zu diesem Zeitpunkt war der Antragstellerin auch schon das Gutachten Junkernheinrich Teil A und B, auf die sich die Gesetzesbegründung maßgeblich stützt, hinlänglich bekannt (siehe hierzu oben D.II.2.b)aa)(2)).

102

Eine andere Beurteilung ist auch nicht deswegen geboten, weil – wie die Antragstellerin meint – die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder auch gesetzesvorbereitende Handlungen erfassten. Es erscheint äußerst zweifelhaft, ob für die Antragstellerin als Körperschaft des öffentlichen Rechts ein derartiger Anspruch auf einfach-gesetzlicher Grundlage besteht. Denn das Landesinformationsfreiheitsgesetz – LIFG – vermittelt gemäß § 4 Abs. 1 nur natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts ein Informationsfreiheitsrecht. Ob diesen Personen vorliegend auf Antrag Einsicht in die Akten des Ministeriums hätte gewährt werden müssen, oder ob einem solchen Begehren etwa der Schutz des behördlichen Entscheidungsprozesses nach § 10 LIFG oder der verfassungsrechtliche Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung entgegengestanden hätte (zu letzterem vgl. BVerfG, Urteil vom 21. Oktober 2014 – 2 BvE 5/11 –, NVwZ 2014, 1652 [1654 ff.] m.w.N.), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, Informationsansprüche auf einfach-gesetzlicher Grundlage zu schaffen, auch wenn er hierzu – wie vorliegend – verfassungsrechtlich nicht verpflichtet ist.

103

dd) Das Anhörungsrecht der Antragstellerin wurde schließlich auch nicht dadurch verletzt, dass dieser nicht sämtliche den Gutachten Junkernheinrich zugrunde liegenden statistischen Daten aller Verbandsgemeinden zur Verfügung gestellt wurden.

104

Ob eine Weitergabe der Daten aus lizenzrechtlichen Gründen überhaupt möglich gewesen wäre, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn zum einen hatte der Lehrstuhl von Prof. Dr. Junkernheinrich der Antragstellerin bereits im Dezember 2012 angeboten, ihr die Datenbestellung, wie sie an das Statistische Landesamt gerichtet wurde, zu überlassen. Damit hatte die Antragstellerin die Möglichkeit, durch eine eigene Datenbestellung den gleichen Datensatz zu erhalten, wie er auch den Gutachten zugrunde liegt.

105

Das Argument der Antragstellerin, sie habe durch die Weigerung zur Überlassung der Daten Rechenfehler oder Unplausibilitäten im Gutachten nicht aufzeigen können, verfängt zum anderen aus weiteren Gründen nicht: Die sie selbst betreffenden Daten, etwa zu ihrer Wirtschafts- und Finanzkraft sowie die Ergebnisse der Haushaltsjahre, mussten ihr denknotwendig bekannt sein. Jedenfalls waren sie ohne Weiteres zu ermitteln. So trägt denn die Antragstellerin auch vor, schon kurz nach der Vorlage des Gutachtens Junkernheinrich Teil A auf einzelne Fehlannahmen im Gutachten hingewiesen und einen Prüfungs- und Korrekturbedarf angemahnt zu haben. Ihr wurden zudem nach eigenen Angaben bereits am 7. Juni 2013 – und damit noch vor der Vorlage des Gesetzesentwurfs und dem Beginn der Frist zur Stellungnahme am 17. Juni 2013 – die sie betreffenden Zahlen zum Finanzierungssaldo für den Zeitraum 2001 bis 2009 übermittelt.

106

Zum anderen wird bereits in der Begründung des Gesetzesentwurfs, wie er der Antragstellerin mit Schreiben vom 17. Juni 2013 zur Stellungnahme zugeleitet worden war – anders als noch im Gutachten Junkernheinrich Teil A –, davon ausgegangen, dass die Antragstellerin die Kriterien einer dauerhaften Leistungsfähigkeit (ausgeglichener Finanzierungssaldo im Durchschnitt 2001 bis 2009, maximal ein Defizitjahr im Zeitraum 2007 bis 2009) erfüllt (vgl. hierzu auch die insoweit identische amtliche Gesetzesbegründung, LT-Drucks. 16/2794, S. 85), was diese in ihrer Stellungnahme vom 23. August 2013 zur Kenntnis genommen hat. Die Antragstellerin war nach alledem offensichtlich schon zu einem frühen Zeitpunkt im Gesetzgebungsverfahren in der Lage, die Feststellungen des Gutachters mit denen sie betreffenden Daten abzugleichen und – insoweit offenbar erfolgreich – auf etwaige Abweichungen hinzuweisen. Es ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar, weshalb der Antragstellerin ohne die Überlassung der statistischen Daten die Möglichkeit genommen worden sein soll, auf die Entscheidung des Gesetzgebers Einfluss zu nehmen. Die Fehlannahmen des Gutachters betreffend den Finanzierungssaldo der Jahre 2001 bis 2009 haben sich ganz offensichtlich nicht auf das angegriffene Neugliederungsgesetz einschließlich seiner Begründung ausgewirkt.

107

Ein berechtigtes Interesse an der Übermittlung der Daten sämtlicher im Gutachten Junkernheinrich untersuchter Verbandsgemeinden, wie sie die Antragstellerin begehrt hatte, ist weder substantiiert dargetan noch sonst ersichtlich.

108

ee) Eine Verletzung der Anhörungspflicht resultiert auch nicht daraus, dass sich der Gesetzgeber – wie die Antragstellerin meint – kein „authentisches Meinungsbild“ ihrer Einwohnerinnen und Einwohner zur geplanten Gebietsänderung verschafft habe. Dies war, worauf die Landesregierung zu Recht hingewiesen hat, vorliegend nicht geboten. Die aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie resultierende verfassungsrechtliche Pflicht zur Anhörung erstreckt sich allein auf die betroffene Gebietskörperschaft (vgl. Rennert, in: Umbach/Clemens [Hrsg.], Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar, Band I, 2002, Art. 28 Rn. 103; so auch Dietlein/Thiel, Rechtsfragen eines zwangsweisen Zusammenschlusses von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, 2013, S. 34 f.). Darüber hinausgehend enthält die Verfassung für Rheinland-Pfalz kein Erfordernis einer Bürgeranhörung im Falle einer Gebietsänderung. Ob der Gesetzgeber den Willen der Bevölkerung hinreichend gewürdigt hat, ist keine Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Anhörung der kommunalen Gebietskörperschaft, sondern der an die Neugliederung zu stellenden materiellen Anforderungen.

109

ff) Es bestehen ferner keine hinreichenden Gründe für die Annahme, dass die Anhörung der Antragstellerin nicht ergebnisoffen durchgeführt worden ist.

110

In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass vor der Abstimmung über ein Eingliederungsgesetz getroffene politische Abreden – wie etwa Koalitionsabsprachen, Stimmabgabeempfehlungen und Probeabstimmungen – in zulässiger Weise zur parlamentarischen Willensbildung beitragen und nicht zur Diagnose einer Verfassungswidrigkeit aufgrund fehlender Offenheit bei der gesetzgeberischen Entscheidungsfindung führen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [113 f.]; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 133; ferner VerfGH Sachsen, Urteil vom 25. September 2008 – Vf. 54-VIII-08 –, NVwZ 2009, 39 [42, 44]; StGH BW, Urteil vom 8. September 1972 – GR 6/71 –, ESVGH 23, 1 [16 f.]; Mehde, in: Maunz/Dürig [Hrsg.], GG [Stand: Dezember 2014], Art. 28 Abs. 2 Rn. 155). Vor diesem Hintergrund verlangt eine ergebnisoffene Anhörung erst recht nicht, dass sich Abgeordnete bzw. Regierungsmitglieder vor der Anhörung noch keine Meinung zu dem Gesetzesvorhaben gebildet haben dürfen. Voraussetzung ist lediglich, dass das Gesetzgebungsverfahren abweichenden Überlegungen noch zugänglich ist und Einwände sowie vorgelegte Alternativen nicht von vornherein aus dem Willensbildungsprozess ausgeklammert werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [113 f.]; Perne, LKRZ 2014, 276 [278]).

111

Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass diesem Erfordernis hier nicht Genüge getan wurde, bestehen nicht. Insbesondere ist ein bewusstes Ausblenden von Nachteilen, die mit der Auflösung der Antragstellerin und deren Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben verbunden sind, nicht ersichtlich (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 133; VerfGH Sachsen, Urteil vom 29. Mai 2009 – Vf. 79-II-08 –, juris, Rn. 391). Eine fehlende Ergebnisoffenheit des Gesetzgebungsverfahrens lässt sich insbesondere nicht aus den Aussagen einzelner Mitglieder der Landesregierung zu politischen Absichten ableiten. Ebenso wie für die Auslegung eines Gesetzes kann es auch für seine Entstehung nicht auf die Vorstellung des einzelnen Abgeordneten bzw. Regierungsmitglieds ankommen, da der Einzelne nicht den „Willen des Gesetzgebers“ bildet (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [100]). Auch die Auswahl der anzuhörenden Personen in der Sitzung des Innenausschusses vermag nicht den Nachweis einer mangelnden Ergebnisoffenheit des Gesetzgebungsverfahrens zu erbringen. Wie der Landtag in seiner Stellungnahme dargelegt hat, war der Innenausschuss einvernehmlich übereingekommen, zu den Gesetzesentwürfen jeweils fünf Auskunftspersonen anzuhören, die nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen benannt wurden. Dass sich unter diesen Personen auch solche befanden, die sich nicht gegen, sondern für eine Auflösung und Eingliederung der Antragstellerin ausgesprochen haben, belegt nicht, dass die Mitglieder des Innenausschusses bzw. des Landtages abweichenden Argumenten nicht mehr offen gegenüberstanden. Eine fehlende Ergebnisoffenheit des Gesetzgebers wird schließlich auch nicht dadurch indiziert, dass im Schreiben des Innenministers vom 17. Oktober 2012 die Vorbereitung eines Gesetzesentwurfs im Anschluss an die Abgabe einer Stellungnahme seitens der Antragstellerin angekündigt wird. Hierbei dürfte es sich lediglich um einen Hinweis auf zeitliche Abläufe gehandelt haben für den Fall, dass die Regierung ihr Vorhaben auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Antragstellerin weiterverfolgt. Im Übrigen gehörte die Möglichkeit zur Stellungnahme im Jahre 2012 noch nicht zur verfassungsrechtlich gebotenen Anhörung.

112

3. Es kann hingegen nicht festgestellt werden, dass die in § 1 MaikammerEinglG vorgesehene Auflösung der Antragstellerin dem Gemeinwohl dient.

113

a) Nach der übereinstimmenden, ständigen Rechtsprechung der Verfassungsgerichte verlangt die verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung, so wie diese sich geschichtlich entwickelt hat, dass Gemeinden in ihrem individuellen Bestand nur dann geändert oder aufgelöst werden dürfen, wenn dieser Eingriff dem Gemeinwohl bzw. dem öffentlichen Wohl dient (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [107]; BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. November 1981 – 2 BvR 827/80 –, juris, Rn. 2; VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [78 ff.]; Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [121]; Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [247 f.]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [641]). Die Gemeinwohlbindung, wie sie für sämtliche Gesetzgebung besteht, folgt zudem aus Art. 1 Abs. 2 bis 4 LV (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [80]; Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [247 f.]).

114

Bei dem abstrakten Begriff des „Gemeinwohls“ handelt es sich um einen generalklauselartigen unbestimmten Rechts- bzw. Verfassungsbegriff, dessen Inhalt nicht festgelegt und keiner abstrakten Definition zugänglich ist. Es ist vielmehr Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, die für ihn maßgeblichen Gemeinwohlgründe zu bestimmen und daran die Neugliederung von Gemeinden auszurichten (vgl. VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [82 ff.]). Dabei hat er – im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben – einen großen politischen Spielraum (vgl. Verfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Juli 2007 – 9/06 u.a. –, juris, Rn. 117). Das Gemeinwohl kann durch die rechtlichen Wertungen der Verfassung konkretisiert werden. Allerdings können auch Interessen und Zwecke, die sich nicht unmittelbar aus einem Verfassungsgrundsatz ableiten lassen, Gründe des öffentlichen Wohls darstellen. Dabei ist aber übergeordneten Verfassungsprinzipien bzw. der verfassungsmäßigen Wertordnung Rechnung zu tragen (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [641]; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217).

115

Mit dem erheblichen politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bestimmung des Gemeinwohls im Rahmen von Gebietsreformen und dem „planerischen Einschlag“ von Neugliederungsgesetzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [108]) korrespondiert eine nur eingeschränkte verfassungsgerichtliche Überprüfung der Gemeinwohlkonformität. Die Bewältigung komplexer Probleme, wie sie bei einer Gebietsreform auftreten, muss vorrangig dem Parlament überlassen bleiben (vgl. auch VerfG Brandenburg, Urteil vom 14. Juli 1994 – VfGBbg 4/93 –).

116

Dabei lassen sich drei Stufen der gesetzgeberischen Entscheidung unterscheiden, auf denen jeweils eine Gemeinwohlkonkretisierung durch den Gesetzgeber erfolgt (vgl. VerfGH Sachsen, Beschluss vom 9. November 1995 – Vf. 20-VIII-95 –; Urteil vom 18. Juni 1999 – Vf. 51-VIII-98 –; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [642 ff.]; Beschluss vom 8. September 1997 – 8/95 –, juris, Rn. 76 ff.; Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 156 ff.):

117

aa) Auf der ersten Stufe werden die Überlegungen, die der Durchführung der Reform als solcher zugrunde liegen, verfassungsrechtlich gewürdigt. Dabei prüft der Verfassungsgerichtshof nur, ob im Lichte der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie betrachtet verfassungsrechtlich legitime Reformziele verwirklicht werden sollen.

118

bb) Auf der zweiten Stufe werden das Leitbild und die Leitlinien, die der Gesetzgeber seiner Reformmaßnahme selbst zugrunde gelegt hat, einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Diese erlangen rechtliche Bedeutung für die einzelne Neugliederung durch das aus dem Gleichheitssatz bzw. dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Gebot der Systemgerechtigkeit (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [643]; NdsStGH, Urteil vom 14. Februar 1979 – StGH 2/77 –, juris, Rn. 610; Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 190; zum Gebot der Systemgerechtigkeit siehe unten D.II.3.b)cc)(2)(b)).

119

Einer verfassungsgerichtlich inzidenten Überprüfung des Grundsätzegesetzes, in dem der Gesetzgeber vorliegend das Leitbild und die Leitlinien seiner Reform verankert hat, steht auch nicht entgegen, dass dieses Gesetz bereits im Jahr 2010 in Kraft getreten ist. Denn die sechsmonatige Frist des § 23 Abs. 4 VerfGHG gilt hier nicht. Der Verfassungsgerichtshof vermag insoweit der Ansicht des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt nicht zu folgen, wonach sich Gemeinden im Verfahren gegen ihre Eingliederung grundsätzlich nicht mehr gegen in so genannten Grundsätzegesetzen vorab festgelegte Kriterien sowie gegen deren Anwendung wenden könnten, da andernfalls die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde umgangen werden könne (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Oktober 2008 – LVG 7/07 –; Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217; Urteil vom 8. Oktober 2012 – LVG 3/11 –).

120

Dieser Rechtsprechung liegt die Annahme zugrunde, dass eine Gemeinde sich schon vor der eigentlichen Gebietsänderung unmittelbar gegen ein Grundsätzegesetz wende könne. Sie sei insoweit antragsbefugt, da sie durch ein solches Gesetz unmittelbar und gegenwärtig betroffen werde (LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217; ähnlich VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575]).

121

Dies kann vorliegend für das Grundsätzegesetz nicht angenommen werden. Eine unmittelbare Betroffenheit verlangt, dass die Rechtsstellung des Beschwerdeführers bzw. Antragstellers durch die angegriffene Rechtsnorm und nicht erst durch ihren Vollzug berührt wird (zu diesem Erfordernis im Rahmen des Art. 130 Abs. 1 Satz 2 LV vgl. VerfGH RP, Urteil vom 18. April 1994 – VGH N 1/93 u.a. –, AS 24, 321 [333 f.]; Urteil vom 13. Oktober 1995 – VGH N 4/93 –, NVwZ-RR 1996, 458; im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerde vgl. VerfGH RP, Urteil vom 22. Juni 2004 – VGH B 2/04 –, AS 31, 348 [351]; ferner BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 1986 – 1 BvR 1384/85 u.a. –, BVerfGE 72, 39 [43] m.w.N.). Eine derartige Wirkung kommt hier dem Grundsätzegesetz nicht zu. Die Rechtsstellung der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden wird nicht bereits durch die Festlegung von Zielen, Leitbild und Leitlinien der Gebietsreform im Grundsätzegesetz, sondern erst durch das entsprechende Neugliederungsgesetz geändert (so entsprechend auch, allerdings mit anderem Ergebnis LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217). Daran ändert auch das Gebot der Systemgerechtigkeit, demzufolge der Gesetzgeber bei der Umsetzung einer Gemeindegebietsreform das bisherige System nicht ohne hinreichende Begründung verlassen darf, nichts (so aber VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575]). Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier – für die Gebietskörperschaften, die die genannten Mindestgrößen nicht aufweisen, grundsätzlich Ausnahmen von der Fusionspflicht zugelassen werden können und es daher jedenfalls nicht regelmäßig auf der Hand liegt, dass es tatsächlich zu einer Gebietsänderung kommt. Wenn zudem einerseits eine gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit der kommunalen Gebietskörperschaft durch ein Grundsätzegesetz bejaht wird, erscheint es kaum konsequent andererseits eine Pflicht zur Anhörung der Gemeinde vor Erlass eines solchen Gesetzes zu verneinen (so aber LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217; kritisch hierzu auch Wallerath, in: Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern u.a. [Hrsg.], 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 53 [71 f.]).

122

War es der Antragstellerin mithin verwehrt, im Vorfeld das Grundsätzegesetz einer (isolierten) verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterziehen zu lassen, so muss es ihr nun möglich sein, sich im Verfahren gegen ihre Auflösung und Eingliederung mittelbar auch gegen das Grundsätzegesetz zu wenden (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [16]).

123

cc) Auf der dritten Stufe wird schließlich die konkrete einzelne Neugliederungsmaßnahme verfassungsrechtlich gewürdigt.

124

b) Gemessen an diesem verfassungsrechtlichen „Prüfprogramm“ verfolgt der Gesetzgeber mit seiner Gebietsreform betreffend die verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden zwar ein verfassungsrechtlich legitimes Reformziel (aa). Auch begegnen das Leitbild und die Leitlinien des Grundsätzegesetzes und damit dieses selbst keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (bb). § 1 MaikammerEinglG hält hingegen einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand (cc).

125

aa) Die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, eine Gebietsreform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden durchzuführen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ausweislich der amtlichen Begründung zum Grundsätzegesetz beabsichtigt der Gesetzgeber auf diese Weise, die Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft der betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften zu stärken (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 1). Ziel der Reform sind gemäß § 1 Abs. 1 KomVwRGrG kommunale Gebietskörperschaften, die unter besonderer Berücksichtigung der demografischen Entwicklungen und des Einsatzes neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere im Rahmen von E-Government, in der Lage sind, langfristig die eigenen und die übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Dabei wird eine Verbesserung der kommunalen Gebietsstrukturen im Hinblick auf die demografische Entwicklung sowie auf die Situation der kommunalen Finanzen für notwendig gehalten (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 29 f.).

126

Hierbei handelt es sich um ein verfassungsrechtlich legitimes, am öffentlichen Wohl orientiertes Ziel (so auch Dietlein/Thiel, Rechtsfragen eines zwangsweisen Zusammenschlusses von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, 2013, S. 63 f.; vgl. hierzu auch StGH BW, Urteil vom 14. Februar 1975 – GR 11/74 –, ESVGH 25, 1 [27 f.]). Dies gilt umso mehr, als die kommunale Selbstverwaltung gemäß Art. 49 LV selbst ein Mindestmaß an Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft voraussetzt. Ineffiziente kommunale Strukturen können nämlich ebenso eine Gefahr für eine lebendige Selbstverwaltung darstellen wie die Verkürzung der bürgerschaftlich-demokratischen Teilhabemöglichkeiten. Mangels ausreichender Leistungsfähigkeit weitgehend funktionsentleerte Gemeinden entsprechen daher nicht dem verfassungsrechtlichen Leitbild der kommunalen Selbstverwaltung (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [641 f.]; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 184). Eine Gebietsreform, die darauf abzielt, dass die Kommunen ihrer innerhalb des Staatsaufbaus zukommenden Funktion gerecht werden können, hat daher ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel zum Gegenstand (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217).

127

bb) Das Leitbild und die Leitlinien, wie sie der Gesetzgeber im Grundsätzegesetz zugrunde gelegt hat, begegnen keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

128

(1) Die Konkretisierung der einzelnen Ziele einer allgemeinen Gemeindegebietsreform ist zunächst der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers vorbehalten, der die verschiedenen Gemeinwohlgründe gewichten und ordnen kann. Bei der Bestimmung des abstrakt-generellen Leitbildes und der Leitlinien der Reform kommt dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum zu. Das als Ordnungsrahmen für die einzelnen Neugliederungsmaßnahmen entwickelte Leitbild und die dazu entwickelten Leitlinien hat der Verfassungsgerichtshof daher lediglich daran zu messen, ob der Gesetzgeber sich aufdrängende Gemeinwohlaspekte übersehen hat, ob die den Leitsätzen zugrunde liegenden Erkenntnisse offensichtlich unzutreffend sind und ob die Leitsätze offensichtlich ungeeignet sind, um das Reformziel zu verwirklichen. In diesem Sinne bleibt die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf dieser Stufe der Gemeindegebietsreform eingeschränkt (vgl. etwa VerfGH Sachsen, Urteil vom 6. Mai 1999 – Vf. 51-VIII-98 –; vgl. VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575]; Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 189 f.; ähnlich bereits VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [87]; Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [250]).

129

(2) Diesen Anforderungen hat der Gesetzgeber Genüge getan. Gebietsreformen unter Zugrundlegung von Mindesteinwohnerzahlen für Verbandsgemeinden sind zur Erreichung des Reformziels nicht offensichtlich ungeeignet (a). Dies gilt auch, soweit § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KomVwRGrG eine Regelmindestgröße von 12.000 Einwohnern für Verbandsgemeinden vorsieht (b). Eine vermeintlich widersprüchliche Festsetzung der Mindestgröße für verbandsfreie Gemeinden beschwert die Antragstellerin nicht (c). Verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmen von Mindestgrößen wird durch die Regelung des § 2 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 KomVwRGrG ausreichend Rechnung getragen (d). Das Leitbild und die Leitlinien der Reform leiden auch nicht daran, dass der Gesetzgeber seiner Reform keine wissenschaftliche Schaden-Nutzen-Bilanz zugrunde gelegt hat (e). Schließlich begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass der Gesetzgeber die Gebietsreform in einem ersten Schritt zunächst auf die verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden unter weitgehender Beibehaltung der Kreisgrenzen beschränkt hat (f).

130

(a) Unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Verfassungsgerichthofs ist die Festlegung von Regelmindestgrößen für Verbandsgemeinden im Rahmen einer Gebietsreform verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn die Festlegung von Mindesteinwohnerzahlen bei Gebietsreformen ist zur Stärkung der Leistungsfähigkeit kommunaler Gebietskörperschaften jedenfalls nicht offensichtlich ungeeignet. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bei seinen Prognosen auf die in der Verwaltungswissenschaft und -praxis gewonnenen allgemeinen Erfahrungen und ermittelten Gesetzmäßigkeiten zurückgreifen darf und nicht stets wissenschaftliche Untersuchungen zugrunde legen muss. Verbleibende Unsicherheiten der Prognose, z.B. hinsichtlich der Eignung des gewählten Mittels zur Zielerreichung, führen nicht zu einem Handlungsverbot für den Gesetzgeber oder zur Verfassungswidrigkeit der Maßnahme (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [644] unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 – 1 BvR 402/87 –, BVerfGE 83, 130 [140 ff.]; Beschluss vom 9. März 1994 – 2 BvL 43/92 u.a. –, BVerfGE 90, 145 [182 ff.]). Die Festlegung von Mindestgrößen für Gemeinden im Rahmen von Gebietsreformen basiert auf der aus der Wirtschaftslehre stammenden „Theorie der positiven Skaleneffekte“ („economies of scale“) (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 30), der zufolge eine Erhöhung des Inputs eine überproportionale Outputsteigerung und infolgedessen sinkende Stückkosten zur Folge hat (vgl. hierzu begleitende Gesetzesfolgenabschätzung, S. 58).

131

In Anlehnung hieran wird auch in der Verwaltungswissenschaft und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung regelmäßig davon ausgegangen, dass im Rahmen von Gebietsreformen Mindestgrößen von kommunalen Gebietskörperschaften ein nicht offensichtlich ungeeignetes Mittel zur Stärkung der Leistungsfähigkeit von Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden sind (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 10. Mai 2011 – LVG 33/10 –, BeckRS 2011, 51550; VerfGH NRW, Urteil vom 7. November 1975 – 64/74 –, juris, Rn. 52; VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [89]; VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575]; Beschluss vom 18. November 2004 – 167/03 –; zustimmend Mehde, in: Maunz/Dürig [Hrsg.], GG [Stand: Dezember 2014], Art. 28 Abs. 2 Rn. 161; so auch das Schrifttum, vgl. etwa Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 196; Wallerath, in: Mecking/Oebbecke [Hrsg.], Zwischen Effizienz und Legitimität, 2009, S. 189 [206]; Pfeil, LKV 2000, 129 [132]; Wendel, LKV 2011, 488 [491]).

132

Es spricht zwar einiges dafür, dass mit steigender Gemeindegröße die Wirtschaftlichkeit des kommunalen Verwaltungshandelns im Sinne einer Kosteneffizienz nicht automatisch steigt. Hiervon geht auch die begleitende Gesetzesfolgenabschätzung aus, wenn es dort etwa heißt, von einer „deterministischen Beziehung zwischen Verbandsgemeindegröße und kommunaler Wirtschaftlichkeit“ könne keine Rede sein und der Zusammenhang zwischen der Ortsgröße und der Ausgabenbelastung für die allgemeine Verwaltung sei nicht linear (begleitende Gesetzesfolgenabschätzung, S. 59, 65, 83, 108; ähnlich auch Rosenfeld/Kluth u.a., Zur Wirtschaftlichkeit gemeindlicher Verwaltungsstrukturen in Sachsen-Anhalt, 2007, S. 70).

133

Nach der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung besteht allerdings zumindest ein statistischer Zusammenhang zwischen der Größe der Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz auf der einen Seite und ihren negativen Haushaltsergebnissen sowie der Höhe ihrer Kassenkreditschulden auf der anderen Seite (vgl. S. 491 f.). So verfügten die Verbandsgemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern bezogen auf das Jahr 2006 über ein höheres Haushaltsdefizit und höhere Kassenkreditschulden je Einwohner als die Gemeinden mit 10.000 bis 15.000 Einwohnern (vgl. S. 76 ff.). Diese Gruppe wiederum wies durchschnittlich ein höheres Haushaltsdefizit und höhere Kassenkreditschulden auf als die Gruppe der Verbandsgemeinden mit 15.000 bis 20.000 Einwohnern. Im Bereich der allgemeinen Verwaltung (Einzelplan 0) korrespondieren zudem die Nettoausgaben je Einwohner mit der Größe der Verbandsgemeinde. So sind die Kosten in der Gruppe der Verbandsgemeinden unter 10.000 Einwohnern höher als die Kosten in der Gruppe der Verbandsgemeinden mit 10.000 bis 15.000 Einwohnern. Diese wiederum sind höher als in der Gruppe der Verbandsgemeinden mit 15.000 bis 20.000 Einwohnern. Im Einklang mit diesen Erkenntnissen geht auch der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesbegründung zum Grundsätzegesetz davon aus, dass unter Zugrundlegung der Daten des Statistischen Landesamtes die Personalausgaben und die Verwaltungs- und Betriebsausgaben einwohnerstärkerer Verbandsgemeinden pro Einwohner durchschnittlich niedriger als die Personalausgaben und die Verwaltungs- und Betriebsausgaben einwohnerschwächerer Verbandsgemeinden seien (LT-Drucks. 15/4488, S. 31).

134

Bei dieser Sachlage reicht es in jedem Fall aus, wenn sich der zur Typisierung befugte Gesetzgeber auf derartige statistische Zusammenhänge stützt. Dies vermittelt ihm eine hinreichende Legitimationsgrundlage (vgl. Gebhardt, Das kommunale Selbstverwaltungsrecht, 2007, S. 82). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Annahme, dass Einwohnerzahlen ein Indikator für die Leistungsfähigkeit von Verbandsgemeinden sind und mit der Festlegung von Mindesteinwohnerzahlen bei Gebietsreformen eine Stärkung der Leistungsfähigkeit von Verbandsgemeinden erzielt werden kann, jedenfalls nicht als offensichtlich fehlerhaft dar.

135

(b) Die konkrete Festlegung einer Mindesteinwohnerzahl von 12.000 Einwohnern für Verbandsgemeinden begegnet entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Auch insoweit verfügt der Gesetzgeber über einen erheblichen Einschätzungsspielraum, der verfassungsgerichtlich nur daraufhin überprüft werden kann, ob von ihm in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht worden ist. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber bei organisatorischen Regelungen, die das ganze Land betreffen – wie bereits dargelegt – typisieren darf; er braucht nicht jeder einzelnen Gemeinde und grundsätzlich auch nicht jeder insgesamt gesehen unbedeutenden Gruppe von Gemeinden Rechnung zu tragen. Dies folgt schon aus dem notwendig generellen Charakter seiner Regelung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2002 – 2 BvR 329/97 –, BVerfGE 107, 1 [14]).

136

Ungeachtet der Vergleichbarkeit der in den Bundesländern bestehenden kommunalen Strukturen ist zunächst festzustellen, dass sich die in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 KomVwRGrG festgelegte Regelmindestgröße durchaus im Rahmen der üblicherweise bei kommunalen Gebietsreformen herangezogenen bzw. empfohlenen Richtwerte bewegt (so ausdrücklich auch Dietlein/Thiel, Rechtsfragen eines zwangsweisen Zusammenschlusses von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, 2013, S. 66). So lagen in der Vergangenheit die Mindestgrößen regelmäßig zwischen 5.000 und 10.000 Einwohnern (vgl. Trute, Reformbedarf und Entwicklungsoptionen der Verwaltungsstrukturen der Gemeinden in Brandenburg, 2012, S. 177). Aktuell wird etwa in Thüringen für Gemeinden eine Mindestgröße von 12.000 Einwohnern empfohlen (vgl. Freistaat Thüringen, Bericht der Expertenkommission Funktional- und Gebietsreform, 2013, S. 214). Dies deckt sich mit der Annahme, dass angesichts der tendenziell eher steigenden Komplexität von Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung – etwa durch zunehmende europäische Einbindung – die Richtwerte für die Mindesteinwohnerzahlen jedenfalls nicht sinken dürften, sondern vielmehr von einem deutlich größeren Gebietszuschnitt ausgegangen werden müsse (vgl. Trute, Reformbedarf und Entwicklungsoptionen der Verwaltungsstrukturen der Gemeinden in Brandenburg, 2012, S. 177 f.).

137

Es kann zudem entgegen der Annahme der Antragstellerin keine Rede davon sein, dass die Regelmindestgröße für eine Verbandsgemeinde von 12.000 Einwohnern willkürlich gewählt sei. So werden in der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung – deren Methodik und Ergebnisse die Antragstellerin nicht substantiiert in Zweifel gezogen hat – als Wirtschaftlichkeitsgrenzen für künftige Mindestortsgrößen Verbandsgemeinden mit 10.700 und 13.000 Einwohnern genannt. Hieran hat sich der Gesetzgeber ersichtlich orientiert. Der Gesetzgeber war von Verfassungs wegen auch nicht verpflichtet, den politischen Empfehlungen der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung zur Festlegung des Schwellenwertes zwischen 13.000 und 15.000 Einwohnern (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 27; begleitende Gesetzesfolgenabschätzung, S. 115) zu folgen. Zwar wird in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass sich nur bei diesen Schwellenwerten auf mittlere Sicht die notwendige Effizienzrendite erzielen lasse (LT-Drucks. 15/4488, S. 27; begleitende Gesetzesfolgenabschätzung, S. 115). Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Festlegung einer Mindesteinwohnerzahl von 12.000 Einwohnern pro Verbandsgemeinde offensichtlich ungeeignet zur Erreichung der Reformziele sein könnte, bestehen allerdings nicht. Dies gilt umso mehr, als nach der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung ein Wert von 10.700 Einwohnern als alternativer möglicher Schwellenwert genannt wird. Vor diesem Hintergrund und angesichts des prognostizierten Bevölkerungsrückgangs ist es auch nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die Mindestgröße einer Verbandsgemeinde auf 12.000 Einwohner festsetzt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber ausweislich der amtlichen Gesetzesbegründung bei der Festlegung der genannten Mindestgrößen zugleich sicherstellen wollte, dass die Ausübung kommunaler ehrenamtlicher Tätigkeiten und das bürgerschaftliche Engagement in verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden mit dieser Mindestgröße weiter aufrechterhalten werden können (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 30).

138

(c) Soweit die Antragstellerin darauf verweist, dass die Festlegung der Mindesteinwohnerzahlen in § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 KomVwRGrG für verbandsfreie Gemeinden nicht nachvollziehbar und die Begründung hierzu widersprüchlich sei, ist nicht ersichtlich, inwieweit sie als Verbandsgemeinde durch eine etwaige Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 KomVwRGrG beschwert sein könnte. Sie wird durch den Umstand, dass sich bei einer etwaigen Verfassungswidrigkeit der Regelung möglicherweise andere Neugliederungsoptionen hätten ergeben können, allenfalls reflexhaft betroffen. Ungeachtet dessen trifft der Vorwurf der Widersprüchlichkeit auch nicht zu. Diese Argumentation übersieht, dass nach den Ergebnissen der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung gerade nicht von einem linearen Zusammenhang zwischen der Größe einer verbandsfreien Gemeinde und ihrer Leistungsfähigkeit ausgegangen wird. Vielmehr wurde festgestellt, dass der Ortsgrößeneffekt in größeren Einheitsgemeinden durch strukturelle Einflüsse auf die Ausgaben anderer Aufgabenbereiche überkompensiert werde. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, dass – wie die Antragstellerin meint – die Mindestgröße einer verbandsfreien Gemeinde zwingend höher sein müsse als die der Verbandsgemeinden.

139

(d) (aa) Allerdings darf die Unterschreitung einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl ohne Berücksichtigung von Besonderheiten nicht zwingend zur Auflösung bzw. Eingliederung einer Gemeinde führen. Die kommunale Selbstverwaltung, auch die der Verbandsgemeinden, ist nicht ausschließlich an Rationalisierung und Verbesserung der Effizienz der Verwaltungsorganisation zu messen. Sie hat nicht nur die Daseinsvorsorge der Bürger im Blick, sondern dient auch dazu, die Bürger zu integrieren, den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln und damit die Grundlagen der Demokratie zu stärken. Die Kommunalstruktur darf nicht rein wirtschaftlich ausgerichtet sein. Von daher können zum Beispiel auch geografische Gegebenheiten und geschichtliche Zusammenhänge Berücksichtigung verdienen (vgl. VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575 f.]; in diese Richtung auch schon VerfGH RP, Urteil vom 17. April 1969 – VGH 2/69 –, AS 11, 73 [87]; vgl. auch K.-F. Meyer, in: Gemeinde- und Städtebund Rheinland-Pfalz [Hrsg.], Festschrift für Steenbock, 2008, S. 1 [15]). Nicht zuletzt kann die geringere Einwohnerzahl z.B. durch eine höhere Wirtschaftskraft ausgeglichen werden (VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575 f.]). Bei Abwägung aller Kriterien müssen gegebenenfalls die Einwohnerzahlen zurückstehen, wenn die Würdigung des Einzelfalles eine vertretbare Lösung mit geringerer Einwohnerzahl zulässt. Andernfalls kann der Eingriff in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie außer Verhältnis zu dem erreichten Vorteil stehen (VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575 f.]; ähnlich LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217; so auch Stüer, Funktionalreform und Kommunale Selbstverwaltung, 1980, S. 314 f.; Wallerath, DÖV 2011, 289 [298]).

140

(bb) § 2 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 KomVwRGrG tragen diesen Vorgaben ausreichend Rechnung. Nicht für jede verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde, die die Mindesteinwohnerzahlen nach § 2 Abs. 2 KomVwRGrG unterschreitet, sieht der Gesetzgeber ausnahmslos einen Gebietsänderungsbedarf vor. Dies folgt zum einen bereits daraus, dass gemäß § 2 Abs. 2 KomVwRGrG nur „in der Regel“ davon auszugehen ist, dass eine verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde, die die genannten Mindesteinwohnerzahlen aufweist, über die ausreichende Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft verfügt.

141

Dieser Grundsatz kann zum anderen in zwei Fällen durchbrochen werden. So sind Unterschreitungen der Mindesteinwohnerzahlen in der Regel unbeachtlich bei Verbandsgemeinden mit mindestens 10.000 Einwohnern, die eine Fläche von mehr als 100 qkm und mehr als 15 Ortsgemeinden haben (§ 2 Abs. 3 Satz 1 KomVwRGrG). Im Übrigen können nach § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG aus besonderen Gründen Unterschreitungen der Mindestgrößen nach Absatz 2 Satz 1 unbeachtlich sein, wenn die verbandsfreien Gemeinden und die Verbandsgemeinden die Gewähr dafür bieten, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Als besondere Gründe bezeichnet § 2 Abs. 3 Satz 3 KomVwRGrG vor allem landschaftliche und topografische Gegebenheiten, die geografische Lage einer kommunalen Gebietskörperschaft unmittelbar an der Grenze zu einem Nachbarstaat oder einem Nachbarland, die Wirtschafts- und Finanzkraft, die Erfordernisse der Raumordnung sowie die Zahl der nicht kasernierten Soldatinnen und Soldaten, Zivilangehörigen und Familienangehörigen der ausländischen Stationierungsstreitkräfte, soweit diese nicht den deutschen Meldevorschriften unterliegen.

142

§ 2 Abs. 5 KomVwRGrG regelt zudem, dass beim Zusammenschluss kommunaler Gebietskörperschaften vor allem die Erfordernisse der Raumordnung, landschaftliche und topografische Gegebenheiten, die öffentliche Verkehrsinfrastruktur, die Wirtschaftsstruktur und historische und religiöse Bindungen und Beziehungen zu berücksichtigen sind.

143

Damit ist gewährleistet, dass eine Unterschreitung der Mindesteinwohnerzahl nicht automatisch zu einer Auflösung und Eingliederung der jeweiligen verbandsfreien Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde führt, sondern Besonderheiten hinreichend Rechnung getragen werden kann.

144

(cc) Bei gebotener verfassungskonformer Auslegung stellt sich § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG auch nicht als unverhältnismäßig dar.

145

Nach § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG können aus besonderen Gründen Unterschreitungen der Mindestgrößen nach § 2 Abs. 2 Satz 1 KomVwRGrG unbeachtlich sein, wenn die verbandsfreien Gemeinden und die Verbandsgemeinden die Gewähr dafür bieten, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Die Antragstellerin ist der Ansicht, nach dem Wortlaut der Norm könne ein gemeindeeigener Gebietsänderungsbedarf selbst dann bestehen, wenn die betroffene verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde Gewähr dafür biete, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Es sei aber nicht ersichtlich, weshalb in diesem Fall die Unterschreitung der Mindestgröße nach § 2 Abs. 2 Satz 1 KomVwRGrG nur unbeachtlich sein „kann“.

146

Ein derartiges Verständnis der Norm wäre in der Tat mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu vereinbaren. Denn wenn die verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde die Gewähr dafür bietet, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen, entspricht sie gerade dem Leitbild und dem Ziel der Gebietsreform, wie es wortgleich in § 1 Abs. 1 KomVwRGrG umschrieben wird. In diesem Fall ist daher das Mittel einer Gebietsänderung – abgesehen von dem hier nicht vorliegenden Fall einer passiven Fusionspflicht (vgl. dazu VerfGH RP, Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [251]) – nicht veranlasst, um das angestrebte Ziel zu erreichen (so auch Dietlein/Thiel, Rechtsfragen eines zwangsweisen Zusammenschlusses von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, 2013, S. 83).

147

Liegen die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG vor, d.h. beurteilt der Gesetzgeber die betroffene verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde als dauerhaft leistungsfähig im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz KomVwRGrG, dann darf zumindest kein eigener Gebietsänderungsbedarf der betroffenen Gebietskörperschaft durch Auflösung und Eingliederung in eine andere kommunale Gebietskörperschaft angenommen werden. In Betracht kommt in diesen Fällen lediglich eine Neugliederung infolge einer passiven Fusionspflicht (in diese Richtung auch Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 173, wonach allerdings bei der Auflösung leitbildgerechter oder zumindest hinreichend leistungsfähiger Gebietskörperschaften Gründe vorliegen müssen, die über die Leitbildgerechtigkeit und über die Leistungsfähigkeit hinausreichen; ferner NdsStGH, Urteil vom 14. Februar 1979 – StGH 2/77 –, juris, Rn. 620: besonders wichtige Gründe des öffentlichen Wohls erforderlich).

148

Einer derartigen verfassungskonformen Auslegung ist § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG auch zugänglich. Das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit der Verfassung in Einklang steht (st. Rspr. vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2007 – 2 BvF 3/02 –, BVerfGE 119, 247 [274] m.w.N.). Eine Norm ist daher nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist. Der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt gebietet es dabei, in den Grenzen der Verfassung das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 1992 – 2 BvR 1041/88 u.a. –, BVerfGE 86, 288 [320]). Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut der Norm und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfG, Urteil vom 30. März 2004 – 2 BvR 1520/01 u.a. –, BVerfGE 110, 226 [267]; Beschluss vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, BVerfGE 134, 33 [63]).

149

Nach diesen Maßstäben ist hier eine verfassungskonforme Auslegung dahingehend möglich, dass kein eigener Gebietsänderungsbedarf vorliegt, wenn die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG erfüllt sind, d.h. wenn der Gesetzgeber die betroffene verbandsfreie Gemeinde bzw. Verbandsgemeinde als dauerhaft leistungsfähig im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz KomVwRGrG beurteilt.

150

Der Wortlaut der Vorschrift steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Die Auslegung der Antragstellerin, wonach dem Gesetzgeber im Rahmen des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG eine Art „Ermessensspielraum“ zusteht, ist nicht zwingend. Die Verwendung des Wortes „können“ deutet in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig darauf hin. Vor dem Hintergrund, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen zur Berücksichtigung von Besonderheiten Ausnahmen von den festgelegten Mindestregelgrößen erforderlich sind (siehe hierzu oben D.II.3.b)bb)(2)(d)(bb)), bezeichnet die Verwendung des Wortes „kann“ lediglich die generelle Möglichkeit, von den Mindestgrößen aus besonderen Gründen abzuweichen. Mit dem zweiten Halbsatz des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG wird dabei lediglich sichergestellt, dass in diesen Fällen dennoch die dauerhafte Leistungsfähigkeit gesichert sein muss. Aus der amtlichen Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG (LT-Drucks. 15/4488, S. 31 f.) ergibt sich darüber hinaus nicht, dass der Gesetzgeber im Falle einer festgestellten dauerhaften Leistungsfähigkeit davon ausging, es könne auch dann noch ein eigener Gebietsänderungsbedarf bestehen.

151

Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen allerdings grundsätzlich nicht verpflichtet, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die betreffende Gemeinde, die die festgelegte Mindestgröße unterschreitet, doch dauerhaft leistungsfähig ist. Vielmehr unterliegt es, wie bereits dargelegt, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn der Gesetzgeber in typisierender Betrachtungsweise davon ausgeht, dass die die festgelegte und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Mindestgröße unterschreitenden kommunalen Gebietskörperschaften nicht dauerhaft leistungsfähig sind (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 15. Januar 2013 – LVG 36/10 –, BeckRS 2013, 58263).

152

Etwas anderes gilt nach der Konzeption des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG allerdings bei „besonderen Gründen“. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, zu prüfen, ob besondere Gründe vorliegen, die ein Absehen von der Mindesteinwohnerzahl ausnahmsweise rechtfertigen könnten. Liegen solche Gründe vor, hat der Gesetzgeber zu prüfen, ob im Einzelfall trotz Unterschreitens der geforderten Mindestgröße die betroffene Gemeinde dauerhaft die Gewähr dafür bietet, langfristig die eigenen und übertragenen Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen.

153

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass dem Gesetzgeber hinsichtlich der Beurteilung der dauerhaften Leistungsfähigkeit ein nicht unerheblicher, verfassungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Einschätzungsspielraum zusteht (so auch LVerfG, Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. Juni 2012 – LVG 54/10 –). Hierbei ist er nicht an bestimmte finanzielle Kriterien gebunden (in diese Richtung auch Dietlein/Thiel, Zwangsfusionen von Gemeinden, 2013, S. 131 ff.). Die Offenheit des Begriffs der dauerhaften Leistungsfähigkeit und der Formulierung in § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG, der sowohl den Aspekt der Wirtschaftlichkeit als auch der Bürger- und Ortsnähe aufgreift, erlauben es zudem, bei der Beurteilung der dauerhaften Leistungsfähigkeit einer Gemeinde keine starren Kriterien anzulegen, sondern die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. hierzu auch Wallerath, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer [Hrsg.], Festschrift für Schnapp, 2008, S. 694 [718]). Dabei kann auch das Maß, um das die jeweilige Gemeinde die vorgegebene Mindestgröße unterschreitet, von Bedeutung sein. Insofern ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die „Abwägungsleitlinie“ vorgibt, je stärker die Einwohnerzahl hinter der Richtzahl zurückbleibt, desto schwerer müssen die Gesichtspunkte wiegen, die für den Fortbestand der Gemeinde sprechen (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 31; so auch VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [575]).

154

(e) Das Leitbild und die Leitlinien der Reform, wie sie insbesondere im Grundsätzegesetz zum Ausdruck kommen, leiden auch nicht daran, dass der Gesetzgeber seiner Reform keine wissenschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse oder Schaden-Nutzen-Bilanz zugrunde gelegt hat. Auf der Ebene der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Leitbildes und der Leitlinien, wie sie vom Gesetzgeber im Vorfeld der einzelnen Neugliederungsmaßnahmen verfasst worden sind, ist die Forderung nach einer Schaden-Nutzen-Bilanz (vgl. VerfGH NRW, Urteil vom 4. August 1972 – 9/71 –, OVGE 28, 291 [292 f.]) allenfalls insofern gerechtfertigt, als die Reformmaßnahmen und das ihnen zugrunde liegende Leitbild und die ihnen zugrunde liegenden Leitlinien jedenfalls nicht offensichtlich ungeeignet zur Erreichung des angestrebten Ziels, die kommunalen Strukturen zu verbessern, sein dürfen. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Strukturen tatsächlich durch die Gebietsreformen verbessert werden. Bei seiner Einschätzung, ob die Reformen zur Verbesserung der Gebietsstrukturen geeignet sind, kann sich der Gesetzgeber auf allgemeine nicht offensichtlich fehlsame oder eindeutig widerlegbare Erfahrungen und Grundsätze stützen (NdsStGH, Urteil vom 14. Februar 1979 – StGH 2/77 –, juris, Rn. 608 f.; StGH BW, Urteil vom 14. Februar 1975 – GR 11/74 –, ESVGH 25, 1 [20]). Zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zu den wirtschaftlichen Effekten der Gebietsreform bzw. einzelner Zusammenschlüsse ist dagegen weder der Gesetzgeber noch der Verfassungsgerichtshof verpflichtet (so auch Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreformen in Sachsen, 1996, S. 169 f.). Denn zum einen können derartige Untersuchungen wissenschaftlich fundiert erst einige Zeit nach Umsetzung einer Reform durchgeführt werden. Zum anderen liegt es im Gestaltungsermessen des Gesetzgebers, inwieweit er in seine verfassungs- und kommunalpolitischen Ziele Umstände einbezieht, die sich einer rein quantitativen Betrachtungsweise weitgehend entziehen (ebenso LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. April 2009 – LVG 12/08 –, BeckRS 2009, 33217; Urteil vom 16. Juni 2011 – LVG 41/10 –; vgl. ferner NdsStGH, Urteil vom 14. Februar 1979 – StGH 2/77 –, juris, Rn. 608).

155

Dies zugrunde gelegt ist festzustellen, dass in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung davon ausgegangen wird, dass mit der Durchführung von Gebietsreformen Kostenersparnisse und Synergieeffekte erreicht werden können (vgl. etwa VerfGH RP, Urteil vom 14. Februar 2012 – VGH N 3/11 –, AS 41, 29 [57 f.]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [642 ff.]). Hiervon geht auch der Gesetzgeber des Grundsätzegesetzes ersichtlich aus. Soweit er annimmt, dass die Zusammenschlüsse von verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden einschließlich der Zusammenführung ihrer Verwaltungen mittel- und längerfristig Kosteneinsparungen erbrächten und dabei durchschnittlich Einsparungen von 15 bis 20 % zu erwarten seien (vgl. LT-Drucks. 15/4488, S. 3), hat weder die Antragstellerin in Bezug auf die Reform als solche dargelegt, dass es sich hierbei um eine offensichtlich fehlerhafte Einschätzung handelt, noch ist dies sonst ersichtlich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Annahme, größere kommunale Einheiten seien kostengünstiger zu verwalten, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

156

(f) Die Beschränkung der derzeitigen Stufe der Gebietsreform auf die verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Dies gilt auch in Anbetracht des § 2 Abs. 4 Satz 1 KomVwRGrG, demzufolge verbandsfreie Gemeinden und Verbandsgemeinden mit benachbarten verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden desselben Landkreises zusammengeschlossen werden sollen.

157

Die Verfassung steht einem stufenweisen Vorgehen des Gesetzgebers im Rahmen von Gebietsreformen nicht entgegen. Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, sämtliche von ihm für sinnvoll erachtete Gebietsreformen gleichzeitig durchzuführen (vgl. hierzu auch Wallerath, in: Junkernheinrich/Lorig [Hrsg.], Kommunalreformen in Deutschland, 2013, S. 95 [100]). Auch gibt die Verfassung nicht vor, in welcher Reihenfolge Gebietsreformen verschiedener Ebenen durchzuführen sind. In welcher Weise der Gesetzgeber die Reform umsetzt und wie er dabei die Prioritäten setzt, fällt in die Sphäre politischer Entscheidungen, die einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen sind (vgl. hierzu VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 158). Ein Optimierungsgebot in dem Sinne, dass sich der Gesetzgeber für eine Reform entscheiden müsste, die den Gemeinden oder Verbandsgemeinden den größten Vorteil bringt, lässt sich aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nicht herleiten (vgl. hierzu auch Wallerath, in: Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern u.a. [Hrsg.], 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 53 [95]). Ob ein bestimmtes Vorgehen sinnvoller gewesen wäre oder nicht, hat der Verfassungsgerichtshof demzufolge nicht zu entscheiden.

158

Die Grenze gesetzgeberischen Ermessens ist erst dann überschritten, wenn sich die beabsichtigte Gebietsreform als offensichtlich ungeeignet erweist, die Ziele des Gesetzgebers in absehbarer Zeit zu fördern (vgl. Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme und Gebietsreform in Sachsen, 1996, S. 172). Dies kann vorliegend nicht allein deswegen angenommen werden, weil der Gesetzgeber im Anschluss an die derzeitigen Reformen eine Kreisgebietsreform plant und für die jetzige Reform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden in § 2 Abs. 4 Satz 1 KomVwRGrG eine grundsätzliche Bindung an die derzeitigen Kreisgrenzen vorsieht. Zwar trifft es zu, dass hierdurch grundsätzlich die Spielräume sowohl bei der jetzigen Reform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden als auch bei einem künftigen Neuzuschnitt von Kreisen einengt werden, sofern der Gesetzgeber bei der späteren Kreisgebietsreform den dann bestehenden Zuschnitt der verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden unangetastet lässt. Dass allein deswegen die hier angestrebte Stärkung der Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden schlechterdings ausgeschlossen wäre, ist allerdings nicht ersichtlich und behauptet auch die Antragstellerin nicht.

159

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang ferner, dass mit kommunalen Gebietsreformen auf verschiedenen Ebenen, die nacheinander durchgeführt werden – was auch nach Auffassung der Antragstellerin keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt –, ohnehin (faktische) Bindungen für andere Verwaltungsebenen einhergehen. So wären auch bei einer Kreisgebietsreform die Spielräume für eine spätere Reform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden eingeschränkt, sofern die festgelegten Kreisgebietsgrenzen durch kreisübergreifende Gemeindezusammenschlüsse nicht wiederum geändert werden sollen. Die Frage, in welcher Reihenfolge Gebietsreformen auf unterschiedlichen Ebenen sinnvollerweise durchzuführen sind, wird denn auch keinesfalls einheitlich beantwortet. Während sich einige etwa für das Vorziehen einer Kreisreform aussprechen (vgl. etwa Dietlein/Thiel, Rechtsfragen eines zwangsweisen Zusammenschlusses von Verbandsgemeinden und verbandsfreien Gemeinden in Rheinland-Pfalz, 2013, S. 72; Dietlein, LKRZ 2013, 313 [317]), wird von anderer Seite zum Teil empfohlen, zunächst eine Gemeindegebietsreform durchzuführen und auf der Basis sicherer Gemeindegrenzen über neue Kreisstrukturen zu befinden (so etwa Kregel, in: Mecking/Oebbecke [Hrsg.], Zwischen Effizienz und Legitimität, 2009, S. 229 [253]).

160

Im Übrigen wird der Gefahr eines völlig ungeeigneten Zusammenschlusses von verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden im Rahmen der derzeitigen Reform dadurch begegnet, dass gemäß § 2 Abs. 4 Satz 2 KomVwRGrG ein kreisübergreifender Zusammenschluss zugelassen werden kann, wenn innerhalb desselben Landkreises ein Zusammenschluss zu einer verbandsfreien Gemeinde oder Verbandsgemeinde mit ausreichender Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungskraft nicht möglich ist. Des Weiteren plant der Gesetzgeber Gebietsänderungen, die mit der Änderung von Landkreisen verbunden wären, im Rahmen der zweiten Reformstufe bis zum Jahr 2019 durchzuführen (vgl. etwa LT-Drucks. 16/2794, S. 28; siehe hierzu ferner unten D.II.3.b)cc)(2)(b)(bb)(α)). In diesem Vorgehen vermag der Verfassungsgerichtshof anders als die Antragstellerin auch keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der betroffenen Gebietskörperschaften zu erkennen. Denn der zeitliche Aufschub einer solchen Gebietsänderung in solchen Fällen findet seinen sachlichen Grund gerade in der für notwendig erachteten Änderung der Landkreise.

161

cc) § 1 MaikammerEinglG ist verfassungswidrig. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Auflösung der Antragstellerin durch das Gemeinwohl gerechtfertigt ist.

162

(1) Zwar ist auch auf der Stufe der verfassungsrechtlichen Überprüfung des konkreten Neugliederungsgesetzes der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen, der nur eine eingeschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle zulässt (vgl. etwa LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 4. September 2012 – LVG 3/11 –; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 125). Allerdings unterliegt der Gesetzgeber hier einer intensiveren verfassungsgerichtlichen Kontrolle als auf den beiden vorangegangenen Stufen (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [644]; VerfGH Sachsen, Beschluss vom 9. November 1995 – Vf. 20-VIII-95 –).

163

In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichte der Länder überprüft der Verfassungsgerichtshof die einzelne Neugliederung darauf, ob der Gesetzgeber den für seine Regelung erheblichen Sachverhalt zutreffend ermittelt, dem Gesetz zugrunde gelegt hat und ob er die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung in die vorzunehmende Abwägung eingestellt hat. Auf der Grundlage des in dieser Weise ermittelten Sachverhalts und der Gegenüberstellung der daraus folgenden verschiedenen – oft gegenläufigen Belange – ist der Gesetzgeber befugt, sich letztlich für die Bevorzugung eines Belangs und damit notwendig zugleich für die Zurückstellung aller anderen betroffenen Aspekte zu entscheiden. Insoweit hat sich die Prüfung auf die Kontrolle zu beschränken, ob die angegriffene Neugliederungsmaßnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht und frei von willkürlichen Erwägungen ist (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [51]; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [108 f.]; VerfGH Sachsen Urteil vom 6. Mai 1999 – Vf. 51-VIII-98 –; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 124). Liegen zudem gesetzgeberische Leitbilder und Leitlinien für die Neugliederungsmaßnahme vor, prüft der Verfassungsgerichtshof, ob diese systemgerecht verwirklicht worden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [51]; VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [130 f., 133]; Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [249 f.]; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 124). Soweit Ziele, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers in Rede stehen, hat der Verfassungsgerichtshof darüber zu wachen, dass diese nicht offensichtlich oder eindeutig widerlegbar sind oder gar den Prinzipien der verfassungsrechtlichen Ordnung widersprechen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [51]; Beschluss vom 12. Mai 1992 – 2 BvR 470/90 u.a. –, BVerfGE 86, 90 [109]; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 124; LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 4. September 2012 – LVG 3/11 –).

164

Für diese Prüfung ist es unabdingbar, dass der Gesetzgeber seiner Entscheidung eine Begründung beigibt, aus der die für den Abwägungsprozess und sein Ergebnis relevanten Gesichtspunkte erkennbar werden (VerfGH Sachsen, Urteil vom 6. Mai 1999 – Vf. 51-VIII-98 –; Urteil vom 25. November 2005 – Vf. 119-VIII-04 –, juris, Rn. 246). Der Gemeinwohlvorbehalt für gemeindliche Neugliederungen bedeutet daher im Wesentlichen ein „legislatorisches Abwägungsgebot“ (Wallerath, in: Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern u.a. [Hrsg.], 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 53 [82]).

165

(2) Dies vorausgeschickt hat der Gesetzgeber vorliegend zwar den maßgeblichen Sachverhalt ausreichend ermittelt (a). Die hier vorgenommene Abwägung genügt allerdings nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Denn der Gesetzgeber hat gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit verstoßen (b).

166

(a) Die Sachverhaltsermittlung entspricht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass es für eine ausreichende Sachverhaltsermittlung nicht darauf ankommt, ob sämtliche tatsächliche Momente in allen Einzelheiten richtig erfasst und gewürdigt worden sind. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, alle irgendwie mit einem Neugliederungsvorhaben zusammenhängenden Aspekte umfassend aufzuklären. Ins Gewicht fällt vielmehr, ob er die Sachverhaltselemente vollständig ermittelt hat, die für sein selbst gesetztes Ziel erheblich sind. Wenn die Richtigkeit einer die Entscheidung tragenden Tatsache bestritten und es möglich ist, dass die Neugliederung anders ausgefallen wäre, besteht eine Nachprüfungspflicht für das Verfassungsgericht (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 25. November 2005 – Vf. 119-VIII-04 –, juris, Rn. 241 f.; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2004 – VfgBbg 266/03 –, juris, Rn. 24, m.w.N.).

167

(aa) Hiervon ausgehend ist die Sachverhaltsermittlung des Gesetzgebers nicht zu beanstanden. Soweit die Antragstellerin geltend macht, dem Gutachten Junkernheinrich Teil A hätten fehlerhafte Daten zugrunde gelegen, so dass dieser in ihrem Fall irrtümlich von einen durchschnittlich negativen Finanzierungssaldo in den Jahren 2001 bis 2009 ausgegangen sei, vermag dieses Vorbringen ihrem Antrag nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn etwaige dem Gutachten zugrunde gelegte unzutreffende Haushaltszahlen der Antragstellerin haben sich ersichtlich nicht auf das angegriffene Gesetz ausgewirkt. Ausweislich der amtlichen Gesetzesbegründung ist der Gesetzgeber nämlich – abweichend vom Gutachten Junkernheinrich Teil A – davon ausgegangen, dass die Antragstellerin in den Jahren 2001 bis 2009 über einen positiven Finanzierungssaldo verfügte und damit im Sinne der im Gutachten angelegten Kriterien dauerhaft leistungsfähig ist (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 85). Der Gesetzgeber hat dies lediglich im Ergebnis nicht für einen Fortbestand der Antragstellerin ausreichen lassen.

168

Soweit die Antragstellerin die Zugrundelegung von Planzahlen für das Haushaltsjahr 2009 sowie eine fehlende Vergleichbarkeit der Daten für das Haushaltsjahr 2009 rügt, die daraus resultiere, dass nicht alle Gemeinden nach den Ausführungen des Statistischen Landesamtes im Jahr 2009 bereits von der kameralen auf die doppische Haushaltssystematik umgestellt hätten, zeigen sich ebenfalls keine entscheidungserheblichen Mängel in der Sachverhaltsermittlung. Insoweit legt die Antragstellerin schon nicht hinreichend substantiiert dar, inwieweit sich dies auf das hier angegriffene Gesetz hätte auswirken können. Der Gesetzgeber hat die im Gutachten Junkernheinrich Teil A geprüften Kriterien, wie dargelegt, im Falle der Antragstellerin als erfüllt angesehen. Soweit er die einzelnen Verbandsgemeinden des Landkreises Südliche Weinstraße miteinander vergleicht (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 83 f.), zieht er Daten aus dem Haushaltsjahr 2009 gerade nicht heran.

169

(bb) Der Gesetzgeber hat seine Pflicht zur ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung auch nicht dadurch verletzt, dass er in Bezug auf die Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeinde Edenkoben nicht ermittelt hat, welche Fusionsgewinne im Einzelnen zu erwarten sind. Wie bereits dargelegt, ist der Gesetzgeber zur Erstellung einer wirtschaftlichen Schaden-Nutzen-Bilanz von Verfassungs wegen nicht verpflichtet (siehe hierzu oben D.II.3.b)bb)(2)(e)). Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die Auflösung und Eingliederung einzelner kommunaler Gebietskörperschaften. Vor diesem Hintergrund musste der Gesetzgeber weder untersuchen, ob sich bei vergangenen Gebietsreformen (in anderen Bundesländern) tatsächlich Kosteneinsparungen haben erzielen lassen, noch musste er sich mit dem von der Antragstellerin in Auftrag gegebenen und vorgelegten Gutachten Röske und den dort aufgeführten wirtschaftlichen Fusionseffekten auseinandersetzen.

170

(cc) Soweit die Antragstellerin rügt, der Gesetzgeber habe aktuelle Entwicklungen in den betroffenen verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden ab dem Jahr 2009 nicht berücksichtigt, legt sie nicht hinreichend dar, inwieweit sich dies auf sie ausgewirkt haben soll, zumal sich der Gesetzgeber im Gesetzesentwurf entgegen der Annahme der Antragstellerin nicht nur auf Daten aus den Jahren 2007 bis 2009 stützt, sondern teilweise Daten aus den Jahren 2010, 2011 und 2012 zugrunde legt (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 80 ff.). Im Übrigen fällt es in den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, den zeitlichen Bezugspunkt der für die Beurteilung eines Gebietsänderungsbedarfs herangezogenen Kriterien zu bestimmen.

171

(b) Die Auflösung der Antragstellerin verstößt gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit.

172

(aa) In der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte ist – mit zum Teil unterschiedlichen methodischen Ansätzen – anerkannt, dass der Gesetzgeber dann, wenn er sich hinsichtlich eines bestimmten Regelungsgegenstandes für ein bestimmtes System oder für bestimmte Strukturprinzipien entschieden hat, dieses System bzw. diese Strukturprinzipien nicht beliebig durchbrechen darf (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [51]; VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [130 f., 133]; Urteil vom 14. Dezember 1970 – VGH 4/70 –, AS 12, 239 [249 f.]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [643]; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2004 – VfGBgb 155/03 –, juris, Rn. 49; VerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 18. August 2011 – 21/10 –, juris, Rn. 191). Bei einer landesweiten Neugliederung muss nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung ein einheitliches Konzept zugrunde gelegt werden. Regelungen, die ohne hinreichende Begründung das zugrunde liegende System verlassen, verstoßen gegen das öffentliche Wohl (vgl. VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2004 – VfGBgb 155/03 –, juris, Rn. 47).

173

Dabei ist der Gesetzgeber an die einmal von ihm gewählten Grundsätze in jedem Einzelfall nicht starr gebunden. Abweichungen hiervon sind aus entsprechenden Sachgründen, insbesondere bei einer besonderen Sachverhaltsgestaltung, zulässig bzw. geboten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. November 1978 – 2 BvR 165/75 –, BVerfGE 50, 50 [53]; ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [643]; Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme in Sachsen, 1996, S. 190). Ob ein sachgerechter Grund vorliegt, der eine Abweichung vom System rechtfertigt, unterliegt jedoch – im Gegensatz zur Bestimmung des Leitbildes und der Leitlinien selbst – einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies folgt auch aus dem planerischen Einschlag der Entscheidung, bei der die Abwägung der für oder gegen eine Neugliederungsmaßnahme streitenden Belange im Wesentlichen durch die vom Gesetzgeber entwickelten Leitbilder und Leitlinien gesteuert wird (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 18. Dezember 1996 – 2/95 u.a. –, NVwZ-RR 1997, 639 [644]). Eine Abweichung darf insbesondere nicht den Zielvorstellungen der Gebietsreform entgegenlaufen. Den Gesetzgeber trifft zudem in diesen Fällen eine erhöhte Begründungspflicht (vgl. Müller/Trute, Stadt-Umland-Probleme in Sachsen, 1996, S. 190).

174

(bb) Die Auflösung der Antragstellerin verletzt das Gebot der Systemgerechtigkeit. Dies resultiert zwar nicht schon daraus, dass Gebietsreformen auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden auch noch nach der Kommunalwahl im Jahr 2014 stattfinden sollen (α). Dem Gebot der Systemgerechtigkeit widerspricht es allerdings, dass der Gesetzgeber im Falle der Antragstellerin ihre dauerhafte Leistungsfähigkeit im Ergebnis zumindest auch mit einer fehlenden Sonderstellung in der Region und im Landkreis verneint hat (β).

175

(α) Entgegen der Annahme der Antragstellerin ist ein Verstoß gegen das Gebot der Systemgerechtigkeit nicht darin zu sehen, dass der Gesetzgeber die Gebietsreformmaßnahmen auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden nicht bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahl im Jahr 2014 abgeschlossen hat.

176

Nach § 2 Abs. 1 KomVwRGrG werden zur Stärkung der Leistungsfähigkeit, der Wettbewerbsfähigkeit und der Verwaltungskraft der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden die vorhandenen Gebietsstrukturen dieser kommunalen Gebietskörperschaften bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahl im Jahr 2014 verbessert. Es spricht vieles dafür, dass es sich bei dieser Regelung lediglich um eine bloße „Zielbestimmung“ und keine verbindliche zeitliche Vorgabe in dem Sinne handeln sollte, dass nach dem Tag der allgemeinen Kommunalwahl Gebietsänderungen nicht mehr möglich sein sollen. Denn Gebietsreformen stellen sich in der Regel als Prozess dar, der häufig aus vielfältigen Gründen anders als zunächst politisch beabsichtigt, nicht zu einem festen Zeitpunkt vollständig umgesetzt werden wird, insbesondere wenn – wie hier – eine Vielzahl von Gebietskörperschaften betroffen ist. Gebietsreformen ist daher eine strikte Bindung an zeitliche Vorgaben fremd. Im Übrigen kann eine Verbesserung der vorhandenen Gebietsstrukturen nicht erst durch die Änderung sämtlicher reformbedürftiger Gebietskörperschaften, sondern auch schon durch einzelne gebietliche Veränderungen eintreten.

177

Ob aus § 4 Abs. 5 KomVwRGrG, wie die Antragstellerin meint, etwas anderes im Hinblick auf die Verbindlichkeit des zeitlichen Rahmens der Gebietsreform abzuleiten ist, kann hier dahingestellt bleiben. Selbst wenn diese Ansicht zutreffen sollte, ist nicht ersichtlich, inwieweit die Antragstellerin durch eine Verzögerung der Gebietsreform überhaupt beschwert sein könnte (vgl. hierzu auch VerfG Brandenburg, Urteil vom 29. August 2002 – VfGBbg 34/01 –, LKV 2002, 573 [574], wonach Regelungen, die das System verändern, für die hiervon betroffenen Kommunen die Beschwerdebefugnis begründen; vgl. ferner StGH BW, Urteil vom 14. Februar 1975 – GR 11/74 –, ESVGH 25, 1 [24]; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2004 – VfgBbg 167/03 –, juris, Rn. 50). Ihre Auflösung und Eingliederung in die Verbandsgemeinde Edenkoben ist gerade im Jahre 2014 erfolgt. Wollte man dem Grundsätzegesetz die Leitlinie entnehmen, dass die in Betracht kommenden Gebietsreformen auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden bis zum Tag der allgemeinen Kommunalwahl 2014 zu erfolgen haben, dann wurde diese Leitlinie in Bezug auf die Antragstellerin gerade systemgerecht umgesetzt.

178

Eine andere Beurteilung käme vorliegend lediglich dann in Betracht, wenn die Grenze zur Willkür überschritten wäre. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn der Gesetzgeber seine im Jahr 2014 durchgeführte Gebietsreform auf einzelne, beliebig herausgegriffene verbandsfreie Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden beschränkt hätte und die Antragstellerin hierdurch in willkürlicher Weise benachteiligen würde (zu einer ähnlichen Problematik im Baurecht vgl. OVG RP, Urteil vom 17. Dezember 1999 – 1 A 10091/99.OVG –, ESOVGRP; zum Wehrrecht vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1993 – 8 C 20/92 –, juris, Rn. 16; vgl. ferner BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 1979 – 1 BvL 25/77 –, BVerfGE 50, 142 [166]).

179

Für ein derartiges, mit einem Systemversagen einhergehendes Vorgehen bestehen vorliegend jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte.

180

Bereits in der amtlichen Gesetzesbegründung zu dem hier angegriffenen Eingliederungsgesetz führt der Gesetzgeber im Einzelnen auf, für welche verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden er einen immanenten Gebietsänderungsbedarf sieht (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 42 f.). Zudem legt er dar, dass auf der zweiten Reformstufe bis zum Jahr 2019 Gebietsänderungen von verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden realisiert würden, die derzeit mit der Änderung von Landkreisen verbunden wären. Gleiches gelte für die Gebietsänderungen von verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden, die sich aus unterschiedlichen Gründen bis 2014 nicht realisieren ließen (LT-Drucks. 16/2794, S. 28). Der Gesetzgeber hat damit zum einen verdeutlicht, dass er die Gebietsreform auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden nicht als abgeschlossen betrachtet und nicht auf die bereits durchgeführten Neugliederungen beschränken will (vgl. hierzu auch http://isim.rlp.de/staedte-und-gemeinden/kommunal-und-verwaltungsreform/ gebietsreform/, wonach geplant ist, bis 2019 auch alle noch ausstehenden Gebietsänderungen von verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden mit eigenem Gebietsänderungsbedarf herbeizuführen). Der Umstand, dass die derzeitige Legislaturperiode 2016 endet, rechtfertigt entgegen der Ansicht der Antragstellerin keine andere Beurteilung. Hieraus allein ergibt sich zum jetzigen Zeitpunkt kein Anhalt für ein (künftig) willkürliches Vorgehen des Gesetzgebers bezüglich der Umsetzung der Gebietsreform. Die Annahme, dass bei einem etwaigen Regierungswechsel die Reform nicht fortgeführt werde, ist derzeit reine Spekulation.

181

Zum anderen hat der Gesetzgeber hinreichend plausibilisiert, weshalb er die Reformmaßnahmen auf der Ebene der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden zeitlich abgeschichtet hat. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs – ohne weitere Anhaltspunkte – zu überprüfen, ob die Gründe, die den Gesetzgeber dazu bewogen haben, die aus seiner Sicht anstehenden Reformmaßnahmen nicht vollständig bereits im Jahr 2014 durchzuführen, tatsächlich tragen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass allein die von der Antragstellerin benannten beiden Fälle, in denen vermeintlich vergleichbare Verbandsgemeinden von einer Gebietsänderung bis 2019 verschont bleiben, nicht geeignet sind, ein insgesamt willkürliches Vorgehen des Gesetzgebers zu begründen (vgl. hierzu auch VerfG Brandenburg, Beschluss vom 18. November 2004 – VfgBbg 167/03 –, juris, Rn. 50).

182

Ein willkürliches Vorgehen ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass denjenigen verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden mit eigenem Gebietsänderungsbedarf ein Aufschub hinsichtlich einer Gebietsänderung bis zum Jahr 2019 gewährt worden ist, wenn sie der Gebietsänderung zugestimmt haben. Diese Verknüpfung stellt sich nicht als sachfremd dar, sondern findet ihren sachlichen Grund in dem berechtigten Interesse des Gesetzgebers an Rechtssicherheit über den zukünftigen Gebietsbestand der betroffenen verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden und entspricht darüber hinaus dem in § 1 Abs. 1 Satz 4 KomVwRGrG verankerten Grundsatz des Vorrangs freiwilliger Gebietsänderungen.

183

(β) Mit dem Gebot der Systemgerechtigkeit ist es jedoch nicht zu vereinbaren, dass der Gesetzgeber unter Zugrundelegung der im Gutachten Junkernheinrich Teil A angelegten Kriterien für die Antragstellerin einen Gebietsänderungsbedarf im Ergebnis zumindest auch auf der Grundlage eines regionalen und landkreisinternen Vergleichs bejaht hat.

184

Wie bereits dargelegt, ist es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass verbandsfreie Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden unterhalb einer bestimmten Mindesteinwohnerzahl nicht dauerhaft leistungsfähig sind. Mit § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG hat er vorliegend allerdings für verbandsfreie Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden, die die in § 2 Abs. 2 Satz 1 KomVwRGrG festgelegten Mindesteinwohnerzahlen unterschreiten, die Möglichkeit geschaffen, diese typisierende Annahme zu widerlegen und den Nachweis einer dauerhaften Leistungsfähigkeit zu erbringen.

185

Dabei hat der vom Ministerium des Innern, für Sport und Infrastruktur beauftragte Prof. Dr. Junkernheinrich, wie bereits dargelegt, den Aspekt der dauerhaften Leistungsfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG anhand zweier Kriterien überprüft: Das erste Kriterium erfordert einen im Neunjahresdurchschnitt ausgeglichenen Finanzierungssaldo. Das zweite Kriterium verlangt, dass die jeweilige verbandsfreie Gemeinde oder Verbandsgemeinde im Zeitraum von 2007 bis 2009 maximal ein Jahr mit negativem Finanzierungssaldo aufwies. Der besondere Grund der Wirtschafts- und Finanzkraft wird anhand der Steuerkraft ermittelt. Er soll bei denjenigen verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden vorliegen, deren Steuerkraft in Euro je Einwohner in den Jahren 2001 bis 2009 im Mehrjahresdurchschnitt positiv vom jeweiligen Gebietstyp abgewichen ist (vgl. Gutachten Junkernheinrich Teil A, S. 56 ff.). Der Gesetzgeber hat diese Kriterien seiner Gebietsreform ausdrücklich zugrunde gelegt (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 35, 40, 42; ferner LT-Drucks. 16/2793, S. 83 f.; LT-Drucks. 16/2795, S. 75 f.; LT-Drucks. 16/2797, S. 80 f.; LT-Drucks. 16/2800, S. 121; LT-Drucks. 16/2801, S. 73). Dies steht im Einklang mit seiner Annahme, dass das Ziel der kommunalen Leistungsfähigkeit hauptsächlich durch die fiskalische Situation einer Kommune sowie durch deren demografische Entwicklungsfähigkeit beeinflusst werde (LT-Drucks. 16/2794, S. 50).

186

Während Prof. Dr. Junkernheinrich noch davon ausgegangen ist, dass die Antragstellerin über keinen ausgeglichenen Finanzierungssaldo im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2009 verfüge und demnach das Kriterium der dauerhaften Leistungsfähigkeit nicht erfülle (vgl. Gutachten Junkernheinrich Teil A, S. 58), ist der Gesetzgeber ausweislich der amtlichen Gesetzesbegründung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Antragstellerin beide Kriterien erfülle, und hat ihr sowohl eine überdurchschnittliche Finanz- und Wirtschaftskraft als auch eine dauerhafte Leistungsfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG attestiert (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 80, 85). Gleichwohl hat er die Antragstellerin im Ergebnis – unter Heranziehung anderer als der im Gutachten Junkernheinrich Teil A zugrunde gelegten Kriterien – nicht als dauerhaft leistungsfähig angesehen und anhand dessen für sie einen eigenen Gebietsänderungsbedarf bejaht.

187

Damit hat sich der Gesetzgeber von seinem Ausnahmesystem, wie es in § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG und den herangezogenen Kriterien des Gutachtens Junkernheinrich Teil A zum Ausdruck kommt (vgl. zur Bindungswirkung nicht gesetzlich geregelter „Richtpunkte“ VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [127 f.]) gelöst. Eine hinreichend tragfähige Begründung hierfür fehlt jedoch.

188

Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber zur Beurteilung der dauerhaften Leistungsfähigkeit neben den hier angewandten weitere Kriterien heranzieht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich das im Gutachten Junkernheinrich Teil A überprüfte Kriterium des ausgeglichenen Haushalts nicht unmittelbar aus § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG ergibt, die dauerhafte Leistungsfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG vielmehr Raum für die Berücksichtigung mehrerer Aspekte bietet (zur Offenheit des Begriffs der Leistungsfähigkeit vgl. auch Wallerath, in: Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern u.a. [Hrsg.], 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 53 [93]). Der Gesetzgeber darf grundsätzlich auch die prognostizierte demografische Entwicklung sowie das Maß des Unterschreitens der Mindesteinwohnerzahl (vgl. hierzu auch LT-Drucks. 16/2780, S. 125, 130, LT-Drucks. 16/2800, S. 90 f.) in Rechnung stellen (siehe hierzu bereits oben D.II.3.b)bb)(2)(d)(bb)). Denn dies steht im Einklang mit seiner zumindest verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden typisierenden Annahme, dass größere Gebietskörperschaften tendenziell leistungsfähiger sind. Allerdings darf der Gesetzgeber sein Regelungssystem nicht ohne sachlichen Grund verlassen. Hat er sich, wie hier, dazu entschieden, den Nachweis einer dauerhaften Leistungsfähigkeit zuzulassen, so darf er diese Möglichkeit nicht durch den bloßen Verweis auf eine Unterschreitung der festgesetzten Mindesteinwohnerzahl unterlaufen.

189

An einer tragfähigen einzelfallbezogenen, am Reformziel ausgerichteten Begründung, weshalb für die Antragstellerin, die die im Gutachten Junkernheinrich Teil A angelegten Kriterien unstreitig erfüllt, dennoch ein Gebietsänderungsbedarf anzunehmen ist, mangelt es hier jedoch. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des politischen Ermessensspielraums des Gesetzgebers.

190

(αα) Der Gesetzgeber bescheinigt der Antragstellerin im Landesvergleich eine gute Wirtschafts- und Finanzkraft sowie eine deutlich unterdurchschnittliche Verschuldung (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 88). So wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, die Antragstellerin habe die jahresdurchschnittliche Steuerkraft einer Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz in den Jahren 2001 bis 2009 sowie in den Jahren 2010 und 2011 um 7,81 % bzw. 9,03 % überstiegen. Ihr Gesamtschuldenstand mit Eigenbetrieben und Eigengesellschaften habe im Jahr 2009 deutlich unter dem Landesdurchschnitt gelegen. Dies gelte auch für den Gesamtschuldenstand einschließlich der Ortsgemeinden. Die Schulden im Kernhaushalt hätten am 31. Dezember 2009 um 50,82 % (ohne Ortsgemeinden) und um 12,82 % (mit Ortsgemeinden) unter den Durchschnittswerten einer rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde gelegen. Die Antragstellerin habe in den Jahren 2009, 2010 und 2011 auch keine Kredite zur Liquiditätssicherung aufgenommen. Ihre Schulden zum 31. Dezember 2010 (ohne Eigenbetriebe und Ortsgemeinden) hätten knapp unter dem Durchschnitt der Verbandsgemeinden gleicher Größenklassen gelegen. In den Jahren 2011 und 2012 seien wiederum deutlich unterdurchschnittliche Werte zu verzeichnen (LT-Drucks. 16/2794, S. 80 f.).

191

Selbst hinsichtlich der demografischen Entwicklung hat der Gesetzgeber auf der Grundlage der Berechnungen des Statistischen Landesamtes (Dritte kleinräumige Bevölkerungsrechnung, Basisjahr 2010) einen leicht positiven Trend festgestellt. So habe das Statistische Landesamt für die Antragstellerin bis zum Jahr 2030 einen leichten Bevölkerungsanstieg um 0,42 % prognostiziert, wobei ein Rückgang der Zahl der unter 20-jährigen Einwohnerinnen und Einwohner um 20,8 % und ein Anstieg der Zahl der über 65-jährigen um 41,05 % zu verzeichnen sei (LT-Drucks. 16/2794, S. 81 f.).

192

Diesen guten Werten stellt der Gesetzgeber allerdings in erster Linie eine fehlende Sonderstellung der Antragstellerin in der Region Rheinpfalz, innerhalb des Landkreises Südliche Weinstraße und im Vergleich mit den Verbandsgemeinden gleicher Größenklassen gegenüber. Insoweit hat er ausgeführt, dass die Antragstellerin in der Region Rheinpfalz keine Sonderstellung einnehme. Für die Region werde mit einem durchschnittlich erwarteten Bevölkerungsrückgang von 1,5 % eine merklich günstigere Entwicklung als im rheinland-pfälzischen Durchschnitt prognostiziert. In 19 von 38 verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden sei die Pro-Kopf-Steuerkraft im langjährigen Mittel überdurchschnittlich hoch gewesen. Insgesamt 20 der 38 verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden seien zum 31. Dezember 2009 kassenkreditfrei gewesen (LT-Drucks. 16/2794, S. 83).

193

Die Antragstellerin stehe auch im finanziellen Vergleich mit den übrigen (sechs) Verbandsgemeinden des Landkreises Südliche Weinstraße zum 31. Dezember 2008 nicht überdurchschnittlich dar. Bei den Schulden insgesamt (einschließlich Ortsgemeinden) hätten vier Verbandsgemeinden bessere Werte aufgewiesen. Mit Ausnahme zweier Verbandsgemeinden hätten die Verbandsgemeinden des Landkreises keine Kredite zur Liquiditätssicherung aufgenommen. Bei den Schulden der Eigenbetriebe und Eigengesellschaften habe sich die Antragstellerin mit drei weiteren Verbandsgemeinden des Landkreises in der zweitbesten Kategorie befunden. Allerdings wiesen die übrigen drei Verbandsgemeinden insoweit ebenfalls gute Werte auf. Die Antragstellerin habe in den Jahren 2005 bis 2011 fast ausnahmslos über den Umlagesätzen der übrigen Verbandsgemeinden gelegen. Lediglich zwei Verbandsgemeinden hätten im Jahr 2011 die Antragstellerin um einen Prozentpunkt übertroffen. Im Jahr 2007 habe die Antragstellerin (einschließlich Ortsgemeinden) im Landkreis die höchsten Bruttoausgaben im Kernhaushalt aufgewiesen. Bei der Höhe des laufenden Sachaufwands habe sie im Jahr 2008 an der Spitze des Landkreises gelegen (LT-Drucks. 16/2794, S. 83 f.).

194

Die kassenwirksamen Bruttoausgaben des Verwaltungshaushalts der Antragstellerin hätten im Jahr 2010 knapp unter dem Durchschnitt der Verbandsgemeinden gleicher Größenklasse (5.000 bis 10.000 Einwohner) gelegen. Bei den Personalausgaben habe sie den Durchschnitt unterschritten, der laufende Sachaufwand sei überdurchschnittlich gewesen. Im Jahr 2011 habe sie bei den Personalausgaben unter dem Vergleichswert gelegen, beim laufenden Sachaufwand den Durchschnitt übertroffen. Bei der Anzahl der Beschäftigten im Kernhaushalt zum 30. Juni 2010 habe sie die durchschnittliche Beschäftigungszahl von Verbandsgemeinden gleicher Größenklasse knapp unterschritten und habe insgesamt über dem Durchschnitt gelegen.

195

Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass die Antragstellerin mit 7.958 Einwohnern zum 30. Juni 2009 und drei Ortsgemeinden deutlich hinter der grundsätzlich geforderten Einwohnerzahl und hinter den durchschnittlichen Größenverhältnissen in Rheinland-Pfalz, aber auch im regionalen Vergleich zurückbleibe. Auch die in § 2 Abs. 3 Satz 1 KomVwRGrG genannten Werte von 10.000 Einwohnern, einer Fläche von 100 qkm und 15 Ortsgemeinden unterschreite die Antragstellerin deutlich. Im Gutachten Junkernheinrich Teil A werde ausgeführt, dass mit zunehmender Gemeindegröße die Leistungsfähigkeit steige. Größere Verbandsgemeinden hätten in Bezug auf ihre Einwohnerzahlen signifikant niedrigere Personal-, Verwaltungs- und Betriebsausgaben. Wie in der begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung dargelegt, lasse sich die dauerhafte Handlungs- und Tragfähigkeit kleiner Kommunen nicht gewährleisten und zwar selbst für den Fall, dass diese zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch vergleichsweise wirtschaftlich arbeiteten. Die dauerhafte Leistungsfähigkeit hänge geradezu in existenzieller Weise von der Qualität des kommunalen Personals ab; diese lasse sich jedoch keineswegs langfristig garantieren (LT-Drucks. 16/2794, S. 85 ff.).

196

Zusammenfassend führt die Gesetzesbegründung aus, auch unter Berücksichtigung der guten Wirtschafts- und Finanzkraft, der deutlich unterdurchschnittlichen Verschuldung und der voraussichtlich nicht erheblich abnehmenden bzw. ggf. sogar leicht ansteigenden Bevölkerungszahl, hebe sich die Antragstellerin nicht in einer solchen Weise von den Werten der Verbandsgemeinden in Rheinland-Pfalz bzw. in ihrer Region ab, die eine Ausnahme von der Fusionspflicht rechtfertigen könne (LT-Drucks. 16/2794, S. 88).

197

(ββ) Zwar ist grundsätzlich nichts gegen einen Vergleich der Verbandsgemeinden gleicher Größenklassen zur Beurteilung ihrer dauerhaften Leistungsfähigkeit einzuwenden. Es erschließt sich jedoch nicht, weshalb es sich bei der angenommenen fehlenden Sonderstellung der Antragstellerin in der Region Rheinpfalz und im Landkreis Südliche Weinstraße, auf die der Gesetzgeber die Annahme eines Gebietsänderungsbedarfs (zumindest auch) gestützt hat, mit Blick auf das Ziel der Reform um einen geeigneten Vergleichsmaßstab handeln sollte. Hierbei ist maßgeblich in Rechnung zu stellen, dass die Neugliederung der verbandsfreien Gemeinden und Verbandsgemeinden landesweit durchgeführt wird. Ziel der Reform sind gemäß § 1 Abs. 1 KomVwRGrG kommunale Gebietskörperschaften, die in der Lage sind, langfristig die ihnen obliegenden Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Die Berücksichtigung regionaler oder gar landkreisinterner Verhältnisse bei der Beurteilung der dauerhaften Leistungsfähigkeit einer kommunalen Gebietskörperschaft ist folglich im Grundsätzegesetz nicht angelegt und erscheint im Übrigen bei einer landesweiten Reform auch nicht sachgerecht. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang ferner, dass auch im Gutachten Junkernheinrich Teil A, welches der Gesetzgeber seinen Neugliederungsmaßnahmen zugrunde gelegt hat, keine regionalen oder gar landkreisinternen Vergleiche vorgenommen werden. So wird etwa die Erfüllung des Kriteriums einer besonderen Wirtschafts- und Finanzkraft mittels eines landesweiten Vergleichs geprüft. Die Beurteilung der dauerhaften Leistungsfähigkeit anhand ausgewählter Finanzdaten erfolgt darüber hinaus mit Blick auf absolute Zahlen.

198

Der Gesetzgeber bleibt insoweit auch eine Begründung schuldig, wenn er in diesem Zusammenhang auf die Kritik der Antragstellerin an einem regionalen bzw. landkreisinternen Vergleich lediglich ausführt, es sei nicht ersichtlich, warum bei der Beurteilung der Frage, ob ein Unterschreiten der Mindesteinwohnerzahlen ausnahmsweise zugelassen werden soll, nicht auch ein regionaler Vergleich herangezogen werden könne (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 88).

199

Dass andere Verbandsgemeinden in der Region bzw. im Landkreis ebenfalls über eine gute Wirtschafts- und Finanzkraft verfügen und einen niedrigen Schuldenstand aufweisen, kann der Antragstellerin folglich nicht zum Nachteil gereichen und ist zur Verneinung ihrer dauerhaften Leistungsfähigkeit, die nach dem Konzept des Gesetzgebers gerade durch die Kriterien des Gutachtens Junkernheinrich Teil A zumindest indiziert wird, nicht geeignet.

200

Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin – worauf diese zu Recht hingewiesen hat – auch in dem vorgenommenen regionalen Vergleich keineswegs unterdurchschnittlich, vielmehr eher überdurchschnittlich abschneidet. Während etwa für die Region Rheinpfalz ein leichter Bevölkerungsrückgang erwartet wird, ist für die Antragstellerin sogar ein leichter Bevölkerungszuwachs prognostiziert worden. Aus den Ausführungen des Gesetzgebers zur Steuerkraft der Verbandsgemeinden in der Region Rheinpfalz ergibt sich, dass immerhin die Hälfte der Verbandsgemeinden im Gegensatz zur Antragstellerin über eine unterdurchschnittliche Pro-Kopf-Steuerkraft verfügte. Darüber hinaus waren in den Jahren 2009 bis 2011 zumindest zwischen 18 und 20 der 38 Verbandsgemeinden anders als die Antragstellerin nicht kassenkreditfrei. Auch im landkreisinternen Vergleich schneidet die Antragstellerin nicht unterdurchschnittlich ab. Insofern vermag auch das Ziel einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der kommunalen Gebietskörperschaften (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 KomVwRGrG) die hier aus dem vorgenommenen regionalen bzw. landkreisinternen Vergleich gezogenen Schlüsse nicht zu begründen.

201

(γγ) Eine andere Beurteilung ist auch nicht geboten, soweit der Gesetzgeber ausführt, eine überdurchschnittliche Wirtschafts- und Finanzkraft müsse mit einer den gesetzgeberisch angestrebten Größenverhältnissen zumindest annähernd entsprechenden kommunalen Gebietskörperschaft einhergehen, um ein Unterschreiten der Mindesteinwohnerzahlen ausnahmsweise zuzulassen und er in diesem Zusammenhang auf das Ziel einer Nivellierung gebietlicher Disparitäten verweist (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 41, 88). Diese Überlegungen finden im Grundsätzegesetz keine Stütze. Dies gilt insbesondere für die Ausnahmeregelung des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG. Denn zum einen sieht das Grundsätzegesetz weder eine Untergrenze für die Einwohnerzahlen vor, noch enthält es die Vorgabe, dass die Mindesteinwohnerzahl nur geringfügig unterschritten werden darf. Indem der Gesetzgeber darauf verweist, dass eine überdurchschnittliche Wirtschafts- und Finanzkraft mit einem den angestrebten Größenverhältnissen zumindest annähernd entsprechenden Territorium einhergehen müsse (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 41, 88), wird den verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden, die wie die Antragstellerin nicht nur unerheblich von den angestrebten Größenverhältnissen abweichen, von vornherein die Möglichkeit abgesprochen, dauerhaft leistungsfähig zu sein. Dies entspricht weder der Regelung des § 2 Abs. 3 Satz 2 KomVwRGrG noch der Annahme des Gesetzgebers, dass die Gründe, die für den Erhalt der betreffenden kommunalen Gebietskörperschaft sprechen, umso schwerer wiegen müssten, je stärker sie hinter der vorgegebenen Einwohnerzahl bleibe (vgl. LT-Drucks. 16/2794, S. 86). Der Gesetzgeber prüft im Übrigen für die Antragstellerin gerade, ob derartige Gründe vorliegen, verneint dies allerdings – wie bereits dargelegt – in nicht tragfähiger Weise.

202

Zum anderen ist das Ziel einer Nivellierung rein gebietlicher Disparitäten im Grundsätzegesetz nicht angelegt. § 1 Abs. 1 KomVwRGrG benennt als Ziel der Gebietsreform kommunale Gebietskörperschaften, die in der Lage sind, langfristig ihre Aufgaben in fachlich hoher Qualität, wirtschaftlich sowie bürger-, sach- und ortsnah wahrzunehmen. Die Angleichung der Einwohnerzahlen oder Flächengrößen von verbandsfreien Gemeinden bzw. Verbandsgemeinden ist hingegen nicht als eigenständiges, von der bezweckten Stärkung der Leistungsfähigkeit unabhängiges Ziel ausgewiesen. Dass allein auf diese Weise eine Steigerung der Leistungsfähigkeit erzielt wird, behauptet auch der Gesetzgeber nicht. Im Übrigen kann auch der Landesverfassung weder eine besondere rechtliche Grenze der Disparität noch ein Prinzip größtmöglicher Angleichung bei der Bildung kommunaler Gebietskörperschaften entnommen werden (so im Hinblick auf die Neugliederung von Landkreisen VerfGH RP, Urteil vom 5. Mai 1969 – VGH 29/69 –, AS 11, 118 [133]).

203

Der Gesetzgeber bleibt somit eine tragfähige, einzelfallbezogene Begründung schuldig, weshalb die Antragstellerin trotz ihrer guten wirtschaftlichen Lage nicht ausreichend leistungsfähig sein soll.

204

Ob die Antragstellerin mit anderer Begründung und/oder unter Geltung anderer Leitlinien hätte in verfassungskonformer Weise aufgelöst werden können, bedarf hier keiner Beurteilung. Denn zum einen ist der Verfassungsgerichtshof nicht befugt, die gesetzgeberische Begründung zu ersetzen oder zu ergänzen. Zum anderen ist auch ein „Nachschieben von Gründen“ nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens – etwa in der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof – nicht zulässig. Nur die Gesetzesbegründung stellt die maßgebende Grundlage der inhaltlich nur begrenzt überprüfbaren Neugliederungsentscheidung dar (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 18. Juni 1999 – 51-VIII-98 –, LKV 2000, 21 [22]; ferner VerfG Brandenburg, Urteil vom 16. Juni 2005 – VfGBbg 229/03 –; Grünewald, LKV 2006, 109 [111]; vgl. ferner StGH Hessen, Urteil vom 21. Mai 2013 – P.St. 2361 –, juris, Rn. 132 [zum kommunalen Finanzausgleich]).

205

Der Antrag ist nach alledem begründet. § 1 MaikammerEinglG verletzt die Antragstellerin in ihrer kommunalen Selbstverwaltungsgarantie gemäß Art. 49 Abs. 1 bis 3 LV.

E.

206

§ 1 MaikammerEinglG ist nichtig, eine bloße Unvereinbarkeitserklärung war nicht geboten (I.). Die im Tenor ausgesprochene Vollstreckungsanordnung berücksichtigt die Folgen einer Nichtigkeit des § 1 MaikammerEinglG (II.). Die Nichtigkeit von § 1 MaikammerEinglG führt zur Nichtigkeit des gesamten Eingliederungsgesetzes (III.). Die Wirksamkeit der bislang für die Antragstellerin ergangenen Rechtshandlungen der Verbandsgemeinde Edenkoben bleibt von der Nichtigkeit unberührt (IV.).

I.

207

Steht eine Norm nicht mit der Verfassung in Einklang, so ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (vgl. etwa VerfGH RP, Beschluss vom 5. Juli 2007 – VGH N 18/06 –; Beschluss vom 13. Juni 2014 – VGH B 16/14 –, ESOVGRP). Es besteht vorliegend auch kein Anlass dafür, lediglich die Unvereinbarkeit der Norm mit der Landesverfassung festzustellen und die Weitergeltung der Norm bis zu einem bestimmten Zeitpunkt anzuordnen (vgl. § 26 Abs. 3 VerfGHG). Für eine übergangsweise Weitergeltung der Norm, die die Auflösung und Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeine Edenkoben aufrechterhalten würde, liegen hier keine schwerwiegenden Gründe des öffentlichen Wohls vor. Dies wäre nur dann in Betracht zu ziehen, wenn im Falle einer Nichtigerklärung ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsgemäßen Ordnung noch ferner stünde bzw. der mit der Verfassung noch weniger vereinbar wäre als die verfassungswidrige Regelung (vgl. BVerfG, Urteil vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1673/04 u.a. –, BVerfGE 116, 69 [93]), weil etwa ein „rechtliches Vakuum“ entstünde (BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1986 – 2 BvE 2/84 u.a. –, BVerfGE 73, 40 [101 f.]) oder Regelungslücken zu einem „Chaos“ führen würden (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. –, BVerfGE 128, 326 [404]).

208

Derartige Verhältnisse sind hier nicht ersichtlich. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinen Beschlüssen vom 23. Mai 2014 (VGH A 26/14, AS 42, 327 [328 ff.] sowie VGH A 28/14, KommJur 2014, 295 ff.), in denen es um die einstweilige Außervollzugsetzung von Eingliederungsgesetzen ging, verdeutlicht hat, ist die Rückabwicklung einer verfassungswidrigen Auflösung und Eingliederung einer Verbandsgemeinde für die betroffenen Gebietskörperschaften zwar mit Nachteilen verbunden, führt jedoch als solche nicht zu einem gewissermaßen „chaotischen“ Zustand.

II.

209

Der Verfassungsgerichtshof erachtet es vielmehr als sachgerecht, aber auch als ausreichend, die Folgen der Nichtigkeit von § 1 MaikammerEinglG im Wege der im Tenor ausgesprochenen Vollstreckungsanordnung zu berücksichtigen (zu solchen Anordnungen im Fall der Nichtigkeit eines Neugliederungsgesetzes vgl. etwa VerfGH Sachsen, Urteil vom 15. September 1994 – Vf. 29-VIII-94 –; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2004 – VfGBbg 138/03 –).

210

1. Da die Antragstellerin derzeit über keinen eigenen Verbandsgemeinderat verfügt, ist die Anordnung, dass sie bis zu einer Neuwahl von dem aufgrund der Wahl vom 7. Juni 2009 gewählten Verbandsgemeinderat verwaltet wird sowie die Anordnung der Neuwahl bis spätestens zum 31. Januar 2016 geboten.

211

Die Wahlzeit des vor der Eingliederung bestehenden und im Jahre 2009 gewählten Verbandsgemeinderates ist nämlich abgelaufen (vgl. § 71 Abs. 1, Abs. 2 Kommunalwahlgesetz – KWG –; vgl. ferner Stamm, in: Gabler/Höhlein [Hrsg.], Kommunalverfassungsrecht Rheinland-Pfalz [Stand: November 2014], Bd. I, GemO, § 29 Anm. 5). Der Anordnung steht nicht entgegen, dass mit ihr die Wahlzeit des ursprünglichen Verbandsgemeinderates verlängert wird. Eine Verlängerung der (gesetzlichen) Wahlzeit ist nämlich dann zulässig, wenn hierfür gewichtige Gründe des Gemeinwohls vorliegen (vgl. StGH BW, Urteil vom 7. September 1959 – Nr. 2/59 –, ESVGH 11 II, 7 [L]; StGH Hessen, Urteil vom 7. April 1976 – P.St.798 –, ESVGH 26, 22 [29]) und die Verlängerung im Verhältnis zur Dauer der grundsätzlichen Wahlperiode gering ist (StGH BW, Urteil vom 7. September 1959 – Nr. 2/59 –, ESVGH 11 II, 7 [L]; StGH Hessen, Urteil vom 7. April 1976 – P.St.798 –, ESVGH 26, 22 [29]).

212

Hier liegen die gewichtigen Gründe des Gemeinwohls auf der Hand: Die Antragstellerin verfügt im Fall der Nichtigerklärung des Eingliederungsgesetzes über keinen Verbandsgemeinderat. Bis zu einer Neuwahl wäre sie daher in beträchtlichem Umfang ihrer Handlungsfähigkeit beraubt. Die damit entstehende Zeitspanne zwischen dem Ende der Wahlzeit der Ratsmitglieder am 30. Juni 2014 und dem spätesten Zeitpunkt der Neuwahl von 19 Monaten erscheint mit Blick auf das unabwendbare Bedürfnis der Sicherung der Handlungsfähigkeit der Antragstellerin gerade noch hinnehmbar, zumal es sich hier nicht um eine durchgängige Verlängerung der Wahlperiode handelt (vgl. hierzu auch VerfGH Sachsen, Beschluss vom 9. November 1995 – Vf. 20-VIII-95 –: [durchgängige] Verlängerung um insgesamt 17 Monate als äußerste Schranke im Wege der einstweiligen Anordnung).

213

Die alternativ in Betracht kommende Bestellung eines Beauftragten gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 2 GemO ist gegenüber der Verlängerung der Amtszeit des ursprünglichen Verbandsgemeinderates nicht vorzugswürdig. Denn der Beauftragte würde im Vergleich zu den Mitgliedern des ursprünglichen Verbandsgemeinderates zum einen über eine geringere demokratische Legitimation verfügen. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Antragstellerin bereits für die Dauer von etwa einem Jahr zu Unrecht faktisch ihre Selbständigkeit verloren hat. Angesichts dessen erscheint es ihr nicht länger zumutbar, dass ihre Aufgaben weiterhin nicht durch ihre eigenen Organe wahrgenommen werden.

214

2. Der Verfassungsgerichtshof weist im Übrigen im Zusammenhang mit der Rückabwicklung der Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeinde Edenkoben auf Folgendes hin:

215

a) Die gemäß § 52 Abs. 1 GemO achtjährige Amtszeit des ebenfalls im Jahr 2009 gewählten hauptamtlichen Bürgermeisters der Antragstellerin ist noch nicht abgelaufen. Denn die Nichtigkeit von § 1 MaikammerEinglG und des Eingliederungsgesetzes insgesamt (siehe hierzu unten E.III.) hat auch die Nichtigkeit des § 3 Abs. 1 Satz 5 MaikammerEinglG zur Folge. Das Amt des im Jahr 2009 gewählten hauptamtlichen Bürgermeisters lebt mithin automatisch wieder auf.

216

b) Die Wahl des Verbandsgemeinderates Edenkoben am 25. Mai 2014 ist gültig. Zwar wurde bei der Wahl gemäß § 3 Abs. 1 MaikammerEinglG das gemeinsame Gebiet der Antragstellerin und der Verbandsgemeinde Edenkoben zugrunde gelegt, wofür infolge der Verfassungswidrigkeit von § 1 MaikammerEinglG und der übrigen Vorschriften des Gesetzes (siehe hierzu unten E.III.) keine wirksame rechtliche Grundlage bestand. Die Ungültigkeit einer Wahl ergibt sich jedoch grundsätzlich nicht aus einer in einem Normenkontrollverfahren festgestellten Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes bzw. der den Wahlvorgang betreffenden Vorschriften (vgl. VerfG Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2004 – VfGBbg 138/03 –, NJOZ 2004, 2509 [2517]; LVerfG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. August 2010 – LVerfG 3/09 –, juris, Rn. 27; Roth, in: Umbach/Clemens [Hrsg.], GG, Bd. II, 2002, Art. 41 Rn. 12, 29; Rauber, Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S. 161 f.; ferner BVerfG, Beschluss vom 11. November 1953 – 1 BvL 67/52 –, BVerfGE 3, 45 [52]; offen lassend VerfGH RP, Urteil vom 15. November 1971 – VGH 7/71 –, DVBl. 1972, 783 [786]).

217

Zwar statuiert die Verfassung für Rheinland-Pfalz jedenfalls im Hinblick auf Kommunalwahlen keinen Vorrang bzw. keine Ausschließlichkeit der Wahlprüfungsbeschwerde. Denn die Wahlprüfungsbeschwerde nach Art. 82 LV gilt nur für Wahlen zum Landtag (vgl. VerfGH RP, Beschluss vom 4. April 2014 – VGH A 15/14 u.a. –, AS 42, 229 [237]). Allerdings dürfte für Kommunalwahlen aus §§ 48 ff. KWG der Grundsatz abzuleiten sein, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, jedenfalls nach der Wahl nur mit den in den Wahlvorschriften vorgesehenen Rechtsbehelfen und im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden können (VerfGH RP, Beschuss vom 12. Mai 2014 – VGH B 34/14 u.a. –; vgl. auch OVG RP, Beschluss vom 8. März 1995 – 7 B 10556/95.OVG –, AS 25, 118 [127]). Die Gültigkeit einer Norm kann auch im Wahlprüfungsverfahren geklärt werden. Ein mit der Wahlprüfung befasstes Gericht ist in einem solchen Fall gehalten, gegebenenfalls die Entscheidung des Verfassungsgerichtes im Wege der konkreten Normenkontrolle einzuholen (so mit Blick auf die nichtige Eingliederung einer Gemeinde VerfG Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2004 – VfGBbg 138/03 –, NJOZ 2004, 2509 [2517]).

218

Soweit ersichtlich ist ein Wahlprüfungsverfahren für den Rat der Verbandsgemeinde Edenkoben nicht anhängig. Die dreimonatige Frist für eine Prüfung von Amts wegen (vgl. § 49 Abs. 2 Satz 1 KWG) ist abgelaufen. Hiervon unberührt bleibt die Entscheidung der Aufsichtsbehörde über die Wählbarkeit eines Ratsmitglieds zum Zeitpunkt der Wahl (§ 49 Abs. 2 Satz 2 KWG).

219

Eine Ungültigerklärung der Wahl durch den Verfassungsgerichtshof kommt auch auf der Grundlage des § 26 Abs. 4 Satz 2 VerfGHG nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann der Verfassungsgerichtshof bestimmen, ob und unter welchen Voraussetzungen unanfechtbare Hoheitsakte, die seiner Entscheidung widersprechen, aufzuheben sind. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch des § 26 Abs. 4 Satz 2 VerfGHG liegt es eher fern, Wahlen unter den Begriff der Hoheitsakte zu fassen (ausdrücklich offenlassend VerfGH RP, Urteil vom 15. November 1971 – VGH 7/71 –). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass eine derart weite Auslegung der Vorschrift vom Willen des Gesetzgebers umfasst war. Mit § 26 Abs. 4 Satz 2 VerfGHG sollte eine sich im Wesentlichen an § 79 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG – anlehnende Regelung geschaffen werden (vgl. LT-Drucks. 4/1875, S. 8). Unter Entscheidungen im Sinne des § 79 Abs. 2 BVerfGG werden allerdings lediglich gerichtliche Entscheidungen und Einzelakte der Verwaltung verstanden (vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge [Hrsg.], BVerfGG [Stand: Dezember 2014], § 79 Rn. 45 f.; Morlok, JZ 2011, 234 [238] m.w.N.).

220

Sich über dieses Auslegungsergebnis hinwegzusetzen, käme allenfalls dann in Betracht, wenn andernfalls, d.h. bei Bestandskraft der Wahl, aus verfassungsrechtlicher Sicht ein unerträglicher Zustand zementiert würde. Zwar ist vorliegend in Rechnung zu stellen, dass der Rat der Verbandsgemeinde Edenkoben auch von den Bürgern der Antragstellerin gewählt wurde, ohne dass hierfür eine verfassungsmäßige Grundlage bestand. Damit ist der Kreis der Wahlberechtigten zum Teil fehlerhaft bestimmt worden, was Auswirkungen auf die demokratische Legitimation des Verbandsgemeinderates Edenkoben im Sinne des Art. 50 Abs. 1 Satz 1 LV hat. In diesem Zusammenhang ist in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte allerdings anerkannt, dass im Falle einer „geringfügigen“ Eingliederung einer kommunalen Gebietskörperschaft in eine andere auf Neuwahlen verzichtet werden kann (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 15. September 2014 – LVG 76/10 –, juris, Rn. 107; Urteil vom 20. Januar 2011 – LVG 22/10 –, BeckRS 2011, 46631; so auch bezüglich geringfügiger Gebietsänderungen VerfGH NRW, Urteil vom 4. Juli 1970 – 2/70 –, DVBl. 1971, 502 [503]). Dabei wird die Festlegung der „Erheblichkeitsschwelle“ auf ein Drittel Einwohnerzuwachs für verfassungsrechtlich zulässig erachtet (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 15. September 2014 – LVG 76/10 –, juris, Rn. 107; Urteil vom 20. Januar 2011 – LVG 22/10 –, BeckRS 2011, 46631).

221

In Anlehnung hieran erachtet der Verfassungsgerichtshof für den hier vorliegenden umgekehrten Fall der Rückgängigmachung einer Eingliederung eine Erklärung der Ungültigkeit der Wahl über den in § 49 Abs. 2 Satz 1 KWG genannten Zeitpunkt hinaus allenfalls erst dann für verfassungsrechtlich geboten, wenn der Kreis der Wahlberechtigten zu mehr als einem Drittel fehlerhaft bestimmt wurde. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Nach Auskunft des Landeswahlleiters an den Verfassungsgerichtshof vom 23. März 2015 betrug die Zahl der Wahlberechtigten der neu gebildeten Verbandsgemeinde Edenkoben zu den Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 insgesamt 22.857. Hiervon entfielen 16.220 Wahlberechtigte auf die ehemalige Verbandsgemeinde Edenkoben und 6.637 auf die ehemalige Verbandsgemeinde Maikammer. Eine Ungültigerklärung der Wahl durch den Verfassungsgerichtshof scheidet daher vorliegend aus. Entsprechendes gilt für die Wahl des Bürgermeisters der Verbandsgemeinde Edenkoben.

222

Die Entscheidung hinsichtlich einer Neuwahl für den Rat und den Bürgermeister der Verbandsgemeinde Edenkoben obliegt damit vorrangig dem Gesetzgeber.

III.

223

Die Nichtigkeit des § 1 MaikammerEinglG führt zur Gesamtnichtigkeit des Gesetzes, da die übrigen Regelungen des Gesetzes mit der in § 1 MaikammerEinglG angeordneten Eingliederung der Antragstellerin in die Verbandsgemeinde Edenkoben in unlösbarem Zusammenhang stehen und einzig aus ihr ihre Rechtfertigung beziehen. Mit ihr steht und fällt daher das gesamte Gesetz (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. November 1958 – 2 BvL 4/57 u.a. –, BVerfGE 8, 274 [301]; vgl. ferner Urteil vom 13. April 1978 – 2 BvF 1/77 u.a. –, BVerfGE 48, 127 [177]; Urteil vom 27. Juli 2004 – 2 BvF 2/02 –, BVerfGE 111, 226 [270 ff.]); ferner VerfGH RP, Beschluss vom 4. April 2014 – VGH A 15/14 und VGH A 17/14 –, ESOVGRP).

IV.

224

Entsprechend dem Grundsatz des § 26 Abs. 4 Satz 3 VerfGHG wird die Wirksamkeit der in der Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils ergangenen Rechtshandlungen der Verbandsgemeinde Edenkoben betreffend die Antragstellerin von der Nichtigkeit des Landesgesetzes über die Eingliederung der Verbandsgemeinde Maikammer in die Verbandsgemeinde Edenkoben nicht berührt (vgl. hierzu auch VerfGH Sachsen, Urteil vom 5. November 1999 – Vf. 133-VIII-98 –; VerfG Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2004 – VfGBbg 138/03 –). Hiervon gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 VerfGHG abzuweichen, besteht kein Anlass.

F.

225

Das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ist gemäß § 21 Abs. 1 VerfGHG kostenfrei. Die Anordnung der Auslagenerstattung zugunsten der Antragstellerin folgt aus § 21a Abs. 3 VerfGHG.

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(2) Die aufnehmende oder neue Körperschaft kann, wenn die Zahl der bei ihr nach der Umbildung vorhandenen Beamtinnen und Beamten den tatsächlichen Bedarf übersteigt, innerhalb einer Frist, deren Bestimmung dem Landesrecht vorbehalten bleibt, Beamtinnen und Beamte im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit oder auf Zeit in den einstweiligen Ruhestand versetzen, wenn deren Aufgabengebiet von der Umbildung berührt wurde. Bei Beamtinnen auf Zeit und Beamten auf Zeit, die nach Satz 1 in den einstweiligen Ruhestand versetzt sind, endet der einstweilige Ruhestand mit Ablauf der Amtszeit; sie gelten in diesem Zeitpunkt als dauernd in den Ruhestand versetzt, wenn sie bei Verbleiben im Amt mit Ablauf der Amtszeit in den Ruhestand getreten wären.

Wird die Entschädigung in Land gewährt, so kann der Bund verpflichtet werden, die Grundstücke, die als Ersatzland vorgesehen sind, in bestimmter Weise herzurichten. Die Verpflichtung kann durch besonderen Beschluß der Enteignungsbehörde oder im Teil A des Enteignungsbeschlusses (§ 47 Abs. 3 Nr. 4) ausgesprochen werden.

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(2) Die Besitzeinweisungsentschädigung wird ohne Rücksicht darauf, ob Klage nach § 59 Abs. 1 erhoben wird, mit dem Zeitpunkt, in dem die Besitzeinweisung wirksam wird (§ 39 Abs. 1 Nr. 5), fällig. Bei einer wiederkehrenden Entschädigung wird die erste Rate zu dem in Satz 1 bezeichneten Zeitpunkt fällig.

(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muß das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. In Gemeinden kann an die Stelle einer gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung treten.

(2) Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle.

(3) Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.

Tenor

§ 23a Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004 (GVBl S. 298), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes zur Regelung des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungszustellungsrechts für den Freistaat Sachsen und zur Änderung anderer Gesetze vom 19. Mai 2010 (GVBl S. 142), ist mit Artikel 28 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig, soweit er die Schulnetzplanung für Grund- und Mittelschulen betrifft.

Gründe

A.

1

Die Vorlage des Verwaltungsgerichts Dresden betrifft die in § 23a des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Juli 2004, SächsGVBl Jg. 2004, Bl.-Nr. 15, S. 298 (SchulG) geregelte Schulnetzplanung. Sie wirft die Frage auf, ob die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden einer Übertragung der Standortplanung für allgemein bildende Schulen auf die Kreise entgegensteht und in welchem Umfang sie die Beteiligung der kreisangehörigen Gemeinden an dieser Planung erfordert.

I.

2

1. Träger der allgemein bildenden Schulen im Freistaat Sachsen sind gemäß § 22 Abs. 1 SchulG grundsätzlich die Gemeinden. § 21 Abs. 2 SchulG berechtigt und verpflichtet die Schulträger, öffentliche Schulen einzurichten und fortzuführen, wenn dafür ein öffentliches Bedürfnis besteht; dieses richtet sich in erster Linie nach der in § 4a SchulG bestimmten Mindestschülerzahl für jede Schulart.

3

2. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung im Freistaat Sachsen schuf der Landesgesetzgeber mit Art. 6 des Gesetzes über Maßnahmen zur Sicherung der öffentlichen Haushalte 2001 und 2002 im Freistaat Sachsen (Haushaltsbegleitgesetz 2001 und 2002) und zur Änderung der Vorläufigen Haushaltsordnung des Freistaates Sachsen vom 14. Dezember 2000 (GVBl S. 513) § 23a SchulG, der den kreisfreien Städten und den Landkreisen die Aufgabe einer Schulnetzplanung für ihr Gebiet zuweist. Gegenstand der Schulnetzplanung ist die Ausweisung der Schulstandorte und des mittel- und langfristigen Schulbedarfs. Die Schulnetzpläne werden von den kreisfreien Städten und den Landkreisen "im Benehmen" mit den kreisangehörigen Gemeinden aufgestellt und sollen die Grundlage für ein alle Bildungsgänge umfassendes, regional ausgeglichenes und unter zumutbaren Bedingungen erreichbares Bildungsangebot schaffen. § 23a SchulG lautet:

(1) Die Landkreise und Kreisfreien Städte stellen Schulnetzpläne für ihr Gebiet auf. Die Schulnetzplanung soll die planerische Grundlage für ein alle Bildungsgänge umfassendes, regional ausgeglichenes und unter zumutbaren Bedingungen erreichbares Bildungsangebot schaffen. Dabei sind vorhandene Schulen in freier Trägerschaft sowie bei den berufsbildenden Schulen die Möglichkeit der betrieblichen Aus- und Weiterbildung zu berücksichtigen. Die Ziele der Raumordnung und der Landesplanung sind zu beachten.

(2) In den Plänen werden der mittelfristige und langfristige Schulbedarf sowie die Schulstandorte ausgewiesen. Für jeden Schulstandort ist anzugeben, welche Bildungsangebote dort vorhanden sind und für welche räumlichen Bereiche (Einzugsbereiche) sie gelten sollen. Es sind auch die Bildungsbedürfnisse zu berücksichtigen, die durch Schulen für das Gebiet nur eines Schulträgers nicht sinnvoll befriedigt werden können. Schulnetzpläne müssen die langfristige Zielplanung und die Ausführungsmaßnahmen unter Angabe der Rangfolge ihrer Verwirklichung enthalten.

(3) Die Schulnetzpläne sind im Benehmen mit den Gemeinden und den übrigen Trägern der Schulen des Gebietes aufzustellen. Die Pläne sind mit benachbarten Landkreisen und Kreisfreien Städten abzustimmen.

(4) Die Schulnetzpläne bedürfen der Genehmigung der obersten Schulaufsichtsbehörde. Diese überprüft die Rechtmäßigkeit und Vereinbarkeit der Pläne mit den schulpolitischen und den sich aus dem Staatshaushaltsplan ergebenden Maßnahmen, insbesondere um zu gewährleisten, dass die personelle Ausstattung der Schulen im Rahmen der Bedarfs- und Finanzplanung des Freistaates Sachsen möglich ist. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die Schulnetzplanung mit den in den Absätzen 1 bis 3 genannten Anforderungen nicht übereinstimmt oder einer den Maßgaben des Freistaates Sachsen entsprechenden ordnungsgemäßen Gestaltung des Unterrichts entgegensteht.

(5) Beschlüsse des Schulträgers und Entscheidungen des Staatsministeriums für Kultus nach § 24 erfolgen auf der Grundlage eines genehmigten Schulnetzplanes.

(6) Das Staatsministerium für Kultus wird ermächtigt, das Nähere zur Aufstellung, Fortschreibung und Genehmigung der Schulnetzpläne durch Rechtsverordnung im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern zu regeln.

In § 24 SchulG ist bestimmt:

(1) Der Beschluss eines Schulträgers über die Einrichtung einer öffentlichen Schule bedarf der Zustimmung der obersten Schulaufsichtsbehörde.

(2) Stellt die oberste Schulaufsichtsbehörde fest, dass ein öffentliches Bedürfnis für die Einrichtung einer öffentlichen Schule besteht und erfüllt der Schulträger die ihm nach § 21 Abs. 2 obliegende Verpflichtung nicht, trifft die Rechtsaufsichtsbehörde die notwendigen Maßnahmen; der Schulträger ist vorher zu hören.

(3) Absatz 1 gilt entsprechend für die Aufhebung einer öffentlichen Schule. Stellt die oberste Schulaufsichtsbehörde fest, dass das öffentliche Bedürfnis für die Fortführung der Schule oder eines Teils derselben nicht mehr besteht, kann sie die Mitwirkung des Freistaates an der Unterhaltung der Schule widerrufen; der Schulträger ist vorher zu hören.

(4) Die Vorschriften über die Einrichtung und Aufhebung einer öffentlichen Schule gelten entsprechend für die Änderung einer öffentlichen Schule. (…)

4

Die Übertragung der Schulnetzplanung auf die Landkreise bedeutet nach Einschätzung des Gesetzgebers teilweise die Hochzonung einer bisher den kreisangehörigen Gemeinden zugewiesenen Aufgabe, teilweise aber auch die Kommunalisierung einer staatlichen Aufgabe. Die kreisangehörigen Gemeinden seien zu einer regional abgestimmten Schulstandortplanung überwiegend nicht in der Lage. Es habe sich gezeigt, dass die Gemeinden überwiegend keine Schulnetzpläne aufgestellt und von gebotenen Schulschließungen abgesehen hätten (LTDrucks 3/2401, S. 84).

II.

5

Klägerin des Ausgangsverfahrens ist die Stadt Seifhennersdorf, eine kreisangehörige Gemeinde im Landkreis Görlitz, die unter anderem Trägerin einer Grund- und einer Mittelschule ist. Sie wendet sich gegen einen Bescheid des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus als der obersten Schulaufsichtsbehörde vom 20. Dezember 2010, mit dem der für die Jahre 2010 bis 2015 fortgeschriebene Schulnetzplan genehmigt wurde. In diesem ist die Schließung der von der Klägerin getragenen Mittelschule vorgesehen.

6

Die Klägerin sieht sich durch die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 82 Abs. 2 SächsVerf) verletzt, das auch das Recht beinhalte, Träger der allgemeinbildenden Schulen zu sein. Soweit § 23a SchulG Grund- und Mittelschulen betreffe, sei er verfassungswidrig. Durch die Verpflichtung von Landkreisen und Kreisfreien Städten, bei Aufstellung der Schulnetzplanung lediglich das Benehmen mit den kreisangehörigen Gemeinden herzustellen, werde ihr Recht auf Selbstverwaltung nicht hinreichend gewahrt. Der angefochtene Bescheid vom 20. Dezember 2010 beruhe deshalb nicht auf einer wirksamen Ermächtigung.

III.

7

Das Verwaltungsgericht Dresden hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar ist.

8

1. Die Verfassungsmäßigkeit von § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG sei entscheidungserheblich. Wäre die Vorschrift verfassungsgemäß, sei die Klage mangels Klagebefugnis abzuweisen. Zur Begründung von subjektiven Rechten der Klägerin könne nicht auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 28 Abs. 2 GG abgestellt werden, weil § 23a SchulG den Gewährleistungsbereich der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Selbstverwaltungsgarantie auf die in der Bestimmung zugewiesenen Rechtspositionen begrenze. Auch aus der Benehmensregelung des § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vermöge die Klägerin keine Klagebefugnis herzuleiten. Materielle Rechte könne sie nur insoweit im Wege der Benehmensregelung geltend machen, wie ihr außerhalb derselben subjektive Rechte zustünden. Wäre § 23a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG dagegen verfassungswidrig, sei der Klage stattzugeben. Denn das Recht aus Art. 28 Abs. 2 GG, das als Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung die Schulträgerschaft jedenfalls hinsichtlich der Grundschule umfasse, wäre in diesem Fall nicht durch § 23a SchulG eingeschränkt und durch den angegriffenen Genehmigungsbescheid verletzt, weil er ohne gesetzliche Grundlage oder ohne verfassungsgemäße Beteiligung der Klägerin ergangen wäre.

9

2. Das Verwaltungsgericht ist von der Verfassungswidrigkeit des § 23a Abs. 1 und Abs. 3 SchulG überzeugt.

10

a) Die Zuweisung der Schulnetzplanung durch § 23a Abs. 1 SchulG an die Landkreise bedeute eine unzulässige Hochzonung einer kommunalen Aufgabe. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 26, 228 ff.) ergebe sich, dass die Schulträgerschaft der Volksschulen, worunter heute jedenfalls die Grundschulen fielen, prinzipiell den Gemeinden zustehe. Selbst wenn einzelne Gemeinden nicht in der Lage seien, Träger einer Volksschule zu sein, dürfe der Staat in deren Schulträgerschaft nur eingreifen, wenn sie keine geeignete Lösung fänden, etwa durch Zusammenschluss zu einem leistungsfähigen Schulträger mit anderen Gemeinden im Wege der kommunalen Zusammenarbeit.

11

Die Zuständigkeit der kreisangehörigen Gemeinden für die Schulträgerschaft werde dadurch beeinträchtigt, dass § 23a SchulG ihnen die Schulnetzplanung entziehe und den Landkreisen übertrage. Der Schulnetzplan schaffe die Grundlage für den Entzug der staatlichen Mitwirkung an der Unterhaltung einer Schule (§ 24 SchulG). Durch den Schulnetzplan und die später darauf aufbauende Entziehung der staatlichen Mitwirkung werde es den Gemeinden faktisch unmöglich gemacht, ihrer Schulträgerschaft auch für Grundschulen nachzukommen. Das verletze Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG. Jedenfalls die Schulnetzplanung für Grundschulen sei wegen des starken Bezugs zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ein wesentlicher Teil der gemeindlichen Selbstverwaltung.

12

Der vollständige, sich auch auf die Grundschulen erstreckende Entzug der Schulnetzplanung werde durch die Erwägungen des Gesetzgebers nicht gerechtfertigt. Dieser berufe sich auf die demographische Entwicklung, die eine bessere Koordinierung der Schulstandorte erfordere. Insofern handele es sich jedoch um reine Wirtschaftlichkeitserwägungen ohne rechtlichen Gehalt, die das Recht der Gemeinden missachteten, alle im Zusammenleben vor Ort wurzelnden Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft selbst zu regeln. Soweit sich der Gesetzgeber darauf beziehe, dass einzelne Gemeinden erforderliche Schulschließungen nicht vorgenommenen hätten, könne dem mit den Mitteln der Aufsicht begegnet werden. Die Zuständigkeit der Gemeinden für die Errichtung und Unterhaltung der Schulen werde bereits aus vielfältigen Gründen durch die staatliche Schulhoheit (Art. 7 Abs. 1 GG) eingeschränkt. Umso wichtiger sei es, die Zuständigkeit für die örtliche Schulnetzplanung bei den Gemeinden zu belassen. Sie betreffe in erheblichem Maße das Zusammenleben der Menschen in ihrer Gemeinde. Zudem habe der Juristische Dienst des Sächsischen Landtags im Jahre 2002 festgestellt, dass das örtliche Schüleraufkommen aus kreisangehörigen Gemeinden oder freiwillig gebildeten Verwaltungsgemeinschaften im Regelfall ausreiche, um eine Grundschule zu betreiben. Vor diesem Hintergrund greife die Verlagerung der Schulnetzplanung für Grundschulen auf die Landkreise in den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie ein.

13

Die Regelung sei auch unverhältnismäßig, weil sie nicht danach unterscheide, ob eine Gemeinde in der Lage sei, eine Schulnetzplanung selbst durchzuführen, ob sie bereit sei, die Schulnetzplanung freiwillig abzugeben, oder ob sie sich entschließe, die Schulnetzplanung in kommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen.

14

b) Die Benehmensregel des § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG verstoße sowohl für die Grundschulen als auch für die Mittelschulen gegen Art. 28 Abs. 2 GG.

15

Zwar habe die Schulnetzplanung hinsichtlich der Mittelschulen nicht den gleichen örtlichen Bezug wie hinsichtlich der Grundschulen. Weiterführende Schulen beträfen nicht unbedingt das Zusammenleben und -wohnen vor Ort, da sich die Schüler einer Gemeinde auf verschiedene weiterführende Schulen aufteilten. Ein erheblicher Teil besuche das Gymnasium, das schon zur Erreichung des notwendigen Angebotsstandards auf die Bildung von Zentren angewiesen und somit auf Überörtlichkeit angelegt sei. Hinsichtlich der weiterführenden Schulen sei die durch § 23a SchulG eingeführte Beschränkung der Selbstverwaltung daher auch gerechtfertigt.

16

Hinsichtlich der Mittelschulen sei der Gesetzgeber jedoch weniger frei, da diese auch den Hauptschulbildungsgang umfassten und damit die ehemalige weiterführende Volksschule, deren Trägerschaft zu den örtlichen Angelegenheiten rechne. Den Gemeinden müsse daher auch bei der Schulnetzplanung für Mittelschulen eine stärkere Mitwirkungsmöglichkeit eingeräumt werden, als dies bei einer Benehmensherstellung der Fall sei.

17

Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieses Eingriffs gälten die gleichen Erwägungen wie im Rahmen von § 23a Abs. 1 SchulG. Die vorgesehene Begrenzung der Mitwirkung für kreisangehörige Gemeinden sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil sie allen kreisangehörigen Gemeinden, unabhängig von Größe und Leistungsfähigkeit, eine rechtlich verbindliche Einwirkung auf die Schulnetzplanung versage.

18

3. Eine verfassungskonforme Auslegung hält das Verwaltungsgericht nicht für möglich. Aus der gesetzlichen Formulierung in § 23a Abs. 1 SchulG ergebe sich ausdrücklich, dass die kreisangehörigen Gemeinden von der Schulnetzplanung ausgeschlossen seien. Auch der Begriff des "Benehmens" in § 23a Abs. 3 SchulG sei ein klar konturierter Rechtsbegriff, der eine stärkere Beteiligung als eine "bessere Anhörung" nicht zulasse.

IV.

19

Die Klägerin und der Landkreis als Beigeladener des Ausgangsverfahrens sowie für den beklagten Freistaat Sachsen das Staatsministerium der Justiz und für Europa haben zu dem Vorlagebeschluss Stellung genommen. Weitere Stellungnahmen von Äußerungsberechtigten sind nicht eingegangen.

20

1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Vorlage des Verwaltungsgerichts für begründet. Die Schulnetzplanung auf der Grundlage von § 23a SchulG bedeute für die kreisangehörigen Gemeinden eine verbindliche Festlegung der Schulstandorte durch die Landkreise. Diese Hochzonung eines Teils ihrer planerischen Kompetenzen verletze das Recht der kreisangehörigen Gemeinden auf kommunale Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG.

21

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiere den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln. Die Gemeinden hätten daher das Recht, die Aufgabe des Schulträgers im Rahmen der Gesetze in alleiniger Entscheidungskompetenz ungestört und unbeeinflusst auszuüben. Zu dieser Aufgabe gehörten unter anderem die planerischen Entscheidungen im Zusammenhang mit Standortwahl, Betrieb, Einrichtung, Aufrechterhaltung, Art und Umfang der Schule, die Wahl des Schulgebäudes, Zügigkeit und Klassenbildung, und damit auch die Schulnetzplanung. Bei einer durch Hochzonung erfolgten Aufgabenverlagerung müsse die Zuständigkeit der Gemeinden zumindest durch ein angemessenes Beteiligungsrecht kompensiert werden.

22

§ 23a SchulG greife in die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG ein, weil den Gemeinden durch die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Ebene der Landkreise eine Aufgabe entzogen worden sei. § 23a Abs. 1 und Abs. 3 SchulG beeinträchtigten auch die von Art. 28 Abs. 2 GG garantierte Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung. Zwar blieben die Gemeinden Schulträger; sie könnten aber nicht mehr über Schulstandort, Schulart, Zügigkeit, Klassenstärke oder das angebotene Leistungsspektrum wie etwa Ganztagsschulen entscheiden, da dies durch den Schulnetzplan verbindlich vorgegeben werde.

23

Das Benehmenserfordernis genüge dem aus Art. 28 Abs. 2 GG abzuleitenden Beteiligungsanspruch bei der Hochzonung einer kommunalen Aufgabe nicht. Schulnetzpläne dürften von den Landkreisen allenfalls im Einvernehmen mit den kreisangehörigen Gemeinden aufgestellt werden. Dabei erforderten die Interessen der Gemeinden eine umso stärkere verfahrensrechtliche Einbindung, je enger die jeweilige Aufgabe an die örtliche Gemeinde gebunden sei.

24

2. Die Sächsische Staatsregierung hält die Vorlage für unzulässig (a), jedenfalls für unbegründet (b).

25

a) Das Verwaltungsgericht erfülle die Darlegungsanforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht. Die Ausführungen des Gerichts seien sowohl unzureichend als auch inhaltlich unzutreffend und daher nicht geeignet, die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Normen zu begründen.

26

aa) Das Verwaltungsgericht habe nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die Schulnetzplanung eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft sei. Es hätte insofern zwischen Schulträgerschaft und Schulnetzplanung unterscheiden müssen. Eine Schulnetzplanung im Sinne von § 23a SchulG könne mit Blick auf das landesweit anzustrebende regional ausgewogene Bildungsprogramm nur sinnvoll gelingen, wenn die Planungsaufgaben oberhalb der Ebene kreisangehöriger Gemeinden wahrgenommen würden. Der Gesetzgeber habe mit § 23a SchulG die aus der staatlichen Schulhoheit abzuleitenden staatlichen Planungsaufgaben auf die Landkreise und Kreisfreien Städte übertragen. Auch die demographische Entwicklung spreche dagegen, die Schulnetzplanung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft einzustufen. Diese auch der Gesetzesbegründung zugrunde liegenden Erwägungen seien im Gegensatz zur Auffassung des Verwaltungsgerichts keine reinen Wirtschaftlichkeitserwägungen. Vielmehr könne, wenn die Schülerzahlen im ländlichen Raum zurückgingen und andere Maßnahmen nicht gleich effektiv seien, der Staat ein regional ausgewogenes Bildungsangebot nur durch die Reduzierung der Anzahl von Schulen aufrechterhalten.

27

bb) Das Verwaltungsgericht habe auch einen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht nicht ausreichend begründet.

28

(1) Die Schulnetzplanung könne als vorgelagerte Fachplanung nicht in das kommunale Selbstverwaltungsrecht eingreifen. Der Schulnetzplan lege nur fest, über welche Schulen die Schulträger "Beschlüsse fassen sollen". Diese Entscheidungen orientierten sich an den tatsächlichen Anmeldezahlen eines Schuljahres, seien also unabhängig von den in einem Schulnetzplan enthaltenen mehrjährigen Prognosen. Eine Aussage im Schulnetzplan sei zwar Voraussetzung für einen Entzug der staatlichen Mitwirkung an einer Schule. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe eine Planaussage aber keine unmittelbare Wirkung auf die Schulträgerschaft. Erst deren Umsetzung durch eine am öffentlichen Bedürfnis orientierte Maßnahme der Schulaufsichtsbehörde nach § 24 SchulG könne zur Schließung einer Schule führen.

29

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts würden den Gemeinden auch keine selbständigen Lösungen bei einem Rückgang der Schülerzahlen verwehrt. Es bleibe dem Schulträger überlassen, wie er auf eine sich abzeichnende unzureichende Auslastung einer Schule reagiere. Neben der Schulschließung sei eine Änderung des Schulbezirks oder des Schuleinzugsbereichs denkbar.

30

cc) Schließlich hätte das Verwaltungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung prüfen müssen. Es sei nämlich nichts dafür ersichtlich, dass die in § 23a Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 SchulG näher konkretisierte Schulnetzplanung einer örtlichen Schulentwicklungsplanung entgegenstehe.

31

b) Die Vorlage sei auch unbegründet. Die Schulnetzplanung nach § 23a Abs. 1 SchulG greife nicht in das Selbstverwaltungsrecht der klagenden Gemeinde ein (aa); ein Eingriff wäre jedenfalls aber gerechtfertigt (bb). Auch § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG sei nicht zu beanstanden (cc).

32

aa) Die Schulnetzplanung habe das Ziel, eine dem öffentlichen Bedürfnis entsprechende ausgeglichene Verteilung von Lehrerressourcen und sächlichen und finanziellen Mitteln des Freistaates Sachsen und der Schulträger zu ermöglichen (§ 1 SchulnetzVO). Das zeige, dass es allein um die überörtliche Planung und Koordinierung gehe, die sinnvoll nicht durch kreisangehörige Gemeinden erfolgen könne. Um ein regional ausgewogenes Bildungsangebot sicherzustellen, müsse angesichts der demographischen Entwicklung der Schülerzahlen bereits auf der Grundschulebene überörtlich geplant werden. Demgegenüber falle die "örtliche Schulnetzplanung" im Sinne der Entscheidung über den konkreten Standort einer Schule innerhalb der Gemeinde in den Schutzbereich von Art. 28 Abs. 2 GG und sei den Gemeinden auch verblieben.

33

bb) Ein etwaiger Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie sei jedenfalls gerechtfertigt. Die staatliche Schulhoheit beinhalte die Befugnis zur Organisation, Leitung und Planung des gesamten Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern Bildungsmöglichkeiten entsprechend ihren Fähigkeiten eröffne. Das Spannungsverhältnis zwischen der Selbstverwaltungsgarantie und der staatlichen Schulhoheit sei so aufzulösen, dass den Gemeinden das Recht der Schulträgerschaft zustehe, soweit dieses mit den staatlich allgemein festgelegten Zielen für die Ausgestaltung des Schulwesens vereinbar sei. Ein ausgewogenes Bildungssystem setze gewisse Mindestschülerzahlen voraus. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich anerkannt, dass die kommunale Schulträgerschaft an der Leistungsfähigkeit oder der Größe einer Schule scheitern könne. An diese Maßstäbe knüpfe das sächsische Schulrecht an.

34

cc) Für die Schulart Mittelschule sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine stärkere Beteiligung der Gemeinden an der Schulnetzplanung nicht geboten. Das Verwaltungsgericht lege seiner Auffassung einen Begriff der Volksschule zugrunde, den es seit Jahrzehnten nicht mehr gebe und in Sachsen auch nie gegeben habe. Eine bis zur Klassenstufe 10 gehende Schule, die keine für alle Schüler gemeinsame Schulbildung vorsehe, sei keine Volksschule im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG. Die sächsische Mittelschule habe keinen der Grundschule vergleichbaren örtlichen Bezug.

35

3. Der Landkreis Görlitz hält die Schulnetzplanung auf Landkreisebene angesichts der demographischen Entwicklung für geboten. In seinem Gebiet habe sich die Schülerzahl von 61.198 im Schuljahr 1995/1996 auf 27.766 im Schuljahr 2012/2013 vermindert. Es hätten bereits mehr als 100 Schulen aller Schularten aufgehoben werden müssen, da die erforderliche Mindestschülerzahl nach § 4a SchulG nicht erreicht worden sei. Die Zahl der Schulen in öffentlicher Trägerschaft sei in diesem Zeitraum von 210 auf 99 zurückgegangen. Von den 54 öffentlichen Grundschulen im Landkreis verteilten sich 28 Grundschulen auf die neun Städte und Gemeinden, die aus Zusammenschlüssen entstanden seien. Für die übrigen 45 Kommunen verblieben nur 26 Grundschulen, die dementsprechend gemeindegebietsübergreifend, aber zugleich möglichst wohnortnah errichtet seien.

V.

36

Einen Antrag der Stadt Seifhennersdorf auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der darauf abzielte, entgegen der Festsetzung im Schulnetzplan die Einrichtung einer 9. Klasse der Mittelschule im Schuljahr 2014/2015 zu ermöglichen, hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 4. März 2014 zurückgewiesen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. März 2014 - 2 BvL 2/13 -, NVwZ-RR 2014, S. 369 f.).

B.

37

Die Vorlage des Verwaltungsgerichts Dresden ist zulässig. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG hat ein Gericht das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist zu begründen, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm die Vorschrift unvereinbar ist. Zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm muss dargelegt sein, dass und aus welchen Gründen das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle der Ungültigkeit. Das Gericht muss sich dabei mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der vorgelegten Rechtsvorschrift von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 58, 300 <318>; 105, 61 <67>; 122, 151 <173>). Was die verfassungsrechtliche Beurteilung der zur Prüfung gestellten Norm angeht, muss das vorlegende Gericht von ihrer Verfassungswidrigkeit überzeugt sein und die für diese Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar darlegen (vgl. BVerfGE 78, 165 <171 f.>; 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 198 <201>; 93, 121 <132>). Diesem Begründungserfordernis genügt der Vorlagebeschluss.

I.

38

Der Vorlagebeschluss lässt mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, dass das Verwaltungsgericht bei Gültigkeit der vorgelegten Normen anders entscheiden würde als bei deren Ungültigkeit.

39

Falls § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG nichtig ist, wäre der im Ausgangsverfahren angegriffene Verwaltungsakt ohne Rechtsgrundlage und unter Verstoß gegen Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ergangen und damit rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht geht davon aus, dass die Schulnetzplanung für die Grund- und Mittelschulen eine unter den Schutz von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG fallende Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft ist. Ihre Hochzonung auf die Ebene der Landkreise stelle einen Aufgabenentzug zu Lasten der Gemeinden dar, der den Gewährleistungsbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verletze. Auch die Beschränkung der gemeindlichen Beteiligung auf ein bloßes Benehmenserfordernis durch § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG sei unzureichend. Die Nichtigkeit dieser Bestimmung habe zur Folge, dass der in der Hochzonung der Schulnetzplanung liegende Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden ebenfalls einen Verfassungsverstoß darstelle. Auf dem Boden dieser Auffassung verletzt der angegriffene Genehmigungsbescheid die Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihrer subjektiven Rechtsstellungsgarantie aus Art. 28 Abs. 2 GG, so dass der Klage stattzugeben wäre (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

40

Ist § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG hingegen verfassungsgemäß, so wäre die Klage nach Ansicht des vorlegenden Gerichts als unzulässig abzuweisen. Fiele die Schulnetzplanung nicht in den Kernbereich kommunaler Selbstverwaltung, so könnte der Gesetzgeber den Gemeinden diese Aufgabe ohne weiteres entziehen und auch frei darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang er die Gemeinden an der Aufgabe des Staates oder der Gemeindeverbände beteiligt; das Benehmenserfordernis in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG stellte dann eine bloße Ordnungsvorschrift dar, die einer sachgerechten Entscheidungsfindung diene, nicht jedoch der Wahrung individueller Rechte. Auf der Basis dieser - an die ältere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anknüpfenden (vgl. z.B. BVerfGE 22, 180 <205>; 23, 353 <365 f.>; 26, 172 <180>; 52, 95 <116>) - Rechtsauffassung könnte die Klägerin nicht geltend machen, dass der angegriffene Bescheid wegen Verletzung des in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG verankerten Benehmenserfordernisses rechtswidrig sei und sie in ihren Rechten verletze (§§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

41

Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 2, 181 <190 f., 193>; 88, 187 <194>; 105, 61 <67>, 129, 186 <203>). Letzteres ist hier nicht der Fall, auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip entnimmt, das der Gesetzgeber zu beachten hat und aus dem sich ein prinzipieller Vorrang der Gemeindeebene vor der Kreisebene ableiten lässt, der auch bei der Auslegung kommunalrechtlicher Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen Berücksichtigung verlangt (vgl. BVerfGE 79, 127 <150 ff.>; 107, 1 <12>; 110, 370 <399 ff.>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, juris, Rn. 114). Die - für die Auslegung von § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG - stattdessen auf die Zuordnung einer Aufgabe zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie abstellende Auffassung des Verwaltungsgerichts ist jedenfalls nicht unvertretbar und auch in höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Februar 2006 - 6 P 4/05 -, SächsVBl 2007, S. 10) und Literatur (z.B. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 933) noch anzutreffen.

II.

42

Das Verwaltungsgericht hat ferner seine für die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar dargelegt (vgl. BVerfGE 86, 71 <77 f.>; 88, 70 <74>; 88, 187 <194>). Es setzt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von kommunaler Schulträgerschaft und staatlicher Schulaufsicht (vgl. BVerfGE 26, 228 ff.) eingehend auseinander und hat die - soweit ersichtlich - bislang einzige landesverfassungsgerichtliche Entscheidung zur Übertragung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene (Urteil des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg vom 17. Juli 1997 - VfGBbg 1/97 -, LVerfGE 7, 74 ff.) herangezogen. Auf die für Hochzonung kommunaler Aufgaben maßgebliche, allerdings das Abfallrecht betreffende Rastede-Entscheidung (BVerfGE 79, 127 ff.) geht es zumindest am Rande ein.

C.

43

§ 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG ist mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.

I.

44

1. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sichert den Gemeinden einen grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Aufgabenbereich (a) sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte (b).

45

a) Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben (vgl. BVerfGE 8, 122 <134>; 50, 195 <201>; 52, 95 <120>; 79, 127 <151 f.>; 110, 370 <400>). Eine inhaltlich umrissene Aufgabengarantie enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG allerdings nicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <146>; 107, 1 <12>; Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 46, Rn. 114).

46

Die örtlichen Bezüge einer Aufgabe und deren Gewicht für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung lassen sich nicht an scharf konturierten Merkmalen messen. Vielmehr muss bei ihrer Bestimmung der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung Rechnung getragen werden (vgl. BVerfGE 59, 216 <226>; 91, 228 <238>; 125, 141 <167>). Es kommt insoweit darauf an, ob eine Aufgabe für das Bild der typischen Gemeinde charakteristisch ist.

47

Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG enthält jedoch keine Garantie des Status quo im Sinne eines einmal erreichten Aufgabenbestands (BVerfGE 78, 331<340>). Die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft bilden keinen ein für alle Mal feststehenden Aufgabenkreis, weil sich die örtlichen Bezüge einer Angelegenheit mit ihren sozialen, wirtschaftlichen oder technischen Rahmenbedingungen wandeln (vgl. VerfGH NRW, Beschluss vom 13. Januar 2004 - VerfGH 16/02 -, DÖV 2004, 662 <663>; Burgi, Kommunalrecht, 4. Aufl. 2012, S. 54; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 51 - November 2012 -; Röhl, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, S. 27 f.).

48

Um in den Schutzbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zu fallen, muss eine Aufgabe allerdings nicht hinsichtlich aller ihrer Teilaspekte eine örtliche Angelegenheit darstellen; sie kann auch nur teilweise als eine solche der örtlichen Gemeinschaft anzusehen, im Übrigen jedoch überörtlicher Natur sein (vgl. BVerfGE 110, 370 <401>). Weist eine Aufgabe örtliche und überörtliche Aspekte auf, muss der Gesetzgeber diese bei der Ausgestaltung der Selbstverwaltungsgarantie angemessen berücksichtigen.

49

b) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Gemeinden nicht nur die Allzuständigkeit hinsichtlich aller örtlichen Angelegenheiten. Im Bereich der ihnen vom Staat übertragenen Aufgaben vermittelt er auch die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte. Eine umfassende staatliche Steuerung der kommunalen Organisation wäre mit dieser verfassungsrechtlich garantierten Eigenverantwortlichkeit unvereinbar (vgl. BVerfGE 91, 228 <239>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 117). Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Gemeinden insbesondere die Organisationshoheit als das Recht, über die innere Verwaltungsorganisation einschließlich der bei der Aufgabenwahrnehmung notwendigen Abläufe und Zuständigkeiten eigenverantwortlich zu entscheiden. Dies schließt die Befugnis ein, selbst darüber zu befinden, ob eine bestimmte Aufgabe eigenständig oder gemeinsam mit anderen Verwaltungsträgern wahrgenommen wird (sog. Kooperationshoheit, vgl. BVerfGE 119, 331 <362>).

50

2. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert die kommunale Selbstverwaltung "im Rahmen der Gesetze". Bei der somit gebotenen gesetzlichen Ausgestaltung steht dem Gesetzgeber jedoch keine ungebundene Gestaltungsfreiheit zu (vgl. BVerfGE 110, 370 <400>). Die Bedeutung der Gemeinden für den demokratischen Staatsaufbau (a) bedingt einen grundsätzlichen Vorrang der kommunalen Aufgabenzuständigkeit (b).

51

a) Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung ist Ausdruck der grundgesetzlichen Entscheidung für eine dezentral organisierte und bürgerschaftlich getragene Verwaltung.

52

aa) Art. 28 Abs. 1 und Abs. 2 GG konstituieren die Gemeinden als einen wesentlichen Bestandteil der staatlichen Gesamtorganisation; sie sind ein Teil des Staates, in dessen Aufbau sie integriert und mit eigenen Rechten ausgestattet sind (vgl. BVerfGE 79, 127 <148 f.>; 83, 37 <54>). Indem der Verfassungsgeber die gemeindliche Selbstverwaltung in den Aufbau des politisch-demokratischen Gemeinwesens des Grundgesetzes eingefügt und - anders als die Reichsverfassung von 1849 (§ 184), die Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 127) oder die Bayerische Verfassung (Art. 11) - nicht als Grundrecht, sondern als institutionelle Garantie ausgestaltet hat, hat er ihr eine spezifisch demokratische Funktion beigemessen (vgl. BVerfGE 47, 253 <275 ff.>; 91, 228 <244>). Das Bild der Selbstverwaltung, wie sie der Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 GG zugrunde liegt, wird daher maßgeblich durch das Prinzip der Partizipation geprägt. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet ihrer Intention nach Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen Angelegenheiten, die die örtliche Gemeinschaft zur eigenverantwortlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben zusammenschließt mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die geschichtliche und örtliche Eigenart zu wahren (vgl. BVerfGE 11, 266 <275 f.>). Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG fordert für die örtliche Ebene insofern eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermöglicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <150>; 91, 228 <238>; 107, 1 <12>). Hierfür gewährleistet die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung den Gemeinden einen eigenen Aufgabenbereich sowie die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenerfüllung und sichert so die notwendigen Bedingungen einer wirksamen Selbstverwaltung.

53

bb) Dem Wesen der institutionellen Garantie entsprechend bezieht sich der Schutz des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf die individuelle Gemeinde, sondern ist abstrakt-generell zu verstehen. Vor diesem Hintergrund kommt es bei der Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nicht darauf an, ob die Verwaltungskraft einer Gemeinde für die Bewältigung der Aufgabe tatsächlich ausreicht (vgl. BVerfGE 79, 127 <151 f.>; 110, 370 <400>). Entscheidend ist, ob eine Aufgabe in gemeindlicher Trägerschaft bei typisierender Betrachtung eine sachangemessene, für die spezifischen Interessen der Einwohner förderliche und auch für die Wahrnehmung anderer Gemeindeaufgaben notwendige Erfüllung finden kann. Auch die Finanzkraft einzelner Gemeinden hat auf die Bestimmung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft grundsätzlich keinen Einfluss; vielmehr muss der Staat gemäß Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG den Gemeinden gegebenenfalls die Mittel zur Verfügung stellen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen (vgl. ThürVerfGH, Urteil vom 21. Juni 2005 - VerfGH 28/03 -, NVwZ-RR 2005, S. 665 <666 f.>).

54

b) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG statuiert ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden (vgl. dazu BVerfGE 79, 127 <150 f.>; 83, 363 <383>; 91, 228 <236>; 110, 370 <400>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 114). Der Entzug einer solchen Angelegenheit unterliegt strengen Rechtfertigungsanforderungen (aa) und findet seine Grenze in einem unantastbaren Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie (bb).

55

aa) Eingriffe in den von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Aufgabenbestand unterliegen den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (vgl. BVerfGE 76, 256 <359>; 80, 109 <119 f.>; 108, 129 <136>) auch im Staatsorganisationsrecht dort Bedeutung erlangen kann, wo Träger öffentlicher Gewalt mit Rechten gegenüber dem Staat ausgestattet sind. Das ist bei der Ausgestaltung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch den Gesetzgeber der Fall (vgl. BVerfGE 79, 127 <143 ff., 154>; 103, 332 <367>; 119, 331 <363>; 125, 141 <167 f.>; siehe auch BbgVerfG, LVerfGE 11, 99 <111>; VerfGH NRW, OVGE 46, 295 <310>; VerfG LSA, LVerfGE 17, 437 <446>; NdsStGH, OVGE 50, 497 <506 f.>).

56

(1) Steht der Entzug einer Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft im Raum, wandelt sich die für institutionelle Garantien typische Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers praktisch zum Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfGE 79, 127 <143>; 107, 1 <12>; 110, 370 <402>). Gesetzliche Regelungen, die den Gemeinden Aufgaben entziehen, sind auf ihre Vereinbarkeit mit dem grundsätzlichen Zuständigkeitsvorrang zugunsten der Kommunen zu prüfen, wenn sie Bezüge zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft aufweisen. Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist dabei umso enger und die verfassungsgerichtliche Kontrolle umso intensiver, je mehr die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden als Folge der gesetzlichen Regelung an Substanz verliert (vgl. BVerfGE 79, 127 <154>).

57

(2) Der Gesetzgeber hat die widerstreitenden Belange der Verwaltungseffizienz und Bürgernähe in einen vertretbaren Ausgleich zu bringen. Dabei muss er nicht jeder einzelnen Gemeinde, auch nicht jeder insgesamt gesehen unbedeutenden Gruppe von Gemeinden, Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>). Auch wenn die Verwaltungskraft der einzelnen Gemeinde grundsätzlich ohne Bedeutung für die Bestimmung der örtlichen Angelegenheiten ist, können die Aufgaben nicht für alle Gemeinden unabhängig von ihrer Einwohnerzahl, Ausdehnung und Struktur gleich sein (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>). Die Gemeinden sind Teil der staatlichen Verwaltung und dem Gemeinwohl verpflichtet. Unbedingten Vorrang vor den Interessen des Gesamtstaats kann ihr Interesse an einer möglichst weit gehenden Zuständigkeitszuweisung nicht beanspruchen (vgl. BVerfGE 110, 370 <401>). Trotz örtlicher Bezüge ist es deshalb nicht ausgeschlossen, dass eine Aufgabe, die einzelne größere Gemeinden in einem Landkreis auf örtlicher Ebene zu erfüllen vermögen, für andere Teile des Landkreises nur überörtlich erfüllbar ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 7 C 11935/97 -, juris, Rn. 56; Lange, Kommunalrecht, 2013, S. 40 f.).

58

(3) Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG konstituiert ein Regel-Ausnahmeverhältnis, wonach der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen darf, vor allem, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration - etwa im Interesse der Übersichtlichkeit der öffentlichen Verwaltung - scheidet als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus; denn dies zielte ausschließlich auf die Beseitigung eines Umstandes, der gerade durch die vom Grundgesetz gewollte dezentrale Aufgabenansiedlung bedingt wird (vgl. BVerfGE 79, 127 <153>). Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigen eine "Hochzonung" erst, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde. Auch wenn eine zentralistisch organisierte Verwaltung rationeller und billiger arbeiten könnte, setzt die Verfassung diesen ökonomischen Erwägungen den politisch-demokratischen Gesichtspunkt der Teilnahme der örtlichen Bürgerschaft an der Erledigung ihrer öffentlichen Aufgaben entgegen und gibt ihm den Vorzug. Der Staat ist daher zunächst darauf beschränkt sicherzustellen, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen; dass andere Aufgabenträger in größeren Erledigungsräumen dieselbe Aufgabe insgesamt wirtschaftlicher erledigen könnten, gestattet - jedenfalls grundsätzlich - keinen Aufgabenentzug (vgl. BVerfGE 79, 127 <153 f.>).

59

bb) Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers findet seine Grenze im Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie. Mit Blick auf die Aufgabengarantie zählt zum Kernbereich allerdings kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Allzuständigkeit als die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft anzunehmen, die nicht anderen Verwaltungsträgern zugeordnet sind (vgl. BVerfGE 79, 127 <146>; 107, 1 <11 f.>). Im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung zählen vor allem die gemeindlichen Hoheitsrechte (Gebiets-, Planungs-, Personal-, Organisations- und Finanzhoheit), die der Staat den Gemeinden im Interesse einer funktionsgerechten Aufgabenwahrnehmung garantieren muss, zu dem durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten Kernbereich (vgl. BVerfGE 52, 95 <117>; Löwer, in: von Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 73). Das gilt jedoch nur in ihrem Grundbestand (vgl. BVerfGE 103, 332 <366>). Insofern verbietet der Schutz des Kernbereichs von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG Regelungen, die eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit der Kommunen ersticken würden (vgl. BVerfGE 91, 228 <239>).

60

3. Werden Aufgaben mit relevanter kommunaler Bedeutung auf eine andere staatliche Ebene verlagert, kann sich aus dem - auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG übertragbaren - Gedanken des Rechtsgüterschutzes durch Verfahren (vgl. BVerfGE 56, 298 <319 ff.>; 76, 107 <122>; 86, 90 <107 f.>; 107, 1 <24 f.>; BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 47, Rn. 112) - ein Mitwirkungsrecht der betroffenen Kommunen ergeben. Das gilt insbesondere, wenn und soweit eine aus dem Selbstverwaltungsrecht abgeleitete Rechtsposition durch die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben gegenwärtig oder künftig betroffen werden kann (vgl. BVerwGE 87, 228 <232 ff.>). So ist etwa bei fachplanerischen Entscheidungen, die bedeutsame Auswirkungen auf eine Gemeinde haben, deren vorherige Beteiligung zwingend (vgl. BVerwGE 90, 96 <100>; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rn. 60 - November 2012). Die Beteiligung ist umso wirksamer auszugestalten, je gewichtiger das berührte Gemeindeinteresse ist. Je nach Regelungsgegenstand reicht das Mitwirkungsrecht von einem Anhörungs-, Mitberatungs- oder Vorschlagsrecht bis zur kondominialen Verwaltung (vgl. Lange, Kommunalrecht, 2013, S. 42 f.).

II.

61

Nach diesen Maßstäben ist § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG verfassungswidrig, da er das Selbstverwaltungsrecht der kreisangehörigen Gemeinden nicht hinreichend berücksichtigt. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden grundsätzlich das Recht, Träger der Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), zu sein, und damit auch ein eigenständiges Recht der Standortplanung (1.). In dieses Recht greift die Zuweisung der Schulnetzplanung an die Landkreise ein (2.), ohne dass ein hinreichender Rechtfertigungsgrund zu erkennen ist (3.). Jedenfalls fehlt eine ausreichende verfahrensrechtliche Absicherung der gemeindlichen Zuständigkeit (4.).

62

1. Die Schulträgerschaft für die Schulen, die einen der allgemeinen Schulpflicht entsprechenden Bildungsgang anbieten und in der Vergangenheit regelmäßig als eigenständige "Volksschulen" organisiert waren, ist als historisch gewachsene Gemeindeaufgabe eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft (a). Sie umfasst Grund- und Hauptschulen, auch wenn diese in andere Schulformen integriert sind (b). Soweit eine Gemeinde diese Aufgabe nicht selbständig wahrnehmen kann oder will, gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch die Möglichkeit, sie in interkommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen (c).

63

a) Die Trägerschaft der Gemeinden für die Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), entspricht der überkommenen Zuständigkeitsverteilung im Schulwesen und wird von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützt (aa). Sie erstreckt sich auf die äußeren Schulangelegenheiten (bb). Das gilt auch für den Freistaat Sachsen (cc).

64

aa) Die Schulträgerschaft zählt zum historisch gewachsenen Aufgabenbestand der Kommunen. Schon nach §§ 29 und 34 des Zwölften Titels des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 oblag die Unterhaltung der Schulgebäude und der Lehrer der gemeindlichen Schulen "sämtlichen Hausvätern" beziehungsweise "Einwohnern" "jedes Ortes". Daran anknüpfend wies § 179 Buchstabe b der Preußischen Städteordnung von 1808 die äußeren Schulangelegenheiten ausdrücklich den Kommunen zu (vgl. Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <332 ff.>; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 52). Die Weimarer Reichsverfassung enthielt zwar keine ausdrückliche Zuweisung der äußeren Schulangelegenheiten. Damit war aber keine Abkehr von der überkommenen Aufgabenverteilung im Schulwesen verbunden (vgl. Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838>). Auch unter dem Grundgesetz hat sich daran nichts geändert.

65

Die Trägerschaft von Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen (Grund- und Hauptschulen), den früheren Volksschulen, zählt zu den von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden (vgl. OVG Frankfurt/Oder, Urteil vom 24. April 2002 - 1 D 71/00 -, LKV 2003, S. 85 <86>; Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <341>; Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 128). Sie ist eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft, weil die grundsätzlich für alle Kinder vorgeschriebene Schulpflicht jedenfalls den Besuch der Grund- und Hauptschule verlangt und Grund- und Hauptschule deshalb zu denjenigen Bedürfnissen und Interessen zählen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben (vgl. BVerfGE 8, 122 <134>; 50, 195 <201>; 52, 95 <120>; 79, 127 <151 f.>; 83, 363 <384>; 86, 148 <220 f.>; 110, 370 <400>), die also den Gemeindeeinwohnern als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der Gemeinde betreffen (vgl. BVerfGE 79, 127 <151 f.>; 83, 363 <384>; 86, 148 <220 f.>; 110, 370 <400>; zuletzt BVerfG, Urteil vom 7. Oktober 2014 - 2 BvR 1641/11 -, Umdruck S. 63, Rn. 163). Die kommunale Trägerschaft für die äußeren Schulangelegenheiten der Volksschulen ist daher auch der Regelfall (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Abs. 1 Rn. 51 - Juni 2006 -; Boysen, in: von Münch/Kunig, GG, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 7 Rn. 50; Luthe, Bildungsrecht, 2003, S. 128; s. auch Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <339 ff.>).

66

bb) Die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Schulträgerschaft der Gemeinden für die Grund- und Hauptschulen erstreckt sich auf die äußeren Schulangelegenheiten. Im Gegensatz zu den dem Staat zugewiesenen inneren Schulangelegenheiten, die sämtliche Bildungs- und Erziehungsfragen betreffen, also die Fragen, "was und wie durch welche Lehrkräfte von wem gelernt werden soll" (Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838>), erfassen die äußeren Schulangelegenheiten die räumlich-sächlichen Voraussetzungen der Beschulung einschließlich Errichtung, Änderung und Aufhebung von Schulen, deren Verwaltung sowie die Beschaffung und Bereitstellung der Lernmittel (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 51 - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 48; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <837 f.>).

67

Zu den mit der Schulträgerschaft verbundenen Aufgaben gehört namentlich die - in der Regel unter Mitwirkung des Staates (§ 21 Abs. 3 und § 24 SchulG; zu anderen Ländern Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <341>) zu treffende - Entscheidung, ob eine Schule eingerichtet oder geschlossen werden soll. Diese Entscheidung geht über die bloße Bestimmung eines konkreten Standorts innerhalb des Gemeindegebiets weit hinaus. Der Schulträger hat auch darüber zu befinden, ob ein öffentliches Bedürfnis für den Betrieb einer Schule auf seinem Gebiet besteht, und eine Schule einzurichten, fortzuführen oder zu schließen ist (vgl. § 21 Abs. 2 SchulG; vgl. auch § 27 Abs. 2 SchulG BW; § 99 Abs. 2 Satz 1 BbgSchulG; § 137 HSchulG; § 13 Abs. 2 Satz 1 ThürSchulG). Er muss dazu unter anderem Daten zur Bevölkerungsstruktur erheben, den Bestand geeigneter Schulgebäude sichten, die örtlichen Gegebenheiten bewerten, möglichst gefahrenfreie Schulwege bestimmen und die konkreten Standorte innerhalb der Gemeinde festlegen (vgl. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 964; Winkler, DÖV 2011, S. 686 <687>).

68

cc) Das gilt auch für den Freistaat Sachsen (§ 21 Abs. 1 SchulG). Unter die Schulträgerschaft fallen hier die Errichtung und Erhaltung der Schulgebäude und Schulräume sowie ihre Ausstattung mit den erforderlichen Lehr- und Lernmitteln. Der Schulträger trägt die sächlichen Schulkosten (§ 23 Abs. 2 SchulG) und muss eine Schule einrichten, wenn ein öffentliches Bedürfnis dafür besteht (§ 21 Abs. 2 SchulG).

69

b) Die Zuständigkeit der Gemeinden für die äußeren Schulangelegenheiten der "Volksschulen" erfasst die Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht von in der Regel neun Schuljahren dienen. Dies gilt neben der Grundschule insbesondere auch für die Hauptschule (aa). Schulorganisatorische Entscheidungen wie die Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zu Regel- oder Gesamtschulen lösen die Hauptschule aus der "Volksschule" in diesem Sinne nicht heraus (bb).

70

aa) Mit dem in Art. 7 Abs. 5 GG verwendeten, heute kaum noch gebräuchlichen Begriff der Volksschule knüpft das Grundgesetz an die Schulbestimmungen der Art. 145 ff. WRV an (vgl. BVerfGE 88, 40 <49 f.>), die die grundsätzlich der allgemeinen Schulpflicht dienende Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr unterschieden. Die Weimarer Reichsverfassung etablierte die Volksschule als Einheitsschule und beseitigte die bei ihrem Erlass anzutreffende Vielfalt der sogenannten niederen Schulformen, die sich in Bezeichnungen wie Bezirksschule, Bürgerschule, höhere Bürgerschule und anderen widerspiegelte und hinsichtlich der sozialen Herkunft der Schulkinder und der Leistungsziele erhebliche Unterschiede aufwies (vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 1946, S. 330 f.). Im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1849 (§ 153 RV 1849) statuierte Art. 145 Satz 1 WRV eine allgemeine Schulpflicht, die nicht mehr durch häuslichen Unterricht, sondern nur durch Anwesenheit in der Schule erfüllt werden konnte. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baute das mittlere und höhere Schulwesen auf (Art. 146 Abs. 1 Satz 2 WRV). Dabei stand die Volksschule als Teil des dreigliedrigen Schulaufbaus den weiterführenden mittleren und höheren Schulen gegenüber. In heutiger Terminologie umfasst sie sowohl die Grundschule als auch die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienende Hauptschule (vgl. BVerfGK 18, 469 <473>; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 122 - Juni 2007 -; Robbers, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 1, 6. Aufl. 2010, Art. 7 Rn. 227).

71

bb) Die Zuordnung der Hauptschule zur Volksschule im Sinne von Art. 7 Abs. 5 GG wie auch die Zuordnung der äußeren Schulangelegenheiten zu den Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Landesgesetzgeber die "Volksschule" mit anderen Schularten, insbesondere der Realschule, zu einer Mittel-, Regel-, Regional- oder Oberschule oder einer ähnlich bezeichneten Schulform zusammenlegt. Zwar überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber weitgehend die Entscheidung darüber, welche Schulformen er einführen will (vgl. BVerfGE 41, 29 <44 ff.>). Die in Art. 7 Abs. 5 GG enthaltene Wertentscheidung für eine grundsätzlich alle Schüler umfassende Volksschule hat er jedoch ebenso zu beachten wie die verfassungsrechtliche Rolle der Gemeinden bei der Schulträgerschaft (vgl. auch BVerfGE 34, 165 <183>; 41, 29 <46 f.>).

72

Der Landesgesetzgeber hat diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass die Hauptschule innerhalb der genannten Schularten ein eigenständiger Ausbildungsgang geblieben ist, der in der Regel nach einer gemeinsamen Orientierungsphase in einem abschlussbezogenen differenzierten Unterrichtsangebot mündet (vgl. etwa § 6 Abs. 1 und 2 SchulG; siehe auch § 6 Abs. 1 ThürSchulG; § 16 Abs. 2 SchulG MV).

73

c) Der Zuordnung der Schulträgerschaft für Grund- und Hauptschulen zu den Gemeinden steht nicht entgegen, dass manche nicht mehr über ein ausreichendes Schüleraufkommen für eine eigene Grund- oder Hauptschule verfügen. Die Verwaltungskraft einer einzelnen Gemeinde ist für Umfang und Reichweite des Gewährleistungsbereichs von Art. 28 Abs. 2 GG grundsätzlich nicht entscheidend (vgl. oben Rn. 53). Andererseits hängt es durchaus von der Größe einer Gemeinde ab, ob sie die Aufgabe des Schulträgers tatsächlich erfüllen kann, schon weil sich ihre Zuständigkeit - ihrer Natur als Gebietskörperschaft entsprechend - in der Regel auf die eigenen Einwohner beschränkt. Es gehört dagegen nicht zu den durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Aufgaben der Gemeinde, schulische Angebote für Einwohner von Nachbarkommunen einzurichten und vorzuhalten (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 18. Juli 2013 - 12 K 780/13 -, juris, Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. August 2014 - 9 S 1722/13 -, juris, Rn. 67).

74

Genügen Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft einer Gemeinde nicht, um die mit der Schulträgerschaft einer Grund- oder Hauptschule verbundenen Aufgaben wahrzunehmen, gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG den Kommunen jedoch das Recht, diese Aufgabe in kommunaler Zusammenarbeit zu erfüllen, bevor der Staat sie an sich zieht (vgl. BVerfGE 26, 228 <239>; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 53; vgl. auch Geis, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2014, S. 41).

75

2. Die Zuweisung der Schulnetzplanung an die Kreisebene durch § 23a Abs. 1 Satz 1 SchulG greift in die durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Befugnis der Gemeinden ein, die Schulträgerschaft der Grund- und Hauptschulen in eigener Verantwortung wahrzunehmen, weil sie wesentliche Aspekte der Schulträgerschaft betrifft und diese weitgehend aushöhlt.

76

Nach § 23a Abs. 5 SchulG können Statusentscheidungen über Schulen - wie die Aufhebung oder der Entzug der staatlichen Mitwirkung - nur auf der Grundlage eines staatlich genehmigten Schulnetzplans erfolgen. Damit ist die Wahrnehmung der mit der Schulträgerschaft für die Grund- und Hauptschulen verbundenen Aufgaben weitgehend von den Festsetzungen des Schulnetzplanes abhängig, so dass sie durch den jeweiligen Landkreis und den Freistaat Sachsen maßgeblich gesteuert werden können. Das grundlegende Recht des kommunalen Schulträgers, im Rahmen der allgemeinen schulrechtlichen Vorgaben über Bestand, Standort und inhaltliche Akzentsetzung einer solchen Schule selbst zu entscheiden, wird dadurch weitgehend entleert. Wesentliche Statusentscheidungen werden - wie im Fall von § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG - auf einer anderen Ebene getroffen, während dem Schulträger lediglich die Möglichkeit verbleibt, seine Vorstellungen in dem von anderer Stelle durchzuführenden Planungsverfahren geltend zu machen.

77

Das geht über die Schulaufsicht weit hinaus. Zwar bedürfen auch Statusentscheidungen des Schulträgers regelmäßig der Zustimmung des Landes. Die im Rahmen der Schulaufsicht ergehenden Maßnahmen sind - angesichts der Bedeutung der Grund- und Hauptschulen für die kommunale Selbstverwaltung - jedoch auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 51 f. - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 44, 48 ff.).

78

3. Hinreichende Gründe für die Hochzonung der Schulnetzplanung auf die Kreisebene folgen weder aus der staatlichen Schulaufsicht (a), noch lassen sie sich der Gesetzesbegründung entnehmen (b).

79

a) Die in Art. 7 Abs. 1 GG dem Staat zugewiesene Schulaufsicht (aa) vermittelt diesem gegenüber den Gemeinden kein umfassendes Bestimmungsrecht in allen schulischen Angelegenheiten (bb). § 23a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 SchulG sind keine Ausprägung der staatlichen Schulaufsicht (cc).

80

aa) Zur Schulaufsicht im Sinne von Art. 7 Abs. 1 GG zählt die Befugnis zur zentralen Ordnung und Organisation des Schulwesens (vgl. BVerfGE 26, 228 <238>; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 49 - Juni 2006 -). Der Staat hat ein funktionierendes Schulsystem zu gewährleisten, das jedem Schüler entsprechend seiner Begabung eine Schulausbildung ermöglicht. Dem Staat stehen deshalb Möglichkeiten der Einwirkung auf Errichtung, Änderung oder Aufhebung der einzelnen öffentlichen Schule zu (vgl. BVerfGE 26, 228 <238>).

81

bb) Wie andere Bestimmungen des Grundgesetzes, insbesondere des ersten Abschnitts (Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 3 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG), schließt der in Art. 7 Abs. 1 GG verwendete Begriff des Staates die Kommunen ein. Die staatliche Schulhoheit ist insofern nicht als Gegensatz zwischen Staat und Gemeinden zu verstehen, sondern in Abgrenzung zur ursprünglich kirchlichen Vormachtstellung im Schulwesen (vgl. Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rn. 3 - Juni 2006 -; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 52; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <838 f.>). Die Reichsverfassung von 1849 stellte in § 153 klar, dass das Unterrichts- und Erziehungswesen unter der Oberaufsicht des Staates stehen und, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der Geistlichkeit entzogen sein sollten. Dementsprechend betraute auch Art. 144 Satz 2 WRV "fachmännisch vorgebildete Beamte" mit der Schulaufsicht und grenzte sich so von der vormals üblichen Beaufsichtigung durch Geistliche ab (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Henneke, Stärkung kommunaler Bildungskompetenzen, 2011, S. 63 ff. <70>; Ennuschat, Die Verwaltung, 2012, S. 331 <332 ff.>; Thiel, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 7 Rn. 33; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <841>). Art. 144 Satz 1 WRV stellte das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates, der die Gemeinden daran beteiligen konnte.

82

Auch wenn Art. 7 Abs. 1 GG im Gegensatz zu Art. 144 Satz 1 WRV die Gemeinden im Zusammenhang mit der Schulaufsicht nicht nennt, hat sich an dieser organisatorischen Ausgestaltung der Zuständigkeiten im Schulwesen insoweit nichts geändert (vgl. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 929). Das Grundgesetz hat die Gemeinden in den Staatsaufbau integriert und sie zugleich mit eigenen Rechten ausgestattet. Ein umfassender staatlicher Machtanspruch gegenüber den Kommunen im Bereich der Schulaufsicht ist damit nicht vereinbar. Länder und Gemeinden üben - jedenfalls bei den äußeren Schulangelegenheiten - die Schulaufsicht vielmehr gemeinsam aus und sind dabei zum Zusammenwirken verpflichtet (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 7 Rn. 51 f.; Uhle, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 7 Rn. 15 - Juni 2014 -; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 7 Rn. 4; Kloepfer, DÖV 1971, S. 837 <841>; a.A. Rux/Niehues, Schulrecht, 5. Aufl. 2013, Rn. 929).

83

cc) Das Spannungsverhältnis zwischen dem aus Art. 7 Abs. 1 GG folgenden zentralen Bestimmungsrecht des Staates in schulischen Angelegenheiten und dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden im Bereich der Grund- und Hauptschulen ist dahin aufzulösen, dass den Gemeinden die Wahrnehmung der äußeren Schulangelegenheiten zusteht, soweit diese mit den vom Staat allgemein festgelegten Zielen für die Ausgestaltung des Schulwesens vereinbar ist (vgl. BVerfGE 26, 228 <239 f.>). Gesetzliche Anforderungen, etwa Vorgaben von Mindestzahlen (vgl. § 4a Abs. 1 SchulG), kann der Staat festsetzen und im Wege der Rechtsaufsicht ebenso durchsetzen wie die ordnungsgemäße Erledigung der mit der Schulträgerschaft verbundenen Aufgaben. Erfüllt eine Gemeinde jedoch die allgemeinen schulrechtlichen Vorgaben für den Betrieb einer Grund- oder Hauptschule, garantiert ihr Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG bei der Schulnetzplanung jedenfalls ein wirksames Mitentscheidungsrecht.

84

b) Andere Gründe, die eine Hochzonung der Schulnetzplanung für Grund- oder Hauptschulen rechtfertigen könnten, sind derzeit nicht ersichtlich. Der in der Gesetzesbegründung angeführte Befund, dass die Gemeinden überwiegend davon abgesehen hätten, Schulnetzpläne aufzustellen, belegt nur, dass sie diese Aufgabe nicht wahrgenommen haben, lässt aber nicht den Schluss zu, dass sie dazu nicht in der Lage wären (vgl. BbgVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1997 - VfGBbg 1/97 -, LKV 1997, S. 449 <453>). Insofern handelt es sich bei der behaupteten Überforderung der Gemeinden allenfalls um eine Effizienzüberlegung, die es für sich genommen jedenfalls nicht rechtfertigt, die Schulnetzplanung allen kreisangehörigen Gemeinden unterschiedslos zu entziehen. Ebenso wenig sind unterbliebene Entscheidungen über Schulschließungen ein Beleg dafür, dass die Gemeinden nicht in der Lage wären, für ihr jeweiliges Gebiet - oder abgestimmt mit Nachbargemeinden - eine Schulnetzplanung vorzunehmen, solange dem Freistaat Sachsen mit der Aufsicht ausreichend Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um die Beachtung der gesetzlichen Anforderungen zur Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen und gesetzeskonformen Schulbetriebs sicherzustellen.

85

4. Eine Schulnetzplanung auf Kreisebene für die Grund- und Mittelschulen ist mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nach alledem nur vereinbar, wenn sie den kreisangehörigen Gemeinden ein wirksames Mitentscheidungsrecht einräumt. Das in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehene Benehmenserfordernis genügt diesen Vorgaben nicht (a). Bei der Aufstellung von Schulnetzplänen durch die Landkreise ist jedenfalls die Herstellung eines Einvernehmens mit den betroffenen kreisangehörigen Gemeinden erforderlich (b).

86

a) Das in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehene Benehmenserfordernis gewährt den Gemeinden kein wirksames Mitentscheidungsrecht. Es steht für eine verfahrensrechtliche Beteiligung, in der der Mitwirkung nach dem Willen des Gesetzgebers keine materielle Rechtsposition des beteiligten Trägers öffentlicher Belange korrespondiert. Benehmenserfordernisse "sind im Regelfall ausschließlich dem objektiv-rechtlichen Ziel einer breiteren Beurteilungsgrundlage und damit einer besseren Entscheidungsfindung verpflichtet" (BVerwGE 92, 258 <261>; vgl. auch Pünder, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, S. 487 f.).

87

Die Herstellung des Benehmens erfordert nach dem gefestigten verwaltungsrechtlichen Verständnis daher zwar eine Anhörung des Trägers öffentlicher Belange durch die entscheidende Behörde und verpflichtet diese, die Stellungnahme zu erwägen und Möglichkeiten einer Berücksichtigung auszuloten. Der beteiligte Träger öffentlicher Belange soll seinen Standpunkt darlegen, Einwände im Hinblick auf die von ihm vertretenen Interessen erheben und auf das Ergebnis der Entscheidung auch Einfluss nehmen können (vgl. HessVGH, Urteil vom 12. Juni 2012 - 2 C 165/11.T -, juris, Rn. 36). Eine Benehmensherstellung erfordert allerdings keine Einigung der beteiligten Verwaltungsträger, sondern gestattet es der entscheidenden, das Benehmen herstellenden Behörde, sich über das Vorbringen des beteiligten Trägers öffentlicher Belange hinwegzusetzen (vgl. BVerwGE 92, 258 <262>; 114, 232 <235>; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem u.a., GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 10 Rn. 24; Pünder, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, S. 487). Anders als bei Einvernehmens- oder Zustimmungserfordernissen gewährt das Benehmenserfordernis somit kein echtes Mitentscheidungsrecht.

88

b) Im Falle der kommunalen Schulträgerschaft geht es hingegen nicht nur um öffentliche Belange, sondern um die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, die als subjektive Rechtstellungsgarantie auch ihre Geltendmachung im Einzelfall ermöglicht und in die die Schulnetzplanung der Landkreise nach § 23a Abs. 1 Satz 1 SchulG eingreift. Eine Schulnetzplanung für Grund- und Hauptschulen gegen den Willen der betroffenen Gemeinden ist grundsätzlich unzulässig. Mit der in § 23a Abs. 3 Satz 1 SchulG vorgesehenen Beschränkung auf ein bloßes Benehmenserfordernis kann die Verteidigung ihrer spezifischen Belange nicht wirksam gelingen. Vielmehr sind den Gemeinden für die Beteiligung an einer Schulnetzplanung auf Kreisebene zumindest Mitentscheidungsbefugnisse einzuräumen, wie sie etwa für das Einvernehmen kennzeichnend sind (vgl. dazu Groß, GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 13 Rn. 106). Das schließt nicht aus, dass ihre Mitwirkung rechtlich, etwa durch Vorschriften über Mindestschülerzahlen (vgl. § 4a SchulG, Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus zur Schulnetzplanung im Freistaat Sachsen vom 2. Oktober 2001, Anhang SächsGVBl 2001, S. 672) oder an die Feststellung eines öffentlichen Bedürfnisses für die Errichtung oder Fortführung einer öffentlichen Schule (§ 21 Abs. 2 SchulG), gebunden wird oder dass sie bei einer rechtswidrigen Verweigerung auch durch die Aufsichtsbehörde ersetzt werden kann.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Tenor

1. Die Antragsgegnerin hat

a) den Antragsteller zu 1. durch die Antworten auf die in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 6. Juli 2011 gestellte Frage PlenProt 17/119, S. 13802 D, soweit sich diese auf die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien bezieht, und auf die schriftliche Frage 7/193 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 28) soweit sich diese darauf bezieht, ob eine positive Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates vorliegt,

b) die Antragstellerin zu 2. durch die Antwort auf die schriftliche Frage 7/132 von Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 24) soweit sich die Frage darauf bezieht, ob eine positive Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates vorliegt,

nach Maßgabe der Gründe in deren Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzt.

2. In dem unter B.II.2. genannten Umfang werden die Anträge verworfen und im Übrigen zurückgewiesen.

Gründe

A.

1

Die Antragsteller sind Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Sie wenden sich dagegen, dass die Bundesregierung, die Antragsgegnerin, verschiedene Anfragen zu Kriegswaffenexporten nicht oder nur unzureichend beantwortet habe. Die Fragen betrafen die nach Presseberichten angeblich von der Antragsgegnerin erteilte Genehmigung für die Lieferung von 200 Panzern des Typs Leopard 2 an Saudi-Arabien sowie Waffenexporte nach Saudi-Arabien und Algerien.

I.

2

1. Die Ordnung der Kriegswaffenexportkontrolle hat in Deutschland Verfassungsrang. Nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG dürfen zur Kriegsführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Nähere regelt nach Satz 2 ein Bundesgesetz.

3

Das Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Abs. 2 des Grundgesetzes (Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen - Kriegswaffenkontrollgesetz - KWKG) regelt die Herstellung, das Inverkehrbringen und die Beförderung von Kriegswaffen innerhalb und außerhalb des Bundesgebietes sowie die Vermittlung und den Abschluss von Verträgen über den Erwerb oder das Überlassen von Kriegswaffen, die sich außerhalb des Bundesgebietes befinden. Kriegswaffen im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes sind gemäß § 1 Abs. 1 KWKG die in der dem Gesetz als Anlage beigefügten Kriegswaffenliste aufgeführten Gegenstände, Stoffe und Organismen. Die Ausfuhr von Kriegswaffen setzt nach § 3 Abs. 3 KWKG eine Beförderungsgenehmigung voraus. Über diese Genehmigung, die jederzeit widerrufen werden kann, wird nach Ermessen entschieden, sofern keine zwingenden Versagungsgründe nach § 6 Abs. 3 KWKG vorliegen. Zu versagen ist die Genehmigung unter anderem, wenn die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung, insbesondere bei einem Angriffskrieg, verwendet werden, § 6 Abs. 3 Nr. 1 KWKG. Leitlinien für die Ermessensentscheidung bilden die "Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" vom 19. Januar 2000 (Bundesanzeiger Nr. 19 vom 28. Januar 2000, S. 1299 ff.). Gemäß § 3 Abs. 4, § 4 Abs. 2 und § 4a Abs. 4 KWKG können allgemeine Genehmigungen erteilt werden. Dies erfolgt durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung, die der Zustimmung des Bundesrates nicht bedürfen, § 8 Abs. 1 und 4 KWKG.

4

Da alle Kriegswaffen im Sinne des KWKG zugleich in der Ausfuhrliste der Verordnung zur Durchführung des Außenwirtschaftsgesetzes (AWV - Anlage AL) aufgeführt sind, ist für deren Ausfuhr regelmäßig auch eine Genehmigung nach dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG) erforderlich (Ehrlich, in: Bieneck (Hrsg.), Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 2. Aufl. 2005, § 2 Rn. 4). Weitere Genehmigungsanforderungen für den Export militärisch relevanter Güter können sich aus Unionsrecht ergeben, namentlich aus der Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr, der Verbringung, der Vermittlung und der Durchfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (sogenannte "Dual-Use-Verordnung", ABl L 134 vom 29. Mai 2009, S. 1 ff.) zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 388/2012 vom 19. April 2012 (ABl L 129 vom 16. Mai 2012, S. 12 ff.).

5

Zuständig für die Erteilung oder Versagung von Ausfuhrgenehmigungen nach dem AWG und der AWV ist gemäß § 13 Abs. 1 AWG grundsätzlich das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (ehemals Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie) gehörende Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts (BGBl I 2013 S. 1482) am 1. September 2013 ergab sich diese Zuständigkeit aus § 28 Abs. 3 Nr. 1 AWG in Verbindung mit § 1 der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr vom 18. Juli 1977 (BGBl I S. 1308), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 27. Juli 2011 zur Umsetzung der Richtlinie 2009/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern (BGBl I S. 1595).

6

Die Zuständigkeit für die Erteilung der Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen liegt nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG, § 11 Abs. 1 KWKG bei der Bundesregierung. Durch § 11 Abs. 2 und 3 KWKG wird die Bundesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundesrates nicht bedarf, die Befugnis zur Erteilung und zum Widerruf der Genehmigung auf bestimmte Bundesministerien für ihren jeweiligen Geschäftsbereich zu übertragen. Von dieser Delegationsbefugnis hat die Bundesregierung mit Erlass der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 1. Juni 1961 (BGBl I S. 649), zuletzt geändert durch Art. 344 der Verordnung vom 31. Oktober 2006 (BGBl I S. 2407, 2453) Gebrauch gemacht. Durch § 1 der Ersten Durchführungsverordnung wird die Befugnis zur Erteilung und zum Widerruf der Genehmigung für den Bereich der Bundeswehr auf das Bundesministerium für Verteidigung (Abs. 1 Nr. 1), für den Bereich des Zollgrenzdienstes auf das Bundesministerium der Finanzen (Abs. 1 Nr. 2), für den Bereich der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zuständigen Behörden oder Dienststellen sowie der Behörden des Strafvollzugs auf das Bundesministerium des Innern (Abs. 1 Nr. 3) und für alle übrigen Bereiche auf das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Abs. 1 Nr. 4) übertragen. Für die Beförderung von Kriegswaffen mit deutschen Seeschiffen oder Luftfahrzeugen im Ausland überträgt § 1 Abs. 2 Satz 1 der Ersten Durchführungsverordnung die Befugnis zur Erteilung und zum Widerruf der Genehmigung auf das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, das diese Befugnis nach Satz 2 im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt ausübt.

7

§ 10 KWKG enthält Bestimmungen über Inhalt und Form der Genehmigung, die weiteren Einzelheiten des Genehmigungsverfahrens sind geregelt in der auf der Grundlage von § 11 Abs. 4 KWKG von der Bundesregierung erlassenen Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 1. Juni 1961 (BGBl I S. 649), zuletzt geändert durch Art. 31 des Gesetzes über die Zusammenlegung des Bundesamtes für Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt vom 21. Dezember 2000 (BGBl I S. 1956).

8

In der Praxis der Genehmigungsverfahren nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz und dem Außenwirtschaftsgesetz hat sich das gesetzlich nicht geregelte Institut der Voranfrage herausgebildet. Durch eine Voranfrage kann ein Unternehmen frühzeitig klären, ob die für ein beabsichtigtes Exportgeschäft erforderliche Genehmigung voraussichtlich erteilt würde. Über Voranfragen wird nach den gleichen Kriterien entschieden wie über Genehmigungsanträge. Voranfragen zu Kriegswaffenausfuhren sind an das Auswärtige Amt und bei sonstigen Rüstungsgütern an das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle zu richten. Auch das weitere Verfahren entspricht der Bearbeitung von Anträgen auf Genehmigungserteilung. Bedeutende Vorhaben werden dem Bundessicherheitsrat vorgelegt. Die Voranfrage ersetzt nicht die - im Regelfall erst nach Abschluss des jeweiligen Kaufvertrages - zu beantragende Genehmigung (siehe zum Ganzen den vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie herausgegebenen "Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2013 - Rüstungsexportbericht 2013" vom Mai 2014, S. 6 f.).

9

Bei Ausfuhrvorhaben, die im Hinblick auf das Empfängerland, das Rüstungsgut oder den Geschäftsumfang von besonderer Bedeutung sind, wird in der Regel der Bundessicherheitsrat befasst (Rüstungsexportbericht 2013, S. 7). Beim Bundessicherheitsrat handelt es sich um einen Kabinettausschuss zur ressortübergreifenden Koordinierung von Aspekten der Verteidigungs- und Außenpolitik sowie von Gesichtspunkten des Außenwirtschaftsrechts (Busse/Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 5. Aufl. 2010, S. 97). Den Vorsitz im Bundessicherheitsrat führt die Bundeskanzlerin, weitere Mitglieder sind die Bundesministerinnen und Bundesminister des Auswärtigen, des Innern, der Justiz und für Verbraucherschutz, der Finanzen, für Wirtschaft und Energie, der Verteidigung, für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Chef des Bundeskanzleramtes (Rüstungsexportbericht 2013, ebd.). Andere Teilnehmer werden bei Bedarf mit beratender Stimme hinzugezogen, so etwa andere Bundesministerinnen und -minister, der Generalinspekteur der Bundeswehr, die Chefs des Bundespräsidialamtes und des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, die Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle usw. Die Abstimmung im Bundessicherheitsrat erfolgt nach den Grundsätzen, die § 24 der Geschäftsordnung der Bundesregierung für Kabinettsitzungen vorsieht. Die Sitzungen des Bundessicherheitsrates werden durch ein beim Bundeskanzleramt angesiedeltes interministerielles Sekretariat und einen Ausschuss auf Staatssekretärsebene vorbereitet. Die Ergebnisse der Beratungen des Bundessicherheitsrates werden in Sitzungsprotokollen festgehalten, die mit dem Geheimhaltungsgrad "Geheim" eingestuft sind (zum Ganzen Glawe, Organkompetenzen und Handlungsinstrumente auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit, 2011, S. 35 ff.; Zähle, Der Staat 44 (2005), S. 462 <471 ff.>).

10

2. Die Bundesregierung informiert durch ihre jährlichen Rüstungsexportberichte über die im vorangegangenen Kalenderjahr erteilten Genehmigungen zur Ausfuhr von Rüstungsgütern und die tatsächlich erfolgten Ausfuhren von Kriegswaffen. Die Berichte werden bislang regelmäßig in der zweiten Jahreshälfte des auf das Berichtsjahr folgenden Jahres veröffentlicht (zu beabsichtigten Änderungen siehe Rn. 103). Sie enthalten statistische Angaben zu den erteilten Genehmigungen ohne Nennung des jeweiligen Exportunternehmens und Angaben in allgemeiner Form zu abgelehnten Anträgen. Begründungen für die Genehmigung oder Ablehnung eines Rüstungsexportgeschäftes werden nicht mitgeteilt soweit nicht nach dem Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern (ABl L 335 vom 13. Dezember 2008, S. 99 ff.) im Rahmen der danach vorgesehenen Ablehnungsanzeigen (sogenannte denial notifications) Ablehnungsgründe mitgeteilt wurden. Auch über die in dem jeweiligen Berichtsjahr beschiedenen Voranfragen betreffend die Genehmigungsfähigkeit bestimmter Ausfuhrvorhaben wird nicht berichtet (siehe zum Ganzen Rüstungsexportbericht 2013, S. 17).

11

Bei der Beantwortung parlamentarischer Anfragen beruft sich die Bundesregierung in ständiger Praxis darauf, dass Sitzungen und Entscheidungen des Bundessicherheitsrates der Geheimhaltung unterlägen und deshalb keine Auskunft gegeben werden könne (vgl. etwa BTDrucks 14/383, S. 2; 14/1466 S. 2; 14/1938, S. 3; PlenProt 14/68, S. 6063 A, 6066 A; BTDrucks 14/2483, S. 27 f.; 14/3619, S. 4 und 5; 14/3657, S. 3; 14/6958, S. 1 f.; 15/288, S. 26; 15/5998, S. 16; 16/7969, S. 6; PlenProt 16/97, S. 9947 C; PlenProt 16/99, S. 10101 D, 10102 A; zu einzelnen Ausnahmen vgl. etwa PlenProt 14/68, S. 6063 D und PlenProt 16/223, S. 24509).

12

Zu Voranfragen über die Genehmigungsfähigkeit bestimmter Ausfuhrvorhaben äußert sich die Bundesregierung bei der Beantwortung parlamentarischer Anfragen grundsätzlich nicht (vgl. BTDrucks 17/10520). Teilweise wurde in der Vergangenheit allerdings mitgeteilt, ob eine Voranfrage hinsichtlich der Genehmigungsaussichten eines bestimmten Exportgeschäfts (vgl. etwa BTDrucks 14/383, S. 1 und 2; 14/1466, S. 2; PlenProt 14/107, S. 10045 C und D, 10046 B; BTDrucks 14/3619, S. 2 und 3; 16/7969, S. 6) oder ein Genehmigungsantrag vorliegt (vgl. BTDrucks 14/3619, S. 3; 14/4213, S. 25; 14/4364, S. 3; 15/4295, S. 21 f.; 16/3430, S. 3; 17/9710, S. 12; 17/2889, S. 3). Nach Darstellung der Bundesregierung wird über abgelehnte Anträge, soweit sie den Bundessicherheitsrat involvieren, überhaupt nicht, ansonsten nur in Form des Rüstungsexportberichts Auskunft gegeben (vgl. PlenProt 17/161, S. 19141 B).

13

Die Gründe für die Ablehnung von Anträgen teilt die Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen hin grundsätzlich nur mit, wenn diese nach dem Gemeinsamen Standpunkt 2008/944/GASP ohnehin als denial notification anzuzeigen sind (vgl. BTDrucks 16/12673, S. 8; 17/8275, S. 11 f.; 17/3391, S. 8).

II.

14

Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

15

1. Anfang Juli 2011 berichteten mehrere Zeitschriften, Saudi-Arabien habe an mehr als 200 Panzern "Leopard" in der modernsten Version Interesse. Der Bundessicherheitsrat habe den Export grundsätzlich gebilligt. Die Artikel kritisierten die Panzerlieferung unter Verweis darauf, dass saudi-arabische Truppen im benachbarten Bahrain geholfen hätten, Proteste gegen die Regierung niederzuschlagen, und dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien in jüngerer Zeit stets abgelehnt worden seien. Zudem wurde berichtet, Deutschland wolle mit Algerien "milliardenschwere Rüstungsexporte abwickeln".

16

2. In der Fragestunde im Deutschen Bundestag am 6. Juli 2011 stellte der Abgeordnete Volker Beck die dringliche Frage 1, wie die Bundesregierung die Genehmigung der Lieferung von mehr als 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien vor dem Hintergrund von Saudi-Arabiens Intervention in Bahrain und der Lage im Nahen Osten rechtfertige. Hierauf antwortete der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Hans-Joachim Otto, nach allgemeinen Ausführungen über die Entscheidungsgrundlagen für Rüstungsexporte (PlenProt 17/119, S. 13797 D):

17

" (...) Bei etwaigen Ausfuhrvorhaben, die besonders brisant oder von besonderem Interesse sind, entscheidet in der Regel der Bundessicherheitsrat. (...) Herr Kollege Beck, Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Bundessicherheitsrat seit jeher geheim tagt. Auch die Tagesordnungen und die Ergebnisse sind als Geheim eingestuft. Daher kann - dafür haben Sie sicherlich Verständnis - die Bundesregierung zu den Presseberichten über angebliche Entscheidungen des Bundessicherheitsrates keine Stellung nehmen. Ich möchte hinzufügen: Das war noch nie anders.

Die Notwendigkeit zur Geheimhaltung - das will ich noch erläutern - entsteht nicht aus irgendwelchen subjektiven Interessen oder Wünschen des Kabinetts oder des Bundessicherheitsrates, sondern es geht vorrangig um das Schutzbedürfnis der Beziehungen Deutschlands zu den möglichen Empfängerländern. Ein weiterer Grund ist der Schutz der Interessen des Empfängerlandes.

Zu den konkreten Presseberichten kann und darf ich deshalb nicht Stellung nehmen. Ich will aber trotzdem kurz zu Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien allgemein Stellung nehmen. (...)"

18

Auf eine Zusatzfrage des Abgeordneten Beck hin führte der Parlamentarische Staatssekretär Otto unter anderem aus:

"Herr Kollege Beck, erstens liegen Sie falsch, wenn Sie meinen, dass die Ergebnisse der Sitzungen des Bundessicherheitsrats in die Öffentlichkeit getragen werden dürfen. Es ist sogar so, dass man sich strafrechtlich zu verantworten hätte, wenn man der Öffentlichkeit Dienstgeheimnisse preisgäbe. (…) Weil das so ist - weil der Bundessicherheitsrat nicht öffentlich, sondern geheim tagt und auch die Ergebnisse geheim sind -, kann ich zum Thema Bahrain nicht im Einzelnen Stellung nehmen. (...) Ich kann weder bestätigen noch dementieren, dass es überhaupt eine Entscheidung gegeben hat."

19

Nach weiteren Zusatzfragen stellte der Antragsteller zu 1. die Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13802 D):

"Herr Staatssekretär, Sie haben gerade auf die Fragen des Kollegen geantwortet, die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien sei anders als die in Deutschland. Ich frage Sie deshalb: Ist der Bundesregierung bekannt, dass in Saudi-Arabien von Amts wegen - also von Staats wegen - Menschen ausgepeitscht, in entwürdigender Art und Weise hingerichtet und unterdrückt werden, dass keine Bürgerrechte gelten, dass insbesondere Frauen, die nicht einmal Auto fahren dürfen, unterdrückt werden? Gibt die Bundesregierung mir recht, dass es sich hierbei um eine innere Repression sowie um eine fortdauernde und systematische Menschenrechtsverletzung handelt? Ist es, wenn solche Voraussetzungen vorliegen, nach den Richtlinien für Rüstungsexporte in solche Länder so, dass Genehmigungen nicht in Betracht kommen?"

20

Antwort Otto:

"Herr Kollege Ströbele, sollte es zu einer Entscheidung gekommen sein oder sollte es noch zu einer Entscheidung kommen, sind all diese Dinge zu berücksichtigen. Es ist nicht meine Aufgabe, jetzt hier eine Menschenrechtslage im Detail zu beurteilen. Ich bin Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Im Übrigen gibt es in Bezug auf diese Gesichtspunkte einen Abwägungsprozess. Auch die Menschenrechtslage ist im Rahmen eines Abwägungsprozesses zu berücksichtigen. Ich habe Ihnen bzw. Kollegen von Ihnen schon gesagt, dass wir uns - sonst würden wir den Menschenrechtsdialog nicht führen - Verbesserungen an dieser Front wünschen und diese anstreben. Wie Sie wissen, macht die EU das. Das gilt auch für die Bundesregierung. Detailfragen aber - ob Auspeitschungen und ähnliche Dinge vorkommen - sind nicht an den Bundeswirtschaftsminister zu richten."

21

Der Bundestagspräsident wies darauf hin, dass die Antworten unbeschadet der Aufteilung auf die Ressorts an die Regierung gerichtet und von dieser beantwortet würden.

22

Nach einer weiteren Zusatzfrage stellte die Antragstellerin zu 2. die Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13803 D):

" (...) Herr Staatssekretär, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen die Rechtsgrundlagen dargelegt und die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung zitiert. Danach sind Kriegswaffenexporte in Drittstaaten grundsätzlich verboten. Von diesem Grundsatz darf nur ausnahmsweise, beim Vorliegen besonderer sicherheitspolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland, abgewichen werden."

23

Antwort Otto:

"Korrekt".

24

Die Antragstellerin zu 2.:

"Dort steht aber auch: Beschäftigungspolitische Gründe dürfen keine Rolle spielen."

25

Antwort Otto:

"Keine ausschlaggebende."

26

Die Antragstellerin zu 2.:

"Können Sie ausschließen, dass bei der Entscheidung des Bundessicherheitsrates beschäftigungspolitische oder gar industriepolitische Gründe eine Rolle gespielt haben?"

27

Antwort Otto:

"Frau Kollegin, zunächst einmal: Ich kann Ihnen aus den bekannten Gründen gar keine Auskunft darüber geben, ob diese Entscheidung getroffen worden ist oder nicht. Ich möchte aber, um das klarzustellen, die entsprechende Stelle der Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung zitieren. In den Politischen Grundsätzen heißt es: Beschäftigungspolitische Gründe dürfen keine ausschlaggebende Rolle spielen. Dies bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass sie eine gewisse Rolle spielen dürfen, sozusagen als nachrangige Gründe. Ich kann mir vorstellen, dass dies auch bei ähnlichen Entscheidungen in der Vergangenheit der Fall war. Das wäre auch völlig legitim gewesen, weil die Politischen Grundsätze wie erwähnt niedergelegt worden sind. Ausschlaggebend ist das sicherheits- und bündnispolitische Interesse. Nachrangig können auch beschäftigungspolitische Gründe eine Rolle spielen."

28

Die Antragstellerin zu 3. schloss die Zusatzfrage an (PlenProt 17/119, S. 13804 A, B):

" (...) Herr Otto, meine erste Frage. In der heutigen Ausgabe der seriösen Süddeutschen Zeitung war zu lesen: Aus Regierungskreisen verlautete, dass im Vorfeld der Entscheidung im Bundessicherheitsrat am 27. Juni dieses Jahres die Zustimmung von Israel und den USA eingeholt worden sei und dass beide Staaten nicht nur konsultiert worden seien, sondern auch keine Bedenken angemeldet hätten. - Stimmen diese Verlautbarungen aus Regierungskreisen? Meine zweite Frage. Sie haben vorhin gesagt, es gehe darum, dass die deutsche Außenpolitik die Werteordnung in der Region, in Saudi-Arabien, stabilisieren will. Von welcher Werteordnung sprechen Sie? Sind Menschenrechte Ihrer Meinung nach nicht universell gültig, sondern ist ihre Geltung von der jeweiligen Region abhängig?"

29

Antwort Otto:

"Ich möchte zunächst zu Ihrer zweiten Frage Stellung nehmen. Selbstverständlich sind Menschenrechte - sie sind in der UN-Menschenrechtscharta niedergelegt - weltweit gültig. (…)

Insofern: Die Standards, an denen wir die Menschenrechtslage messen, sind in der UN-Menschenrechtscharta niedergelegt, und an dieser universell geltenden Charta halten wir fest. Ich habe bereits geschildert, dass es in Saudi-Arabien diesbezüglich Defizite gibt. Sonst würden wir auch nicht in einem ständigen Dialog stehen.

Zu dem ersten Teil Ihrer Frage würde Herr Staatsminister von Klaeden gerne Stellung nehmen, wenn, Herr Präsident, das erlaubt ist."

30

Eckart von Klaeden, Staatsminister bei der Bundeskanzlerin:

"Frau Kollegin Roth, es gilt das, was Kollege Staatssekretär Otto bereits gesagt hat, nämlich dass wir zu den Sitzungen des Bundessicherheitsrates keine Auskunft geben. Das gilt dann eben auch für die Frage, ob Pressemeldungen dementiert oder bestätigt werden. Ich will aber gerne noch einmal die Gelegenheit nutzen, einige Sätze zu unseren Beziehungen zu Saudi-Arabien zu sagen, damit hier kein unausgewogenes Bild entsteht. Hinsichtlich der Menschenrechtslage in Saudi-Arabien besteht zwischen der Einschätzung der seriösen Menschenrechts- und Außenpolitiker des Bundestages und der Einschätzung der Bundesregierung keine Differenz. Warum Saudi-Arabien trotz seiner schwierigen Menschenrechtssituation gleichwohl ein wichtiger Partner für uns ist, will ich an folgenden Punkten deutlich machen: (...)"

31

Nach weiteren Zusatzfragen zur Rolle Saudi-Arabiens in Bezug auf terroristische Aktivitäten und die Ereignisse in Bahrain stellte der Abgeordnete Dr. Frithjof Schmidt die Zusatzfrage, ob die Bundeskanzlerin die Ermächtigung erteilen könne, über Sitzungen des Bundessicherheitsrates Auskunft zu geben, und ob eine politische Begründung genannt werden könne, weshalb sie dies nicht tue.

32

Antwort Otto:

"Ich nehme hier nicht die Rolle der Bundeskanzlerin ein. Ich sitze nicht auf ihrem Platz, sondern daneben. Aber ganz klar ist, dass es zumindest seit dem Jahr 2000 völlig unstreitig ist, (...) dass der Verlauf und die Ergebnisse der Sitzungen des Bundessicherheitsrats als Geheim einzustufen sind, was zur Folge hat, dass niemand, auch nicht die Bundeskanzlerin, das Recht hat, dies sozusagen durch freie Entscheidung zu öffnen. (...)"

33

Anschließend wurde die dringliche Frage 2 des Antragstellers zu 1) (BTDrucks 17/6438, S. 1) aufgerufen (PlenProt 17/119, S. 13807 A):

"Welche Angaben macht die Bundesregierung zum jetzt bekannt gewordenen Zustandekommen des Waffengeschäfts über die Lieferung von 200 Leopard-Kampfpanzern von Deutschland an Saudi-Arabien hinsichtlich der Zahlung 'nützlicher Aufwendungen' sowie der Vermittler, Unterstützer in der Bundesregierung und Nutznießer dieses Waffengeschäfts?"

34

Antwort Otto:

"Herr Kollege Ströbele, ein Teil Ihrer Frage bezieht sich auf das, was wir eben schon ausgiebig diskutiert haben. Ich nehme Bezug auf das, was ich eben schon gesagt habe, und möchte das nicht verlängern. Im Übrigen kann ich Ihnen mitteilen, dass der Bundesregierung keinerlei Erkenntnisse über geleistete gesetzeswidrige Zahlungen vorliegen, die irgendwie im Zusammenhang mit dem in der Presseberichterstattung genannten Geschäft stehen könnten. Wäre es anders, würde die Bundesregierung von irgendeiner gesetzwidrigen Zahlung Erkenntnisse bekommen, dann wäre das eine Sache der Strafverfolgungsbehörden. Auch insofern verweise ich auf die Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsprävention in der Bundesverwaltung vom 30. Juli 2004. Sie werden sie sicherlich noch gut kennen; sie ist nämlich in der Zeit der rot-grünen Regierungskoalition verabschiedet worden. Auch sie, Herr Kollege Ströbele, gilt unverändert fort."

35

Der Antragsteller zu 1. stellte folgende Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13807 B, C):

"Herr Staatssekretär, Ihre Auffassung, dass Sie hier jegliche Auskunft über das Geschäft verweigern dürfen, ist nicht nur abenteuerlich, sondern verfassungswidrig. Sie hebeln faktisch das Recht des Deutschen Bundestages, die Bundesregierung zu kontrollieren, in diesem wichtigen Punkt, der mindestens die Hälfte der deutschen Bevölkerung beschäftigt, für ein Jahr aus.

Meine Frage an Sie lautet: Wie viel kosten die 200 Leopard-Kampfpanzer, wenn man sie in Deutschland kauft bzw. verkauft, und wie viel soll die saudi-arabische Regierung dafür bezahlen? Denn der Unterschiedsbetrag zwischen dem Kaufpreis und dem, was tatsächlich gezahlt wird, gilt wie schon im Jahr 1991 als sogenannte nützliche Aufwendungen, das heißt Bestechungsgelder.

Deshalb richte ich als Abgeordneter des Bundestages, der die Bundesregierung auch bei diesem Geschäft kontrollieren muss, diese Frage an Sie."

36

Antwort Otto:

"Herr Kollege Ströbele, mit allem Respekt: Es ist sehr mutig, was Sie hier machen. Zunächst einmal weise ich den Vorwurf, ich würde mich verfassungswidrig verhalten, mit allem Nachdruck zurück. Ich mache genau das, was alle Bundesregierungen bisher aus gutem Grund gemacht haben. Nennen Sie mir einen einzigen Fall aus den vergangenen Jahren, auch unter rot-grüner Regierung, in dem sich ein Staatssekretär hier hingestellt hat und gesagt hat: Herr Ströbele, das und das ist im Bundessicherheitsrat beschlossen worden. - Das hat es nie gegeben, und dafür gibt es gute Gründe. Das hat mit Verfassungswidrigkeit nichts zu tun. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die noch einmal festgestellt hat, dass die Berichterstattung über die Beschlüsse des Bundessicherheitsrates und die Rüstungsexportpolitik in einem jährlichen Rüstungsexportbericht niedergelegt wird. Dadurch wird das Parlament beteiligt.

Der Rüstungsexportbericht für 2010 wird in Kürze veröffentlicht. Ich kann Ihnen die Zahlen für Saudi-Arabien geben. Im Übrigen, Herr Kollege Ströbele, zu dem, was Sie da an Spekulationen geäußert haben - also zur Preisdifferenz; das, was in der Presse steht -, will ich in keiner Weise Stellung nehmen. Ich halte Ihre Spekulationen wirklich für abenteuerlich und weise sie zurück. Die Annahme, dass ein in Saudi-Arabien gegenüber Deutschland veränderter Preis automatisch mit nützlichen Aufwendungen, kriminellen Handlungen verbunden ist, ist wirklich - mit Verlaub - Ihre private Meinung. Das ist nicht die Meinung der Bundesregierung."

37

Der Antragsteller zu 1. stellte folgende zweite Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13807 D, S. 13808 A):

"Herr Staatssekretär, bis zum Jahre 1999 habe ich es auch als abenteuerlich angesehen, dass ein ausgewachsener deutscher Bundeskanzler Barbeträge, gebündeltes Bares von Spendern anonym entgegennimmt und in seine Jackentasche steckt. Ich habe es auch als abenteuerlich angesehen, dass 220 Millionen Euro an sogenannten nützlichen Aufwendungen gezahlt wurden, von denen 1 Million an die CDU, an deren Schatzmeister, geflossen sind. Das war alles abenteuerlich. Seit dem Jahr 1999 weiß ich, dass so etwas in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist. Deshalb stelle ich Ihnen nochmals die Frage: Sind Sie bereit, über Einzelheiten dieses Geschäfts dem Deutschen Bundestag Auskunft zu geben, oder verweigern Sie diese weiterhin in verfassungswidriger Weise?"

38

Antwort Otto:

"Herr Kollege Ströbele, in aller Klarheit: Der Vorwurf an ein Mitglied der Bundesregierung, sich verfassungswidrig zu verhalten, ist starker Tobak. Sie wissen genauso gut wie ich, weil Sie langjähriger Parlamentarier sind: Niemand von denen, die hier Zwischenrufe machen, würde sich anders verhalten, wenn er in meiner Situation wäre, niemand. Ich würde mich sogar strafbar machen, wenn ich irgendwelche Erkenntnisse, die ich als Mitglied der Bundesregierung erhalten habe, hier offenbarte. Das geht nicht anders. Das war zu Ihrer Zeit auch nicht anders. Dafür gibt es gute Gründe; das habe ich schon gesagt. Das hat mit Verfassungswidrigkeit gar nichts zu tun, Herr Kollege Ströbele, bei allem Respekt. Zu dem, was Sie zu früheren Zeiten, zu 1999, gesagt haben - auch ich war in dem Untersuchungsausschuss Mitglied -: Das ist aufgeklärt worden. Das wird sich auch nicht wiederholen. Ich hoffe nicht, dass durch Ihre Frage intoniert werden sollte, die jetzige Bundesregierung hätte Ähnliches vor oder getan. Ich weise das in aller Klarheit zurück. Das ist aufgearbeitet worden. Es hat auch Strafverfahren gegeben. Dass Sie das jetzt in einen Zusammenhang mit diesen Presseberichten stellen, finde ich schon sehr fragwürdig."

39

Zu weiteren Zusatzfragen zu bisherigen Anfragen Saudi-Arabiens wegen des Erwerbs von Panzern führte der Parlamentarische Staatssekretär Otto aus:

"Diese Antwort habe ich genauso zu verweigern wie jede andere. Auch solche Anfragen sind geheimschutzbedürftig. Ich bin nicht befugt, jede Frage nach Anfragen nach Rüstungsgütern zu beantworten. Das ist sehr naheliegend; denn wenn die Bundesregierung verpflichtet wäre, schon bei Eingang einer Anfrage die Öffentlichkeit zu informieren, dann würden viele - vielleicht sogar nach Ihrer Meinung - notwendige Geschäfte vereitelt. Das gilt übrigens auch für Anfragen jenseits von Rüstungsgütern, zum Beispiel nach Dual-use-Gütern. Die Verwaltung ist nicht befugt, Auskünfte über Anfragen nach Rüstungsgütern oder sonstige Exportgenehmigungen zu erteilen. Genauso wie bei jedem anderen Verwaltungshandeln ist das alles diskret zu behandeln. Darüber werden in der Öffentlichkeit keine Auskünfte gegeben. All das, was notwendig ist, um das Parlament zu unterrichten, enthält der Rüstungsexportbericht. Der Rüstungsexportbericht und die Stellung des Bundessicherheitsrates gehen nicht auf diese Regierung zurück. Es handelt sich hier um eine jahrzehntelange Praxis."

40

Nach weiteren Zusatzfragen zur Auslegung und Verbindlichkeit der Rüstungsexportrichtlinien, zur Bundesregierung als dem "Erfüllungsgehilfen der deutschen Rüstungslobby" und zum Entscheidungsverfahren im Bundessicherheitsrat wurde die dringliche Frage 3 der Antragstellerin zu 2. (BTDrucks 17/6438, S. 1) aufgerufen (PlenProt 17/119, S. 13810 D):

"Welche besonderen außen- und sicherheitspolitischen Gründe führt die Bundesregierung für die Genehmigung der am 4. Juli 2011 durch das Magazin Der Spiegel gemeldeten Lieferung von 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien an, und wie bewertet die Bundesregierung die Vereinbarkeit dieser Lieferung mit den einzelnen Kriterien des EU-Kodex für Waffenausfuhren?"

41

Antwort Otto:

"Frau Kollegin Keul, nachdem ich schon recht ausführlich zu den dringlichen Fragen 1 und 2 Stellung genommen habe, kann ich in Ihrer Frage keinen zusätzlichen Gehalt erkennen, der über den der dringlichen Frage 1 hinausgeht. Deswegen wiederhole ich das, was ich auf die Frage des Kollegen Beck gesagt habe, auch Ihnen gegenüber."

42

Die Antragstellerin zu 2. stellte die Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13811 A):

"Ich wüsste gerne, auf welche Weise die Bundesregierung ausschließt, dass die für Saudi-Arabien genehmigten Rüstungsexportgüter zu innerer Repression genutzt werden."

43

Antwort Otto:

"Frau Kollegin Keul, wenn ich dazu Stellung nähme, würde ich eine Auskunft geben, dass es eine Entscheidung gegeben hat oder dass es keine Entscheidung gegeben hat. Da ich diese Auskunft aus den bekannten Gründen nicht geben kann, kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Grundsätze, sowohl die Politischen Grundsätze der Bundesregierung als auch die des Europäischen Rates, in jedem Einzelfall zu beachten sind und von der Bundesregierung in jedem Fall auch peinlich beachtet werden. Das ist die klare Aussage. Das ist eine Selbstbindung der Bundesregierung, die nach wie vor gilt. Da gibt es keine Veränderung. Es ist genau so wie in den Jahren vorher."

44

Als im Folgenden thematisiert wurde, ob es einen Austausch mit anderen Regierungen im Hinblick auf die Genehmigung gegeben habe, antwortete der Parlamentarische Staatssekretär Otto:

" (…) Das betrifft nicht den Bundessicherheitsrat, aber dabei handelt es sich um sicherheitspolitische Interessen, die hier nicht auf dem Markt verhandelt werden können. (…) Sicherheitspolitische Absprachen zwischen Bündnisländern können hier nicht im Einzelfall besprochen werden. Das kann nicht anders sein, und das gilt unabhängig von Rüstungsexportfragen. (…) Das sind Rücksichtnahmen auch auf bilaterale Beziehungen. (…)"

45

Später wurde die dringliche Frage 4 des Abgeordneten Niema Movassat aufgerufen:

"Wie vereinbart die Bundesregierung die geplante Lieferung von Panzern an Saudi-Arabien mit ihren Äußerungen, an der Seite der Demokratiebewegung in den arabischen Ländern zu stehen?"

46

Hierzu stellte die Antragstellerin zu 3. folgende Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13814 B):

"Herr Westerwelle hat in seinen ersten außenpolitischen Leitlinien dafür plädiert, dass jenen Staaten die Entwicklungshilfe zu streichen sei, in denen Männer und Frauen nur deshalb hingerichtet werden, weil sie homosexuell sind.

Unseres Wissens gibt es in Saudi-Arabien eine drakonische Verfolgung von Schwulen und von Lesben. Sie müssen mit der Todesstrafe rechnen, wenn man ihnen Homosexualität nachweisen kann. Muss ich Ihre Äußerungen jetzt so interpretieren, dass Saudi-Arabien keine Entwicklungshilfe, wenn es welche beantragen würde - Konjunktiv! -, bekommen würde, weil dort Homosexualität verfolgt wird, aber Panzer bekommen würde, weil diese zur Stabilisierung der Region beitragen?"

47

Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt:

"Frau Abgeordnete, was die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien anbelangt, will ich unterstreichen, was Sie gesagt haben: Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist auf keinen Fall zu akzeptieren. Sie ist sehr unbefriedigend, auch wenn sich die Regierung seit einigen Jahren für Menschenrechtsthemen öffnet. 2009 gab es 69 Hinrichtungen und 2010 immer noch 29. Schlimm sind auch die religiöse Intoleranz, Frauendiskriminierung und Rechtlosigkeit ausländischer Arbeitskräfte und vieles andere mehr. Bei realistischer Einschätzung muss man sagen, dass die Bemühungen der Regierung und des Schura-Rates, also des rein beratenden und vom König ernannten Parlaments, die wichtigsten internationalen Menschenrechtsstandards in nationales Recht umzusetzen, sicher erst in Jahren erfolgreich sein werden. Das ist sehr unbefriedigend; da gebe ich Ihnen recht. Sehen Sie bitte auf der anderen Seite, dass wir an der Stabilität in dieser Region und an einer entsprechenden Sicherheitspolitik interessiert sind und deshalb auch nach Strohhalmen greifen. Es ist wichtig, dass sich Saudi-Arabien - Staatsminister von Klaeden hat es bereits gesagt - für Friedensinitiativen in der Region engagiert, wie es 2002 der Fall war."

48

3. Im Juli stellte die Antragstellerin zu 2. die schriftliche Anfrage an die Bundesregierung (Frage 7/132; BTDrucks 17/6658, S. 24):

"Wann hat die Bundesregierung den Verkauf von Transportpanzern Fuchs, Last- und Geländewagen, Fregatten oder Verteidigungs- und Sicherheitselektronik für den Grenzschutz bzw. dazu bestimmte Fertigungsanlagen an Algerien genehmigt (vgl. Handelsblatt, "Deutschland gibt Rüstung für Algerien frei", 3. Juli 2011) und welche besonderen außen- und sicherheitspolitischen Gründe führt sie jeweils für die Genehmigung an?"

49

Für die Bundesregierung antwortete der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Jochen Homann, am 15. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 24 f.):

"Über Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation. Grundlage hierfür sind (…).

Bei Ausfuhrvorhaben, die im Hinblick auf das Empfängerland, das Rüstungsgut oder den Geschäftsumfang von besonderer Bedeutung sind, wird in der Regel der Bundessicherheitsrat befasst. (…).

Der Bundessicherheitsrat tagt geheim. Tagesordnung und Ergebnisse sind ebenso eingestuft. Daher kann die Bundesregierung zu den Presseberichten über Entscheidungen des Bundessicherheitsrats keine Stellung nehmen.

Die Notwendigkeit zur Geheimhaltung ergibt sich vorrangig aus dem Schutzbedürfnis der Beziehungen Deutschlands zu den möglichen Empfängerländern. Der Schutz der Interessen des Empfängerlands ist ein weiterer Grund.

Die Bundesregierung informiert über die erteilten Exportgenehmigungen für Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter nach Algerien in ihrem jährlichen Rüstungsexportbericht im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen. Bei der Entscheidung über Rüstungsexporte nach Algerien werden insbesondere die Zusammenarbeit mit Algerien im Kampf gegen den Terrorismus, die legitimen Sicherheitsinteressen Algeriens sowie die Menschenrechtslage in Algerien berücksichtigt."

50

Am 8. Juli 2011 stellte der Antragsteller zu 1. die Frage zur schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung (Frage 7/84; BTDrucks 17/6658, S. 56):

"Inwieweit trifft im Einzelnen zu, dass die Bundeswehr schon im 3. Quartal dieses Jahres - also in den jetzigen Monaten - Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien schicken (bzw. durch den Hersteller schicken lassen) wird und dort - wie schon zu Anfang 2011 in Katar - auf deren Klima- bzw. Wüstentauglichkeit sowie Kampffähigkeit testen lassen will, wie am 24. Mai 2011 der Abteilungsleiter im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, [Herr] E., oder ein anderer Redner von dem Panzerbataillon 33 in der Wilhelmstein-Kaserne anlässlich der öffentlichen Soldaten-Verabschiedung nach Afghanistan angekündigt haben soll, und sofern dies grundsätzlich zutrifft, wie steht dieses Vorhaben im Zusammenhang mit dem offenbar genehmigten Verkauf von 200 Leopard-Panzern nach Saudi-Arabien?"

51

Für die Bundesregierung antwortete der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Christian Schmidt am 18. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 56):

" (…) Nach den im BMVg vorliegenden Redetexten der Veranstaltung vom 24. Mai 2011 beim Panzerbataillon 33 lässt sich nicht erkennen, dass einer der Redner die Aussage getätigt hat, Leopard-Panzer sollen durch die Bundeswehr, oder in deren Auftrag durch den Hersteller KMW, in Saudi-Arabien getestet werden.

Ich darf Ihnen mitteilen, dass weder die Bundeswehr selbst noch durch Beauftragte die Klima- bzw. Wüstentauglichkeit sowie Kampffähigkeit von Leopard-Panzern in Saudi-Arabien feststellen lässt."

52

Am 14. Juli 2011 stellte der Antragsteller zu 1. die Frage zur schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung (Frage 7/193; BTDrucks 17/6658, S. 28):

"Welche Angaben macht die Bundesregierung zu getroffenen Entscheidungen der Bundesregierung bzw. ihrer Ausschüsse oder nachgeordneten Stellen betreffend die Lieferung von ca. 200 Panzer LEO in die Krisenregion am arabischen Golf nach Saudi-Arabien, insbesondere zu der bisherigen Verbindlichkeit der Entscheidungen und zu den Inhalten der Entscheidungen wie Verkaufspreise, Lieferbedingungen oder eventuellen Auflagen zum Einsatz in diesem Land oder in anderen Ländern, und wie rechtfertigt die Bundesregierung Entscheidungen über diese Kriegswaffenexporte angesichts der Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung, nach denen solche Kriegswaffenlieferungen in Länder wie Saudi-Arabien, in den fortdauernd und systematisch Menschenrechte verletzt werden, nicht in Betracht kommen?"

53

Für die Bundesregierung antwortete der Staatssekretär beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr. Bernhard Heitzer am 21. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 29):

"Der Bundesregierung sind die aktuellen Presseberichte über eine angebliche rüstungsexportkontrollpolitische Entscheidung des Bundessicherheitsrats zur Ausfuhr von 200 Panzern Leopard nach Saudi-Arabien bekannt. Tagesordnung und Entscheidungen des Bundessicherheitsrats unterliegen der Geheimhaltung. Daher kann die Bundesregierung hierzu nicht Stellung nehmen.

In allgemeiner Form kann jedoch gesagt werden:

Über Rüstungsexporte entscheidet die Bundesregierung im Einzelfall und im Lichte der jeweiligen Situation nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Grundlage hierfür sind die 'Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern' aus dem Jahr 2000 und der 'Gemeinsame Standpunkt 2008/944/GASP des Rates der Europäischen Union vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern'. Der Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland und den Möglichkeiten eines Missbrauchs des konkreten Rüstungsguts kommen im Rahmen der hiernach vorzunehmenden Gesamtabwägung eine besondere Bedeutung zu.

Saudi-Arabien ist ein stabilisierender Faktor in der Region und wichtiger Partner der Bundesrepublik Deutschland.

Im Rahmen ihrer bilateralen Beziehungen mit Saudi-Arabien setzt sich die Bundesregierung für die Einhaltung von demokratischen Werten und Menschenrechten ein. (…)

(…) Die Bundesregierung verfolgt die aktuellen Entwicklungen in Saudi-Arabien und der Region sehr genau."

54

Am 14. Juli 2011 stellte die Antragstellerin zu 3. die schriftliche Frage an die Bundesregierung (Frage 7/174; BTDrucks 17/6658, S. 26):

"Wie begründet die Bundesregierung die Lieferung von 200 Leopard-Kampfpanzern an Saudi-Arabien angesichts der geltenden Richtlinien für Rüstungsexporte, die Waffengeschäfte mit [Staaten wie] Saudi-Arabien aufgrund der hinreichenden Belege für massive und alltägliche Menschenrechtsverletzungen verbieten?"

55

Die Antwort des Staatssekretärs beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr. Bernhard Heitzer für die Bundesregierung am 21. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 26 f.) ist wortgleich mit der am gleichen Tag erteilten Antwort auf die Frage des Antragstellers zu 1. vom 14. Juli 2011.

56

Ebenfalls am 14. Juli 2011 stellte die Antragstellerin zu 3. die schriftliche Frage an die Bundesregierung (Frage 7/175; BTDrucks 17/6658, S. 27):

"Welche Angaben macht die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag gegenüber zum bekannt gewordenen Zustandekommen der Leopard-Kampfpanzerlieferung an Saudi-Arabien hinsichtlich der Zahlung 'nützlicher Aufwendungen' sowie der Vermittler, Unterstützer in der Bundesregierung und Nutznießer dieses Waffengeschäfts?"

57

Für die Bundesregierung antwortete der Staatssekretär beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr. Bernhard Heitzer am 21. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 27):

"Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse über geleistete gesetzeswidrige Zahlungen vor, die im Zusammenhang mit dem in der Presseberichterstattung genannten Geschäfte stehen könnten. Anderenfalls wären bereits die Strafverfolgungsbehörden unterrichtet worden. Im Übrigen wird auf die Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsprävention in der Bundesverwaltung vom 30. Juli 2004 verwiesen."

III.

58

Die Antragsteller begehren die Feststellung, sie seien durch die Antragsgegnerin dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden, dass ihre oben wiedergegebenen Fragen beziehungsweise Nachfragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 6. Juli 2011 und ihre oben wiedergegebenen schriftlichen Fragen durch die Antragsgegnerin nicht beziehungsweise unzureichend beantwortet worden seien.

59

1. Die Antragsteller sehen ihre Anträge als zulässig an. Insbesondere sei die Bundesregierung die richtige Antragsgegnerin. Sie könne nicht etwa auf eine Zuständigkeit des Bundessicherheitsrates verweisen, denn der Informationsanspruch der Abgeordneten und des Gesamtparlaments richte sich nach Maßgabe der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gegen die Bundesregierung. Außerdem sei der Bundessicherheitsrat ein Ausschuss der Antragsgegnerin und damit Teil derselben.

60

2. Durch die Art der Beantwortung der Fragen habe die Antragsgegnerin sie in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt.

61

a) Aus Art. 38 Abs. 1 GG folge ein Informationsanspruch der Abgeordneten, dem hier auch angesichts der Regelung des Art. 26 Abs. 2 GG keine wesentlichen Schranken - etwa durch Geheimhaltungsbedürftigkeit im Hinblick auf den Bundessicherheitsrat als besonderen Entscheidungsträger - gesetzt werden könnten.

62

Art. 26 Abs. 2 GG sei als Verbot mit Befreiungsvorbehalt zu verstehen. Die Genehmigung selbst müsse jeweils unter Berücksichtigung der Ziele des Art. 26 Abs. 1 GG, jede Friedensstörung möglichst weitgehend zu vermeiden, gerechtfertigt werden. Dass Kriegswaffen nach Art. 26 Abs. 2 GG "nur mit Genehmigung der Bundesregierung" in Verkehr gebracht werden dürften, spreche im Zusammenhang mit Art. 62 GG dafür, dass nur die gesamte Bundesregierung im Kabinett eine entsprechende Entscheidung treffen könne. Eine Delegation an ein anderes Gremium sei in höchstem Maße verfassungsrechtlich bedenklich. Jedenfalls müsse die Bundesregierung selbst dann, wenn eine solche Delegation möglich wäre, in vollem Umfang die Verantwortung für die getroffenen Maßnahmen übernehmen.

63

Weil Art. 26 Abs. 2 GG der Bundesregierung eine besondere Verantwortung zuweise und die Ausübung dieser Verantwortung effektiv nur durch das Parlament kontrolliert werden könne, bestehe eine besonders stringente Informationspflicht gegenüber dem Parlament. Andere Kontrollmechanismen seien nur bedingt wirksam. Hinsichtlich der Genehmigungen bestehe im Wesentlichen ein ungebundenes Ermessen mit der Folge besonderer Korruptionsanfälligkeit. Dies zeigten auch die Feststellungen des ersten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages in der 14. Wahlperiode zu Schmiergeld im Zusammenhang mit der Lieferung von Fuchs-Panzern an Saudi-Arabien. Vor dem damaligen Untersuchungsausschuss hätten die Zeugen Dr. Kohl und Genscher öffentlich über den Gang der Beratungen und die Entscheidung im Bundessicherheitsrat detailliert ausgesagt.

64

Das Informationsinteresse der Antragsteller sei vorliegend zudem besonders hoch gewesen. Die Pressemeldungen über den Export von 200 Leopard-Kampfpanzern nach Saudi-Arabien hätten bei vielen Mitgliedern des Deutschen Bundestages und in der Öffentlichkeit zu Unruhe und Empörung geführt, weil die Bundesrepublik die Demokratiebewegungen des "arabischen Frühling(s)" begrüßt und unterstützt habe, gerade die Regierung des Königreichs Saudi-Arabien aber einige Wochen vorher nicht nur Demokraten im eigenen Land unterdrückt und systematisch Menschenrechte verletzt habe, sondern auch in Bahrain mit Panzern eingerückt sei, um zu helfen, die Demokratiebewegung dort blutig niederzuwalzen. Dies sei wiederum von zahlreichen Regierungen und Abgeordneten übereinstimmend verurteilt worden. Gerade die Leopard-Panzer Typ 2 A7 seien besonders ausgerüstet und geeignet für den Einsatz gegen Menschenmengen und für den Straßenkampf.

65

b) Geheimhaltungsgründe, die dem parlamentarischen Informationsrecht entgegenstehen könnten, habe die Antragsgegnerin nicht beziehungsweise nicht substantiiert dargetan. Die Geschäftsordnung des Bundessicherheitsrats könne einen Geheimhaltungsbedarf nicht bindend gegenüber dem Parlament begründen. Im Übrigen könne und müsse die Geheimhaltung aufgehoben werden, wenn keine hinreichenden Gründe für diese bestünden.

66

Die Antragsgegnerin könne nicht auf die Erfüllung des parlamentarischen Informationsanspruchs durch den jährlichen Rüstungsexportbericht verweisen. Nicht die Antragsgegnerin bestimme, in welcher Weise und wann das Parlament Informationen erhalte, sondern allein das nach den Maßgaben der Geschäftsordnung des Bundestages an sie herangetragene Informationsbegehren.

67

Die Geheimhaltungsbedürftigkeit könne auch nicht mit rechtlich geschützten Interessen der Exporteure begründet werden. Da deren Geschäfte von der Verfassung gerade grundsätzlich missbilligt würden, fehle es an einer verfassungsrechtlich schützenswerten Rechtsposition. Hersteller und Verkäufer von Kriegswaffen müssten ebenso wie Abnehmer mit Rücksicht auf die Friedensverpflichtung aus Art. 26 GG mit einer nur eingeschränkten Geltung von Betriebsgeheimnissen jedenfalls gegenüber dem Parlament rechnen. Dass Saudi-Arabien Interesse am Kauf deutscher Panzer einer bestimmten Firma habe, sei überdies seit Jahren bekannt und kein schützenswertes Betriebsgeheimnis mehr.

68

Einen Schutz des Kernbereichs der Entscheidungsfindung könne die Antragsgegnerin grundsätzlich nur bei laufenden Vorgängen in Anspruch nehmen. Solange sie nicht klar sage, ob und von wem eine Entscheidung überhaupt getroffen worden sei, berufe sie sich nicht substantiiert auf den Kernbereichsschutz. Der Gesichtspunkt der "Aufklärung von Missständen" gebiete zudem vorliegend einen engen Zuschnitt des Kernbereichs auch bei laufenden Vorgängen. Überdies sei der Vorgang bereits mit der politischen Entscheidung des Bundessicherheitsrates und nicht etwa erst mit der Erteilung des Genehmigungsbescheids "abgeschlossen" im Sinne der Kernbereichs-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Dies gelte auch bei Voranfragen. Die Fragen der Antragsteller seien zudem gerade nicht auf die Ausforschung der Willensbildung der Regierung gerichtet, sondern wollten nur die Kontrolle von gefällten Entscheidungen ermöglichen. Bei einer gegenüber Volk und Parlament verantwortlichen Regierung verbiete es sich, die öffentliche oder parlamentarische Debatte selbst als Eingriff in den Kernbereich der Regierung oder als "verbotenes Mitregieren" anzusehen.

69

Auf eine Beeinträchtigung des Staatswohls durch eine Offenlegung des "Ob" und der Einzelheiten einer Genehmigungsentscheidung habe sich die Antragsgegnerin bisher hinsichtlich des Rüstungsexportes nach Saudi-Arabien nicht klar berufen. Sollte sie anführen wollen, dass die Offenlegung von Einzelheiten über den Export zur Beeinträchtigung des Verhältnisses zu anderen Staaten führen könne, so stimme dieses Bild nicht mit den Wertungen des Art. 26 Abs. 2 GG überein. Da vor den friedenssichernden Zielen des Art. 26 GG jeder Export rechtfertigungsbedürftig sei und im demokratisch verfassten Deutschland eine Rechtfertigung grundsätzlich öffentlich vor dem Parlament erfolge, könne die Ausübung der Kontrollpflichten des Bundestages das Staatswohl nicht beeinträchtigen.

70

Soweit die Antragsgegnerin nun im Organstreitverfahren auf sicherheits- und verteidigungspolitische Belange verweise, fehle es am konkreten Bezug zu den Fragen. Das sicherheitspolitische Interesse der Bundesrepublik an Panzerlieferungen auf die arabische Halbinsel erschließe sich nicht. Auf die Belastung außenpolitischer Beziehungen durch Bekanntwerden kritischer Bewertungen potentieller Empfängerländer könne sich die Antragsgegnerin schon deshalb nicht berufen, weil im Fall Saudi-Arabien die Menschenrechtslage jährlich durch den Menschenrechtsbericht öffentlich kritisch bewertet werde. Selbst wenn an einzelnen Punkten Geheimhaltungsbedürftigkeit bestehen sollte, hätte die Antragsgegnerin das Parlament vertraulich informieren müssen.

71

Es handle sich auch nicht um unzulässige hypothetische Fragen. Frageziel der Antragsteller sei gewesen zu erfahren, ob eine politische Entscheidung getroffen worden sei und welche Bewertungen dieser Entscheidung zugrunde gelegen hätten. Die Fragen hinsichtlich der Bewertung seien nur deshalb "hypothetisch" gewesen, weil die Antragsgegnerin rechtswidrigerweise schon die Antwort auf das "Ob" verweigert habe.

72

Angesichts der öffentlichen Diskussion dränge sich der Eindruck auf, dass die Antragsgegnerin sich hinter dem Argument der Geheimhaltung verstecke. Die Verfassung berechtige die Antragsgegnerin jedoch nicht zu einer alleinigen Steuerung des gesamten parlamentarischen und öffentlichen Kommunikationsprozesses im Bereich der Rüstungsexporte. Andere Staaten ließen hier mehr Transparenz und parlamentarische Kontrolle zu. Die Antragsgegnerin dürfe nicht den Zeitpunkt einer öffentlichen Debatte beeinflussen und diese fern der politischen Entscheidung halten. Politische Debatten fänden zeitnah zur Entscheidung der Regierung statt.

73

3. Die Antragsteller sind der Ansicht, die Antragsgegnerin habe die Frage, ob die thematisierten Waffenlieferungen von der Bundesregierung genehmigt worden seien, mit dem bloßen Hinweis auf den geheim tagenden Bundessicherheitsrat beantwortet. Fragen zu Einzelheiten der Waffenlieferungen habe sie überhaupt nicht beantwortet. Vielmehr habe sie lediglich allgemeine Erwägungen zu dem Für und Wider von Waffengeschäften unter Bezugnahme auf gesetzliche Regelungen und Rüstungsexportrichtlinien mitgeteilt.

74

a) Hinsichtlich der dringlichen Anfrage des Antragstellers zu 1. (PlenProt 17/119, S. 13807 A) habe die Antragsgegnerin Bezug genommen auf Antworten, die auf die vorangegangene dringliche Frage des Abgeordneten Volker Beck und die dazu gestellten Zusatzfragen gegeben worden seien. Mit dem auf diese Weise in Bezug genommenen Hinweis auf die Geheimhaltung für Sitzungen des Bundessicherheitsrates sei jegliche Antwort darauf verweigert worden, ob überhaupt schon eine Genehmigung für die Panzerlieferung erteilt worden sei. Schon gar nicht sei die Teilfrage beantwortet worden, ob "nützliche Aufwendungen" gezahlt worden seien und wer am Zustandekommen des Kriegswaffengeschäfts beteiligt gewesen sei.

75

Hinsichtlich einer Zusatzfrage des Antragstellers zu 1. (PlenProt 17/119, S. 13802 D) sei seitens der Antragsgegnerin die Antwort mit dem Hinweis auf die Zuständigkeit anderer Ressorts verweigert worden. Auch ein Hinweis des Bundestagspräsidenten habe nicht zu einer ergänzenden Antwort geführt. Insbesondere sei die Teilfrage nicht beantwortet worden, ob nach dem Wortlaut der Rüstungsexportrichtlinien eine Lieferung von Kriegswaffen in Länder, in denen fortdauernd und systematisch Menschenrechte verletzt würden, gar nicht in Betracht komme.

76

Hinsichtlich der ersten Nachfrage des Antragstellers zu 1. zu seiner dringlichen Frage (PlenProt 17/119, S. 13807 B, C) habe die Antragsgegnerin Informationen über den Preis der Leopard-Panzer in Deutschland und darüber, wieviel Saudi-Arabien dafür zahle, vollständig verweigert. Damit bleibe sie eine Antwort auf die implizite Vorfrage, ob ein Export genehmigt worden sei, schuldig.

77

Mit seiner zweiten Nachfrage zu seiner dringlichen Frage (PlenProt 17/119, S. 13807 D, S. 13808 A) habe der Antragsteller zu 1. ersichtlich wiederum Einzelheiten über den Waffenexport zu erfahren versucht. Die Antragsgegnerin habe die Antwort darauf mit dem generellen Hinweis auf ein Offenbarungsverbot umfassend verweigert.

78

Auch die schriftliche Frage des Antragstellers zu 1. nach getroffenen Entscheidungen betreffend die Panzerlieferung, zu deren Verbindlichkeit und Inhalten wie Verkaufspreisen, Lieferbedingungen und Auflagen (Frage 7/193) sei wiederum nicht beantwortet worden.

79

In ihrer Antwort auf die schriftliche Frage 7/84 des Antragstellers zu 1. habe die Bundesregierung verschwiegen, dass in der Zeit vom 26. Juni bis 30. Juli 2011 sehr wohl deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A7 auf ihre Klima- und Wüstentauglichkeit unter Beteiligung von Bundeswehrsoldaten getestet worden seien, und zwar in dem Golfstaat Arabische Emirate. Mit ihrer unvollständigen Antwort, die ausschließlich am Wortlaut der Frage orientiert sei, ignoriere die Bundesregierung bewusst den offensichtlichen Sinn und das Ziel der Fragestellung.

80

b) Die dringliche Frage der Antragstellerin zu 2. nach den Gründen der Entscheidung über die Lieferung der Leopard-Panzer (PlenProt 17/119, S. 13810 D) sei nicht beantwortet worden, weil die Antragsgegnerin schon den Mantel des Schweigens darüber decke, ob überhaupt ein Export genehmigt worden sei. Gleiches gelte für beide Zusatzfragen der Antragstellerin zu 2. nach Vorkehrungen und Vertragsbedingungen gegen den Einsatz der Leopard-Panzer zur inneren Repression in Saudi-Arabien (PlenProt 17/119, S. 13811 A) und nach der Rolle beschäftigungs- und industriepolitischer Gründe bei der Entscheidung (PlenProt 17/119, S. 13803 D).

81

Die schriftliche Anfrage 7/132 nach der Genehmigung des Verkaufs von Panzern und Rüstungsgütern nach Algerien und den Gründen dafür sei mit dem bloßen Hinweis auf die Geheimhaltung von Entscheidungen des Bundessicherheitsrates überhaupt nicht beantwortet worden.

82

c) Die Zusatzfrage der Antragstellerin zu 3. nach der Konsultation von Israel und den USA vor der Entscheidung über den Verkauf der Panzer an Saudi-Arabien (PlenProt 17/119, S. 13804 A, B) sei wiederum im Kern allein mit der Begründung nicht beantwortet worden, dass schon das "Ob" der Entscheidung geheim sei.

83

Die Antragsgegnerin habe auch nicht die Frage beantwortet, ob Entwicklungshilfe an Saudi-Arabien nicht gewährt werden könne, weil Homosexualität dort verfolgt werde, während Panzer geliefert werden könnten (PlenProt 17/119, S. 13814 B).

84

Die Antwort auf die konkret gestellte schriftliche Frage Nr. 7/174 der Antragstellerin zu 3. nach der Begründung der Panzerlieferung an Saudi-Arabien werde mit Verweis auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit verweigert, weil die Antragsgegnerin wiederum schon die Vorfrage, ob ein Export genehmigt worden sei, nicht beantworten wolle.

85

Hinsichtlich der schriftlichen Frage Nr. 7/175 der Antragstellerin zu 3. habe die Antragsgegnerin eine Frage beantwortet, die gar nicht gestellt worden sei, nämlich nach "gesetzeswidrigen Zahlungen". Gefragt gewesen sei nach "nützlichen Aufwendungen", die nicht gesetzeswidrig sein müssten und die bis 1999 steuerabzugsfähig gewesen seien. Den letzten Frageteil nach "Vermittlern, Unterstützern in der Bundesregierung und Nutznießern des Waffengeschäfts" habe die Antragsgegnerin vollkommen ignoriert.

IV.

86

Nach Auffassung der Antragsgegnerin haben die Anträge keine Aussicht auf Erfolg.

87

1. Die Grenzen des parlamentarischen Informationsanspruchs in Form der Geheimhaltungsbedürftigkeit und des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung würden durch Art. 26 Abs. 2 GG nicht relativiert. Ob es sich bei Art. 26 Abs. 2 GG um ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt handle, sei zweifelhaft. Die Einbindung des Bundessicherheitsrates, dessen Entscheidungen lediglich politische, nicht aber rechtliche Verbindlichkeit zukomme, sei rechtlich unbedenklicher Ausdruck der Organisationskompetenz der Antragsgegnerin. Jedenfalls begründe aber die grundgesetzliche Sensibilität gegenüber dem Umgang mit Kriegswaffen, die in Art. 26 GG zum Ausdruck komme, keine herausgehobene Stellung des Parlaments und damit auch keine gesteigerten Informationsrechte. Die Norm schaffe keinen Entscheidungsverband von Parlament und Regierung, sondern weise im Gegenteil gerade der Bundesregierung eine bedeutende Rolle zu. Der Verweis auf fehlende gerichtliche Kontrolle und Korruptionsgefahr sei nicht ausschlaggebend, da die Antragsgegnerin ihre Rüstungsexportpolitik einmal im Jahr im Rüstungsexportbericht offenlege.

88

Die Geheimhaltungsbedürftigkeit der Sitzungen des Bundessicherheitsrates gründe in dem Schutz der Integrität der Bundesrepublik Deutschland, der Länder und des Kabinetts in sicherheits- und verteidigungspolitischen Belangen sowie dem Schutz der Beziehungen Deutschlands zu möglichen Empfängerländern. Ferner gehe es um die grundsätzlich schutzwürdigen Belange anderer Staaten und um die Wahrung von Betriebsgeheimnissen der jeweiligen Rüstungsunternehmen. Diese Gründe stünden auch der Veröffentlichung des "Ob" einer Sitzung, von deren Ergebnissen und ihrer Begründung entgegen. Insbesondere kritische Bewertungen potentieller Empfängerländer seitens des Bundessicherheitsrates würden im Fall des Publikwerdens regelmäßig die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik zu diesen Ländern belasten. Außerdem könnten sie Rückschlüsse auf die Informationsquelle zulassen und damit die schutzwürdigen Interessen Dritter beeinträchtigen. Aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin sich in ihren Menschenrechtsberichten kritisch zur Menschenrechtslage in einzelnen Ländern äußere, folge nicht, dass eine öffentliche Debatte über konkrete Exportgenehmigungsentscheidungen die außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Belange der Bundesrepublik nicht beeinträchtigen könnte. Das Bestreben, im diplomatischen Kontakt auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage hinzuwirken, würde konterkariert, wenn die betroffenen Staaten in öffentlicher Debatte in verletzender Weise kritisiert würden. Auch in anderen europäischen Ländern finde keine direkte Mitwirkung der Parlamente an konkreten Ausfuhrentscheidungen statt. Dem Bundestag stehe es frei, sich kritisch zu möglichen Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien zu äußern und die Antragsgegnerin zu einem entsprechenden Genehmigungsverhalten aufzufordern. Die Antragsgegnerin sei allerdings nicht verpflichtet, hierfür die begehrten Informationen und Bewertungen beizusteuern.

89

Schließlich seien gerade bei den vom Bundessicherheitsrat zu entscheidenden besonders sensiblen Einzelfällen verfassungsrechtlich geschützte Geschäftsgeheimnisse gefährdet, da die betroffenen Unternehmen regelmäßig schon in einem sehr frühen Stadium der Geschäftsanbahnung eine Voranfrage stellten. In diesem Stadium könnte ein Bekanntwerden der Geschäftsabsichten jedoch Konkurrenten auf die Geschäftsgelegenheit hinweisen und potentiellen Gegnern die Gelegenheit geben, frühzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Diese Erwägungen hätten im Grundsatz auch für Anträge auf Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen Geltung. Deshalb erfolgten Mitteilungen über erteilte Ausfuhrgenehmigungen auch im Rüstungsexportbericht grundsätzlich in anonymisierter Form (Umschreibung des ausgeführten Guts und Nennung von Wert und Empfängerland). Auch dort, wo Gerüchte über Geschäfte kursierten oder potentielle Abnehmer ihr Erwerbsinteresse öffentlich bekundeten, würde eine Bestätigung den Informationen den "Stempel des Offiziellen" geben und damit in Geschäftsgeheimnisse eingreifen. Es sei auch nicht anzunehmen, dass bereits die Überschaubarkeit des jeweiligen Marktes einer Annahme von Geschäftsgeheimnissen entgegenstehe.

90

Dem Begehren der Antragsteller nach zeitnaher Information zu Entscheidungen des Bundessicherheitsrates stehe ferner der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung entgegen. Eine Offenbarung des Sitzungsverlaufs im Bundessicherheitsrat komme grundsätzlich zu keinem Zeitpunkt in Betracht, weil andernfalls "einengende Vorwirkungen" wegen nachträglich zu erwartender Kontrolle zu gewärtigen wären. Eine gerade in Sicherheitsfragen existentielle Vertraulichkeit des Austausches unter Regierungsmitgliedern wäre dann nicht mehr gewährleistet. Die Bundessicherheitsratsentscheidung sei dem rein regierungsinternen Bereich der Willensbildung zuzurechnen. Bis zur Umsetzung der Entscheidungen des Bundessicherheitsrates durch Bescheide gegenüber den antragstellenden Unternehmen handle es sich noch um einen laufenden Vorgang. Auch nach diesem Zeitpunkt würde eine Information des Parlaments aber zu einem unzulässigen "Mitregieren" führen. Durch eine unmittelbar bevorstehende öffentliche Diskussion entstünde erheblicher Druck auf die Mitglieder des Bundessicherheitsrates. Ihre Entscheidungsfindung wäre beeinträchtigt, weil sie davon ausgehen müssten, sich einerseits kurzfristig für die getroffene Entscheidung öffentlich rechtfertigen zu müssen, sich andererseits aber aus objektiven Geheimhaltungsgründen nicht umfassend und sachgerecht äußern zu können und der Kritik weitgehend schutzlos ausgeliefert zu sein. Dies würde dazu führen, dass sachgerechte, aber objektiv geheimhaltungsbedürftige Aspekte bei der Entscheidungsfindung unberücksichtigt blieben. Auch in der mit einem frühen Bekanntwerden einhergehenden De-facto-Vereitelung eines Rüstungsgeschäfts aufgrund der Information von Konkurrenten oder des Rückzugs des potentiellen Vertragspartners liege ein unzulässiges Mitregieren in Form eines unmittelbaren Einflusses des Parlaments auf die Regierungsentscheidung. Eine Veröffentlichung nach Maßgabe der Geheimschutzordnung des Bundestages könne diese Folgen nicht verhindern. In ihrem innersten Bereich müsse die Regierung selbst dann keine parlamentarische Beteiligung dulden, wenn das Parlament besonderen Verschwiegenheitspflichten unterliege.

91

Ein Informationsanspruch des Parlaments komme nur mit zunehmendem zeitlichen Abstand in Betracht. Die Sensibilität der Informationen nehme ebenso wie das "Vereitelungspotential" des Parlaments kontinuierlich ab. Bezüglich des angemessenen Zeitpunkts der Unterrichtung habe die Antragsgegnerin einen Einschätzungsspielraum. Die Entscheidung, das Parlament über Genehmigungen grundsätzlich erst mit dem Rüstungsexportbericht im darauf folgenden Jahr zu unterrichten, sei weder willkürlich noch anderweitig sachwidrig. Die pauschalierte Handhabung gewähre vielmehr den Abgeordneten wie den betroffenen Unternehmen Rechtssicherheit. Die nachträgliche parlamentarische Kontrolle werde dadurch nicht substantiell geschmälert, sie sei nicht auf tagesaktuelle Information angewiesen.

92

Da diese Handhabung zwischen Parlament und Regierung seit langem üblich sei, habe die Darlegung der Antragsgegnerin in der Fragestunde auch den Begründungsanforderungen genügt. Ihre Stellungnahme sei mündlich und im Wechsel von Rede und Gegenrede erfolgt, die Anforderungen an die Substantiierung dürften daher nicht überspannt werden.

93

Nur Fragen mit Realitätsbezug könnten eine Antwortpflicht der Antragsgegnerin begründen. Zum Anstellen hypothetischer Überlegungen sei sie nicht verpflichtet, da eine zwangsläufig fiktionale Antwort weder ein Wissensdefizit eines Abgeordneten beseitige noch zur Kontrolle der Regierung beitrage. Die Antragsgegnerin treffe auch keine Pflicht zur Bewertung politisch relevanter Sachverhalte. Meinungen, Bewertungen und subjektive Stellungnahmen müsse die Regierung nicht artikulieren, soweit sie nicht notwendig mit der Mitteilung von Sachinformationen verbunden seien; zumindest müsse sie sich keine Meinung bilden.

94

2. Die Antragsgegnerin habe danach mit den gerügten Antworten keine Rechte der Antragsteller verletzt.

95

a) Hinsichtlich der vom Antragsteller zu 1. gerügten Antwort auf die schriftliche Frage 7/84 - "Test der Klima- und Wüstentauglichkeit" - sei klarstellend zu ergänzen, dass das Verteidigungsministerium auf konkrete Nachfrage der Presse bereitwillig mitgeteilt habe, dass Personal der Bundeswehr an einer technischen Erprobung des Kampfpanzers Leopard 2 in den Vereinigten Arabischen Emiraten beteiligt sei. Erst als der Antragsteller zu 1. daraufhin die Beantwortung der Frage 7/84 als unangemessen gerügt habe, sei der Antragsgegnerin verdeutlicht worden, dass die Frage nicht ausschließlich auf Saudi-Arabien, welches zum damaligen Zeitpunkt allein im Fokus der öffentlichen Debatte gestanden habe, gezielt habe. Sie habe mit Schreiben vom 27. September 2011 dem Antragsteller zu 1. gegenüber dann die Auskunft zu Erprobungen von Kampfpanzern in den Vereinigten Arabischen Emiraten erteilt und gesondert darauf hingewiesen, dass diese Erprobung in keinem Zusammenhang mit möglichen Lieferungen in das Königreich Saudi-Arabien stehe.

96

Die schriftliche Frage 7/193 ziele direkt auf die Aufklärung, ob eine Exportgenehmigung erteilt worden sei. Diesbezügliche Entscheidungen dürften aus den dargelegten Gründen geheim gehalten werden.

97

Soweit weitere Fragen implizit die Vorfrage nach der Genehmigung entsprechender Exporte nach Saudi-Arabien enthielten, dürfe die Antragsgegnerin auch diese unbeantwortet lassen. Dies gelte etwa für die Frage nach den Kosten der Panzer (PlenProt 17/119, S. 13807). Die Antragsgegnerin könne sich darauf beschränken, die Geheimhaltungsbedürftigkeit zu begründen. Dies sei mehrfach ausführlich getan worden, obwohl allen Beteiligten die gebräuchliche Praxis bekannt gewesen sei. Die Frage nach "nützlichen Aufwendungen" sei ersichtlich beantwortet worden. Die (Nach-)Frage PlenProt 17/119, S. 13802 habe einen hypothetischen Kern und sei konkret nicht sinnvoll beantwortbar. Angesichts des von den Rüstungsexportrichtlinien eröffneten Beurteilungsspielraums und des komplexen Abwägungsprozesses im Einzelfall lasse sie sich nur auf die erfolgte allgemeine Weise beantworten.

98

Die schriftliche Frage 7/84 zum Test der Klima- und Wüstentauglichkeit sei vollständig und wahrheitsgemäß beantwortet worden. Die Antragsgegnerin habe nicht etwa eine erkennbare Intention der Frage ignoriert. Wenn sie Fragen zum Anlass nehmen müsste, beliebige Informationen zusammenzutragen, die für den Abgeordneten womöglich gleichfalls von Interesse sein könnten, würde der Antragsgegnerin eine "kurze" (GO-BT, Anlage 4, Ziff. 1) Beantwortung von Fragen unmöglich gemacht. Sobald deutlich geworden sei, dass der Antragsteller die Frage nicht ausschließlich auf Saudi-Arabien beschränkt verstanden wissen wollte, seien ihm unverzüglich weitere Informationen mitgeteilt worden.

99

b) Die Fragen PlenProt 17/119, S. 13811 ("Lieferung") und S. 13803 f. ("beschäftigungspolitische Gründe") zielten direkt auf die Aufklärung, ob eine Genehmigung erfolgt sei, und hätten daher nicht beantwortet werden müssen. Eine Begründung hierfür sei während der Debatte mehrfach gegeben worden und habe nicht wiederholt werden müssen. Gleiches gelte für die auf Aufklärung zielende Frage 7/132, ob eine Genehmigung eines Exports nach Algerien erfolgt sei. Auch auf die Frage PlenProt 17/119, S. 13811 zu Bemühungen, einen Missbrauch von Panzern zu verhindern, hätte nur eingegangen werden können, wenn zur Frage der Genehmigung Stellung bezogen worden wäre.

100

c) Die Frage PlenProt 17/119, S. 13804 ("Zustimmung Israel/USA") ziele unmittelbar auf den Vorbereitungsprozess einer Genehmigung, der ebenfalls Bestandteil des Geheimnisschutzes sei. Bei der Frage PlenProt 17/119, S. 13814 ("Entwicklungshilfe/Homosexualität") handle es sich um eine hypothetische Frage, für welche keine Antwortpflicht bestanden habe. Die schriftliche Frage 7/174 ziele direkt auf Aufklärung, ob eine Genehmigung erfolgt sei; diesbezügliche Entscheidungen dürften (vorerst) geheim gehalten werden. Die Frage 7/175 zu "nützlichen Aufwendungen" sei beantwortet worden. Da "nützliche Aufwendungen" seit 1999 nicht mehr steuerlich abzugsfähig seien, verstehe sich die Frage als Frage nach rechtswidrigen Mitteln. Überdies ziele sie auch darauf, ob überhaupt eine Genehmigung erfolgt sei, und habe deshalb nicht beantwortet werden müssen.

101

3. Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundessicherheitsrates führte die Antragsgegnerin auf Anfrage ergänzend aus, der Bundessicherheitsrat lasse die verfassungsrechtlichen Entscheidungsbefugnisse des Art. 65 GG unberührt. Rechtlich seien seine Entscheidungen als Empfehlungen zu verstehen, auch wenn sie faktisch häufig als maßgebliche Richtschnur behandelt würden. Der Ausschuss unterstütze den zuständigen Bundesminister, indem er ihm vermittle, ob dessen Entscheidung politisch mitgetragen werde. Beschlüsse des Bundessicherheitsrates über Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, dem Außenwirtschaftsgesetz und der Außenwirtschaftsverordnung würden den zuständigen Genehmigungsbehörden mittels eines Ergebnisprotokolls der Sitzung des Bundessicherheitsrates mitgeteilt. Die Genehmigungsbehörden setzten die Beschlüsse, an welche sie politisch, aber nicht rechtlich gebunden seien, anschließend um. Nach der Befassung des Bundessicherheitsrates werde keine zusätzliche Kabinettsentscheidung herbeigeführt. Dies gelte auch für Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz und Ausfuhrgenehmigungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz und der Außenwirtschaftsverordnung.

Antworten auf Voranfragen wegen der beabsichtigten Ausfuhr von Kriegswaffen komme keine rechtliche Bindungswirkung für die spätere Entscheidung über einen Genehmigungsantrag zu. Es handele sich vielmehr um eine schlichte Auskunft, ob das geplante Vorhaben nach der zur Zeit der Beantwortung bestehenden Sachlage grundsätzlich genehmigungsfähig sei. Rechtlich verpflichtet sei der Bundessicherheitsrat aber auch bei unveränderter Sachlage nicht, die Genehmigungsfähigkeit bei einer Genehmigungsentscheidung über den Export von Kriegswaffen genauso zu beurteilen wie bei einer vorangegangenen Voranfrage. Dies gelte auch bei einer grundlegend neuen politischen Bewertung durch den Bundessicherheitsrat, da diese regelmäßig auf einer Änderung der außen- und sicherheitspolitischen Gesamtlage beruhe und daher als Änderung der Sachlage anzusehen sei.

V.

102

Als sachkundige Dritte haben der Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. und die Krauss-Maffei Wegmann GmbH & Co. KG schriftlich Stellung genommen. Diese haben ausgeführt, dass Voranfragen zur Genehmigungsfähigkeit regelmäßig bereits in einer frühen Phase der Anbahnung eines Rüstungsexportgeschäfts gestellt würden. Bei positiver Bescheidung schließe sich eine Akquisitionsphase an, die Monate oder auch Jahre andauern könne und oftmals sehr kostenträchtig sei. So beliefen sich allein die Kosten für die Vorführung eines Kampfpanzers vom Typ Leopard 2 im Ausland typischerweise auf über zwei Millionen Euro. Die potentiellen Vertragspartner, bei denen es sich zumeist um Staaten handele, bestünden regelmäßig darauf, dass ihr Interesse an Rüstungsgütern vertraulich behandelt werde. Erst recht werde Vertraulichkeit hinsichtlich der Details der Vertragsverhandlungen erwartet. Auch die sodann abgeschlossenen Kaufverträge enthielten nahezu ausnahmslos Vertraulichkeitsvereinbarungen hinsichtlich des Vertrages und seines Inhaltes. Durch eine frühzeitige Information der Öffentlichkeit über schwebende Vertragsverhandlungen würden derartige Geschäfte praktisch vereitelt. Dies gelte insbesondere im Falle einer Offenlegung gestellter oder beschiedener Voranfragen gegenüber dem Parlament, zumal in diesem Stadium der entsprechende Kaufvertrag im Regelfall noch nicht geschlossen sei.

VI.

103

In der mündlichen Verhandlung hat der Bundesminister des Innern für die Bundesregierung Stellung genommen und die Verfahrensabläufe im Bundessicherheitsrat erläutert. Ergänzend hat er mitgeteilt, dass die Bundesregierung beabsichtige, Parlament und Öffentlichkeit künftig zeitnäher über Genehmigungsentscheidungen zu informieren. Der Rüstungsexportbericht solle jeweils vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause statt zum Ende des Folgejahres erscheinen. Zudem werde es einen Zwischenbericht für das erste Halbjahr des laufenden Jahres im jeweiligen Herbst geben. Über abschließende Genehmigungen des Bundessicherheitsrates werde der Bundestag künftig unverzüglich, spätestens zwei Wochen nach der Tagung des Bundessicherheitsrates schriftlich informiert.

B.

104

Die Anträge des Antragstellers zu 1. sind hinsichtlich der Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13802 D) und der dringlichen Frage (PlenProt 17/119, S. 13807 A) teilweise und hinsichtlich der weiteren Zusatzfragen (PlenProt 17/119, S. 13807 B, C) sowie der schriftlichen Frage 7/193 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 28) vollumfänglich zulässig. Die Anträge der Antragstellerin zu 2. sind insgesamt zulässig, die der Antragstellerin zu 3. hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/175 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 27) teilweise und hinsichtlich der beiden Zusatzfragen (PlenProt 17/119, S. 13804 A, B und PlenProt 17/119, S. 13814 B) sowie der schriftlichen Frage 7/174 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 26) vollumfänglich zulässig. Im Übrigen sind die Anträge unzulässig.

I.

105

1. Die Parteifähigkeit der Antragsteller als Abgeordnete des Deutschen Bundestages folgt aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Dem Abgeordneten kommt gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein eigener verfassungsrechtlicher Status zu, der im Organstreitverfahren gegenüber anderen Verfassungsorganen verteidigt werden kann (BVerfGE 108, 251<270>; 124, 161 <184>; stRspr).

106

2. Die Anträge beziehen sich auf taugliche Antragsgegenstände. Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG kann Antragsgegenstand im Organstreitverfahren sowohl eine Maßnahme als auch ein Unterlassen sein. Es kommt somit nicht darauf an, ob es sich bei den gerügten Antworten der Antragsgegnerin jeweils um eine Maßnahme in Form der Verweigerung einer hinreichenden Antwort oder um ein Unterlassen in Form einer pflichtwidrigen Nichtbeantwortung oder einer nicht hinreichenden Beantwortung der jeweiligen Anfrage handelt. Die Antwortverweigerung, die schlichte Nichtbeantwortung und die nicht hinreichende Beantwortung der Anfragen der Antragsteller können diese konkret in ihrem jeweiligen Rechtskreis aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG betreffen. Somit sind die Maßnahmen oder Unterlassungen auch rechtserheblich (vgl. BVerfGE 96, 264 <277>; 103, 81 <86>; 104, 310 <324>).

107

3. Die Anträge der Antragstellerin zu 3. sind berichtigend dahin auszulegen, dass Antragsgegenstand unter anderem die Nichtbeantwortung beziehungsweise unzureichende Beantwortung der unter Sitzungsprotokoll S. 13814 anstatt "S. 13841" protokollierten Nachfrage und der schriftlichen Frage 175 anstatt "715" sind. Die offensichtliche Unrichtigkeit der Bezeichnungen ergibt sich aus der Antragsbegründung.

II.

108

1. Die Antragsteller sind hinsichtlich des überwiegenden Teils der Antragsgegenstände antragsbefugt. Sie beanstanden eine Reaktion der Antragsgegnerin auf an diese gerichtete parlamentarische Anfragen und berufen sich auf Rechte, die sich unmittelbar aus dem Grundgesetz selbst ergeben. Ein die Antragsteller einerseits und die Antragsgegnerin andererseits umschließendes Verfassungsrechtsverhältnis (vgl. etwa BVerfGE 1, 208 <221>; 84, 290 <297>; 124, 161 <185>) liegt vor. Das - fristgerecht eingeleitete - Organstreitverfahren betrifft die Reichweite des aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Fragerechts des Abgeordneten und der grundsätzlichen Verpflichtung der Bundesregierung, auf dessen Fragen Rede und Antwort zu stehen (vgl. BVerfGE 124, 161 <185> m.w.N.). Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das beanstandete Verhalten der Antragsgegnerin eigene Rechte der Antragsteller, die aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten erwachsen, verletzt (vgl. BVerfGE 94, 351 <362 f.>; 112, 363 <365>). Es erscheint möglich, dass die Antragsgegnerin durch ihre Antworten einen Informationsanspruch der Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG in unzulässiger Weise verkürzt hat. Die Antragsteller haben hinreichend dargelegt, dass sie durch das angegriffene Verhalten der Antragsgegnerin in Rechten verletzt sein können, die ihnen durch das Grundgesetz übertragen worden sind. Eine Verletzung der Rechte der Antragsteller scheidet insbesondere nicht deswegen von vornherein aus, weil die Bundesregierung deren Auskunftsansprüche bereits durch die regelmäßige Veröffentlichung von Rüstungsexportberichten erfüllt. Ob und inwieweit diese ausreichen, um das berechtigte parlamentarische Informationsinteresse zu befriedigen, bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelnen (siehe hierzu Rn. 203 ff.).

109

a) Hinsichtlich der Teilfrage der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13802 D zu der Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien könnte die Antragsgegnerin Informationsrechte des Antragstellers zu 1. verletzt haben, wenn sie unzutreffende Beschränkungen ihrer Antwortpflicht aufgrund des Ressortprinzips angenommen hätte.

110

Hinsichtlich der Teilfrage der dringlichen Frage des Antragstellers zu 1. nach PlenProt 17/119, S. 13807 A in Bezug auf Vermittler, Unterstützer und Nutznießer des Panzergeschäfts mit Saudi-Arabien könnte sich eine Rechtsverletzung aus der Verweigerung einer Sachantwort unter Verkennung der Reichweite des parlamentarischen Informationsanspruchs oder aus einer unzureichenden Begründung der Antwortverweigerung ergeben.

111

Hinsichtlich der Zusatzfrage des Antragstellers zu 1. nach PlenProt 17/119, S. 13807 B, C zum Unterschiedsbetrag zwischen dem Kaufpreis der Panzer in Deutschland und in Saudi-Arabien liegt eine mögliche Rechtsverletzung zwar nicht darin, dass auf die "implizite Vorfrage" nach der Genehmigung eines Panzerexports nicht unmittelbar eingegangen wurde. Eine Antwortplicht kommt nur hinsichtlich tatsächlich gestellter Fragen in Betracht. Eine Rechtsverletzung könnte sich aber durch das möglicherweise nicht gerechtfertigte oder nicht hinreichend begründete Unterlassen einer Sachantwort auf die Frage nach dem Unterschiedsbetrag hinsichtlich der Kaufpreise ergeben.

112

Hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/193 des Antragstellers zu 1. vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 28) besteht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung wegen Verkennung der Reichweite des parlamentarischen Informationsanspruchs. Die Frage, welche Angaben die Antragsgegnerin zu getroffenen Entscheidungen bezüglich der Lieferung von 200 Panzern "LEO" nach Saudi-Arabien macht, richtete sich nach ihrem Zusammenhang auch auf Einzelheiten des konkreten Geschäfts. Dies folgt auch aus der Teilfrage, wie die Antragsgegnerin diese Entscheidungen rechtfertige. Die so verstandene Frage hat die Antragsgegnerin nicht beantwortet.

113

b) Gleiches gilt für die dringliche Frage der Antragstellerin zu 2. (PlenProt 17/119, S.13810 D) danach, welche besonderen außen- und sicherheitspolitischen Gründe die Antragsgegnerin für die Genehmigung der Panzerlieferungen anführe und wie sie deren Vereinbarkeit mit einzelnen Kriterien des EU-Kodexes für Waffenausfuhren bewerte, sowie für ihre Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13811 A) danach, wie die Antragsgegnerin ausschließe, dass die für Saudi-Arabien genehmigten Rüstungsexportgüter zu innerer Repression genutzt würden.

114

In Bezug auf die Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13803 D, ob ausgeschlossen werden könne, dass bei der Entscheidung beschäftigungs- oder industriepolitische Gründe eine Rolle gespielt hätten, ist die Antragstellerin zu 2. ebenfalls antragsbefugt. Die Antragsgegnerin gibt zwar an, dass solche Gründe nachrangig eine Rolle spielen könnten. Sie macht jedoch keine Angaben zum konkreten Geschäft und verletzt damit möglicherweise unter Verkennung der Reichweite des Auskunftsrechts der Abgeordneten Rechte der Antragstellerin zu 2.

115

Antragsbefugt ist die Antragstellerin zu 2. auch hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/132 (BTDrucks 17/6658, S. 24) danach, wann die Antragsgegnerin den Verkauf bestimmter Rüstungsgüter nach Algerien genehmigt habe und welche besonderen außen- und sicherheitspolitischen Gründe sie für die Genehmigung anführe. Die Frage zielte mit der Formulierung "besonderen ... Gründe" ersichtlich auf den Einzelfall. Die Ausführungen der Antragsgegnerin zu den allgemein bei der Entscheidung über Rüstungsexporte nach Algerien zu berücksichtigenden Aspekten beantworten diese Frage nicht.

116

c) Die Antragstellerin zu 3. ist hinsichtlich der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13804 A, B antragsbefugt. Die Frage, ob es stimme, dass die Zustimmung Israels und der USA eingeholt und erteilt worden sei, wurde - möglicherweise unter Verkennung des Auskunftsrechts - in der Sache nicht beantwortet. Auf diese Teilfrage beschränkt sich die Rüge der Antragstellerin zu 3. Die Teilfrage nach der universellen Gültigkeit von Menschenrechten ist nicht Streitgegenstand.

117

Die Antragsbefugnis besteht auch hinsichtlich der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13814 B. Mit dieser Frage wollte die Antragstellerin zu 3. ersichtlich einen Widerspruch in der Haltung der Antragsgegnerin in den Bereichen Entwicklungshilfe und Rüstungsexporte nachweisen. Eine Rechtsverletzung kann darin liegen, dass für eine vollständige Sachantwort möglicherweise eine Gegenüberstellung der jeweiligen Kriterien erforderlich gewesen wäre.

118

Hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/174 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 26) ist die Antragstellerin zu 3. ebenfalls antragsbefugt. Die Frage bezieht sich auf die Begründung der getroffenen Entscheidungen über die Lieferung von Panzern. Da konkret nach "getroffenen" Entscheidungen gefragt war, beantworten die allgemeinen Ausführungen der Antragsgegnerin zu Entscheidungen auf Grundlage der Richtlinien und zur besonderen Bedeutung der Menschenrechte die Frage nicht vollständig. Die Antragsgegnerin hat eine Stellungnahme zum konkreten Geschäft unter Hinweis auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit abgelehnt und damit möglicherweise unter Verkennung des Auskunftsrechts Rechte der Antragstellerin zu 3. verletzt.

119

Auch die Teilfrage der schriftlichen Frage 7/175 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 27) nach Vermittlern, Unterstützern in der Bundesregierung und Nutznießern des Geschäfts wurde nicht beantwortet.

120

2. Hinsichtlich einzelner vom Antragsteller zu 1. und der Antragstellerin zu 3. gestellter Fragen fehlt es an der Antragsbefugnis, weil eine Rechtsverletzung von vornherein ausgeschlossen werden kann.

121

a) Dem Antragsteller zu 1. fehlt es hinsichtlich einer Teilfrage der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13802 D, einer Teilfrage der dringlichen Frage nach PlenProt 17/119, S. 13807 A, der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13807 D und der schriftlichen Frage 7/84 vom 8. Juli 2011 an der Antragsbefugnis. Insoweit kann ausgeschlossen werden, dass das Antwortverhalten der Antragsgegnerin eigene Rechte des Antragstellers zu 1. verletzt haben könnte.

122

Soweit die Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13802 D darauf gerichtet war, ob bei der geschilderten Menschenrechtslage in Saudi-Arabien nach den Richtlinien für Rüstungsexporte Genehmigungen nicht in Betracht kämen, ist sie hinreichend beantwortet worden. Die Antragsgegnerin hat angegeben, dass die Menschenrechtslage im Rahmen eines Abwägungsprozesses zu berücksichtigen sei. Damit hat sie den Standpunkt zum Ausdruck gebracht, dass die Menschenrechtslage als solche eine Genehmigung nicht in jedem Fall ausschließt.

123

Soweit sich die dringliche Frage nach PlenProt 17/119, S. 13807 A auf "nützliche Aufwendungen" beim Zustandekommen des Panzergeschäfts bezog, ist sie mit der Angabe der Antragsgegnerin, ihr lägen keinerlei Erkenntnisse über geleistete gesetzeswidrige Zahlungen vor, hinreichend beantwortet worden. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin die Frage zu eng auslegt, wenn sie "nützliche Aufwendungen" als "gesetzeswidrige Zahlungen" versteht. Das Verständnis "nützlicher Aufwendungen" als Bestechungsgelder und damit gesetzeswidrige Zahlungen (§§ 331 ff. StGB) steht nicht in Widerspruch zum allgemeinen Sprachgebrauch. Auch der Antragsteller zu 1. selbst gebraucht den Begriff in diesem Sinne, etwa in der Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13807 B, C ("sogenannte nützliche Aufwendungen, das heißt Bestechungsgelder").

124

Auch die Zusatzfrage nach PlenProt 17/119, S. 13807 D danach, ob die Antragsgegnerin bereit sei, über die Einzelheiten des Geschäfts Auskunft zu geben, oder ob die Antwort weiter in verfassungswidriger Weise verweigert werde, wurde beantwortet. Mit ihrer Antwort hat die Antragsgegnerin klar zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht bereit sei, über Einzelheiten des Geschäfts Auskunft zu geben, und den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zurückgewiesen. Die Argumentation des Antragstellers zu 1., er habe "ersichtlich" Einzelheiten über den Waffenexport zu erfahren versucht und insoweit keine Antwort erhalten, macht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung nicht plausibel. Die Frage lässt sich in dem von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Sinn verstehen. Wollte der Antragsteller zu 1. sie nicht so verstanden wissen, so hätte es ihm oblegen, sie von vornherein anders zu formulieren oder ihren Sinn durch eine entsprechende Nachfrage klarzustellen.

125

Entsprechendes gilt hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/84 vom 8. Juli 2011, inwieweit es zutreffe, dass die Bundeswehr Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien schicken und dort testen wolle, und wie dieses Vorhaben im Zusammenhang mit dem offenbar genehmigten Verkauf stehe. Die Korrektheit der Antwort der Antragsgegnerin, dass Leopard-Panzer weder von der Bundeswehr selbst noch durch Beauftragte in Saudi-Arabien getestet würden, zieht der Antragsteller zu 1. nicht in Zweifel. Er rügt vielmehr, die Antragsgegnerin habe Tests in den Arabischen Emiraten verschwiegen und damit bewusst das offensichtliche Ziel der Fragestellung ignoriert. Dass die Antragsgegnerin die Frage pflichtwidrig zu eng ausgelegt hätte, ist jedoch nicht ersichtlich. Vom Fragesteller kann eine sorgfältige Formulierung seiner Fragen erwartet werden. Daher ist bei der Auslegung einer parlamentarischen Anfrage zunächst vom Wortlaut und dem Zusammenhang auszugehen, in den die Frage ausdrücklich gestellt ist (vgl. BVerfGE 110, 199 <213>). Wo allerdings Ungenauigkeiten bei der Formulierung der Frage erkennbar aus einem Informationsdefizit des Fragestellers resultieren, ist bei der Beantwortung dem dahinter stehenden Informationsbedürfnis so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Vorliegend hat die Antragsgegnerin die Frage ihrem Wortlaut entsprechend beantwortet, ohne dabei ein erkennbares Informationsbedürfnis des Fragestellers außer Acht zu lassen. Zwar könnte die Bezugnahme auf nur gerüchteweise bekannte Äußerungen bei einer bestimmten Veranstaltung auf ein Informationsdefizit des Antragstellers zu 1. hinweisen, welches für eine großzügigere Auslegung der Frage hätte sprechen können. Da die Frage aber im Kontext der Diskussion über Lieferung von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien erfolgt ist und der Test des Leopard-Panzers in den Vereinigten Arabischen Emiraten nach dem unwidersprochenen Vorbringen der Antragsgegnerin mit einem solchen etwaigen Rüstungsgeschäft nicht in Zusammenhang stand, bestand für die Antragsgegnerin kein hinreichender Anlass, die Frage über den Wortlaut hinaus zu verstehen.

126

b) Der Antragstellerin zu 3. fehlt die Antragsbefugnis im Hinblick auf ihre schriftliche Frage 7/175 (BTDrucks 17/6658, S. 27), soweit sie sich darin nach "nützliche[n] Aufwendungen" erkundigt. Mit der Angabe der Antragsgegnerin, es lägen ihr keine Erkenntnisse über geleistete gesetzeswidrige Zahlungen vor, ist die Frage hinreichend beantwortet worden. Auch hier durfte die Antragsgegnerin "nützliche Aufwendungen" als "gesetzeswidrige Zahlungen" verstehen.

III.

127

Das Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller in Bezug auf die Fragen zu Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien besteht fort. Es wird insbesondere nicht dadurch beseitigt, dass die Antragsgegnerin angekündigt hat, ihre Berichtspraxis zu ändern und den Deutschen Bundestag binnen zwei Wochen über Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates zu informieren, denn die Antragsgegnerin stellt die streitige Verpflichtung zur Beantwortung von Anfragen zu Entscheidungen des Bundessicherheitsrates im hiesigen Verfahren weiterhin in Abrede. Außerdem betrifft die beabsichtigte zeitnahe Information des Deutschen Bundestages nur erteilte Genehmigungen und nicht auch Entscheidungen des Bundessicherheitsrates über Voranfragen.

128

Die Antragsteller haben ein objektives Interesse an der Klärung der Reichweite des aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Fragerechts des Abgeordneten und der Antwortpflicht der Bundesregierung (vgl. zum Klarstellungsinteresse BVerfGE 121, 135 <152>; 131, 152 <194>; Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Mai 2014 - 2 BvE 3/12 -, juris, Rn. 6). Auch der zwischenzeitliche Ablauf der Legislaturperiode lässt das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen, da die Antragsteller weiterhin Mitglieder des Deutschen Bundestages sind (vgl. BVerfGE 87, 207 <209>).

C.

129

Die Anträge sind - soweit zulässig - teilweise begründet.

I.

130

1. Aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgt ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, an dem die einzelnen Abgeordneten und die Fraktionen als Zusammenschlüsse von Abgeordneten nach Maßgabe der Ausgestaltung in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages teilhaben und dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert (vgl. BVerfGE 124, 161 <188>; stRspr). Aus dem Frage- und Interpellationsrecht des Parlaments folgt für die Mitglieder der Bundesregierung daher die verfassungsrechtliche Verpflichtung, auf Fragen Rede und Antwort zu stehen. Die Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Anfragen und auf Fragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages sollen dazu dienen, dem Bundestag und den einzelnen Abgeordneten die für ihre Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu verschaffen. Die Bundesregierung schafft mit ihren Antworten auf parlamentarische Anfragen so die Voraussetzungen für eine sachgerechte Arbeit innerhalb des Parlaments (vgl. zum Ganzen BVerfGE 13, 123 <125>; 57, 1 <5>; 105, 252 <270>; 105, 279 <306>; 124, 161 <187 ff.>).

131

Das parlamentarische Regierungssystem wird auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt. Die parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung verwirklicht den Grundsatz der Gewaltenteilung, der für das Grundgesetz ein tragendes Funktions- und Organisationsprinzip darstellt. Der Gewaltenteilungsgrundsatz zielt dabei nicht auf eine absolute Trennung der Funktionen der Staatsgewalt, sondern auf die politische Machtverteilung, das Ineinandergreifen der drei Gewalten und die daraus resultierende gegenseitige Kontrolle und Begrenzung mit der Folge der Mäßigung der Staatsgewalt (vgl. BVerfGE 3, 225 <247>; 7, 183 <188>; 9, 268 <279>; 22, 106 <111>; 34, 52 <59>; 95, 1 <15>). Er gebietet gerade im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung, zumal wegen mangelnder Eingriffsmöglichkeiten des Parlaments in den der Exekutive zukommenden Bereich unmittelbarer Handlungsinitiative und Gesetzesanwendung, eine Auslegung des Grundgesetzes dahin, dass parlamentarische Kontrolle auch tatsächlich wirksam werden kann. Ohne Beteiligung am Wissen der Regierung kann das Parlament sein Kontrollrecht gegenüber der Regierung nicht ausüben. Daher kommt dem parlamentarischen Informationsinteresse besonders hohes Gewicht zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb von Regierung und Verwaltung geht (vgl. BVerfGE 67, 100 <130>; 110, 199 <219, 222>; 124, 78 <121>).

132

Die Kontrollfunktion ist zugleich Ausfluss der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gestaltet den Grundsatz der Volkssouveränität aus. Er legt fest, dass das Volk die Staatsgewalt, deren Träger es ist, außer durch Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt. Das setzt voraus, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe hat. Deren Akte müssen sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden (vgl. BVerfGE 83, 60 <72>; 93, 37 <66>; 130, 76 <123>). Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird außer durch die Wahl des Parlaments, die vom Parlament beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt und die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung auch durch den parlamentarischen Einfluss auf die Politik der Regierung hergestellt. Das "Ausgehen der Staatsgewalt" vom Volk muss für das Volk wie auch die Staatsorgane jeweils konkret erfahrbar und praktisch wirksam sein. Es muss ein hinreichender Gehalt an demokratischer Legitimation erreicht werden, ein bestimmtes Legitimationsniveau (vgl. BVerfGE 83, 60 <72>; 93, 37 <67>; 107, 59 <87>; 130, 76 <124>). Nur das vom Volk gewählte Parlament kann den Organ- und Funktionsträgern der Verwaltung auf allen ihren Ebenen demokratische Legitimation vermitteln. Im Fall der nicht durch unmittelbare Volkswahl legitimierten Amtswalter und Organe setzt die demokratische Legitimation der Ausübung von Staatsgewalt regelmäßig voraus, dass sich die Bestellung der Amtsträger auf das Staatsvolk zurückführen lässt und ihr Handeln eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt. In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen der Regierung vermittelt. Letztere entfaltet Legitimationswirkung aufgrund der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung (BVerfGE 93, 37 <67 f.>; 107, 59 <87 f.>; 130, 76 <124>).

133

Geheimhaltung gegenüber dem Parlament beschränkt die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und kann deshalb den notwendigen demokratischen Legitimationszusammenhang beeinträchtigen oder unterbrechen (vgl. BVerfGE 130, 76 <128>).

134

2. Der Informationsanspruch des Bundestages und der einzelnen Abgeordneten besteht gleichwohl nicht grenzenlos.

135

a) Er kann sich von vornherein nicht auf Angelegenheiten beziehen, die nicht in die Zuständigkeit der Bundesregierung fallen, da es insoweit an einer Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag fehlt (BVerfGE 124, 161 <189>).

136

b) Begrenzt wird der Informationsanspruch des Bundestages und der einzelnen Abgeordneten auch durch das Gewaltenteilungsprinzip (siehe Rn. 131). In seiner grundgesetzlichen Ausformung als Gebot der Unterscheidung zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) dient dieses Prinzip zugleich einer funktionsgerechten Zuordnung hoheitlicher Befugnisse zu unterschiedlichen, jeweils aufgabenspezifisch ausgeformten Trägern öffentlicher Gewalt und sichert die rechtliche Bindung aller Staatsgewalt (BVerfGE 124, 78<120>). Das Grundgesetz fordert keine absolute Trennung, sondern gegenseitige Kontrolle, Hemmung und Mäßigung der Gewalten (BVerfGE 95, 1 <15>). Die Zweige der Staatsgewalt sind aufeinander bezogen und miteinander verschränkt, dürfen aber ihrer jeweiligen Eigenheit und ihrer spezifischen Aufgaben und Zuständigkeiten nicht beraubt werden (BVerfGE 9, 268 <279 f.>; stRspr). Das Gewaltenteilungsprinzip ist damit zugleich Grund und Grenze des Informationsanspruchs des Parlaments gegenüber der Regierung. Je weiter ein parlamentarisches Informationsbegehren in den inneren Bereich der Willensbildung der Regierung eindringt, desto gewichtiger muss es sein, um sich gegen ein von der Regierung geltend gemachtes Interesse an Vertraulichkeit durchsetzen zu können (vgl. BVerfGE 110, 199 <222>; 124, 78 <122 f.>).

137

aa) Die Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk setzt notwendigerweise einen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung voraus, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt. Dazu gehört zum Beispiel die Willensbildung der Regierung selbst, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen vollzieht (BVerfGE 67, 100 <139>; 110, 199 <214, 222>; 124, 78 <120>; 131, 152 <210>). Bei dem einer konkreten Positionierung vorgelagerten Willensbildungsprozess der Bundesregierung handelt es sich um einen von verschiedenen innen- und außenpolitischen sowie innerorganschaftlichen Belangen, Erwägungen und Entwicklungen abhängigen Vorgang, der den Bereich der Bundesregierung noch nicht verlässt und über den der Bundestag von Verfassungs wegen grundsätzlich (noch) nicht zu informieren ist (vgl. BVerfGE 131, 152 <206>). Eine Pflicht der Regierung, parlamentarischen Informationswünschen zu entsprechen, besteht danach in der Regel nicht, wenn die Information zu einem Mitregieren Dritter bei Entscheidungen führen kann, die in der alleinigen Kompetenz der Regierung liegen (BVerfGE 110, 199 <214>; 124, 78 <120 f.>). Diese Gefahr besteht bei Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen regelmäßig, solange die Entscheidung noch nicht getroffen ist (BVerfGE 110, 199 <214>; 124, 78 <122>). So könnte ein so wesentlicher Teil einer politischen Entscheidung wie die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem sie fallen soll, der Regierung weitgehend aus der Hand genommen werden, wenn das Parlament schon vor diesem Zeitpunkt auf den Stand der Entscheidungsvorbereitung innerhalb der Regierung zugreifen könnte (vgl. BVerfGE 110, 199 <214 f.>).

138

Die Kontrollkompetenz des Bundestages erstreckt sich demnach grundsätzlich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge; sie enthält nicht die Befugnis, in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen einzugreifen (BVerfGE 67, 100 <139>; 110, 199 <215>; 124, 78 <121>). Der aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgende Schutz vor informatorischen Eingriffen in den Bereich exekutiver Entscheidungsvorbereitung erschöpft sich jedoch nicht in dieser Abschirmung gegen unmittelbare Eingriffe in die autonome Kompetenzausübung der Regierung, sondern wirkt über den Zeitpunkt einer Entscheidung hinaus (BVerfGE 110, 199 <215>).

139

bb) Die Rüstungsexportkontrolle ist nicht wegen der außenpolitischen Bedeutung dieses Teilbereichs des Regierungshandelns von vornherein jeglicher parlamentarischen Kontrolle entzogen. Im Bereich der auswärtigen Politik hat das Grundgesetz in Anknüpfung an die traditionelle Staatsauffassung der Regierung aber einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung überlassen. Die Rolle des Parlaments als Gesetzgebungsorgan ist schon aus Gründen der Funktionsgerechtigkeit in diesem Bereich beschränkt (BVerfGE 104, 151 <207>; vgl. auch schon BVerfGE 49, 89 <125>; 68, 1 <87>). Eine erweiternde Auslegung der Zustimmungs- oder Mitwirkungsbefugnisse des Bundestages würde die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ungerechtfertigt beschneiden und auf eine nicht funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt hinauslaufen (BVerfGE 104, 151 <207>).

140

Dies bedeutet aber nicht, dass wesentliche Entscheidungen am Bundestag vorbei getroffen werden könnten. Auch die der Bundesregierung anvertraute auswärtige Gewalt steht keineswegs außerhalb parlamentarischer Kontrolle. Dem Bundestag, der Entscheidungen der Exekutive in auswärtigen Angelegenheiten missbilligt, verbleiben jedoch auch in diesem Bereich seine parlamentarischen Kontrollbefugnisse (vgl. BVerfGE 49, 89 <125>; 68, 1 <89, 109>; 90, 286 <364>; 104, 151 <207>). Er kann sein Frage-, Debatten- und Entschließungsrecht ausüben, seine Kontroll- und Haushaltsbefugnisse wahrnehmen und dadurch auf die Entscheidungen der Regierung einwirken oder durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers die Regierung stürzen (BVerfGE 68, 1 <109 f.>).

141

Entsprechendes gilt für den Bereich der Rüstungsexportkontrolle. Zwar weist Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG der Bundesregierung die Zuständigkeit für die Genehmigung von Kriegswaffenexporten zu. Hierdurch wird die Erfüllung dieser Aufgabe der Kontrolle durch das Parlament aber nicht von vornherein entzogen (so aber Glawe, DVBl 2012, S. 329 <335>). Vielmehr ist zwischen parlamentarischer Mitwirkung einerseits und parlamentarischer Kontrolle andererseits zu unterscheiden. Eine Mitwirkung des Parlaments bei der Ausübung von Staatsfunktionen kommt nur dort in Betracht, wo sie durch das Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Die Gewaltenteilung darf nicht unter Berufung auf das Demokratieprinzip durch Einräumung parlamentarischer Mitentscheidungsbefugnisse unterlaufen, die grundgesetzliche Kompetenzordnung nicht durch die Konstruktion eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts überlagert werden (vgl. BVerfGE 68, 1 <87>). Daraus ist aber keine Einschränkung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung zu folgern. In der Ausübung parlamentarischer Kontrolle liegt kein verfassungswidriger Einbruch in den Gestaltungsbereich der Exekutive. Sie kommt auch dort zum Tragen, wo das Grundgesetz eine ausschließliche Zuständigkeit der Regierung begründet. Unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns tritt die parlamentarische Kontrolle an die Stelle der in dem Bereich ausschließlicher Zuständigkeit der Regierung fehlenden sachlich-inhaltlichen Mitwirkungsrechte des Parlaments. Die Zuständigkeitszuweisung des Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG schafft somit für sich genommen keinen der parlamentarischen Verantwortung grundsätzlich entzogenen Raum gubernativen Entscheidens.

142

cc) Die Beratung und Beschlussfassung im Bundessicherheitsrat unterfallen dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung.

143

(1) Der Bundesregierung steht es auch ohne ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung im Rahmen ihrer Organisationsgewalt zu, Kabinettsausschüsse einzurichten, die gegenüber dem Regierungskollegium eine vorbereitende und beratende Funktion ohne eigenes Entscheidungsrecht ausüben (Busse, DVBl 1993, S. 413 <414>; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 246; Detterbeck, in: Isensee/P. Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 66 Rn. 63; Schröder, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 65 Rn. 37; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 65 Rn. 6). Soweit ein solcher Ausschuss Entscheidungen des Kabinetts vorbereitet, unterfallen die Ausschussberatungen und -ergebnisse grundsätzlich in demselben Umfang dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung wie eigene Vorbereitungshandlungen des Regierungskollegiums.

144

Nach der derzeitigen Staatspraxis bereitet der Bundessicherheitsrat Entscheidungen des Kabinetts allerdings nicht vor, sondern wird an seiner Stelle tätig. Dem Vorbringen der Antragsgegnerin zufolge wird nach der Befassung des Bundessicherheitsrates keine Kabinettsentscheidung mehr herbeigeführt (so auch Zähle, Der Staat 44 (2005), S. 462 <476>). Folglich können sich die Beschlüsse des Bundessicherheitsrates über Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, dem Außenwirtschaftsgesetz und der Außenwirtschaftsverordnung allein an den jeweils zuständigen Fachminister richten, im Bereich der Kriegswaffen also an den Minister, dem nach § 11 Abs. 2 und 3 KWKG in Verbindung mit § 1 der Ersten Durchführungsverordnung zum KWKG die Befugnis zur Erteilung und zum Widerruf der Genehmigung für seinen Geschäftsbereich übertragen ist. Dieser Fachminister erteilt die Genehmigung gegenüber dem Antrag stellenden Unternehmen durch entsprechenden Bescheid.

145

Allerdings dürfen nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG zur Kriegführung bestimmte Waffen nur mit Genehmigung "der Bundesregierung" hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden. Das Grundgesetz unterscheidet zwischen Befugnissen und Zuständigkeiten der Bundesregierung und solchen einzelner Bundesminister (vgl. die Auflistung in BVerfGE 132, 1 <21>). Die Bundesregierung ist ein Kollegialorgan, das nach Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern besteht. Bei Regelungen des Grundgesetzes, die eine Entscheidungszuständigkeit der Bundesregierung vorsehen, ist daher grundsätzlich davon auszugehen, dass es eines Beschlusses des gesamten Kabinetts bedarf (BVerfGE 91, 148 <166>; 115, 118 <149>; 132, 1 <21>). Ausnahmsweise können unter dem Begriff der Bundesregierung jedoch auch die jeweils ressortzuständigen Minister verstanden werden, wenn Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung eine solche Auslegung gebieten (BVerfGE 26, 338 <396>). So wird etwa zu der Regelung in Art. 86 GG betreffend die bundeseigene Verwaltung die Ansicht vertreten, dass mangels Betroffenheit der Länder (auch) der jeweilige Fachminister für seinen Bereich Verwaltungsvorschriften und Regelungen über die Einrichtung der Behörden erlassen kann (BVerwGE 36, 327<333>; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 86 Rn. 52; Ibler, in: Maunz/Dürig, GG, Mai 2008, Art. 86 Rn. 135; Burgi, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 86 Rn. 67).

146

In der Literatur wird teilweise die Ansicht vertreten, dass Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG keine Entscheidung des Kabinetts verlange (Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl. 1994, § 11 Rn. 2; Frank, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 26 Rn. 47; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 26 Rn. 29) oder dass Art. 26 Abs. 2 Satz 2 GG eine Delegationsbefugnis beinhalte (Bieneck, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, 2. Aufl. 2005, § 41 Rn. 4).

147

Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, dass die Delegation der Genehmigungserteilung auf einzelne Minister mit Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar und § 11 Abs. 2 KWKG aus diesem Grunde verfassungswidrig sei (Epping, Grundgesetz und Kriegswaffenkontrolle, 1993, S. 210 ff.; Hartwig, in: Umbach/ Clemens, Bd. 1, 2002, Art. 26 Rn. 40; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, März 2014, Art. 26 Rn. 56; Pernice, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 26 Rn. 28; Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 26 Rn. 76; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 26 Rn. 12; Schmahl, in: Sodan, GG, 2. Aufl. 2011, Art. 26 Rn. 13; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 26 Rn. 46; Hobe, in: Berliner Kommentar zum GG, Nov. 2012, Art. 26 Rn. 18; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 26 Rn. 10).

148

(2) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob die Bundesregierung zur Einrichtung des Bundessicherheitsrates und zur Übertragung der Entscheidungsbefugnis über Kriegswaffenexportanträge auf diesen oder auf einzelne Bundesminister berechtigt ist. Denn im Rechtsverhältnis zum Deutschen Bundestag und seinen Mitgliedern sind die Genehmigungsentscheidungen nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG der Bundesregierung zuzuordnen und durch diese unmittelbar gegenüber dem Parlament und mittelbar gegenüber dem Volk zu verantworten, gleich ob sie durch das Kabinett, durch einen von diesem eingesetzten Ausschuss oder durch einen einzelnen Minister getroffen werden. Genauso wenig, wie die Bundesregierung sich durch eine Delegation der ihr durch das Grundgesetz zugewiesenen Entscheidungsbefugnisse ihrer Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen entledigen kann, führt eine solche Delegation - gleich ob zulässig oder unzulässig - dazu, dass die Entscheidung des Ministers und die darauf bezogene Willensbildung im Bundessicherheitsrat den Charakter des Regierungshandelns verlören und dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung entzogen wären. Ein möglicher Verstoß gegen ein aus der Verfassung abzuleitendes Delegationsverbot änderte nichts daran, dass die Willensbildung im Bundessicherheitsrat im System der Gewaltenteilung der Regierung zuzuordnen ist, zumal in diesem Unterausschuss des Regierungskollegiums allein Regierungsmitglieder stimmberechtigt sind. Der aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgende Schutz vor informatorischen Eingriffen in den Bereich exekutiver Entscheidungsvorbereitung würde durch einen solchen Verstoß nicht entbehrlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Bundesregierung, die den Bundessicherheitsrat durch einen Kabinettsbeschluss eingerichtet hat, dieses Gremium jederzeit durch entsprechenden Beschluss auflösen oder einzelne Beratungen "an sich ziehen" könnte.

149

Der Teilnahme des Bundessicherheitsrates am Kernbereichsschutz steht nicht entgegen, dass an dessen Sitzungen neben Regierungsmitgliedern auch der Chef des Bundeskanzleramtes, der Generalinspekteur der Bundeswehr, die Chefs des Bundespräsidialamtes und des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, die Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie bei Bedarf weitere Dritte teilnehmen können. Hierdurch verliert das Gremium nicht den direkten Bezug zu der Willensbildung innerhalb der Bundesregierung, der die Genehmigungsentscheidungen nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG vorbehalten sind. Soweit der Senat für die sogenannte Präsidentenrunde entschieden hat, dass diese an dem Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung nicht im gleichen Umfang teilnimmt wie das Kabinett (BVerfGE 124, 78 <137>), ist diese Entscheidung auf den Bundessicherheitsrat nicht übertragbar. Die Funktion der Präsidentenrunde besteht lediglich im Austausch von Informationen, der Beratung sowie in der Vorbereitung einer Entscheidungsfindung in den zuständigen Ressorts in Fragen der äußeren und inneren Sicherheit. Weder handelt es sich um ein Entscheidungsgremium, noch dienen die Beratungen der Präsidentenrunde notwendiger- oder auch nur typischerweise der unmittelbaren Vorbereitung von Kabinettsentscheidungen (BVerfG, a.a.O.). Erst recht treten sie nicht faktisch an deren Stelle.

150

c) Eine weitere Grenze des Informationsanspruchs des Bundestages bildet das Wohl des Bundes oder eines Landes (Staatswohl), das durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden kann (vgl. BVerfGE 67, 100 <134 ff.>; 124, 78 <123> jeweils für das Beweiserhebungsrecht parlamentarischer Untersuchungsausschüsse). Die Frage, welche Grenzen die Verfassung dem parlamentarischen Frage- und Untersuchungsrecht setzt, ist unter Berücksichtigung seiner Bedeutung im Verfassungsgefüge zu beantworten. Dies gilt auch für die Auslegung und Anwendung des Begriffs der Gefährdung des Staatswohls (vgl. BVerfGE 124, 78 <123>). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Bundestag in der Geheimschutzordnung in detaillierter Weise die Voraussetzungen für die Wahrung von Dienstgeheimnissen bei der Aufgabenerfüllung des Bundestages festgelegt hat (vgl. BVerfGE 67, 100 <135>; 77, 1 <48>; vgl. auch BVerfGE 70, 324 <359>). Die Verschwiegenheitspflicht aufgrund parlamentsrechtlicher Regelungen wird durch die strafrechtliche Sanktion des § 353b Abs. 2 Nr. 1 StGB bekräftigt. Diese Geheimschutzbestimmungen sind Ausdruck der Tatsache, dass das Parlament ohne eine Beteiligung am geheimen Wissen der Regierung weder das Gesetzgebungsrecht noch das Haushaltsrecht noch das parlamentarische Kontrollrecht gegenüber der Regierung auszuüben vermöchte (BVerfGE 67, 100 <135>; 70, 324 <359>). Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Staatswohl im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes nicht allein der Bundesregierung, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut ist (vgl. BVerfGE 67, 100 <136>; 124, 78 <124>). Das Parlament und seine Organe können nicht als Außenstehende behandelt werden, die zum Kreis derer gehören, vor denen Informationen zum Schutz des Staatswohls geheim zu halten sind (BVerfGE 124, 78 <124>). Mithin kann die Berufung auf das Wohl des Bundes gerade gegenüber dem Bundestag in aller Regel dann nicht in Betracht kommen, wenn beiderseits wirksam Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen getroffen wurden. Dass auch die Beachtung von Vorschriften zur Wahrung von Dienstgeheimnissen deren Bekanntwerden nicht ausschließt, steht dem nicht entgegen, denn diese Tatsache betrifft alle drei Gewalten (BVerfGE 67, 100 <136>).

151

Die Geheimschutzbestimmungen des Bundestages lassen allerdings die eigene, aus der ihr anvertrauten Regierungsgewalt herrührende Verantwortung der Bundesregierung für die Wahrung der Dienstgeheimnisse unberührt (BVerfGE 67, 100 <137>; 70, 324 <359>). Die Bundesregierung ist daher nicht verpflichtet, Verschlusssachen, die Dienstgeheimnisse enthalten, dem Bundestag vorzulegen, wenn dieser nicht den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Geheimschutz gewährleistet (vgl. BVerfGE 67, 100 <137>). Vorkehrungen zur Geheimhaltung und die Entscheidung, nur ein sehr kleines parlamentarisches Gremium mit Beratungsgegenständen aus einem vertraulichen Bereich zu befassen, können daher verfassungsrechtlich zulässig sein, obgleich damit erhebliche Beschränkungen des Zugangs der meisten Abgeordneten zu diesen Informationen verbunden sind (BVerfGE 70, 324 <360, 364>; 130, 318 <352 f., 359>; 131, 230 <235>).

152

Andererseits ist zu beachten, dass der Deutsche Bundestag seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder wahrnimmt (BVerfGE 130, 318 <342>; vgl. auch schon BVerfGE 44, 308 <316>; 56, 396 <405>; 80, 188 <218>; ferner BVerfGE 131, 230 <235>). Daher ist jeder Abgeordnete berufen, an der Arbeit des Bundestages, seinen Verhandlungen und Entscheidungen teilzunehmen (BVerfGE 130, 318 <342>). Soweit Abgeordnete durch die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der parlamentarischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden, ist dies nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig (BVerfGE 131, 230 <235>). Es bedarf eines besonderen Grundes, der durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht ist, das der Gleichheit der Abgeordneten die Waage halten kann (BVerfGE 131, 230 <235>).

153

Überträgt der Deutsche Bundestag zur Wahrung anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang einem von ihm aufgrund seiner Selbstorganisationsbefugnis eingerichteten Ausschuss oder einem anderen Untergremium einzelne der von ihm zu erfüllenden Aufgaben zur selbständigen und plenarersetzenden Wahrnehmung und bestehen dafür Gründe, die dem Gebot der gleichberechtigten Mitwirkung aller Abgeordneten die Waage halten, darf die Beschränkung der Statusrechte der gewählten Abgeordneten und die damit verbundene Ungleichbehandlung nicht weiter reichen, als dies unbedingt erforderlich ist (BVerfGE 130, 318 <353>). Auch Belange des Geheimschutzes im Interesse verfassungsrechtlich geschützter Güter sind als zwingende Gründe des Staatswohls grundsätzlich geeignet, die Einschränkung von Statusrechten der Abgeordneten zu rechtfertigen (BVerfGE 70, 324 <358 f.>; 130, 318 <359>; vgl. auch BVerfGE 131, 230 <235>). Die Staatspraxis kennt das aus elf Abgeordneten gebildete Parlamentarische Kontrollgremium, das unter anderem die nachrichtendienstliche Tätigkeit überwacht (BVerfGE 130, 318 <359>). Zudem hat es das Bundesverfassungsgericht gebilligt, dass über die Wirtschaftspläne der Geheimdienste des Bundes nicht das Plenum, sondern ein wesentlich kleineres, geheim verhandelndes und ausschließlich zu diesem Zwecke gebildetes Gremium berät, weil aus der Vielzahl der Informationen, die bei der Beratung bekannt werden, mosaikartig auch ein Bild von den konkreten Operationen der Geheimdienste gewonnen werden und dies darüber hinaus zur Gefährdung von Personen führen kann (BVerfGE 70, 324 <364>). Ebenso wie bei militärischen Geheimnissen oder sonstigen aus Gründen des Staatsschutzes geheim zu haltenden Informationen kann die Geheimschutzordnung möglicherweise auch dann keine ausreichende Vorsorge bieten, wenn über Maßnahmen entschieden werden muss, bei denen nicht nur der Inhalt der Beratung, sondern auch die Tatsache der Beratung und der Beschlussfassung an sich geheim gehalten werden müssen, um den Erfolg einer Maßnahme nicht von vornherein unmöglich zu machen (BVerfGE 130, 318 <362>).

154

d) Schließlich können das Fragerecht der Abgeordneten und die Antwortpflicht der Bundesregierung dadurch begrenzt sein, dass diese gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zu beachten haben (BVerfGE 67, 100<142>; 76, 363 <387>; 77, 1 <46>; 124, 78 <125>). Werden Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse durch den Staat offen gelegt oder verlangt er deren Offenlegung, so ist Art. 12 Abs. 1 GG in seinem Schutzbereich berührt (vgl. BVerfGE 115, 205 <230>; 128, 1 <56>).

155

Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist nach Art. 19 Abs. 3 GG auch auf juristische Personen anwendbar, soweit sie eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit ausüben, die ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise einer juristischen wie einer natürlichen Person offen steht (BVerfGE 50, 290<363>; 115, 205 <229>; stRspr). Das Freiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG schützt das berufsbezogene Verhalten einzelner Personen oder Unternehmen am Markt. Erfolgt die unternehmerische Berufstätigkeit nach den Grundsätzen des Wettbewerbs, wird die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen (BVerfGE 105, 252 <265>; 115, 205 <229>). Behindert eine den Wettbewerb beeinflussende staatliche Maßnahme eine juristische Person in ihrer beruflichen Tätigkeit, so stellt dies eine Beschränkung ihres Freiheitsrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG dar (BVerfGE 86, 28<37>; 115, 205 <230>).

156

Durch die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen kann die Ausschließlichkeit der Nutzung des betroffenen Wissens für den eigenen Erwerb beeinträchtigt werden. Wird exklusives wettbewerbserhebliches Wissen den Konkurrenten zugänglich, mindert dies die Möglichkeit, die Berufsausübung unter Rückgriff auf dieses Wissen erfolgreich zu gestalten. So können unternehmerische Strategien durchkreuzt werden. Auch kann ein Anreiz zu innovativem unternehmerischen Handeln entfallen, weil die Investitionskosten nicht eingebracht werden können, während gleichzeitig Dritte unter Einsparung solcher Kosten das innovativ erzeugte Wissen zur Grundlage ihres eigenen beruflichen Erfolgs in Konkurrenz mit dem Geheimnisträger nutzen (vgl. zum Ganzen BVerfGE 115, 205 <230>).

157

3. Aus der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, folgt, dass sie die Gründe darlegen muss, aus denen sie die erbetenen Auskünfte verweigert (BVerfGE 124, 161 <193>). Denn der Bundestag kann seine Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle des Regierungshandelns nur dann effektiv wahrnehmen, wenn er anhand einer der jeweiligen Problemlage angemessen ausführlichen Begründung beurteilen und entscheiden kann, ob er die Verweigerung der Antwort akzeptiert oder welche weiteren Schritte er unternimmt, sein Auskunftsverlangen ganz oder zumindest teilweise durchzusetzen. Hierzu muss er Abwägungen betroffener Belange, die zur Versagung von Auskünften geführt haben, auf ihre Plausibilität und Nachvollziehbarkeit überprüfen können (vgl. BVerfGE 124, 161 <193>). Eine Begründung der Antwortverweigerung ist daher nur dann entbehrlich, wenn die Geheimhaltungsbedürftigkeit evident ist (vgl. BVerfGE 124, 161 <193>).

II.

158

Nach diesen Maßstäben ist die Bundesregierung verpflichtet, Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf entsprechende Anfragen hin mitzuteilen, dass der Bundessicherheitsrat ein bestimmtes, das heißt hinsichtlich des Rüstungsguts, des Auftragsvolumens und des Empfängerlandes konkretisiertes Kriegswaffenexportgeschäft genehmigt hat oder dass eine Genehmigung für ein wie in der Anfrage beschriebenes Geschäft nicht erteilt worden ist. Darüber hinaus gehende Angaben sind verfassungsrechtlich nicht geboten.

159

1. Die Willensbildung innerhalb der Bundesregierung ist nicht bereits mit der positiven oder negativen Antwort auf eine Voranfrage (a), sondern erst mit dem vom Bundessicherheitsrat gefassten Beschluss zu einem formellen Genehmigungsantrag abgeschlossen; über eine positive Genehmigungsentscheidung hat die Bundesregierung den Bundestag und seine Mitglieder daher auf Anfrage zu unterrichten (b). Keine Antwortpflicht besteht hingegen bei Fragen zu den Gründen einer getroffenen Entscheidung und zum Inhalt und Verlauf der Beratungen im Bundessicherheitsrat (c).

160

a) Die positive Beantwortung einer auf die Genehmigungsfähigkeit eines Kriegswaffenexportgeschäfts abzielenden Voranfrage eines Unternehmens der Rüstungsindustrie schließt die Willensbildung innerhalb der Bundesregierung in Bezug auf das betreffende Exportvorhaben nicht ab. Etwas anderes könnte für die Ablehnung einer Voranfrage gelten, die aber nach dem von den Antragstellern nicht angezweifelten Vorbringen der Antragsgegnerin grundsätzlich nicht erfolgt und zudem aus anderen, unten näher dargelegten Gründen (vgl. Rn. 174 ff.) nicht mitzuteilen ist.

161

Mit einer positiven Beantwortung einer Voranfrage lassen der Bundessicherheitsrat und der für Voranfragen in Bezug auf Kriegswaffen zuständige Minister erkennen, dass zum Zeitpunkt der Antwort keine Bedenken gegen das beabsichtigte Exportgeschäft bestehen, so dass ein entsprechender formgerechter, konkretisierter und mit ausreichenden Unterlagen unterlegter Antrag Aussicht auf Erfolg hätte. Es handelt sich folglich bei der Beantwortung einer Voranfrage um eine Auskunft über die Genehmigungsfähigkeit des beabsichtigten Exports zum Zeitpunkt der Bescheidung dieser Anfrage, nicht aber um eine Zusicherung nach § 38 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) oder gar um eine abschließende Teilregelung oder Teilgenehmigung (Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 2. Aufl. 1994, § 9 Rn. 55; a.A. Zähle, Der Staat 44 (2005) S. 462 <475> und VG Frankfurt, Urteil vom 1. November 2001 - 1 E 6167/00 (1) -, juris, Rn. 21). Eine Zusicherung im Sinne von § 38 Abs. 1 Satz 1 VwVfG liegt nur vor, wenn der Wille der Behörde, sich für die Zukunft zu binden und einen entsprechenden Anspruch des Begünstigten auf die zugesagte Maßnahme zu begründen, in der Erklärung eindeutig erkennbar ist. Wird eine Maßnahme lediglich "in Aussicht gestellt", so liegt im Regelfall nur eine unverbindliche Absichtserklärung vor, wie weiter zu verfahren ist (Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 38 Rn. 21 ff. <24>). Die von der Antragsgegnerin exemplarisch eingereichten Antworten des Auswärtigen Amtes auf Voranfragen betreffend die Ausfuhr von Kriegswaffen sind so formuliert, dass dem anfragenden Unternehmen mitgeteilt wird, dass die Bundesregierung eine Genehmigung der Ausfuhr in Aussicht stellt, soweit sich die Umstände zum Zeitpunkt der Stellung des konkreten Antrages nicht wesentlich geändert haben. Aus einer solchen Mitteilung geht der Wille der Bundesregierung, sich zu binden und entgegen § 6 Abs. 1 KWKG einen Anspruch des Unternehmens auf die Genehmigung zu begründen, nicht eindeutig hervor. Der Bundessicherheitsrat und die beteiligten Ministerien sind folglich an die positive Beantwortung einer Voranfrage nicht gebunden, ein anschließender Antrag auf Erteilung der Genehmigung kann auch bei unveränderten Umständen abgelehnt werden. Ob in einem solchen Fall ein Amtshaftungsanspruch gegen die Bundesrepublik bestehen kann (so Pottmeyer, a.a.O., Rn. 56), bedarf hier keiner Klärung.

162

Dieser Rechtslage entspricht anscheinend die tatsächliche Praxis der Antragsgegnerin. Nach deren Vorbringen fühlt sich der Bundessicherheitsrat an seine Antworten auf Voranfragen rechtlich nicht gebunden. Vielmehr wird nach Eingang des vollständigen Genehmigungsantrages nochmals in die Beratung eingetreten und kommt es auch zu anschließenden Ablehnungsentscheidungen, die offenbar auch auf einer geänderten Einschätzung der im Wesentlichen unveränderten Lage in dem Empfängerland beruhen können.

163

Eine Verpflichtung der Bundesregierung, den Bundestag generell oder einzelne Abgeordnete auf konkrete Fragen hin über Entscheidungen des Bundessicherheitsrates zu Voranfragen in Bezug auf beabsichtigte Kriegswaffenexporte zu informieren, würde vor diesem Hintergrund in einen noch nicht abgeschlossenen ressortübergreifenden Willensbildungsprozess aus dem Verantwortungsbereich der Bundesregierung eingreifen. Der durch die Beantwortung der Voranfrage rechtlich nicht gebundene Bundessicherheitsrat würde der Einflussnahme des Parlaments auf seine von verschiedenen außenpolitischen Belangen, Erwägungen und Entwicklungen abhängige Beratung und Entscheidung über den nachfolgenden Genehmigungsantrag ausgesetzt. Damit würde dem Parlament das faktische Mitregieren bei einer Entscheidung ermöglicht, die in der alleinigen Kompetenz der Regierung liegt. Die Kontrollaufgabe des Parlaments würde in eine Steuerungsbefugnis verkehrt, die ihm ausweislich von Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG in diesem Bereich nicht zukommt.

164

b) Die Willensbildung innerhalb der Bundesregierung ist nicht erst mit dem Erlass des positiven oder negativen Genehmigungsbescheides durch das jeweils zuständige Bundesministerium abgeschlossen. Entscheidender Willensbildungsakt ist vielmehr die Beratung eines Genehmigungsantrages im Bundessicherheitsrat, die mit dessen Beschlussfassung ihren Abschluss findet.

165

Die rechtliche Qualität der Beschlüsse des Bundessicherheitsrates im Bereich der Kriegswaffenexporte ist in der Literatur umstritten. Teilweise wird die auch von der Antragsgegnerin vorgebrachte Ansicht vertreten, es handele sich um rechtlich unverbindliche Empfehlungen, die dem jeweils zuständigen Minister lediglich vermitteln, ob dessen Entscheidung politisch mitgetragen werde (so Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 42 IV. 4. c), S. 875; Zähle, Der Staat 44 (2005), S. 462 <477>, im Wege verfassungskonformer Auslegung; Busse/Hofmann, Bundeskanzleramt und Bundesregierung, 5. Aufl. 2010, S. 96 f.; Glawe, Organkompetenzen und Handlungsinstrumente auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit, 2011, S. 32, der allerdings von einer Empfehlung an das Bundeskabinett ausgeht). Nach anderer Ansicht trifft der Bundessicherheitsrat selbst die Genehmigungsentscheidung, an die der zuständige Minister gebunden ist und die sein Ministerium als Genehmigungsbehörde durch entsprechenden Bescheid umsetzen muss (Kadner, Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gegenüber der Sonderstellung einzelner Bundesminister unter besonderer Berücksichtigung des Bundesministers für Verteidigung, 1970, S. 111; Epping, Grundgesetz und Kriegswaffenkontrolle, 1993, S. 227; Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 2. Aufl. 1998, S. 247). Dieser Auffassung zufolge ist der Bundessicherheitsrat aufgrund der ihm als Entscheidungsgremium zukommenden Leitungsgewalt wegen Verstoßes gegen die Ressortselbständigkeit der Minister und die Kanzlerprärogative verfassungswidrig (Kadner, a.a.O.; Epping, a.a.O.; Böckenförde, a.a.O.; a.A. Steinberg, Abrüstungs- und Rüstungskontrollverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 108, der zwar ein Entscheidungsrecht des Bundessicherheitsrates annimmt, dies aber mit Art. 65 GG für vereinbar hält).

166

Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob - wie es der Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG nahe legt - die Bundesregierung beziehungsweise der Bundessicherheitsrat selbst zur Entscheidung verpflichtet ist (zum Erlass von Verwaltungsakten durch die Bundesregierung vgl. BVerwGE 117, 322 <328>, Rn. 16) oder das zuständige Ministerium als Genehmigungsbehörde rechtlich an den jeweiligen Beschluss des Bundessicherheitsrates gebunden ist. Nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin erfolgt in der Staatspraxis die abschließende Entscheidung im Bundessicherheitsrat. An dessen Beschlüsse halten sich die Minister faktisch und fühlen sich durch diese gebunden. Der Antragsgegnerin zufolge ist ihr kein Fall bekannt, in dem ein Minister von einer Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates abgewichen ist. Es besteht kein Grund, an dieser Darstellung zu zweifeln. Eine andere Handhabung würde auf Dauer zu fortwährenden Konflikten zwischen der Gesamtheit der Mitglieder des Bundessicherheitsrates und dem von dessen Beschlüssen abweichenden Minister und zu einer ständigen Befassung des gesamten Kabinetts führen (Art. 65 Satz 3 GG).

167

Zugunsten der Antragsteller kann daher davon ausgegangen werden, dass die Willensbildung der Bundesregierung in Bezug auf einen Kriegswaffenexportantrag mit dem jeweiligen Beschluss des Bundessicherheitsrates abgeschlossen ist. Damit endet der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung für die getroffene Entscheidung in diesem Zeitpunkt. Die Bundesregierung ist verpflichtet, den Abgeordneten des Bundestages auf Anfragen hin mitzuteilen, dass der Bundessicherheitsrat einen Beschluss über die Genehmigung eines Kriegswaffenexportgeschäfts gefasst hat.

168

c) Die Bundesregierung ist jedoch nicht verpflichtet, über die Mitteilung einer erfolgten Genehmigung hinaus Angaben zu der dieser Entscheidung vorausgegangenen Willensbildung innerhalb des Bundessicherheitsrates zu machen.

169

Parlamentarische Informationsrechte in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge scheiden zwar nicht grundsätzlich immer dann aus, wenn es sich um Informationen aus dem Bereich der Willensbildung der Regierung, einschließlich der vorbereitenden Willensbildung innerhalb der Ressorts und der Abstimmung zwischen ihnen handelt (BVerfGE 110, 199 <219>; 124, 78 <122>). Dem parlamentarischen Zugriff können grundsätzlich auch Informationen aus dem Bereich der regierungsinternen Willensbildung unterliegen (BVerfGE 124, 78 <122>).

170

Andererseits würde ein - sei es auch erst nach Abschluss des jeweiligen Entscheidungsprozesses einsetzender - schrankenloser parlamentarischer Anspruch auf Informationen aus diesem Bereich vor allem durch seine einengenden Vorwirkungen die Regierung in der selbständigen Funktion beeinträchtigen, die das Gewaltenteilungsprinzip ihr zuweist (BVerfGE 110, 199 <215>; 124, 78 <121>). Informationen aus dem Vorfeld von Regierungsentscheidungen sind danach zwar nach Abschluss der jeweiligen Entscheidung nicht mehr im selben Maße geschützt wie in der Phase, in der die Kenntnisnahme Dritter diesen einen unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidung verschaffen würde (vgl. BVerfGE 110, 199 <215 f.>). Jedoch sind auch bei abgeschlossenen Vorgängen Fälle möglich, in denen die Regierung nicht verpflichtet ist, geheim zu haltende Tatsachen aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung mitzuteilen (vgl. BVerfGE 67, 100 <139>; 110, 199 <216>; 124, 78 <121>). Die Grenzen des parlamentarischen Informationsanspruchs lassen sich in Bezug auf abgeschlossene Vorgänge nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände feststellen (vgl. BVerfGE 110, 199 <219>; 124, 78 <122>). Die Notwendigkeit, hier zwischen gegenläufigen Belangen abzuwägen, entspricht der doppelten Funktion des Gewaltenteilungsgrundsatzes als Grund und Grenze parlamentarischer Kontrollrechte (BVerfGE 110, 199 <219>; 124, 78 <122>). In ihr kommt zum Ausdruck, dass die parlamentarische Kontrolle der Regierung einerseits gerade dazu bestimmt ist, eine demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechende Ausübung der Regierungsfunktion sicherzustellen, andererseits aber diese Funktion auch stören kann und daher der Begrenzung auf ein funktionsverträgliches Maß bedarf (BVerfGE 110, 199 <219>; 124, 78 <122>).

171

Als funktioneller Belang fällt bei abgeschlossenen Vorgängen nicht mehr die Entscheidungsautonomie der Regierung, sondern vor allem die Freiheit und Offenheit der Willensbildung innerhalb der Regierung ins Gewicht. Unter diesem Aspekt sind Informationen aus dem Bereich der Vorbereitung von Regierungsentscheidungen, die Aufschluss über den Prozess der Willensbildung geben, umso schutzwürdiger, je näher sie der gubernativen Entscheidung stehen (vgl. BVerfGE 110, 199 <221>; 124, 78 <122 f.>).

172

Die Bundesregierung ist danach nicht verpflichtet, über den Inhalt und den Verlauf der Beratungen im Bundessicherheitsrat und über das Abstimmungsverhalten seiner Mitglieder Auskunft zu geben. Die Mitglieder des Gremiums sind auf die Vertraulichkeit der Beratungen in besonderem Maße angewiesen, da die Entscheidung über eine beabsichtigte Ausfuhr von Kriegswaffen eine eingehende Beurteilung des Empfängerlandes erfordert, etwa im Hinblick auf dessen politische und militärische Stabilität. Müssten die Mitglieder des Bundessicherheitsrates damit rechnen, dass die von ihnen in den Beratungen abgegebenen Einschätzungen alsbald nach der getroffenen Entscheidung veröffentlicht werden, so könnten sie nicht in auf Vertraulichkeit der Beratungen fußender Offenheit Gründe vorbringen, die für oder gegen eine Genehmigung sprechen. Es wäre sogar naheliegend, dass in einer solchen Situation die eigentlichen Beratungen faktisch nicht mehr in dem Gremium selbst erfolgen, sondern in Vorbesprechungen oder in kleinere, geheim tagende Kreise ausgelagert würden. Derartige einengende Vorwirkungen würden den Bundessicherheitsrat in seiner Funktion nachhaltig beeinträchtigen. Die Preisgabe der Beratungsabläufe im Bundessicherheitsrat wäre daher ein erheblicher Eingriff in den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung.

173

Das parlamentarische Informationsinteresse fällt demgegenüber weniger stark ins Gewicht. Parlamentarisch verantwortlich für die Genehmigungsentscheidungen nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG ist die Bundesregierung. Die Information, welcher Minister im Rahmen der Beratungen welche Position vertreten hat, mag daher von allgemeinem politischen Interesse sein, für die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns ist sie aber nicht relevant.

174

2. Die Antwort auf Fragen zu noch nicht beschiedenen Anträgen auf Erteilung einer Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen kann die Bundesregierung ebenso wie die Auskunft über Voranfragen von Rüstungsunternehmen auch aus Gründen des Staatswohls verweigern. Entsprechendes gilt für die Tatsache, dass ein Genehmigungsantrag abgelehnt wurde. Auch bei durch den Bundessicherheitsrat bereits gebilligten Anträgen auf Erteilung einer Genehmigung kann die Verweigerung der Antwort aus diesen Gründen gerechtfertigt sein.

175

Die Weitergabe der Information, ob der Bundessicherheitsrat eine Voranfrage beschieden hat, kann zu Verwerfungen im Verhältnis zu dem jeweiligen Erwerberland führen. Zum einen können dadurch Rüstungserwerbsabsichten publik werden, die das jeweilige Land jedenfalls in diesem frühen Stadium der Geschäftsanbahnung geheim halten möchte, etwa weil durch eine Veröffentlichung die künftige Verteidigungsstrategie des Landes erkennbar würde. Zum anderen kann das Bekanntwerden der Tatsache, dass eine Genehmigung verweigert beziehungsweise eine Voranfrage abschlägig beschieden oder zurückgestellt wurde, das an dem Erwerb interessierte Land öffentlich brüskieren und damit die Beziehungen zur Bundesrepublik stören.

176

Eine erhebliche Beeinträchtigung außenpolitischer Interessen drohte, wenn auch die Gründe für die Ablehnung einer Genehmigung oder Voranfrage mitgeteilt werden müssten, etwa die Gefahr der Verwendung der zur Ausfuhr vorgesehenen Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung oder bei Menschenrechtsverletzungen. Zudem könnten die Gründe in Einzelfällen Rückschlüsse auf bestimmte Informationsquellen zulassen, an deren Geheimhaltung die Bundesregierung gerade im Verhältnis zu dem betroffenen Land zum Schutz seiner Informationskanäle ein berechtigtes Interesse hat.

177

Das Bekanntwerden sensibler Rüstungsexportgeschäfte kann auch über das Verhältnis zum direkt betroffenen Erwerberland hinaus die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung beeinträchtigen. Rüstungsexportentscheidungen haben in der Regel eine diplomatische Dimension. So wird der Export von Kriegswaffen in Länder, die nicht Mitglied der NATO oder der Europäischen Union oder den NATO-Mitgliedsländern gleichgestellt sind, nur genehmigt, wenn "im Einzelfall besondere außen- oder sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen für eine ausnahmsweise zu erteilende Genehmigung sprechen" (Politische Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern, III. 2., abgedruckt im Rüstungsexportbericht 2013, Anlage 1, S. 36). Der Handel mit Rüstungsgütern gilt als "wichtiges diplomatisches Instrument" (Richter, Die Rüstungsindustrie im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 20). Waffenexporte können den Zusammenhalt von Bündnissen und die militärische Schlagkraft befreundeter Staaten stärken und als "Gegenleistung" eingesetzt werden, etwa für Stationierungs- oder Überflugrechte (Roeser, Völkerrechtliche Aspekte des internationalen Handels mit konventionellen Waffen, 1988, S. 41). Die Verweigerung von Rüstungsexporten kann demgegenüber - wie etwa konzertierte Embargo-Aktionen zeigen - der Erhaltung des eigenen waffentechnischen Vorsprungs gegenüber anderen Staaten und damit der Sicherheit des Staates dienen (von Poser und Groß Naedlitz, Die Genehmigungsentscheidung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, 1999, S. 56). Die Haltung der Bundesregierung zu einem beabsichtigten Rüstungsgeschäft kann damit auch Indikator für die politische Beziehung zu einem Land oder Ausdruck einer bestimmten Sicherheitsstrategie sein. Das vorzeitige Öffentlichwerden solcher Rüstungsexportgeschäfte kann ebenso wie das Bekanntwerden einer ablehnenden Entscheidung die Abschätzbarkeit der deutschen Außenpolitik für andere Länder erleichtern und damit Verhandlungs- und Gestaltungsspielräume verengen. Gleiches gilt für das Bekanntwerden der Gründe für die Bewilligung oder Ablehnung einer Genehmigung. Die Bundesregierung ist daher nicht verpflichtet, die Gründe für eine vom Bundessicherheitsrat getroffene Entscheidung mitzuteilen. Auch über die Ablehnung eines Kriegswaffenausfuhrantrages muss keine Auskunft erteilt werden.

178

Ein frühzeitiges Bekanntwerden eines beabsichtigten Rüstungsexportgeschäfts und der Haltung der Bundesregierung bereits im Stadium der Vertragsanbahnung birgt darüber hinaus die Gefahr, dass ein drittes Land, welches mit dem Geschäft nicht einverstanden ist, versucht, dieses Geschäft vor seiner tatsächlichen Durchführung durch den Einsatz von Druckmitteln zu verhindern. Zudem kann ein frühzeitiges Bekanntwerden dazu führen, dass ausländische Konkurrenzunternehmen an den Kaufinteressenten herantreten und das Geschäft durch Abgabe eines günstigeren Angebots an sich ziehen. Dies kann jedenfalls dort ein Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung aus Gründen des Staatswohls rechtfertigen, wo die Durchführung des Exportgeschäfts im außenpolitischen Interesse der Bundesrepublik liegt. Zudem stellt die Aufrechterhaltung eines nationalen Rüstungswesens ein legitimes staatliches Ziel dar. Eine eigene rüstungsindustrielle Basis führt aus verteidigungspolitischer Sicht dazu, dass die nationalen Streitkräfte durch die inländische Industrie ausgerüstet werden können. Gegenüber der Beschaffung der militärischen Ausrüstung auf dem Weltmarkt werden als Vorteile unter anderem der staatliche Einfluss als Hauptauftraggeber (Richter, Die Rüstungsindustrie im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 24; ähnlich Raidel, Eine Lanze für die deutsche Verteidigungswirtschaft, Politik & Sicherheit, Heft 8, August 2009, S. 1 f.) und die daraus folgende passgenaue Ausrichtung nationaler Rüstungsprodukte auf die taktischen und operativen Konzepte der Streitkräfte sowie die Möglichkeit der konzeptionellen Weiterentwicklung der Streitkräfte genannt (Küchle, Die deutsche Heeresindustrie in Europa, 2007, S. 9). Zudem erhöht eine eigene Rüstungsindustrie die Versorgungssicherheit und dient der Vermeidung von Abhängigkeiten von der Exportpolitik anderer Staaten.

179

Diese Gefahren für die Durchführung des Rüstungsexportgeschäfts nehmen mit dem Fortgang des Verfahrens ab. Sie bestehen vor allem in der oft Monate oder gar Jahre andauernden Phase der Vertragsanbahnung. Aus diesem Grunde ist die Bundesregierung nicht verpflichtet, Abgeordneten des Bundestages auf Anfrage mitzuteilen, ob eine Voranfrage zu einem beabsichtigten Ausfuhrgeschäft gestellt und wie diese beschieden wurde. Die positive Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates, die anschließend durch das zuständige Ministerium in dem Genehmigungsbescheid umgesetzt wird, stellt auch hier eine Zäsur dar. Nach den Angaben der sachkundigen Dritten ist zum Zeitpunkt des Antrages auf Genehmigung einer Kriegswaffenausfuhr der Vertrag mit dem Empfängerland im Regelfall jedenfalls endverhandelt, zumeist sogar bereits geschlossen. Damit verringert sich die Gefahr einer Einflussnahme Dritter auf das zur Genehmigung anstehende Geschäft erheblich. Mit der positiven Entscheidung des Bundessicherheitsrates über einen Genehmigungsantrag entfällt auch die Möglichkeit der Bloßstellung eines kaufinteressierten Staates, die mit der Ablehnung eines frühzeitig - etwa durch die Auskunft über eine Voranfrage - bekannt gewordenen Geschäfts verbunden sein kann.

180

Die Zäsurwirkung der positiven Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates schließt nicht aus, dass die Bundesregierung aus den genannten Gründen des Staatswohls in Einzelfällen ausnahmsweise auch die Antwort auf die Frage verweigern darf, ob eine solche Entscheidung getroffen wurde. Wann eine solche Antwortverweigerung gerechtfertigt sein kann, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn jedenfalls müsste die Bundesregierung die Verweigerung der Auskunft in ihrer Antwort gesondert begründen, was vorliegend nicht geschehen ist.

181

3. Eine weitere Einschränkung der Antwortpflicht der Bundesregierung in Bezug auf die Befassung des Bundessicherheitsrates mit Voranfragen und Genehmigungsanträgen zu beabsichtigten Kriegswaffenausfuhrgeschäften ergibt sich aus dem grundrechtlichen Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der jeweiligen Rüstungsunternehmen.

182

a) Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind alle auf ein Unternehmen bezogenen Tatsachen, Umstände und Vorgänge, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Betriebsgeheimnisse umfassen im Wesentlichen technisches Wissen im weitesten Sinne; Geschäftsgeheimnisse betreffen vornehmlich kaufmännisches Wissen. Zu derartigen Geheimnissen zählen etwa Umsätze, Ertragslagen, Geschäftsbücher, Kundenlisten, Bezugsquellen, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit, Kalkulationsunterlagen, Patentanmeldungen und sonstige Entwicklungs- und Forschungsprojekte, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebs maßgeblich bestimmt werden können (BVerfGE 115, 205 <230 f.>; vgl. auch BVerfGE 128, 1 <56>). Als Betriebsgeheimnisse kommen vorliegend unter anderem die konkreten technischen Daten und Spezifikationen der einzelnen Kriegswaffen in Betracht, als Geschäftsgeheimnisse insbesondere die Details der vertraglichen Vereinbarungen wie etwa Lieferzeiten und -orte, Preise und Preisbestandteile, Zahlungsbedingungen und Angaben zu den beteiligten Zulieferunternehmen. Der Umstand, dass ein Unternehmen Verhandlungen mit einem Staat über den Erwerb von Kriegswaffen bestimmter Gattung führt, stellt für sich genommen ebenfalls ein Geschäftsgeheimnis dar, weil die Verhandlungspartner in aller Regel eine Vertraulichkeitsvereinbarung abschließen und weil Konkurrenzunternehmen versuchen können, die Anbahnung des Geschäfts durch eigene Angebote oder andere Maßnahmen zu unterminieren. Somit stellen das Kaufinteresse eines Staates und die Aufnahme von Vertragsverhandlungen exklusives wettbewerbserhebliches Wissen dar und mindert die Offenlegung dieser Tatsachen die Möglichkeit, die Berufsausübung unter Rückgriff auf dieses Wissen erfolgreich zu gestalten.

183

b) Zwar begründet Art. 12 Abs. 1 GG kein ausschließliches Recht der Unternehmen auf eigene Außendarstellung und auf eine uneingeschränkte unternehmerische Selbstdarstellung am Markt. Marktbezogene Informationen des Staates beeinträchtigen den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich der Berufsfreiheit der betroffenen Unternehmen daher nicht, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln erfolgt (BVerfGE 105, 252 <264 ff., 268>). Unabhängig davon wäre aber durch die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der Kriegswaffen produzierenden Unternehmen durch die Bundesregierung der Schutzbereich der Berufsfreiheit berührt (vgl. BVerfGE 115, 205 <230>). Dieser Schutzbereich ist jedenfalls insoweit nicht durch Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG eingeschränkt. Dabei kann dahinstehen, ob es sich bei dem Genehmigungserfordernis um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (so Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, 1991, S. 69 ff.; Epping, Grundgesetz und Kriegswaffenkontrolle, 1993, S. 120) oder um ein repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt handelt (so Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl. 2006, Art. 26 Rn. 20; Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 26 Rn. 75; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 26 Rn. 45; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 26 Rn. 29; Hobe, in: Berliner Kommentar zum GG, Nov. 2012, Art. 26 Rn. 18). Selbst wenn man der Regelung eine grundsätzliche Missbilligung der Herstellung, der Beförderung und des Inverkehrbringens von Kriegswaffen entnehmen wollte, sind diese Verhaltensweisen bei Vorliegen einer Genehmigung erlaubt und von der Berufsfreiheit geschützt. Dieser Schutz erstreckt sich auf solche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, die ein Unternehmen zur Erlangung der Genehmigung gegenüber staatlichen Behörden offenlegen muss, und zwar selbst für den Fall, dass die Genehmigung versagt werden sollte. Das Grundgesetz missbilligt nicht die Vorbereitung und Anbahnung eines Kriegswaffenexportgeschäfts, sondern allenfalls dessen nicht genehmigte Durchführung.

184

c) Durch die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen von Unternehmen der Rüstungsindustrie im Rahmen der Beantwortung parlamentarischer Anfragen griffe die Bundesregierung in den Schutzbereich der Berufsfreiheit ein. Sowohl schriftliche Antworten der Bundesregierung als auch mündliche Antworten im Rahmen von Fragestunden sind öffentlich. Schriftliche Antworten werden durch den Bundestag in Drucksachen veröffentlicht (§ 105 Satz 1 und 2 i.V.m. Anlage 4, Ziff. 14 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages i.d.F. der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980, BGBl I S.1237, zuletzt geändert durch Beschluss vom 3. April 2014, BGBl I S. 534 - GO-BT -), mündliche Antworten in Fragestunden sind den jeweiligen Plenarprotokollen zu entnehmen, nachgereichte schriftliche Antworten werden in einen Anhang zu dem betreffenden Protokoll aufgenommen (GO-BT, Anlage 4, Ziff. 12). Damit würde Konkurrenten die Kenntnisnahme von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der betroffenen Unternehmen ermöglicht (vgl. BVerfGE 115, 205 <231>).

185

d) Der mit einer Offenlegung von Informationen zu beabsichtigten Rüstungsexportgeschäften verbundene Eingriff in die Berufsfreiheit der Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie ist generell insoweit gerechtfertigt, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort Auskunft darüber gibt, dass der Bundessicherheitsrat die Genehmigung für ein konkretes Kriegswaffenausfuhrgeschäft erteilt hat und in diesem Rahmen Angaben über Art und Anzahl der Kriegswaffen, über das Empfängerland, über die beteiligten deutschen Unternehmen und über das Gesamtvolumen des Geschäfts macht. Darüber hinaus gehende Angaben würden grundsätzlich in unverhältnismäßiger Weise in die Berufsfreiheit der Unternehmen eingreifen. Dies gilt insbesondere für Angaben, die so konkret sind, dass aus ihnen auf vertrauliche Informationen, etwa auf den Einzelpreis eines bestimmten Rüstungsguts, rückgeschlossen werden könnte.

186

aa) Die Offenlegung von Unternehmensinformationen durch die Bundesregierung in Antworten auf Anfragen von Abgeordneten betrifft ein mehrpoliges Rechtsverhältnis, in welchem die Bundesregierung das Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten einerseits und das den Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gewährleistende Grundrecht der betroffenen Unternehmen auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG andererseits zum Ausgleich zu bringen hat. In einer solchen Konstellation sind Eignung und Erforderlichkeit der Beeinträchtigungen mit Blick auf beide widerstreitenden Rechtsgüter zu beurteilen. Dabei sind die Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit abzuwägen. Hat der Gesetzgeber einen Weg zur Lösung des Konflikts durch eine einfachgesetzliche Regelung vorgezeichnet, so ist sein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Überlässt er die Entscheidung hingegen den Organen der Rechtsanwendung, so sind deren Eingriffshandlungen verfassungsrechtlich darauf zu überprüfen, ob die zugrunde gelegten Annahmen und Abwägungsregeln sowie ihre Abwägung im konkreten Fall den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, das heißt auch, ob sie innerhalb des den Entscheidungsträgern gewährten Einschätzungsspielraums verbleiben und zur Herstellung praktischer Konkordanz im konkreten Streitfall führen (zum Ganzen BVerfGE 115, 205 <233 f.>).

187

bb) § 12a Abs. 2 Satz 1 KWKG ermächtigt die Bundesregierung, die auf Grund einer Rechtsverordnung nach Absatz 1 erhobenen Daten zusammengefasst ohne Nennung von Empfängern und Lieferanten zu den in Absatz 1 genannten Zwecken an internationale Organisationen oder zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages zu übermitteln oder zu veröffentlichen. Die Vorschrift wurde mit dem Achten Gesetz zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes vom 9. August 1994 (BGBl I S. 2068) in das KWKG aufgenommen und dient der Umsetzung einer Resolution der Vereinten Nationen, mit der beim Generalsekretariat der Vereinten Nationen ein Waffenregister eingerichtet wurde und die Mitgliedstaaten aufgerufen wurden, die Ein- und Ausfuhr bestimmter Kriegswaffen dorthin zu melden (BTDrucks 12/6911, S. 11). Die Ermächtigung zur Übermittlung oder Veröffentlichung zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages beruhte auf der Erwägung, dass Daten, die wie im Falle des Waffenregisters der Einsicht aller Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen offen stehen, grundsätzlich auch zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages oder der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollten (BTDrucks 12/6911, S. 12). Diese Regelung kann den erforderlichen Ausgleich zwischen dem Fragerecht der Abgeordneten und dem Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der Unternehmen auch unter Berücksichtigung des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise herstellen. Dies folgt schon daraus, dass sie die Weitergabe der Informationen an den Deutschen Bundestag lediglich ermöglicht, ohne die Bundesregierung hierzu zu verpflichten. Der Ausgleich der konfligierenden Rechtsgüter bleibt so letztlich der Bundesregierung überlassen und es kann auch zu einer völligen Versagung von Auskünften kommen. Der Gesetzgeber hat damit keinen Lösungsweg bereitgestellt, der stets eine Verwirklichung der gegenläufigen Interessen in diesem mehrpoligen Rechtsverhältnis sichert (vgl. BVerfGE 115, 205 <235>). Eine erweiternde Auslegung ist angesichts des klaren Wortlautes nicht möglich.

188

cc) Die somit erforderliche Abwägung unmittelbar zwischen dem Fragerecht der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG einerseits und dem durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse des jeweiligen die Ausfuhr beabsichtigenden Unternehmens andererseits ergibt, dass die Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates unabhängig von dem jeweils konkret durch Abgeordnete des Bundestages angefragten Kriegswaffenausfuhrgeschäft die entscheidende Zäsur darstellt.

189

Das Interesse des jeweiligen Rüstungsunternehmens an der Geheimhaltung des beabsichtigten Rüstungsexportgeschäfts ist bis zur endgültigen Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates höher zu bewerten als das berechtigte Informationsinteresse der Abgeordneten. In der Phase der Geschäftsanbahnung ist die Information, dass ein bestimmtes Empfängerland ein bestimmtes Rüstungsgut erwerben möchte, besonders wettbewerbsrelevant. Konkurrenzunternehmen, die von einem solchen Erwerbsinteresse Kenntnis erlangten, könnten versuchen, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit auf den Genehmigungsprozess Einfluss zu nehmen. Zudem könnten sie ein eigenes Angebot abgeben und das Geschäft auf diese Weise an sich ziehen; dies gälte erst recht, wenn die Bundesregierung über die bloße Tatsache des beabsichtigten Geschäfts hinaus auch Angaben zu Preisen machte.

190

Es ist nicht zu verkennen, dass das Informationsinteresse des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten in diesem Stadium ebenfalls besonders hoch ist, da noch auf den Genehmigungsprozess Einfluss genommen werden kann. Im Rahmen der Abwägung der konfligierenden Interessen ist aber zu berücksichtigten, dass ein dahin gehendes Informationsinteresse nicht schützenswert ist, da es auf ein dem Gewaltenteilungsprinzip widersprechendes Mitregieren zielt (siehe oben Rn. 163).

191

Nach erfolgter Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates ist die Schutzbedürftigkeit des jeweils betroffenen Unternehmens geringer. In diesem Stadium besteht für Konkurrenzunternehmen kaum noch die Möglichkeit, auf das genehmigte Geschäft Einfluss zu nehmen. Der Kaufvertrag ist im Regelfall bereits geschlossen, und je nach zeitlichem Abstand zwischen der Entscheidung des Bundessicherheitsrates und dem Erlass des Genehmigungsbescheides durch die zuständige Behörde kann mit der Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen alsbald begonnen werden.

192

In Bezug auf Angaben, die über die Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates und die Grunddaten des Kriegswaffenausfuhrgeschäfts, also die Art und die Anzahl der Kriegswaffen, das Empfängerland und das Gesamtvolumen hinausgehen, fällt die Abwägung zwischen den konfligierenden Rechtsgütern grundsätzlich zugunsten der Unternehmen aus, deren Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vor der Kenntnisnahme durch Wettbewerber zu schützen sind. Unverhältnismäßig wäre insbesondere die Offenlegung von Angaben, die Rückschlüsse auf die Preisgestaltung oder auf Spezifikationen des Rüstungsguts sowie auf handelnde Personen der an dem Geschäft beteiligten Unternehmen oder Staaten zuließen. An diesen Daten besteht auch kein berechtigtes Informationsinteresse, weil sie für die parlamentarische Kontrolle der Regierungstätigkeit nicht erforderlich sind.

193

e) Ob die Antwortpflicht der Bundesregierung auch durch das Grundrecht betroffener Unternehmen aus Art. 14 Abs. 1 GG begrenzt sein kann, bedarf keiner Entscheidung, weil der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen durch Art. 14 Abs. 1 GG jedenfalls nicht weiter geht als der durch Art. 12 Abs. 1 GG (BVerfGE 115, 205<248>).

194

4. Der Konflikt zwischen dem Fragerecht der Abgeordneten auf der einen und dem Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung, dem Staatswohl und der Berufsfreiheit der Kriegswaffen ausführenden Unternehmen auf der anderen Seite kann, anders als die Antragsteller meinen, nicht durch Maßnahmen des Geheimnisschutzes auf Seiten des Parlaments aufgelöst werden. Weder die Beschränkung des Adressatenkreises der Antworten der Bundesregierung durch Einrichtung eines parlamentarischen Kontrollgremiums (a) noch die Anwendung der Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages (b) sind geeignet, einen angemessenen Ausgleich zwischen den konfligierenden Rechtsgütern zu schaffen.

195

a) Der Deutsche Bundestag könnte zwar für die parlamentarische Kontrolle der Tätigkeit des Bundessicherheitsrates ein Gremium nach Art des Parlamentarischen Kontrollgremiums (siehe § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumgesetz) vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2346), des Vertrauensgremiums nach § 10a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung vom 19. August 1969 (BGBl I S. 1284) oder des Sondergremiums nach § 3 Abs. 3 des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz) vom 22. Mai 2010 (BGBl I S. 627) einrichten und dieses Gremium der Geheimschutzordnung unterwerfen. Durch die Beschränkung des Fragerechts der Mitglieder des Bundestages auf die Mitglieder eines solchen Gremiums würde ein Maß an Geheimhaltung praktisch ermöglicht, das zum Ausgleich der konfligierenden Interessen führen könnte.

196

Die Beschränkung der Wahrnehmung der Beteiligungsrechte des Bundestages auf parlamentarische Untergremien greift aber ihrerseits in die Rechte der in dem Sondergremium nicht vertretenen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein, über eine Angelegenheit des Deutschen Bundestages zu beraten, zu ihr zu reden, das Frage- und Informationsrecht des Parlaments auszuüben und schließlich darüber abzustimmen (BVerfGE 130, 318<357>). Bei einer solchen Beschränkung der Statusrechte der Abgeordneten ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und ein angemessener Ausgleich zwischen der Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages und den Statusrechten der Abgeordneten sicherzustellen. Erfolgt die Delegation von Beteiligungsrechten im Interesse besonderer Vertraulichkeit, muss sie deshalb auf wenige Ausnahmen mit begrenztem Anwendungsbereich beschränkt bleiben und zwingend erforderlich sein (BVerfGE 130, 318 <359 f.>).

197

Ob die Beratungen des Bundessicherheitsrates einen solchen Ausnahmefall darstellen können, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn die Delegation der Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages auf ein Gremium zur Kontrolle der Genehmigungsentscheidungen nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GG erscheint nicht zwingend erforderlich. Eine solche Delegation würde es zwar ermöglichen, das Parlament mit Informationen zu versehen, die über die bloße Mitteilung einer erfolgten Genehmigungsentscheidung hinausgehen. So könnte ein der Geheimhaltung unterliegendes Sondergremium auch über Ablehnungsentscheidungen und vor allem auch über die Gründe für eine vom Bundessicherheitsrat getroffene Entscheidung unterrichtet werden. Diesem Erhalt zusätzlicher Informationen stünde aber eine erhebliche Beschränkung der parlamentarischen Kontrolle und der Statusrechte der nicht im Gremium vertretenen Abgeordneten gegenüber. Zudem entfiele dadurch, dass die Kontrolle der Parlamentsöffentlichkeit entzogen würde, auch die Kontrolle durch die Bürger, die der effektiven Verantwortlichkeit des Parlaments gegenüber dem Wähler dient (vgl. BVerfGE 125, 104 <124>; 130, 318 <344>). Der Zugewinn an Informationen über Angelegenheiten des Bundessicherheitsrates kann derartige Beschränkungen nicht rechtfertigen. Die Verpflichtung der Bundesregierung, den Deutschen Bundestag öffentlich über positive Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates zu informieren, ermöglicht eine hinreichende parlamentarische Kontrolle. Die Steigerung der Kontrolltiefe, die mit der Information eines Sondergremiums über Ablehnungsentscheidungen und über die Gründe der Entscheidungen des Bundessicherheitsrates erreicht würde, steht in keinem Verhältnis zu den Einbußen für die Funktion der Kontrolle, die durch eine öffentliche Kontrolle vermittelte Legitimation des staatlichen Handelns und die Statusrechte der nicht in dem Gremium vertretenen Abgeordneten, die die weit überwiegende Mehrheit des Deutschen Bundestages darstellten.

198

b) Auch durch eine Information des Deutschen Bundestages über Belange des Bundessicherheitsrates nach Maßgabe der Geheimschutzordnung (GO-BT, Anlage 3) kann der Interessenskonflikt nicht aufgelöst werden.

199

Verschlusssachen, die mit dem Geheimhaltungsgrad "Geheim" oder "Streng geheim" versehen sind, dürfen von Abgeordneten des Deutschen Bundestages grundsätzlich nur in den Räumen der Geheimregistratur eingesehen werden, § 3a Satz 1 Geheimschutzordnung. Die Möglichkeit zur Weitergabe der Information ist durch § 4 Geheimschutzordnung beschränkt; in jedem Fall scheidet eine Information der Öffentlichkeit aus.

200

Die Geheimschutzordnungist grundsätzlich ein taugliches Instrument des Ausgleichs zwischen exekutivem Geheimhaltungsinteresse und parlamentarischem Informationsinteresse (vgl. BVerfGE 67, 100 <135>; 70, 324 <359>; 124, 78 <124 f.>; siehe ferner BVerfGE 130, 318 <362>; 131, 152 <208>). Auch eine systematische Gesamtschau einer Reihe von Grundgesetzbestimmungen - etwa Art. 42 Abs. 1 Satz 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 2, Art. 45a Abs. 3 und Art. 53a GG - zeigt, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit in der Verfassung als eine Möglichkeit zur Wahrung von Geheimschutzinteressen unter gleichzeitiger Einbeziehung des Parlaments angelegt ist. Die Anwendung der Geheimschutzordnung konfligiert allerdings mit der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments. Die genannten Ausnahmevorschriften ändern nichts daran, dass die Öffentlichkeit der Beratungen nach Art. 42 Abs. 1 GG für die parlamentarische Entscheidungsfindung grundsätzlich unverzichtbar ist. Die Informationsrechte des Parlaments dürfen nicht dazu führen, dass sich über den parlamentarischen Geheimnisschutz die Arbeits- und Funktionsweise des Parlaments in den wichtigen Bereichen grundlegend verschiebt und diese spezifische Öffentlichkeitsfunktion ausgeblendet wird.

201

Eine unter Bedingungen der Geheimschutzordnung erlangte Information können die Parlamentarier nicht in den öffentlichen Meinungsbildungsprozess überspielen. Wenn das Parlament unter Anwendung der Geheimschutzordnung informiert wird, ist daher zwar formal der Zurechnungszusammenhang zwischen Regierung und Parlament gewahrt. Der weitere Verantwortungszusammenhang zum Volk ist jedoch insoweit unterbrochen. Der Wahlvorgang sichert die Kontrolle des Volkes über die Benutzung der Macht durch die politische Mehrheit (BVerfGE 5, 85 <199>). Ohne die entsprechende Information kann die Wählerschaft weder das Handeln der Regierung noch die parlamentarische Reaktion auf die erlangte Information zur Kenntnis nehmen und bewerten. Beides ist aber für die demokratische Legitimation durch den Wahlakt essentiell.

202

Auch im Verhältnis zwischen Regierung und Parlament wird der Kontrollzusammenhang durch die Anwendung der Geheimschutzordnung abgeschwächt. Öffentlichkeit ist essentiell für die Ausübung der Kontrollfunktion des Parlaments. Während die zur Vorbereitung von Gesetzgebung begehrten Informationen dem Parlament auch dann den gewünschten Sachverstand verschaffen und damit ihren Zweck erfüllen, wenn sie nicht öffentlich sind, verhält es sich mit Informationen zum Zweck der politischen oder der Rechtskontrolle anders. In der politischen Realität ist das Fragerecht in seiner Kontrolldimension ganz überwiegend ein Mittel der Opposition, welches zu seiner Wirksamkeit grundsätzlich auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Fällt das Öffentlichkeitselement weg, so scheidet in der Praxis zumindest eine sanktionierende Kontrolle aus.

203

5. Die Pflicht der Bundesregierung, parlamentarische Anfragen zu positiven Genehmigungsentscheidungen des Bundessicherheitsrates zu beantworten, wird nicht schon durch die jährlich veröffentlichten Rüstungsexportberichte erfüllt.

204

Die Berichtsform unterscheidet sich systematisch von der Frage- und Antwortstruktur des Interpellationsrechts. Sowohl die Struktur und der Gehalt der Information als auch ihr Zeitpunkt werden beim Rüstungsexportbericht nicht durch die Abgeordneten, sondern durch die Bundesregierung bestimmt. Bereits deshalb ist ein allgemeiner Bericht dem parlamentarischen Fragerecht grundsätzlich nicht gleichwertig.

205

Die Rüstungsexportberichte der Bundesregierung sind zudem nicht hinreichend präzise, um das berechtigte parlamentarische Informationsinteresse zu befriedigen. Die Berichte differenzieren nicht nach einzelnen Genehmigungsakten, sondern führen die im Berichtsjahr genehmigten Geschäfte summiert auf. Die Beschreibung der betroffenen Güter erfolgt pauschal. In der maßgeblichen Anlage 8 des Rüstungsexportberichts für das Jahr 2013 werden unter der Rubrik "Ausfuhrgenehmigungen nach Ländergruppen und Ländern" lediglich Anzahl und Gesamtwert der Genehmigungen sowie von den Genehmigungen betroffene Ausfuhrlisten-Positionen mitgeteilt. Die insgesamt 22 Ausfuhrlisten-Positionen sind in der Ausfuhrliste (AWV Anlage AL) näher beschrieben. Sie sind durch einen überwiegend sehr pauschalen Erfassungsstatus gekennzeichnet (Wahren, in: Hohmann/John (Hrsg.), Ausfuhrrecht, 2002, Teil 4, Außenwirtschaftsverordnung, Erläuterungen AL Teil 1, Rn. 40). So fiele der in den streitgegenständlichen Anfragen angesprochene Leopard-Panzer als für militärische Zwecke konstruiertes Landfahrzeug unter die Rubrik A0006 der Ausfuhrliste. Nach der dortigen Anmerkung 1 erfasst diese Rubrik aber auch gepanzerte Fahrzeuge, amphibische und tiefwatfähige Fahrzeuge, Bergungsfahrzeuge und Fahrzeuge zum Befördern und Schleppen von Munition oder Waffensystemen und zugehörige Ladesysteme. Da sich die Rüstungsexportberichte an diesen groben Einteilungen der Ausfuhrliste orientieren, ist es auf der Grundlage dieser Berichte kaum möglich, die für eine effektive parlamentarische Kontrolle relevanten politisch bedeutsamen Exportgenehmigungen auszumachen.

206

Zwar enthält der Rüstungsexportbericht für die 20 wichtigsten Bestimmungsländer des Jahres 2013 in Anlage 7 eine etwas detailliertere Aufstellung. Hier werden neben dem Gesamtwert der erteilten Einzelgenehmigungen auch die wesentlichen Güter und ihr prozentualer Anteil am Gesamtwert der Genehmigungen genannt. Verlässliche Rückschlüsse auf bedeutsame einzelne Genehmigungen erlaubt jedoch auch diese Aufstellung nicht. So lässt sich dieser Liste etwa entnehmen, dass für Ausfuhren nach Katar Genehmigungen im Gesamtwert von 673.377.690 Euro erteilt wurden, von denen 44,4 % auf Zugmaschinen, LKW, Kranwagen, Auflieger, Anhänger, Masten und Teile für Panzer, Panzerhaubitzen, gepanzerte Fahrzeuge, LKW und Landfahrzeuge entfielen. Welcher Anteil hiervon auf LKW und welcher auf Teile für Panzer oder Panzerhaubitzen entfiel, ist hieraus nicht zu erkennen. Es muss den Abgeordneten daher im Rahmen einer effektiven parlamentarischen Kontrolle des Regierungshandelns möglich sein, über diese Rüstungsexportberichte hinaus durch konkrete Fragen Informationen darüber zu erhalten, in welchem Umfang Genehmigungen für die Ausfuhr von Kriegswaffen besonderer Bedeutung, wie etwa Kampfpanzer, in bestimmte Staaten erteilt wurden.

207

6. Die Bundesregierung kann die Antwort auf parlamentarische Anfragen zu Angelegenheiten des Bundessicherheitsrates insoweit verweigern, wie die jeweilige Anfrage auf Informationen abzielt, die über die Mitteilung einer erfolgten positiven Genehmigungsentscheidung und die Eckdaten des betreffenden Ausfuhrgeschäfts hinausgehen. Eine gesonderte Begründung der Antwortverweigerung ist insoweit nicht erforderlich, die generelle Berufung auf die Geheimhaltung der Beratungen des Bundessicherheitsrates reicht aus.

208

Es besteht eine Jahrzehnte währende und allgemein bekannte Praxis der Bundesregierung, die Beantwortung derartiger Anfragen unter Berufung auf die Vertraulichkeit der Beratungen des Bundessicherheitsrates zu verweigern, selbst wenn in Einzelfällen aufgrund besonderer Umstände einzelne Angaben gemacht worden sein sollten. Angesichts dieser langjährigen Praxis ist nicht zu verlangen, dass die Bundesregierung in jeder Antwort auf eine entsprechende Anfrage ihre allgemeine Auffassung zu dem Verhältnis zwischen parlamentarischem Informationsrecht einerseits und Schutz der exekutiven Eigenverantwortung, Belangen des Staatswohls und Schutz der Grundrechte Dritter andererseits darlegt. Eine solche fortwährend wiederholte Darlegung wäre nur formalistisch und nicht geeignet, den Frage stellenden Abgeordneten einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu verschaffen. Ein Abgeordneter, der die Gründe für die grundsätzliche Antwortverweigerung hinterfragen möchte, ist daher gehalten, diese selbst zum Gegenstand einer Anfrage zu machen.

209

Eine Begründungspflicht besteht allerdings insoweit, wie die Bundesregierung die Auskunft über eine erteilte Genehmigung oder über die in diesem Rahmen mitzuteilenden Generalia des Exportgeschäfts verweigern will.

III.

210

Die Antragsgegnerin hat die Grenzen ihrer Antwortpflicht bei der Beantwortung der streitgegenständlichen Fragen teilweise verkannt und hierdurch Rechte der Antragsteller aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.

211

1. Die Antragsgegnerin hat ihrer Antwortpflicht in Bezug auf die Zusatzfrage des Antragstellers zu 1. aus der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 6. Juli 2011, PlenProt 17/119, S. 13802 D, soweit sie sich auf die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien bezieht, nicht und hinsichtlich der schriftlichen Frage 7/193 vom 14. Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 28) teilweise nicht genügt, im Übrigen sind die Anträge des Antragstellers - soweit zulässig - unbegründet.

212

a) Die Zusatzfrage des Antragstellers zu 1. aus der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 6. Juli 2011 (PlenProt 17/119, S. 13802 D) richtete sich unter anderem darauf, ob der Bundesregierung Erkenntnisse über die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten in Saudi-Arabien vorliegen.

213

Indem der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie die Antwort auf diese Frage unter Hinweis auf die fehlende Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministers endgültig verweigerte, hat die Antragsgegnerin das Fragerecht des Antragstellers zu 1. in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise verkürzt. Das Fragerecht der Abgeordneten besteht gegenüber der Bundesregierung, diese ist zur Beantwortung der Fragen verpflichtet. Die Antwort kann daher nicht durch Verweis auf das Ressortprinzip verweigert werden. Auf sonstige Geheimhaltungsgründe hat sich die Antragsgegnerin nicht berufen; sie drängen sich auch nicht auf.

214

b) Die Antwort auf die zur schriftlichen Beantwortung gestellte Frage des Antragstellers zu 1. vom 14. Juli 2011 (Frage 7/193, BTDrucks 17/6658, S. 28) hat die Antragsgegnerin teilweise zu Unrecht verweigert. Es hätte ihr oblegen, dem Antragsteller zu 1. mitzuteilen, ob der Bundessicherheitsrat die Lieferung von 200 Panzern des Typs Leopard nach Saudi-Arabien genehmigt hat.

215

Zu darüber hinausgehenden Angaben war die Antragsgegnerin allerdings nicht verpflichtet. Falls zum Zeitpunkt der Beantwortung der Frage eine positive Entscheidung des Bundessicherheitsrates nicht vorgelegen haben sollte, wäre sie daher nicht verpflichtet gewesen, dem Antragsteller zu 1. mitzuteilen, ob überhaupt ein entsprechender Genehmigungsantrag oder eine entsprechende Voranfrage vorlag. Dass die Presse über die vermeintlich erteilte Genehmigung einer solchen Lieferung berichtet hatte, ändert hieran nichts. Unterfällt ein Willensbildungsvorgang innerhalb der Regierung dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, so wird er nicht dadurch weniger geheimhaltungsbedürftig, dass Dritte über ihn öffentlich berichten. Anderenfalls könnte die Regierung durch gezielte Spekulationen zu Auskünften über geheimhaltungsbedürftige Willensbildungsvorgänge gezwungen werden. Auch eine ablehnende Entscheidung hätte die Antragsgegnerin nicht als solche mitteilen, sondern nur angeben müssen, dass keine positive Genehmigungsentscheidung vorliegt. Sollte eine positive Entscheidung des Bundessicherheitsrates vorgelegen haben, so wäre die Antragsgegnerin nicht verpflichtet gewesen, die Frage insoweit zu beantworten, wie sie sich auf Verkaufspreise, Lieferbedingungen oder eventuelle Auflagen zum Einsatz in Saudi-Arabien oder in anderen Ländern bezog. Auch Angaben zu den Gründen der Entscheidung wären nicht erforderlich gewesen.

216

c) Berechtigterweise hat die Antragsgegnerin die Antwort auf die dringliche Frage 2 des Antragstellers zu 1. (BTDrucks 17/6438, S. 1) verweigert (PlenProt 17/119, S. 13807 A), soweit diese sich auf "Vermittler, Unterstützer in der Bundesregierung und Nutznießer dieses Waffengeschäfts" bezog.

217

Die Frage, welche Mitglieder der Bundesregierung ein bestimmtes Rüstungsexportgeschäft unterstützen oder unterstützt haben, betrifft den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Regierung. An der Offenlegung interner Abstimmungsvorgänge der Regierung besteht auch kein berechtigtes Informationsinteresse, da diese als Ganze dem Parlament gegenüber verantwortlich ist und bei Mehrheitsentscheidungen nur für die getroffene Entscheidung, nicht aber für etwaige Gegenstimmen einzustehen hat.

218

Soweit sich die Frage auf "Vermittler und Nutznießer" bezieht, zielt sie ersichtlich auf die von dem Antragsteller zu 1. angenommene Leistung "nützlicher Aufwendungen" beim Zustandekommen des Panzergeschäfts und ist mit der Angabe der Antragsgegnerin, ihr lägen keinerlei Erkenntnisse über geleistete gesetzeswidrige Zahlungen vor, hinreichend beantwortet worden (siehe Rn. 123).

219

d) Auch die Antwort auf die Zusatzfrage des Antragstellers zu 1. zu dem konkreten Kaufpreis für 200 Leopard-Kampfpanzer (PlenProt 17/119, S. 13807 B, C) durfte die Antragsgegnerin verweigern. Hierbei handelt es sich um ein Geschäftsgeheimnis des diese Panzer vertreibenden Unternehmens. Die Offenlegung der Kaufpreise aus konkreten einzelnen Ausfuhrgeschäften würde anderen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, da diese ihre eigene Preispolitik entsprechend anpassen könnten. Zudem würde dem betreffenden inländischen Unternehmen ein Nachteil daraus erwachsen, dass die verschiedenen Abnehmer dieser Panzer einen Überblick über die Preisspanne erhielten und diese Information in künftigen Vertragsverhandlungen zu Lasten der Anbieter ausnutzen könnten.

220

Es besteht auch kein überwiegendes berechtigtes Interesse an dieser Information. Konkrete Kaufpreise sind für die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns in aller Regel irrelevant. Dafür, dass der Differenzbetrag zwischen einem etwaigen Kaufpreis für derartige Panzer in Deutschland und dem von Saudi-Arabien gezahlten Preis als Bestechungsgeld anzusehen sein müsste, ist nichts ersichtlich. Schon die Annahme, dass es überhaupt einen feststehenden Kaufpreis im Inland gibt, ist wenig naheliegend. Die jeweiligen Preise dürften nach allgemeinen marktwirtschaftlichen Regeln schwanken.

221

2. Die Antragsgegnerin hat ihrer Antwortpflicht in Bezug auf die schriftliche Frage 7/132 der Antragstellerin zu 2. von Juli 2011 (BTDrucks 17/6658, S. 24) nicht genügt, soweit sich die Frage darauf bezieht, ob eine positive Genehmigungsentscheidung des Bundessicherheitsrates vorliegt. Im Übrigen sind die Anträge der Antragstellerin zu 2. unbegründet.

222

a) Die schriftliche Frage 7/132 der Antragstellerin zu 2. richtete sich zum einen darauf, wann die Bundesregierung den Verkauf von Transportpanzern Fuchs, Last- und Geländewagen, Fregatten oder Verteidigungs- und Sicherheitselektronik für den Grenzschutz beziehungsweise dazu bestimmte Fertigungsanlagen an Algerien genehmigt hat, und zum anderen darauf, welche besonderen außen- und sicherheitspolitischen Gründe diesen Genehmigungen zu Grunde lagen.

223

Die Antragsgegnerin war verpflichtet, den ersten Teil der Frage zu beantworten und der Antragstellerin zu 2. mitzuteilen, ob und - bejahendenfalls - wann der Bundessicherheitsrat eine entsprechende positive Genehmigungsentscheidung getroffen hat. Zur Darlegung der Gründe für die etwaige Entscheidung des Bundessicherheitsrates war sie hingegen nicht verpflichtet (siehe Rn. 177).

224

b) Hinsichtlich der Zusatzfrage der Antragstellerin zu 2. (PlenProt 17/119, S. 13803 D) und ihrer dringlichen Frage (BTDrucks 17/6438, S. 1; PlenProt 17/119, S. 13810 D) war die Antragsgegnerin zur Antwortverweigerung berechtigt, da diese Fragen ebenfalls auf die Gründe für eine vermeintlich getroffene Entscheidung des Bundessicherheitsrates abzielten.

225

c) Auch die Antwort auf die Zusatzfrage der Antragstellerin zu 2. (PlenProt 17/119, S. 13811 A) hat die Antragsgegnerin in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verweigert. Die Frage, auf welche Weise die Bundesregierung ausschließt, dass die für Saudi-Arabien genehmigten Rüstungsexportgüter zu innerer Repression genutzt werden, könnte durch die Antragsgegnerin nur beantwortet werden, indem sie Absprachen offenlegt, die sie mit dem Empfängerstaat getroffen hat. Hierzu ist sie aus Gründen des Staatswohls nicht verpflichtet.

226

Die Antragsgegnerin müsste zur Beantwortung der Frage zunächst offenlegen, ob sie davon ausgegangen ist, dass die Nutzung der zur Ausfuhr vorgesehenen Rüstungsgüter zu innerer Repression durch den Empfängerstaat konkret drohte. Derartige Ausführungen könnten zu einer erheblichen Beeinträchtigung außenpolitischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland führen und unter Umständen Rückschlüsse auf bestimmte Informationsquellen zulassen, an deren Geheimhaltung die Bundesregierung gerade im Verhältnis zu dem betroffenen Land zum Schutz seiner Informationskanäle ein berechtigtes Interesse hat (siehe Rn. 176). Sollte hingegen auf konkrete Absprachen oder Auflagen verzichtet worden sein, könnte dies für bestimmte außenpolitische Interessen der Bundesrepublik an dem konkreten Exportgeschäft sprechen, deren Öffentlichwerden die Abschätzbarkeit der deutschen Außenpolitik für andere Länder erleichtern und damit Verhandlungs- und Gestaltungsspielräume verengen kann (siehe Rn. 177). Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass die maßgebenden Gründe für eine solche Genehmigungsentscheidung für die parlamentarische Kontrolle von Bedeutung sind, darf die Antragsgegnerin die Offenlegung der Gründe daher verweigern.

227

3. Soweit die Anträge der Antragstellerin zu 3. zulässig sind, haben sie keinen Erfolg, da die Antragsgegnerin die Antwort auf die betreffenden Fragen verweigern durfte.

228

a) Die Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13804 A, B) danach, ob im Vorfeld der vermeintlichen Entscheidung des Bundessicherheitsrates die Zustimmung Israels und der USA zu dem Rüstungsexportgeschäft eingeholt worden sei, betrifft den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Regierung. Die Bundesregierung ist nicht verpflichtet, über den Inhalt und den Verlauf der Beratungen im Bundessicherheitsrat Auskunft zu geben (Rn. 172). Dies gilt auch für Gespräche, die zur Vorbereitung einer Entscheidung des Gremiums mit anderen Staaten geführt wurden. Müssten Drittstaaten damit rechnen, dass ihre der Bundesregierung gegenüber vertraulich abgegebenen Einschätzungen alsbald nach der getroffenen Entscheidung veröffentlicht werden, so wäre zu befürchten, dass die Bundesrepublik künftig nicht mehr mit derartigen Informationen versorgt würde. Die Antwort kann insoweit folglich auch aus Gründen des Staatswohls verweigert werden.

229

b) Die Zusatzfrage (PlenProt 17/119, S. 13814 B, im Antrag bezeichnet mit "S. 13841 B") der Antragstellerin zu 3., ob die Verfolgung Homosexueller durch ein Land der Genehmigungsfähigkeit einer Ausfuhr von Panzern an diesen Staat entgegenstünde, betrifft wiederum einen Abwägungsvorgang innerhalb des Bundessicherheitsrates, der als Teil des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung geschützt ist.

230

c) Entsprechendes gilt für die schriftliche Frage vom 14. Juli 2011 (Frage 7/174; BTDrucks 17/6658, S. 26), mit der die Antragstellerin zu 3. direkt nach den Gründen für die vermeintliche Genehmigung der Lieferung von 200 Leopard-Kampfpanzern an Saudi-Arabien fragt.

231

d) Hinsichtlich der weiteren schriftlichen Frage vom 14. Juli 2011 (Frage 7/175; BTDrucks 17/6658, S. 27) kann auf die Ausführungen zu der entsprechenden Frage des Antragstellers zu 1. verwiesen werden (siehe Rn. 216 ff.). Auch insoweit durfte die Antragsgegnerin die Antwort verweigern.

D.

232

Besondere Billigkeitsgründe, die die Anordnung einer Auslagenerstattung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG ausnahmsweise angezeigt erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 96, 66 <67>), liegen nicht vor.

Tenor

§ 1 Absatz 1 Satz 2 und Absatz 2, § 3 Absatz 5 und § 16 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (Gesetz-und Verordnungsblatt Seite 442, berichtigt Seite 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (Gesetz- und Verordnungsblatt Seite 392) sind in ihrem Zusammenspiel mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 2 der Landesverfassung unvereinbar.

Gründe

A.

1

Die Antragsteller wenden sich mit der abstrakten Normenkontrolle gegen § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (Landeswahlgesetz - LWahlG), der im Falle des Entstehens von Überhangmandaten einen nur begrenzten Sitzausgleich vorsieht.

I.

2

1. Die maßgeblichen Vorschriften der Landesverfassung (LV) lauten:

3

Artikel 3

        

Wahlen und Abstimmungen

        

(1) Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Lande, in den Gemeinden und Gemeindeverbänden und die Abstimmungen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.

        

(2) - (4) […]

        
Artikel 10

Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Ab der 16. Wahlperiode besteht der Landtag aus neunundsechzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

4

2. § 1 Abs. 1 Satz 1 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein(Landeswahlgesetz - LWahlG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Oktober 1991 (GVOBl S. 442, ber. S. 637), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. März 2010 (GVOBl S. 392) legt fest, dass der Landtag aus 69 Abgeordneten vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen besteht. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG werden von der Gesamtzahl der Abgeordneten 40 durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen und die übrigen durch Verhältniswahl aus den Landeslisten der Parteien auf der Grundlage der abgegebenen Zweitstimmen und unter Berücksichtigung der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber gewählt. Hierzu wird das Land in 40 Wahlkreise eingeteilt, § 16 Abs. 1 LWahlG. Die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises darf nicht mehr als 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG). Maßgebend ist die vom Statistischen Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein fortgeschriebene Bevölkerungszahl nach dem Stand vom 30. Dezember des vierten Jahres vor der Wahl (§ 16 Abs. 3 Satz 2 LWahlG). Im Wahlkreis ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhalten hat, § 2 Satz 1 LWahlG.

5

6Das weitere Verfahren ist in § 3 LWahlG wie folgt geregelt:

6

§ 3 LWahlG

Wahl der Abgeordneten aus den Landeslisten

(1) An dem Verhältnisausgleich nimmt jede Partei teil, für die eine Landesliste aufgestellt und zugelassen worden ist, sofern für sie in mindestens einem Wahlkreis eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter gewählt worden ist oder sofern sie insgesamt fünf v. H. der im Land abgegebenen gültigen Zweitstimmen erzielt hat. Diese Einschränkungen gelten nicht für Parteien der dänischen Minderheit.

(2) Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 Satz 1) werden die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber einer Partei, für die keine Landesliste zugelassen oder die nicht nach Absatz 1 zu berücksichtigen ist, sowie die Zahl der in den Wahlkreisen erfolgreichen parteilosen Einzelbewerberinnen und Einzelbewerber (§ 24 Abs. 1) abgezogen.

(3) Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste einer am Verhältnisausgleich teilnehmenden Partei abgegebenen gültigen Zweitstimmen zusammengezählt. Anhand der Gesamtstimmenzahlen wird für jede ausgleichsberechtigte Partei nach der Reihenfolge der Höchstzahlen, die sich durch Teilung durch 1, 2, 3, 4 usw. ergibt (Höchstzahlenverfahren), festgestellt, wie viele der nach Absatz 2 verbleibenden Sitze auf sie entfallen (verhältnismäßiger Sitzanteil). Über die Zuteilung des letzten Sitzes entscheidet bei gleicher Höchstzahl das von der Landeswahlleiterin oder dem Landeswahlleiter zu ziehende Los.

(4) Die Parteien erhalten so viele Sitze aus den Landeslisten, wie ihnen unter Anrechnung der in den Wahlkreisen für sie gewählten Bewerberinnen und Bewerber an dem verhältnismäßigen Sitzanteil fehlen.

(5) Ist die Anzahl der in den Wahlkreisen für eine Partei gewählten Bewerberinnen und Bewerber größer als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil, so verbleiben ihr die darüber hinausgehenden Sitze (Mehrsitze). In diesem Fall sind auf die nach Absatz 3 Satz 2 und 3 noch nicht berücksichtigten nächstfolgenden Höchstzahlen so lange weitere Sitze zu verteilen und nach Absatz 4 zu besetzen, bis der letzte Mehrsitz durch den verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt ist. Die Anzahl der weiteren Sitze darf dabei jedoch das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Ist die nach den Sätzen 1 bis 3 erhöhte Gesamtsitzzahl eine gerade Zahl, so wird auf die noch nicht berücksichtigte nächstfolgende Höchstzahl ein zusätzlicher Sitz vergeben.

Innerhalb der Parteien werden die aus den Landeslisten zu verteilenden Sitze nach der sich aus den Listen ergebenden Reihenfolge verteilt. Entfallen auf eine Partei mehr Sitze, als Bewerberinnen und Bewerber auf ihrer Landesliste vorhanden sind, so bleiben diese Sitze leer.

(7) Aus der Landesliste scheiden aus:

        

1. Bewerberinnen und Bewerber, die in einem Wahlkreis unmittelbar gewählt sind,

2. Bewerberinnen und Bewerber, die nach der Aufstellung der Landesliste einer Partei aus dieser ausgeschieden oder einer anderen Partei beigetreten sind.

7

3. Erstmals in der schleswig-holsteinischen Wahlgeschichte seit 1947 ist es bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 zur Entstehung „ungedeckter“ Mehrsitze (Überhangmandate) gekommen (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Nach dem endgültigen Wahlergebnis (Bekanntmachung im Amtsblatt Nr. 44 vom 2. November 2009, S. 1129, Berichtigung im Amtsblatt Nr. 7 vom 15. Februar 2010, S. 214) errang die CDU einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 23 Sitzen, gewann aber zugleich 34 Wahlkreise. Obwohl der Landtag nun aus 95 statt 69 Abgeordneten besteht, blieben von den elf Mehrsitzen der CDU drei ungedeckt.

8

9Mehrsitze waren zwar auch schon bei früheren Wahlen entstanden, doch wurden diese durch die Anzahl an weiteren Sitzen im Rahmen des Verhältnisausgleichs vollständig gedeckt: Nach dem endgültigen Wahlergebnis von 1992 errang die SPD einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 38 Sitzen, gewann aber zugleich alle 45 Wahlkreise (Amtsbl. S. 292, 295). Im Jahr 2000 errang sie einen verhältnismäßigen Sitzanteil von 34 Sitzen und gewann 41 Wahlkreise (Amtsbl. S. 206, 219). Die jeweils errungenen sieben Mehrsitze gingen in den 14 weiteren Sitzen vollständig auf, der Landtag bestand aus 89 statt 75 Sitzen.

II.

9

Die Antragsteller beantragen festzustellen,

10

dass § 3 Abs. 5 Satz 3 des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 der Landesverfassung verstößt und nichtig ist.

11

Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, die Wahlgleichheit verlange im System der mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbundenen Persönlichkeitswahl, dass jeder Stimme der gleiche Erfolgswert zukomme. Um dies auch bei der Entstehung von Überhangmandaten sicherzustellen, müsse der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV Ausgleichsmandate vorsehen. Anders als das Grundgesetz enthalte die Landesverfassung damit eine ausdrückliche Regelung zu Überhang- und Ausgleichsmandaten. Diese ziele auf „mehr Gleichheit“, so dass eine Begrenzung der Ausgleichsmandate nicht zulässig sei. Nur wenn für jedes Überhangmandat ein Ausgleichsmandat zugeteilt werde, ergebe sich eine Sitzverteilung, die die Proportionalität zwischen Zweitstimmenanteil und Sitzanteil wahre.

12

Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben sei der Gesetzgeber mit § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG zwar im Grundsatz nachgekommen. Das Wahlergebnis vom 27. September 2009 zeige jedoch, dass die in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG enthaltene Begrenzung der weiteren Sitze zur Verzerrung des Erfolgswerts der Wählerstimmen und zu einer grundlegenden Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Landtag führe, sobald es zu ungedeckten Mehrsitzen komme. Diese Verzerrung sei strukturell bedingt. Aufgrund der sich langfristig ergebenden Verschiebungen im Wahlverhalten mache die vom Gesetzgeber festgelegte Anzahl der Wahlkreise die Entstehung einer erheblichen Anzahl von Überhangmandaten von vornherein wahrscheinlich. Je geringer der Anteil der Stimmen derjenigen Parteien ausfalle, die regelmäßig eine große Anzahl von Wahlkreisen für sich gewinnen, desto größer sei die Gefahr, dass die Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverteilung regelhaft gefährdet sei. Derzeit belaufe sich das Verhältnis der Wahlkreise in Schleswig-Holstein zur Normgröße des Landtags von 69 Sitzen bei 40 Wahlkreisen auf knapp 58 %. Zugleich sei der Anteil der auf die CDU und die SPD zusammen entfallenden Stimmanteile in der Verhältniswahl 2009 auf 56,9 % zurückgegangen.

13

Mit der Begrenzung des Sitzausgleichs überschreite der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum. Dies gelte unabhängig davon, wie man § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG auslege. Selbst wenn sich die Annährung an die Proportionalität durch einen höheren Deckelungsfaktor verbessere (indem man beispielsweise statt des Doppelten das Dreifache der Mehrsitze nehme), ändere dies nichts daran, dass zugunsten einer Beschränkung der Größe des Landtags eine - gegebenenfalls erhebliche - Disproportionalität der Sitzverteilung in Kauf genommen werde.

III.

14

1. Der Landtag hält den Normenkontrollantrag für unzulässig, solange parallel noch ein vorrangiges Wahlprüfungsverfahren anhängig sei. Der Antrag sei zudem unbegründet.

15

Der Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 LV gebiete keinen „Vollausgleich“. Er gebe in Satz 5 zwar vor, dass Ausgleichsmandate vorzusehen seien, besage aber nicht, wie viele. Insofern habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum. Entstehungsgeschichtlich sei die im zeitlichen Zusammenhang stehende Änderung des Landeswahlgesetzes als verfassungskonforme Konkretisierung des gleichzeitig beschlossenen Art. 10 Abs. 2 LV anzusehen. Obwohl Art. 10 Abs. 2 LV eine stärkere Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältniswahl bezwecke, sei ein Wahlverfahren allein nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen ausgeschlossen. Vielmehr sei vorrangig der in den Elementen der Persönlichkeitswahl zum Ausdruck kommende Wählerwille zu respektieren. Hier liege in Schleswig-Holstein traditionell und historisch gewachsen ein deutliches Mehrgewicht.

16

Die Einschränkung der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller abgegebenen Stimmen bei der Entstehung nicht vollständig ausgeglichener Überhangmandate durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG sei im System der vom schleswigholsteinischen Verfassungsgeber vorgesehenen, um Elemente der Verhältniswahl ergänzten Persönlichkeitswahl angelegt. Der Erfolgswertgleichheit komme hier nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu, weil der Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungssystem erhoben werde. § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG diene zudem dem verfassungsrechtlich anerkannten Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch Begrenzung des Anwachsens der Zahl seiner Mitglieder zu gewährleisten. Die Entscheidung, ab wann eine Vergrößerung des Landtags nicht mehr hinnehmbar sei, obliege dem Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums.

17

2. Die Landesregierung hat das ihr zustehende Äußerungsrecht nicht wahrgenommen.

18

3. Das Gericht hat der Landeswahlleiterin sowie den im Landtag vertretenen Fraktionen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

19

a) Die Landeswahlleiterin weist darauf hin, dass bei Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum inhaltsgleichen § 10 Abs. 4 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen in Schleswig-Holstein (Gemeinde- und Kreiswahlgesetz - GKWG) in der Fassung vom 19. März 1997 (GVOBl S. 151), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. September 2009 (GVOBl S. 572) zurückzugreifen sei, der als Vorbild für § 3 Abs. 5 LWahlG gedient habe. Danach seien Parteien, die über Mehrsitze verfügen, in den (weiteren) Verhältnisausgleich einzubeziehen, so dass bei der Verteilung der „weiteren Sitze“ auch die noch nicht verbrauchten Höchstzahlen der „Mehrsitzpar-teien“ zu verwenden seien.

20

Der dem Gesetzgeber für die Verbindung der beiden in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV vorgesehenen Wahlsysteme eingeräumte Gestaltungsspielraum sei gewahrt und dessen Ausgestaltung mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar. Maßgeblich sei allein, dass die Wahlgleichheit in jedem der beiden miteinander verbundenen Wahlsysteme jeweils für sich betrachtet eingehalten werde. Wenn für das Bundesrecht anerkannt sei, dass sich das System der Mehrheitswahl gegenüber dem der Verhältniswahl so weit durchsetzen dürfe, dass bei Zulassung von Überhangmandaten keinerlei Ausgleich gewährt werde, müsse auch die vom Landesgesetzgeber gewählte „Zwischenlösung“ mit einem nur begrenzten Verhältnisausgleich zulässig sein. Für den Ausgleich von Überhangmandaten räume Art. 10 Abs. 2 LV dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein. Der Verfassungsgeber habe hier bewusst keine Festlegung getroffen, um mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments eine Begrenzung zu ermöglichen.

21

b) Die FDP- Fraktion unterstützt die Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG durch die Landeswahlleiterin. Der Gesetzgeber habe eine sachlich begründete und verfassungskonforme Ausgleichsregelung geschaffen. Die Verfassung gebe lediglich vor, dass eine Regelung zu Ausgleichsmandaten vorzusehen sei einschließlich der Möglichkeit zu deren Begrenzung etwa im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Bei dem gewählten Ausgleichsverfahren müsse es sich nicht um das bestmögliche handeln, es müsse sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten. Ob es daneben sinnvollere Ausgestaltungsmöglichkeiten gebe oder ob in der Vergangenheit bereits versucht worden sei, die konkrete Ausgestaltung des vorgegebenen Wahlsystems zu ändern, sei bei der Auslegung und Bewertung des gegenwärtig geltenden Wahlrechts unerheblich.

B.

22

Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist eröffnet. Es handelt sich um einen Antrag nach Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV, § 3 Nr. 2 LVerfGG.

23

Der Normenkontrollantrag ist auch zulässig. Die Antragsteller sind gemäß Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV, § 39 LVerfGG antragsberechtigt. Sie machen Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm des Landesrechts, nämlich § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG, mit der Landesverfassung geltend (§ 40 Nr. 1 LVerfGG).

24

Anders als im vorangegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Beschluss vom 15. Oktober 2009 - LVerfG 4/09 -, NordÖR 2009, 450, Juris) stehen Art. 3 Abs. 3 LV und § 57 LWahlG der Zulässigkeit des Hauptsacheantrags nicht entgegen. Ihr Anwendungsbereich ist nicht eröffnet. Anderenfalls würde die Zulässigkeit der gerichtlichen Normenkontrolle vom zufälligen Zeitpunkt ihrer Einleitung beziehungsweise der gerichtlichen Entscheidung abhängig gemacht.

25

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 LV steht die Wahlprüfung dem Landtag zu. Seine Entscheidung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 LV). § 57 LWahlG bestimmt, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, nur mit den Rechtsbehelfen angefochten werden können, die in diesem Gesetz und in den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen sowie im Wahlprüfungsverfahren vorgesehen sind. Eingeschränkt ist damit die Anfechtung solcher Entscheidungen und Maßnahmen, die die zuständigen Wahlorgane und -behörden auf der Grundlage der geltenden Wahlrechtsnormen im Rahmen eines konkreten Wahlverfahrens getroffen haben (Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.). Hierzu gehört auch die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses.

26

Mit der begehrten einstweiligen Anordnung wäre es zu einer vorgezogenen gerichtlichen Wahlprüfung gekommen, die sich unmittelbar auf das laufende Wahlverfahren und die Feststellung des Wahlergebnisses ausgewirkt hätte. Denn Ziel des Antrags war die vorläufige Nichtanwendung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG. Dies hätte zu einer wahlbezogenen Rechtskontrolle geführt, die § 57 LWahlG gerade vermeiden will, um einen reibungslosen Ablauf der Landtagswahl zu gewährleisten (Beschluss vom 15. Oktober 2009 a.a.O., Juris Rn. 18 m.w.N.).

27

Demgegenüber bezieht sich das in der Hauptsache eingeleitete Normenkontroll-verfahren nicht auf den Vollzug wahlrechtlicher Normen im Rahmen eines konkreten Wahlverfahrens, sondern auf die dem Vollzug zugrunde liegende Norm. Ziel des Hauptsacheverfahrens ist nicht der Eingriff in eine laufende Wahlprüfung, sondern die in die Zukunft gerichtete Überprüfung einer Norm des Landeswahlrechts; es weist mithin einen anderen Streit- und Verfahrensgegenstand auf (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG). Die Ungültigkeit einer Wahl oder die Unrichtigkeit des Wahlergebnisses können nur in einem Wahlprüfungsverfahren festgestellt werden. Sie ergeben sich auch nicht aus einer in einem anderen Verfahren festgestellten Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes (vgl. Rauber , Wahlprüfung in Deutschland, 2005, S. 161 f. m.w.N.; Detterbeck , Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 575 f.; Schneider , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 41 Rn. 8 ; Roth , in: Umbach/ Clemens , GG, Bd II, 2002, Art. 41 Rn. 12, 29 m.w.N.; Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 415).

C.

28

Der Antrag ist nur zum Teil begründet.

29

Ob die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG für sich betrachtet gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit verstößt, kann dahinstehen. Jedenfalls führt § 3 Abs. 5 LWahlG im Zusammenspiel mit den Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und § 16 LWahlG in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität derzeit und in Zukunft dazu, dass der Landtag die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können. Dies ist mit der Verfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) unvereinbar. Eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.

I.

30

Streitig ist, wie der Begriff „weitere Sitze“ in § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zu verstehen ist, insbesondere, ob die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zu einem nur „kleinen“ oder zu einem „großen Ausgleich“ führt. Als unklar gilt auch, wie sich die Regelungen in § 3 Abs. 5 Satz 1 und in Satz 2 LWahlG zueinander verhalten. Diese Fragen bedürfen hier zunächst keiner Klärung. Bei der abstrakten Normenkontrolle ist die Auslegung des einfachen Rechts einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. Das Gericht legt seiner Prüfung vielmehr diejenige Auslegung zu Grunde, die die verfahrensgegenständliche Vorschrift in der Rechtspraxis und insbesondere in der fachgerichtlichen Rechtsprechung gefunden hat. Eine andere Auslegung kommt lediglich dann in Frage, wenn sich die Norm gerade in der Auslegung der Rechtspraxis als mit der Verfassung unvereinbar erweist und eine andere, verfassungskonforme Auslegung möglich ist (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 52 m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 23. November 1999 - 1 BvF 1/94 - BVerfGE 101, 239 ff., Juris Rn. 79 m.w.N.).

31

In der wahlrechtlichen Praxis wird § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG im Sinne eines „kleinen Ausgleichs“ ausgelegt und angewendet. Verwiesen wird dabei auf die Entstehungsgeschichte der Norm und auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Parallelvorschrift des § 10 Abs. 4 GKWG.

32

1. Bei der Wahl zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vom 27. September 2009 ist wie folgt verfahren worden: Die CDU errang über die Mehrheitswahl in den Wahlkreisen nach § 2 LWahlG elf Sitze mehr als ihr bei verhältnismäßiger Aufteilung der 69 vorgesehenen Sitze nach ihrem Zweitstimmenanteil für die Landesliste zugestanden hätten. Diese Sitze waren ihr nach § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG (als Mehrsitze oder Überhangmandate) zu belassen. Zur Wiederherstellung der verhältnismäßigen Sitzanteile wurden 22 weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren verteilt und besetzt. Bei der Verteilung dieser weiteren Sitze nach dem d’Hondtschen Verfahren (Höchstzahlenverfahren, § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG) wurden die nächstfolgenden acht auf die CDU entfallenden Höchstzahlen einbezogen. Die sich daraus ergebenden acht weiteren, über die Wahlkreise errungenen Sitze wurden wiederum auf den verhältnismäßigen Sitzanteil angerechnet und entsprechend besetzt (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Auf diese Weise ergaben sich zusätzlich zu den 69 Sitzen 22 weitere Sitze, insgesamt also 91 Sitze (§ 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG), in denen die acht Mehrsitze der CDU enthalten waren, die nach dem Ausgleich durch ihren verhältnismäßigen Sitzanteil gedeckt waren, sowie 14 weitere Sitze für die anderen Fraktionen (Ausgleichsmandate). Dies hatte zur Folge, dass drei Mehrsitze auch nach dem Ausgleich ungedeckt blieben. Die sich so ergebende erhöhte Gesamtsitzzahl von 94 wurde gemäß § 3 Abs. 5 Satz 4 LWahlG auf die ungerade Zahl 95 erhöht (Amtsbl. 2009 S. 1129, 1139).

33

Diese Verfahrensweise bestätigte die Landeswahlleiterin im Rahmen ihres Vorprüfungsberichts vom 14. Dezember 2009 und verwies zur Begründung - ebenso wie in ihren späteren Stellungnahmen - auf die Entstehungsgeschichte des § 3 Abs. 5 LWahlG und dessen Systematik (siehe Landtags-Umdruck 17/117, S. 37). Bereits anlässlich der Ausschussberatung eines früheren Entwurfs für eine Änderung des Landeswahlgesetzes (Landtags-Drucksache 16/2152) hatte die Lan-deswahlleiterin erklärt, dass sie sich bei der Anwendung des § 3 Abs. 5 LWahlG an die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu der parallel im Kommunalwahlrecht geltenden Regelung des § 10 Abs. 4 GKWG halte. Die Rechtslage sei deshalb so geklärt, wie sie auch das Innenministerium im Rahmen der Kommunalwahl immer vertreten habe (IR 16/103, Sitzung vom 3. Juni 2009, S. 10).

34

2. Fachgerichtliche Rechtsprechung zu § 3 Abs. 5 LWahlG findet sich nicht. Die Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 10 Abs. 4 GKWG kommt zum gleichen Ergebnis wie die dargestellte Praxis. Das Verwaltungsgericht folgerte ursprünglich aus dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. November 2000 (- 2 L 25/00 -, NordÖR 2001, 69 ff. = NVwZ-RR 2001, 529 f. = Die Gemeinde SH 2001, 69 = SchlHA 2001, 190, Juris Rn. 38), dass die für den Verhältnisausgleich maßgeblichen Mehrsitze nicht auf die weiteren Sitze anzurechnen seien (vgl. VG Schleswig, Urteil vom 15. Dezember 2005 - 6 A 237/05 -). Nach der Kommunalwahl im Mai 2008 änderte es seine Auffassung zur Sitzverteilung ausdrücklich. Seitdem interpretiert das Verwaltungsgericht § 10 Abs. 4 Satz 2 GKWG dahingehend, dass bei dem Verhältnisausgleich auf sämtliche nachfolgenden Höchstzahlen, die nach der auf den letzten regulären Sitz entfallenden Höchstzahl kämen, weitere Sitze zu verteilen seien. Der „weitere Sitz“ sei der Oberbegriff für Mehrsitze und für Ausgleichsmandate, die sich aus der Weiterrechnung ergäben (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2008 - 6 A 150/08 -; ebenso Urteil vom 2. Juni 2009 - 6 A 162/08 -). Dem schloss sich das Oberverwaltungsgericht an (vgl. Beschluss vom 15. September 2009 - 2 LA 36/09 -, Juris Rn. 7 f.). Auch die Kommentarliteratur zu § 10 GKWG stimmt mit der Praxis der Landeswahlleiterin und der zitierten Rechtsprechung überein (vgl. Asmussen/ Thiel , GKWG, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Dezember 2007, § 10 Anm. 5).

35

3. Der verfassungsrechtlichen Überprüfung ist nach alledem eine Auslegung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zugrunde zu legen, die nur einen „kleinen Ausgleich“ erlaubt, bei dem die Mehrsitze in den Verhältnisausgleich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 LWahlG durch Verteilung weiterer Sitze auf die nächstfolgenden Höchstzahlen einzubeziehen sind; „weitere Sitze“ sind danach nicht nur Ausgleichssitze, sondern auch die bereits errungenen Mehrsitze.

II.

36

Anders als das Grundgesetz für den Bundestag (vgl. Art. 38 GG) enthält die Landesverfassung neben der Festlegung auf die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze in Art. 3 Abs. 1 LV verschiedene Regelungen über die Besetzung des Landtages und die Wahlen hierzu in Art. 10 Abs. 2 LV. Die Verfassungsbestimmung des Art. 10 Abs. 2 LV gibt nicht nur das Wahlsystem für die Landtagswahl vor. Sie verpflichtet zugleich den Gesetzgeber ein Landeswahlrecht zu schaffen, das in der politischen Realität die Entstehung von Überhang- und ihnen folgend Ausgleichsmandaten so weit wie möglich verhindert, um so seine weitere Vorgabe, nämlich die Zahl von möglichst nicht mehr als 69 Abgeordneten, einzuhalten.

37

Während Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV die Anzahl der für den Landtag vorgesehenen Abgeordneten festlegen, sieht Satz 4 vor, dass sich diese Zahl ändert, wenn nach einer Wahl Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder Sitze leer bleiben. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV bestimmt als Wahlsystem eine Verbindung der Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl. Daran anknüpfend macht Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV eine weitere Vorgabe für den Gesetzgeber: Für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten muss das Wahlgesetz Ausgleichsmandate vorsehen. Diese Vorgabe dient der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV. Sie macht die Ausgleichsmandate „verfassungsfest“. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass die in der Verhältniswahl angelegte Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis wieder hergestellt wird und es so bei einer repräsentativen Wiedergabe des Wählerwillens bleibt, und zwar unter der Vorgabe, dass die Größe des Landtages die Sitzzahl von 69 Abgeordneten möglichst erreicht, allenfalls geringfügig übersteigt.

38

1. Nachdem die Zahl der Abgeordneten zunächst mit 75 festgelegt worden war (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV), erfolgte zur 16. Wahlperiode durch Gesetz vom 13. Mai 2003 (GVOBl S. 279) eine Absenkung auf 69 Abgeordnete (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV). Auch wenn sich weder aus dem Nebeneinander dieser beiden Aussagen noch aus den originären Gesetzesmaterialien ergibt, dass der Verfassungsgeber damit eine zahlenmäßig unbedingt verbindliche Zielvorgabe treffen wollte, zeigt sich doch sowohl am Wortlaut als auch an den weiteren Debatten im Landtag, welche Bedeutung er dieser Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV beimisst.

39

a) Bereits der Umstand, dass die Vorgabe von 75 Abgeordneten in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV nicht durch die nun geltende Zahl von 69 Abgeordneten ersetzt, sondern diese neue Vorgabe zusätzlich in die Verfassung aufgenommen wurde, zeigt, dass der Verfassungsgeber eine deutliche Verkleinerung des Landtages gewollt hat. In dem Nebeneinander dieser beiden Zielgrößen wird eine Tendenz aufgezeigt. Insgesamt kommt damit die Erwartung des Verfassungsgebers zum Ausdruck, dass der Landtag die Zahl von 69 Abgeordneten regelmäßig nicht überschreiten soll. Als Regelgröße verstanden folgt daraus, dass die Entstehung von Überhangmandaten - und der damit einhergehende Anfall von Ausgleichsmandaten - zu begrenzen ist. Zu einer Überschreitung soll es nur ausnahmsweise und dann nur in geringem Maße kommen.

40

b) Dies wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Die erste Festschreibung der Abgeordnetenzahl in der Verfassung beruhte auf einem entsprechenden Vorschlag der Enquete-Kommission für eine neue Landesverfassung vom 7. Februar 1989 (Landtags-Drucksache 12/180). Die Abgeordnetenzahl sollte ungerade sein und im Interesse verfassungspolitischer Kontinuität nicht zur Disposition der jeweiligen Regierungsmehrheit stehen. Bei der Anzahl selbst orientierte man sich an den seit 1947 im Landeswahlgesetz vorgesehenen Zahlen von 70, 69, 73 und zuletzt 74 Abgeordneten (Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.), die bis dahin noch nie überschritten worden waren (vgl. die Aufstellung „Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009). Die von der Enquete-Kommission vorgeschlagene Zahl von 75 Abgeordneten wurde im weiteren Verlauf der Verfassungsreform nicht mehr diskutiert.

41

Zu einer Diskussion kam es jedoch nach der Wahl zum 13. Landtag 1992, bei der die SPD sämtliche 45 Direktmandate gewann und sich die Zahl der Abgeordneten von 75 auf 89 erhöhte. Eine interfraktionelle Verhandlungsgruppe sollte klären, wie man eine solche Vergrößerung des Landtages durch Überhangmandate künftig verhindern könne. CDU- und FDP- Fraktion reagierten mit einem (später abgelehnten) Gesetzentwurf, mit dem unter anderem die Zahl der Wahlkreise von 45 auf 37 reduziert werden sollte (Landtags-Drucksache 13/2026), um zu gewährleisten, dass der Landtag auch in Zukunft nur die in der Verfassung vorgesehenen 75 Abgeordneten habe und nicht weiter vergrößert werde. Schon nach Auffassung der Enquete-Kommission sei die Funktion des Landtages mit 75 Abgeordneten am besten gewährleistet; mehr als 75 Abgeordnete würden die Effizienz nicht mehr steigern (PlPr 13/65, S. 4431 f., 4438). Nach Auffassung der SPD- Fraktion war die Zahl von 75 Abgeordneten kein exaktes Ziel, sondern nur eine Ausgangszahl, die sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhe, so dass auch 89 Abgeordnete noch von der Verfassung gedeckt seien (PlPr 13/65, S. 4436, 4447). Zugleich gab sie aber Anfang 1994 ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes in Auftrag und beantragte im Landtag eine Prüfung durch den Innen- und Rechtsausschuss, durch welche rechtlichen Maßnahmen bei künftigen Wahlen „die Zahl von 75 Landtagsmandaten nicht oder nicht wesentlich überschritten“ werden würde (Landtags-Drucksache 13/2003).

42

Nachdem der 15. Landtag nach der Wahl im Jahr 2000 erneut auf 89 Abgeordnete angewachsen war, brachte die FDP- Fraktion einen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlgesetzes ein. Dieser Gesetzentwurf sah unter anderem eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vor (Landtags-Drucksache 15/55), um so „der Verfassung zu mehr Verfassungswirklichkeit zu verhelfen“. Nur so sei zu gewährleisten, dass die Einhaltung der verfassungsmäßig vorgegebenen Zahl von Abgeordneten kein Zufall bleibe, sondern zur Regel werde (PlPr 15/2, S. 74). In der nachfolgenden Debatte waren sich die Abgeordneten darüber einig, dass die Anzahl von 75 Abgeordneten „regulär und angemessen“ sei und eine „funktionsfähige Größe“ darstelle (PlPr 15/2, S. 76, 81). In der 2. Lesung sprach man von einem „Verfassungsziel“ und von einer „Regelgröße“, die nicht erheblich überschritten werden dürfe (PlPr 15/76, S. 5731, 5735). Mit Blick auf die mittlerweile geplante Absenkung auf 69 Abgeordnete zog der Abgeordnete Kubicki in Erwägung, ob der Gesetzgeber nicht von Verfassungs wegen gezwungen sei, das Wahlrecht so auszugestalten, dass die vorgegebene Sollzahl optimal erreicht werde. Jedenfalls dürfe sich der Gesetzgeber von den Verfassungsgrundsätzen nicht entfernen (PlPr 15/76, S. 5736). Ebenso bestand schließlich während der Debatte zur Verfassungsänderung von 2003 Einigkeit darüber, dass es sich auch bei der Zahl von 69 Abgeordneten um eine regulär vorgesehene Zahl handeln könne, die sich im Einzelfall durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht. Die Verkleinerung des Landtags war zwar im Wesentlichen motiviert durch eine erforderlich gewordene Diätenstrukturreform (vgl. IR 15/75, S. 13 und PlPr 15/86, Redebeiträge Puls, S. 6549; Kubicki, S. 6559; Hinrichsen, S. 6300, 6557), doch sollte es jedenfalls im Ergebnis nicht noch einmal zu einem Anwachsen des Landtags auf 89 Abgeordnete kommen. Als erstrebenswert wurde vielmehr eine endgültige Größe von höchstens 75 bis 77 Abgeordneten erachtet (PlPr 15/83, S. 6294 ff. und 15/86, S. 6548 ff.).

43

2. Als weitere Verfassungsvorgabe schreiben Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag vor. Dieses lässt sich als „personalisierte Verhältniswahl“ charakterisieren und stellt ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV). In dem so charakterisierten Wahlsystem kommt dem aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit nicht eine nur begrenzte, sondern eine das einheitliche Wahlsystem insgesamt umfassende Bedeutung zu. Dementsprechend konkretisiert und verstärkt die speziellere Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV folgenden Grundsatz der Erfolgswertgleichheit. Insoweit verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eingeschränkter Gestaltungsspielraum.

44

a) Die Wahlgrundsätze des Art. 3 Abs. 1 LV stimmen überein mit denjenigen, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Wahlen zum Bundestag gelten. Zur Übernahme dieser Grundsätze war der Landesverfassungsgeber im Rahmen des Homogenitätsgebots gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet. Dies befolgend sind sie 1949 in die Landessatzung aufgenommen worden (vgl. Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -, NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 32 f.; Begründung der Landtagsvorlage 263/3 S. 188, VII.; Gross , DV 1950, 129 <131>). Deshalb kann für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 LV auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgegriffen werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 95 m.w.N.), soweit sich aus den Wahlsystemen keine entscheidenden Unterschiede ergeben. Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems genießen die Länder im Rahmen der Bindung an die Grundsätze des Art. 28 GG einen autonomen Spielraum (BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1998 - 2 BvR 1953/95 - BVerfGE 99, 1 ff., Juris Rn. 46; Urteil vom 8. Februar 2001 - 2 BvF 1/00 - BVerfGE 103, 111 ff., Juris Rn. 90; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 29, Juris Rn. 29; vgl. auch Dreier, in: ders. , Grundgesetz - Kommentar - Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 28 Rn. 70; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 30; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, Art. 10 Rn. 64).

45

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger und gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht in möglichst gleicher Weise ausüben können. Historisch betrachtet verbietet er für das aktive Wahlrecht eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen etwa nach Vermögensverhältnissen, Klassenzugehörigkeit, nach Bildung, Religion oder Geschlecht. Heute ist er im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme einer und eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben muss. Alle Stimmen sollen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 -BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 67; vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 97; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91 f.). Dieser lässt sich naturgemäß nur anhand einer ex post Betrachtung ermitteln (vgl. Ipsen , JZ 2002, 469 <472>).

46

Die Wahlgleichheit ist nach allgemeiner Auffassung kein Kriterium für die Auswahl des Wahlsystems, sondern bildet lediglich die Grundlage für dessen Ausgestaltung (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 42; kritisch Backhaus , DVBl. 1997, 737 <740>). Innerhalb der verschiedenen Wahlsysteme wirkt sie sich unterschiedlich aus (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 68; Beschluss vom 14. Februar 2005 a.a.O., Juris Rn. 29; und Urteil vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98; vgl. auch Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 208 ff.), je nach dem, ob das Wahlsystem personen- oder parteibezogen ist (vgl. Pauly , AöR 123 - 1998 - 233 <241 f.>). Maßgeblich ist stets, dass im Ergebnis keine unsachliche Differenzierung des Stimmgewichts erfolgen darf (vgl. Caspar , a.a.O., Art. 3 Rn. 36 ff.).

47

aa) Da die Mehrheitswahl die enge persönliche Beziehung der Abgeordneten zum Wahlkreis sichert, führen nur die für die Mehrheitskandidatin oder den Mehrheitskandidaten abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung, während die auf Minderheitskandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben. Hier müssen - ex ante betrachtet - alle Wählerinnen und Wähler über den gleichen Zählwert ihrer Stimmen hinaus die gleiche Erfolgschance haben, indem sie auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise und von daher mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 a.a.O., Juris Rn. 65, 69; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 98).

48

bb) Die Verhältniswahl bezweckt demgegenüber eine spiegelbildliche Darstellung der parteipolitischen Ausrichtung der Wählerschaft im Parlament. Hierfür müssen alle Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretung haben. Jede Partei soll im Parlament in der Stärke vertreten sein, die dem Gesamtanteil der für sie im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen und damit ihrem politischen Gewicht entspricht (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 115, 118 f.; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 64; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93). Dies erfordert ein Rechenverfahren, welches das Verhältnis der Stimmen für die Parteilisten zu den Gesamtstimmen und eine entsprechende Sitzzuteilung ermittelt, so dass jeder Stimme über die gleiche Erfolgschance hinaus auch der gleiche Erfolgswert zukommt (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 119; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 70; vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 41; vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 99; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 93, stRspr.; vgl. auch: Schreiber , Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 1 Rn. 55).

49

cc) Mehrheitswahl und Verhältniswahl lassen sich in verschiedener Weise miteinander verbinden (vgl. Seifert , Bundeswahlrecht, 3. Aufl. 1976, S. 11 f.; Wild , a.a.O., S. 211). Ist eine Verbindung beider Wahlsysteme vorgesehen, muss der Gesetzgeber das letztlich angestrebte Regelungsziel und das normative Umfeld mit der spezifischen Ordnungsstruktur des ausgewählten Wahlsystems systemgerecht und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen (ebenso: StGH Bremen, Urteil vom 8. April 2010 - St 3/09 -, NordÖR 2010, 198 ff. Rn. 50). Das ausgewählte Wahlsystem ist in seinen Grundelementen einheitlich und folgerichtig zu gestalten und darf keine strukturwidrigen Elemente enthalten. Dabei ist die Gleichheit der Wahl nicht nur innerhalb des jeweiligen Abschnitts oder Systems zu wahren (vgl. BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 120; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; und vom 13. Februar 2008 a.a.O., Juris Rn. 100 f., stRspr.; vgl. auch Hübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 19; Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 65), sondern es müssen darüber hinaus die Teilwahlsysteme sachgerecht zusammenwirken (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - a.a.O., Juris Rn. 71; ebenso Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 30).

50

Entscheidend für die Ermittlung des Gleichheitsmaßstabs ist danach die Charakterisierung des vom Gesetzgeber gewählten Verbindungswahlsystems. Nur wenn das ausgewählte Wahlsystem beiden Teilwahlsystemen ihre Selbständigkeit belässt, können auch die jeweils zu definierenden Maßstäbe auf das jeweilige Wahlsystem beschränkt werden (sogenanntes Grabenwahlsystem). Wird hingegen das ausgewählte Wahlsystem im Ergebnis von einem der beiden Teilwahlsysteme maßgeblich definiert, muss dessen Gleichheitsmaßstab insgesamt Anwendung finden (vgl. Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 179 ; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 351 f.; Wild , a.a.O., S. 211 ff.).

51

b) Das Wahlsystem zum Schleswig-Holsteinischen Landtag ist als „personalisierte Verhältniswahl“ zu charakterisieren. Es stellt sich als ein verbundenes einheitliches Wahlsystem dar, vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV. Ein Grabenwahlsystem, in dem die Grundsätze der beiden Wahlsysteme nebeneinander stehen, ist durch diese Verfassungsbestimmung ausgeschlossen. Das Schleswig-Holsteinische Landtagswahlsystem ist maßgeblich geprägt und im Ergebnis bestimmt von den Grundsätzen der Verhältniswahl. Dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit kommt dabei eine übergreifende Tragweite zu; insgesamt muss jede Wählerstimme von gleichem Gewicht sein.

52

aa) Schon vor Einführung des begrenzten Mehrsitzausgleichs und unter Geltung des Einstimmenwahlrechts führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion als Landesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung zur schleswigholsteinischen Sperrklausel aus, dass das Landtagswahlsystem Elemente der Mehrheitswahl mit solchen der Verhältniswahl verbinde. Hinter der Mehrheitswahl im Wahlkreis stehe der „Vollproporz in der radikalen Form“. Auch im Falle der Kombination zweier Wahlsysteme dürfe der Verhältnisausgleich nicht beliebig gestaltet werden. Eine ungleichmäßige Verwertung der Stimmen im Verhältnisausgleich sei nicht damit zu rechtfertigen, dass die Parteien bei einer Mehrheitswahl noch ganz anders benachteiligt würden. Wenn die Entscheidung für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich falle, müsse in diesem Teil des Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden. Dies gelte erst recht für das in Schleswig-Holstein eingeführte Wahlsystem, „das letzten Endes auf eine rein verhältnismäßige Verteilung der Mandate nach dem Wahlergebnis im ganzen Land mit bloß zusätzlicher Prämie aus der Mehrheitswahl hinauslaufe“ (Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 2, 109, 121; zustimmend: von Mutius, in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10.; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22 jeweils m.w.N.).

53

Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum als Landesverfassungsgericht - auch das bis heute mit nur einer Wählerstimme arbeitende kommunale Wahlsystem Schleswig-Holsteins den Grundsätzen der Verhältniswahl unterworfen. Die Möglichkeit der Erringung von Direktmandaten stelle keine Durchbrechung des Verhältniswahlsystems dar, weil die Wählerstimme zugleich als Votum für die Liste gelte und die Mandate unter Anrechnung der errungenen Direktsitze nach der Gesamtstimmenzahl verteilt würden. Mit der Entscheidung für das Verhältniswahlsystem sei der Gesetzgeber daran gebunden, sowohl die Zähl- als auch die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sicherzustellen (Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 105).

54

bb) Das vom Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 5. April 1952 (a.a.O., Juris Rn. 2, 109, 121) als einheitliches Wahlsystem in Form der personalisierten Verhältniswahl charakterisierte Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag, das trotz vorgeschalteter Mehrheitswahl den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt, ist mittlerweile in der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV als Verbindungswahlsystem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten festgeschrieben.

55

Die durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462) erfolgte Umstellung auf das Zweistimmenwahlrecht sollte eine Differenzierung zwischen persönlich bekannten Kandidatinnen und Kandidaten einerseits und Parteien andererseits ermöglichen (PlPr 14/3, S. 81). Dabei blieben Art. 10 Abs. 2 LV und der Verhältnisausgleich nach § 3 LWahlG jedoch unverändert. Insoweit spricht auch die aktuelle Kommentarliteratur weiterhin von einer „personalisierten Verhältniswahl“ (vgl. Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 37; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 65). Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht - wiederum in seiner Eigenschaft als Landesverfassungsgericht - in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Inhalt seiner Entscheidung von 1952 bestätigt (Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 2 und 31).

56

cc) Die personalisierte Verhältniswahl zum Landtag gemäß Art. 10 Abs. 2 LV wird im Landeswahlgesetz nach den §§ 1 bis 3 LWahlG durch die Verknüpfung einzelner Abschnitte von (Teil-) Wahlsystemen umgesetzt. Die Schritte zur Verknüpfung beschreibt § 3 LWahlG wie folgt: Zunächst wird die Anzahl der auf die einzelnen Landeslisten entfallenden Sitze auf Grundlage der gültigen Zweitstimmen ermittelt und die Gesamtzahl der Abgeordneten entsprechend auf die Landeslisten verteilt (§ 3 Abs. 3 LWahlG). Sodann sind die in den Wahlkreisen erfolgreichen Bewerberinnen und Bewerber auf Grundlage der gültigen Erststimmen (§ 2 LWahlG) zu ermitteln und auf das Ergebnis der Listenwahl anzurechnen (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Diese Anrechnung dient der Verknüpfung und notwendigen Harmonisierung von Personen- (oder Direkt-)wahl und Verhältniswahl (vgl. für § 6 Abs. 4 Satz 1 BWahlG:Ipsen , Staatsrecht I, 21. Aufl. 2009, Rn. 114, 119). Methodisch erreicht der Gesetzgeber die Verknüpfung über eine „Verteilungsfiktion“ (so für das Bundeswahlrecht: Wrege , Jura 1997, 113), denn die Verteilung der Gesamtzahl der Abgeordneten auf die Landeslisten nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LWahlG erfolgt zunächst nur fiktiv. Diese Fiktion wird durch die Anrechnung der erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auf die jeweilige Landesliste wieder aufgelöst (§ 3 Abs. 4 LWahlG). Schließlich schreibt § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG vor, dass einer Partei die in den Wahlkreisen errungenen Mandate auch dann verbleiben, wenn deren Anzahl größer ist als die des verhältnismäßigen Sitzanteils (entsprechend § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG). Zum Zwecke des Ausgleichs werden hierfür weitere Sitze nach dem in § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG beschriebenen Verfahren vergeben.

57

dd) Trotz dieser verschiedenen Abschnitte handelt es sich bei dem heutigen Landeswahlsystem somit nicht um ein (Mischwahl- oder) Grabensystem, sondern um ein einheitliches Wahlsystem, das erst aus der Verbindung der beiden Wahlsysteme entsteht. Gerade erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Systemabschnitte lassen sich die Landtagsmandate ermitteln. Zweck der Verbindung ist es, sowohl eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten nach Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu bestimmen und so das Persönlichkeitselement einzubringen (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 2 LWahlG) als auch, den parteibezogenen Proporz zu sichern (§ 1 Abs. 1 Satz 2, § 3 LWahlG).

58

Die Direktkandidatinnen und Direktkandidaten werden zwar in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt. Die von ihnen im Landtag besetzten Sitze werden aber nicht unter den Bedingungen der Mehrheitswahl vergeben, sondern unter Anrechnung auf die Landeslisten. Die von den erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern besetzten Sitze sind von ihnen im Ergebnis zwar persönlich gewonnen, zugleich sind sie aber Teil der verhältnismäßigen Abbildung der Stärke der Parteien und gehen in die mit der Verhältniswahl bezweckte Abbildung der relativen Stimmverteilung im Wahlvolk ein.

59

Aus dem Landtagswahlsystem wird auch nicht dadurch eine „Persönlichkeitswahl, ergänzt um Elemente der Verhältniswahl“, weil die Sitze nicht - wie im Bund - in einem prozentualen Verhältnis von 50:50 auf die Mehrheitswahl und die Verhältniswahl aufgeteilt werden, sondern gemäß § 1 Abs. 1 LWahlG - historisch gewachsen - in einem prozentualen Verhältnis von etwa 60:40 (heute: 40 Direktmandate zu 29 planmäßigen Listenmandaten). Dies folgt bereits aus dem Umstand, dass der prozentuale Anteil der direkt gewählten Abgeordneten kleiner wird, sobald es zu Mehrsitzen kommt, die der jeweiligen Partei - zwecks Wahrung des Persönlichkeitselements - verbleiben. Das „Verbleiben“ dieser Mehrsitze führt zu einer Erhöhung der Gesamtsitzzahl im Landtag, während die gesetzlich festgelegte Zahl von 40 Direktmandaten gleich bleibt. Dies galt im Übrigen schon vor Einführung des Art. 10 Abs. 2 LV und des Mehrsitzausgleichs.

60

c) Mit der Verpflichtung des Gesetzgebers auf einen Ausgleich der Überhangmandate (Mehrsitze) in Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV hat der Verfassungsgeber die Dominanz der Verhältniswahl nochmals bekräftigt und ihr Gewicht in Richtung Gesamtproportionalität gestärkt. Diese Stärkung drängt das Teilelement Mehrheitswahl zwangsläufig weiter zurück.

61

aa) Nach dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV ist nur eindeutig festgelegt, dass ein Ausgleich stattzufinden hat; eine Aussage über die Anzahl oder die Berechnung der Ausgleichsmandate fehlt demgegenüber. Auch aus der Entstehungsgeschichte des 1990 in die Landesverfassung eingefügten Art. 10 Abs. 2 LV lässt sich nicht entnehmen, wie der Verfassungsgeber den konkreten Ausgleich gestaltet wissen wollte.

62

(1) Die frühere Landessatzung (LS) sah noch keine Bestimmungen über die Wahlen zum Landtag vor; auch die 1988 eingesetzte Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform“ befasste sich nicht mit dem Wahlrecht (vgl. Landtags-Drucksache 12/180, S. 153 ff.). Der im Februar 1989 eingesetzte Sonderausschuss „Verfassungs- und Parlamentsreform“ - SoAVP - (Landtags-Drucksache 12/218) diskutierte die verfassungsmäßige Festlegung der Abgeordnetenzahl im Landtag und die damit zusammenhängende Frage, ob die Regelung von Überhang- und Ausgleichsmandaten dem einfachen Gesetzgeber überlassen werden könne.

63

In der 2. Sitzung des Sonderausschusses wurde die Gefahr des Entstehens von Überhangmandaten für den Fall, dass man wenige Listenmandate und viele Wahlkreise vorsehe, zwar angesprochen, in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen aber als gering erachtet (SoAVP 2/20 f.). In der 5. Sitzung einigte man sich darauf, die Zahl der Mandate in der Verfassung festzuschreiben. Da Abweichungen hiervon aus wahlsystematischen Gründen nicht ausgeschlossen seien, sollten auch Überhang- und Ausgleichsmandate in der Verfassung Erwähnung finden (SoAVP 5/3 ff.). In der 6. Sitzung wurde diskutiert, ob die Entscheidung über Überhang- und Ausgleichsmandate dem jeweiligen Gesetzgeber überlassen werden soll. Im Ergebnis war es der erklärte Wille des Ausschusses, in der Verfassung eine Formulierung zu wählen, die es dem Gesetzgeber verbiete, Überhang-, Ausgleichs- oder Leermandate auszuschließen; diese sollten grundsätzlich im Wahlgesetz möglich gemacht werden (SoAVP 6/5 ff.). Den Formulierungsvorschlag des wissenschaftlichen Dienstes, wonach das Wahlgesetz Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen müsse (Landtags-Umdruck 12/479), übernahm der Ausschuss in seiner 7. Sitzung nahezu wortgleich (SoAVP 7/4). Der anschließende Vorschlag des Landeswahlleiters, sich hinsichtlich des geltenden Wahlsystems (kombinierte Persönlichkeits- und Verhältniswahl) und der Verpflichtung des Gesetzgebers zu Ausgleichsmandaten klarer festzulegen, scheiterte zunächst, weil man meinte, dass es einer weiteren Klarstellung nicht bedürfe. Die Festlegung auf das gemischte Wahlsystem sei schon so erkennbar (SoAVP 21/19 ff.).

64

Im Abschlussbericht des Sonderausschusses vom 28. November 1989 wurde folgender Art. 10 LV vorgeschlagen (Landtags-Drucksache 12/620, S. 9):

65

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Diese Zahl ändert sich, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das Überhang- und Ausgleichsmandate ermöglichen muss.

66

Der Sonderausschuss führte dazu aus: „Die in Satz 1 festgelegte Abgeordnetenzahl kann sich nur ändern, wenn Überhang- oder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Insoweit die Einzelheiten zu regeln, muss (…) dem einfachen Gesetzgeber überlassen bleiben. Sein Regelungsspielraum wird allerdings durch Art. 10 Abs. 2 Satz 3 LV eingeengt. Wenn das Gesetz Überhangoder Ausgleichsmandate ermöglichen muss, so wird damit mittelbar das Wahlsystem - nämlich das System einer kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahl - vorgegeben“ (Landtags-Drucksache 12/620 , S. 40).

67

Die daraufhin eingebrachten Gesetzentwürfe (Landtags-Drucksache 12/637, S. 5 und 12/638 , S. 4) übernahmen den Vorschlag zu Art. 10 Abs. 2 LV. In der ersten Lesung am 16. Januar 1990 mahnte der damalige Innenminister - wie zuvor schon der Landeswahlleiter (Landtags-Umdruck 12/763) - eine klarere Formulierung der wahlrechtlichen Regelungen an. Es sei ein Mangel, wenn Einzelheiten eines bestimmten Wahlsystems geregelt würden, dabei aber nicht das Wahlsystem selbst bezeichnet werde, welches verfassungsfest gemacht werden solle (PlPr. 12/43, S. 2538). Auf Bitte des Sonderausschusses formulierte er die aus Sicht der Landesregierung wünschenswerten Änderungen und fügte in Art. 10 Abs. 2 LV die Festschreibung des bis dahin einfachgesetzlich schon geltenden kombinierten Persönlichkeits- und Verhältniswahlrechts ein (Umdruck 12/1292). Dem schlossen sich der Sonderausschuss (Landtags-Drucksache 12/826) und der Landtag an. Damit wurde Art. 9 Abs. 1 LS nach zweiter Lesung am 30. Mai 1990 (PlPr 12/55) durch Gesetz vom 13. Juni 1990 (GVOBl S. 391) durch folgenden Art. 10 LV ersetzt:

68

Art. 10 Funktion und Zusammensetzung des Landtages

(1) […]

(2) Der Landtag besteht aus fünfundsiebzig Abgeordneten. Sie werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Die in Satz 1 genannte Zahl ändert sich nur, wenn Überhangoder Ausgleichsmandate entstehen oder wenn Sitze leer bleiben. Das Nähere regelt ein Gesetz, das für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen muss.

69

Soweit die ursprüngliche Fassung „(…) ermöglichen muss“ geändert wurde in „(…) vorsehen muss“, präzisiert und konkretisiert dies den an den Gesetzgeber gerichteten Auftrag (so auch der Vorsitzende des Sonderausschusses während der 21. Sitzung, SoAVP 21/22). Die Diskussion im Sonderausschuss gibt nicht her, dass der Verfassungsgeber durch diese Formulierung zwingend einen Vollausgleich vorschreiben wollte.

70

(2) Vollständig würdigen lässt sich die Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2 LV nur vor dem Hintergrund des geltenden Landeswahlrechts. Die Tatsache, dass sich der Verfassungsgeber im Rahmen der Beratungen zur Frage des Voll- oder Teilausgleichs nicht ausdrücklich geäußert hat, beruhte darauf, dass mit der Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) in nennenswertem Umfang damals noch nicht gerechnet wurde.

71

(a) Mit Inkrafttreten der neuen Landesverfassung musste auch das Landeswahlgesetz geändert werden, weil es bis zu dieser Zeit noch keinen Mehrsitzausgleich vorsah. Der Entwurf zum Landeswahlgesetz wurde bewusst an § 10 Abs. 4 GKWG angelehnt (Landtags-Drucksache 12/834, S. 2). Das Änderungsgesetz vom 20. Juni 1990 (GVOBl S. 419) trat am Tag nach seiner Verkündung in Kraft. Aus der parallel zur Verfassungsänderung vorgenommenen Einführung eines nur beschränkten Mehrsitzausgleiches - im damaligen § 3 Abs. 4 LWahlG - könnte geschlossen werden, dass der mit dem Gesetzgeber identische Verfassungsgeber nicht zwingend einen stets vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten vorschreiben wollte. Wenn der Landtag erstmalig eine Pflicht zum Ausgleich von Überhangmandaten in die Landesverfassung aufnimmt und nicht nur in Kenntnis, sondern auch aus Anlass seiner eigenen Verfassungsvorgaben zeitgleich als Gesetzgeber das Wahlrecht ändert, ist es zwar naheliegend, dass er die durch diese Gesetzesänderung herbeigeführte Rechtslage - die Begrenzung des Ausgleichs in § 3 Abs. 4 Satz 3 LWahlG bei geltender Ausgleichspflicht nach Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV - für mit der Verfassung vereinbar hielt. Abgesehen davon, dass eine solche Annahme auch nicht zutreffen muss und insbesondere nicht vom einfachen Recht auf die richtige Auslegung der Verfassung geschlossen werden kann, gibt es dafür jedoch keine weiteren Anhaltspunkte.

72

(b) Bei Verabschiedung der neuen Verfassung sah das Landeswahlgesetz noch das Einstimmenwahlrecht vor. Die Einführung des Zweistimmenwahlrechts war noch nicht in der parlamentarischen Diskussion, sie erfolgte erst durch Gesetz vom 27. Oktober 1997 (GVOBl S. 462). Die Möglichkeit, dass es bei einer Landtagswahl zu Überhangmandaten kommen würde, war dennoch nicht auszuschließen und hatte durch Übernahme der Formulierung aus § 10 Abs. 4 GKWG Berücksichtigung gefunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese theoretische Möglichkeit tatsächlich realisieren würde, war von der praktischen Erfahrung her allerdings noch nicht belegt. Seit 1947 bis zur Verfassungsänderung war es bei Landtagswahlen nicht dazu gekommen, dass der Anteil der Direktmandate einer Partei größer gewesen wäre als ihr verhältnismäßiger Sitzanteil. Die Wahlstatistik zeigt, dass die gesetzlich festgelegte Zahl von Abgeordneten erstmals aufgrund der Landtagswahl 1992 überschritten worden ist („Wahlen in Schleswig-Holstein seit 1947“, Sitzverteilung, Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2009).

73

(c) Umso fernliegender war im Jahre 1990 die Vorstellung, dass bei tatsächlicher Entstehung von Überhangmandaten (Mehrsitzen) die Gewährung von insgesamt doppelt so vielen weiteren Sitzen nicht ausreichen würde, um einen vollständigen Ausgleich zu erreichen. Tatsächlich hat es in Schleswig-Holstein nahezu 20 Jahre gedauert, bis dieser Fall bei der Landtagswahl 2009 erstmals eingetreten ist. Die Faktoren, die diese Entwicklung ermöglichten (Einführung des Zweistimmenwahlrechts mit der Möglichkeit des Stimmensplittings, zunehmend breiteres Parteienspektrum und infolgedessen breitere Streuung der Zweitstimmen), waren damals noch nicht voraussehbar.

74

Vergleichbar wurde etwa für Niedersachsen noch 1996 darauf hingewiesen, dass das Verbleiben ungedeckter Überhangmandate nach begrenztem Ausgleich ein Phänomen sei, das „in den vergangenen Jahrzehnten“ keine praktische Bedeutung erlangt habe, weshalb davon ausgegangen werden könne, „dass der Gesetzgeber (…) das Erforderliche getan hat, um die Folgen einer Verzerrung des Erfolgswerts von Wählerstimmen zu beseitigen“ (vgl. Ipsen/Koch , NdsVBl 1996, 269 <271>). Entsprechend soll der historische Bundesgesetzgeber Überhangmandate als vernachlässigenswerten Schönheitsfehler angesehen und deshalb den parteipolitischen Streitpunkt, ob das Wahlsystem den Schwerpunkt in der Mehrheitswahl oder in der Verhältniswahl habe, pragmatisch offen gelassen haben, um insoweit kein komplizierendes Ausgleichsverfahren schaffen zu müssen. Auch das Bundesverfassungsgericht ist dieser Annahme anfänglich gefolgt, zumal diese durch die Wahlergebnisse zunächst auch bestätigt wurde (vgl. BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff. - Sondervotum -, Juris Rn. 181 ff.; Wrege , Jura 1997, 113 <115 f.> beide m.w.N.). Erst die Bundestagswahl 1994, bei der die CDU zwölf und die SPD vier Überhangmandate errangen, gab Anlass zu einer Neupositionierung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 10. April 1997 (a.a.O., Juris Rn. 23).

75

bb) Bis hierher lässt sich für den Gesetzgeber keine zwingende Pflicht zum Vollausgleich begründen. Sinn und Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV könnten in diese Richtung weisen. Die Pflicht, für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorzusehen, dient der Wahrung und Stärkung des auch bundesrechtlich über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 (Satz 2) GG verankerten Grundsatzes der Wahlgleichheit in Art. 3 Abs. 1 LV.

76

Generell können Überhangmandate entstehen, wenn Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl miteinander verbunden werden. Die für diesen Fall vorgesehene Gewährung von Ausgleichsmandaten stellt sicher, dass das Verhältnis der Sitze der einzelnen Parteien dem Verhältnis der für die einzelnen Landeslisten abgegebenen Stimmen entspricht, so dass sich die politischen Gewichte durch das Entstehen von Überhangmandaten im Ergebnis nicht verändern (vgl. Schreiber , Bundeswahlgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2009, § 6 Rn. 29; Litten/ Wallerath , Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 20 Rn. 33).

77

Diese Zielsetzung hat auch Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV. Nach den Beratungen im Sonderausschuss sollten die Ausgleichsmandate mit dieser Regelung „verfas-sungsfest“ gemacht werden. Außerdem sollte unmissverständlich vorgeschrieben werden, dass durch die Ausgleichsmandate das Prinzip der Verhältniswahl zu wahren sei (SoAVP 21/21 f.). Entsprechend verpflichtet Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV den Gesetzgeber zur (Wieder-) Herstellung der nach dem Zweitstimmenanteil festgestellten politischen Gewichte der einzelnen im Landtag vertretenen Parteien und damit zur Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis (ebensoWaack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71). Unter Rückgriff auf den strengen Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV ergibt sich daraus, dass nach der spezielleren Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Vollausgleich die Regel, der Teilausgleich hingegen eine zwingend begründungsbedürftige Ausnahme darstellt (ebensoMorlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, Landtags-Umdruck 17/752, S. 4).

78

d) Dient danach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahrung und Stärkung des Grundsatzes der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 LV und legt den Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems insoweit von Verfassungs wegen fest, kann die Vorschrift nicht als Begründung dafür herhalten, dass der Gesetzgeber dahinter zurückbleiben oder den Grundsatz der Erfolgswertgleichheit gar relativieren dürfte. Vielmehr hat der Gesetzgeber nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Wahlgleichheit zu einer optimalen, „bestmöglichen“ Geltung zu verhelfen (so schonHübner, in: von Mutius / Wuttke/ ders., Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 10 Rn. 23). Überhangmandate dürfen daher grundsätzlich nur im unvermeidlichen Mindestmaß anfallen, es sei denn sie werden durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Der Ausgleich muss dann allerdings so durchgeführt werden, dass die eingetretene Verzerrung soweit wie möglich wieder beseitigt, also der Wahlgleichheit „bestmöglich“ genügt wird (im Ergebnis ebenso: StGH BW, Urteil vom 12. Dezember 1990 - 1/90 -, VBlBW 1991, 133 ff., Juris Rn. 53 ff.; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 71; Hübner , a.a.O.).

79

aa) Das aus der Wahlgleichheit entwickelte Kriterium der Erfolgswertgleichheit beinhaltet zwar kein absolutes Differenzierungsverbot, belässt dem Gesetzgeber bei der Ordnung des jeweiligen Wahlsystems aber nur einen eng bemessenen Gestaltungsspielraum. Denn der Wahlgleichheit ist - anders als dem allgemeinen Gleichheitssatz - ein strikt formaler Charakter zu eigen. Ebenso wie die übrigen Wahlrechtsgrundsätze ist sie einer „flexiblen“ Auslegung nicht zugänglich (vgl. nur StGH BW, Urteil vom 23. Februar 1990 - 2/88-, VBlBW 1990, 214 ff., Juris Rn. 44; BVerfG, Urteile vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 108; und vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 91, 97; Schneider , in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 38 Rn. 67 ). Deshalb kann sich der Gesetzgeber nicht damit begnügen, überhaupt einen Ausgleich vorzusehen. Genüge getan ist dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit nach Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV grundsätzlich erst dann, wenn sämtliche Überhangmandate ausgeglichen sind. Jedes ungedeckt bleibende Überhangmandat muss sich (wieder) den strengen Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 LV stellen und ist rechtfertigungsbedürftig.

80

bb) Selbst wenn dem Bundesgesetzgeber nach Art. 38 Abs. 1 GG insoweit ein größerer Gestaltungsspielraum zustünde (so BVerfG, Urteil vom 10. April 1997- 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 107), wäre dies auf die schleswigholsteinische Rechtslage nicht übertragbar. Denn das schleswig-holsteinische Landtagswahlsystem ist jedenfalls nicht darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Mehrheitswahl in Form von überhängenden, das heißt im Ergebnis ungedeckten Mehrsitzen zu erhalten. Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV verpflichten den Landesgesetzgeber vielmehr insgesamt auf den Proporz nach Zweitstimmen und auf einen Verhältnisausgleich, der grundsätzlich auch die Mehrsitze deckt (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 -BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 109, 121; und Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

81

Das „sachgerechte Zusammenwirken“ der miteinander verbundenen Teilwahlsysteme erfordert eine Geltung des Gebots des gleichen Erfolgswerts „grundsätzlich für das gesamte Wahlverfahren“ (so schon von Mutius , in: ders. / Wuttke/ Hübner , Kommentar zur Landesverfassung Schleswig-Holstein, 1995, Art. 3 Rn. 10). Sind aber - wie im Wahlrecht zum Schleswig-Holsteinischen Landtag -einzelne Abschnitte verschiedener Wahlsysteme so miteinander verbunden, dass sich die Zusammensetzung des Landtages erst und gerade aus ihrem Zusammenspiel ergibt, muss auch dieses Zusammenspiel dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit unter dem Gesichtspunkt der Wahlgleichheit gehorchen (BVerfG, Urteil vom 5. April 1952 a.a.O., Juris Rn. 109, 121). Hieraus hat das Bundesverfassungsgericht in seiner letzten Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Landeswahlrecht den Schluss gezogen, dass etwaige Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit nur unter den engen Voraussetzungen eines „zwingenden Grundes“ zulässig sind (Beschluss vom 14. Februar a.a.O., Juris Rn. 31; so auch von Mutius , a.a.O., Art. 3 Rn. 10; Hübner , a.a.O., Art. 10 Rn. 19, 22; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 27, 49; Waack , a.a.O., Art. 10 Rn. 69).

82

Soweit das Bundesverfassungsgericht in diesem Beschluss (a.a.O., Juris Rn. 47) in einem obiter dictum ausführt, dass der schleswig-holsteinische Verfassungsgeber bewusst darauf verzichtet habe, das Wahlsystem und dessen konkrete Ausgestaltung im Einzelnen verfassungsrechtlich vorzuschreiben, bezieht sich dies nicht auf die durch Ausgleichsmandate herzustellende Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis.

83

Soweit vertreten wird, das Ausgleichsverfahren müsse kein „bestmögliches“ sein, sondern sich gegenüber dem Wahlwettbewerb lediglich neutral verhalten (unter Verweis auf Waack , in: Caspar/ Ewer/ Nolte/ ders. , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 10 Rn. 71), lassen sich auch damit keine Abstriche am strengen Maßstab der Erfolgswertgleichheit begründen. Dieses „Neutralitätsgebot“ entstammt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur ersten gesamtdeutschen Wahl (Urteil vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. -BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 46 f.). In dieser Entscheidung hat das Gericht nicht zur Lockerung des Maßstabs, sondern zur Sicherung der Erfolgswertgleichheit die Übernahme der Sperrklausel für das gesamte - erweiterte - Wahlgebiet angesichts der gegebenen besonderen Umstände für verfassungswidrig befunden.

84

cc) Dies wird durch die oben (c) aa) (1) ) dargestellte Entstehungsgeschichte eindrucksvoll bestätigt. Der mit der Verfassungsreform befasste Son-derausschuss zog aus dem bestehenden Wahlsystem die Konsequenz, dass sich die Anzahl der in der Verfassung festzulegenden Abgeordneten im Falle des Entstehens von Überhangmandaten erhöhen soll. Dem einfachen Gesetzgeber sollte nicht nur mit der Festlegung in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 LV die Entscheidung über die Anzahl der regulären Gesamtsitze, sondern auch die Entscheidung über das Maß ihrer Erhöhung entzogen werden. Im Falle des Entstehens von Überhangmandaten soll sich die Zahl der Gesamtsitze um Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhen (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV), während es dem Gesetzgeber unbenommen bleibt, durch eine entsprechende Wahlrechts- oder Verfahrensgestaltung nach Möglichkeit schon die Entstehung von Überhangmandaten zu verhindern. Nur insoweit bleibt dem Gesetzgeber überhaupt ein Gestaltungsspielraum.

III.

85

An diesen Verfassungsvorgaben ist das derzeitige Landeswahlrecht zu messen. Sind aber im derzeitigen Landeswahlrecht verschiedene (rechtliche) Faktoren erst in ihrem Zusammenwirken für eine deutliche Verfehlung dieser Vorgaben verantwortlich, so erweisen auch sie sich derzeit als verfassungswidrig. Die Prüfung kann dann nicht auf die zur Kontrolle gestellte Vorschrift des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG beschränkt bleiben. Das Gericht hat deshalb gemäß § 42 Satz 2 LVerfGG die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG sowie die Regelungen der § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG in die Prüfung einbezogen.

86

Die im Zusammenspiel von § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 LWahlG sowie § 16 LWahlG angelegte Möglichkeit der deutlichen Überschreitung der Regelgröße des Landtages von 69 Abgeordneten bei gleichzeitigem Entstehen ungedeckter Mehrsitze führt zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen. Dadurch werden sowohl der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV als auch die Verfassungsvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV, die Regelgröße von 69 Abgeordneten möglichst nicht zu überschreiten, verfehlt. Dies ist weder mathematisch unausweichlich noch durch anderweitige, sachlich legitimierende Gründe zu rechtfertigen.

87

1. Selbst wenn die zur verfassungsrechtlichen Überprüfung gestellte Begrenzung des Mehrsitzausgleichs durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG und die damit nur eingeschränkte Wiedergabe des mit den Zweitstimmen zum Ausdruck gebrachten Wählerwillens im Wahlergebnis zunächst nur an Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV unter Berücksichtigung der aus der Wahlgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 LV abzuleitenden Anforderungen an den Gesetzgeber gemessen wird, ist festzustellen, dass die Vorschrift erst gemeinsam mit den sonstigen Regelungen in § 3 Abs. 5 sowie in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG unter den gegebenen tatsächlichen Verhältnissen dazu führt, dass es zu einer Verzerrung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen kommt, die sich nicht nur als vereinzelte und deshalb vernachlässigenswerte Ausnahme darstellt.

88

a) Durch die Begrenzung des Verhältnisausgleichs können ungedeckte Mehrsitze entstehen, die ihrerseits zu einer ungleichen Gewichtung der Wählerstimmen führen. Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und Zweitstimme zutage. Über die Erststimme werden in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht 40 Direktmandate ermittelt. An ihrer Zahl ändert sich durch das Entstehen von ungedeckten Mehrsitzen nichts. Auch die Zweitstimmen erfahren - isoliert betrachtet - keine ungleiche Gewichtung. Die Ungleichheit ergibt sich erst daraus, dass für die Mehrsitzpartei - wenn Mandate ungedeckt bleiben - nicht nur die Zweitstimmen, sondern auch die erfolgreichen Erststimmen zählen (vgl. Eh- lers / Lechleitner , JZ 1997, 761 <762> m.w.N.; Wrege , Jura 1997, 113 <115>) und deren Wählerinnen und Wähler damit einen stärkeren politischen Einfluss bekommen als die der anderen Parteien.

89

Dieses Phänomen der Stimmverdoppelung ergibt sich daraus, dass der am Ende der Sitzzuteilung stehende Verhältnisausgleich unter Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Landesliste erfolgt, § 3 Abs. 3 und 4 LWahlG. Der Verhältnisausgleich bewirkt prinzipiell, dass jede Wählerin und jeder Wähler letztlich nur mit der Zweitstimme Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtags nimmt. Fällt die Erststimme auf eine nicht erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen nicht erfolgreichen Wahlkreisbewerber, bleibt sie schon nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl ohne Gewicht. Fällt die Erststimme auf eine erfolgreiche Wahlkreisbewerberin oder einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, wird sie durch die Anrechnung auf die Landesliste durch die Zweitstimme aufgezehrt. Fallen jedoch entsprechend § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG Mehrsitze an, verstärkt sich das Stimmgewicht derjenigen Wählerinnen und Wähler, die zur Entstehung der Mehrsitze beigetragen haben, dadurch, dass bei ihnen sowohl Erst- als auch Zweitstimme an der Bestimmung der Mandatszahl der Mehrsitzpartei im Landtag mitwirken. Werden die Mehrsitze schließlich nach § 3 Abs. 5 Satz 2 und 3 LWahlG nicht vollständig ausgeglichen, verhelfen sie der Mehrsitzpartei mit ihrer Erststimme zu einem Mandat, das außerhalb des Proporzes steht.

90

b) Diese im Wahlgesetz angelegte ungleiche Gewichtung der Stimmen hat sich im Ergebnis der Landtagswahl 2009 realisiert. Sie beeinträchtigt die Erfolgswertgleichheit, da es jedenfalls nach der gebotenen ex post- Betrachtung an einem gleich großen Einfluss aller Wählerstimmen auf die Verteilung der Landtagssitze fehlt.

91

Die der CDU verbliebenen drei ungedeckten Mehrsitze lagen außerhalb des Proporzes und führten dazu, dass denjenigen Wählerinnen und Wählern von Direktkandidatinnen und Direktkandidaten der CDU ein stärkeres Stimmgewicht zukam, die mit der Summe ihrer Stimmen zu dem Überhang an Mandaten beigetragen haben. Diese nach dem endgültigen Wahlergebnis bestehende Ungleichbehandlung des Stimmgewichts der Wählerinnen und Wähler der CDU gegenüber dem der Wählerinnen und Wähler der anderen Parteien ist in der nachfolgenden Tabelle dargestellt:

92

1          

2          

3          

4          

5          

6          

7          

8          

Partei

Zweitstimmen

verhältnism. Sitzanteil

Stimmen je Mandat

Sitzanteil nach Mehrsitzausgl.

Stimmen je Mandat

mit unged. Mehrsitzen

Stimmen je Mandat

CDU

505.612

23   

21.983,13

31   

16.310,06

34   

14.870,91

SPD

407.643

19   

21.454,89 *

25   

16.305,72 *

                 

FDP

239.338

11   

21.758

14   

17.095,57

                 

GRÜNE

199.367

9       

22.151,88

12   

16.613,91

                 

SSW

69.701

3       

23.233,66

4       

17.425,25

                 

DIE LINKE

95.764

4       

23.941 *

5       

19.152,80 *

                 
93

*Differenz zwischen niedrigster und höchster Stimmenzahl (Marge) = 2.486,11 und 2.847,08 Stimmen

94

Während die Spalten 4 und 6 zeigen, wie viele Zweitstimmen jede Partei für die Zuteilung eines Sitzes innerhalb des Proporzes benötigte (bei einem verhältnismäßigen Sitzanteil gemäß § 3 Abs. 3 - Spalte 3 - und nach dem Mehrsitzausgleich gemäß Abs. 5 Satz 2 LWahlG - Spalte 5 -), zeigt Spalte 8, wie viele Zweitstimmen die CDU nur deshalb weniger brauchte, weil sie mit den ungedeckten Mehrsitzen aufgrund eines Überschusses an Wahlkreismandaten, die mit Erststimmen gewonnen wurden, zusätzliche Sitze zugeteilt erhielt. Während die mathematisch unvermeidbare Differenz zwischen der größten und der kleinsten benötigten Stimmenzahl (Marge) innerhalb des Proporzes 2.847,08 Stimmen (Spalte 6) betrug, kam es nun zu einer Marge von 4.282,79 Stimmen.

95

Diese Zahlen zeigen, dass der vorgesehene Verhältnisausgleich nicht geeignet ist, die Wählerschaft spiegelbildlich im Landtag darzustellen. Die dabei eintretende Verzerrung geht über die unausweichlichen Folgen des hier zur Anwendung kommenden Verteilungsverfahrens nach d’Hondt hinaus. Mit den nach Spalte 8 benötigten Zweitstimmen verließ die CDU den Rahmen, der sich aus einem Vergleich der niedrigsten (SPD: 16.305,72) mit der höchsten (DIE LINKE: 19.152,80) benötigten Stimmenzahl ergab.

96

c) Zwar besteht die Gefahr der Ungleichgewichtung infolge ungedeckter Mehrsitze nicht gleichermaßen für alle Wahlberechtigten und muss sich auch nicht bei jeder Wahl realisieren. Dies ist jedoch für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht entscheidend (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. -BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 107 f.). Entscheidend ist, dass das Ergebnis der Landtagswahl 2009 sich nicht als vernachlässigenswerter Ausnahmefall darstellt; mit ungedeckten Mehrsitzen und einer Verzerrung der Stimmgewichtung bezogen auf den einzelnen Landtagssitz muss für die Zukunft vielmehr regelmäßig gerechnet werden. Denn abgesehen von dem unvorhersehbaren Zusammenspiel der verschiedenen Ursachen entwickelt sich die politische Wirklichkeit in eine Richtung, die das Entstehen von Mehrsitzen bei der derzeitigen Gestaltung des Wahlrechts auch künftig mehr als wahrscheinlich macht. Hierzu zählt etwa die Erweiterung des Parteienspektrums mit breiterer Streuung der Zweitstimmen (vgl. schon Ipsen , JZ 2002, 469 <472>). Diese Entwicklung hatte sich schon bei den Kommunalwahlen 2008 abgezeichnet, wo es in zahlreichen Gemeinden - auch ohne die Möglichkeit des Stimmensplittings - zu ungedeckten Mehrsitzen gekommen war (vgl. dazu: Landtags-Drucksache 16/2152 vom 2. Juli 2008; IR 16/104 vom 10. Juni 2009, S. 10 ff.; und PlPr 16/117, S. 8740). Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die zur Landtagswahl 2000 eingeführte Zweitstimme und das dadurch ermöglichte Stimmensplitting. Auch die Anzahl und die unterschiedliche Größe der Wahlkreise können zu Überhangmandaten führen (zum Ursachenzusammenhang allgemein: Wild , Die Gleichheit der Wahl, 2003, S. 246, 248; Nohlen , Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. 2009, S. 343 ff.; Klein , in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 177 , Ipsen, a.a.O., S. 471; speziell für Schleswig-Holstein: Stellungnahmen an den Landtag zu Landtags-Drucksache 17/10; Landtags-Drucksache 15/55; dazu noch unten 2. b) ee) (3) ).

97

2. Rechtfertigungsgründe für diese Verzerrung der Erfolgswertgleichheit liegen in Anbetracht der diese Verzerrung zugleich, und zwar gemeinsam, bewirkenden weiteren Vorschriften des Landeswahlrechts derzeit nicht vor. Verantwortlich hierfür sind neben tatsächlichen Ursachen insbesondere die Gesamtregelung des § 3 Abs. 5 LWahlG und die weiteren Vorschriften der § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG.

98

a) Innerhalb des aufgezeigten engen Gestaltungsspielraums ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, das Gebot der Wahlrechtsgleichheit mit anderen, verfassungsrechtlich legitimen Zielen zum Ausgleich zu bringen. Ein Verstoß gegen die Wahlgleichheit liegt jedoch vor, wenn die differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 115 m.w.N.). Kommt es zu Differenzierungen in der Erfolgswertgleichheit, sind diese nur zulässig, wenn hierfür ein zwingender Grund vorliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 53 m.w.N.; und Urteil vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 m.w.N., stRspr.; speziell für das schleswig-holsteinische Landeswahlrecht: Beschluss vom 14. Februar 2005 - 2 BvL 1/05 -, NordÖR 2005, 106 ff. = NVwZ 2005, 568 ff., = SchlHA 2005, 128 ff., Juris Rn. 31).

99

„Zwingend“ sind dabei nicht nur Gründe, die zu mathematisch unausweichlichen Unschärfen führen. „Zwingend“ sind auch Differenzierungen, die von Verfassungs wegen zwangsläufig oder notwendig sind, weil eine Kollision mit Grundrechten oder anderen Wahlrechtsgrundsätzen vorliegt oder solche, die sonst durch die Verfassung legitimiert und von so einem Gewicht sind, dass sie der Wahlgleichheit die Waage halten können (ebenso: StGH BW, Urteil vom 14. Juni 2007 - 1/06 -, DÖV 2007, 744 ff. = VBlBW 2007, 371 ff., Juris Rn. 45 m.w.N.). Dazu gehört nach der Schleswig-Holsteinischen Verfassung die vorgegebene Regelgröße des Parlaments von 69 Abgeordneten (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Ausreichen kann aber auch ein „zureichender“, aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebender Grund (vgl etwa: BVerfG, Urteile vom 23. Januar 1957 - 2 BvE 2/56 - BVerfGE 6, 84 ff., Juris Rn. 30; vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 124; und vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - BVerfGE 95, 408 ff., Juris Rn. 44).

100

99Darüber hinaus müssen die differenzierenden Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich ferner danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird. Bei der Einschätzung und Bewertung differenzierender Wahlrechtsbestimmungen hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 45; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98 f. m.w.N., stRspr.). Deshalb lässt sich die verfassungsmäßige Rechtfertigung einer Wahlrechtsnorm auch nicht ein für alle mal abstrakt beurteilen, sondern kann durch neuere Entwicklungen tatsächlicher oder rechtlicher Art in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 112; Klein, in: Maunz/ Dürig , Grundgesetz - Kommentar - Band IV, Art. 38 Rn. 123 ).

101

b) Weder beruht die dargestellte Verzerrung Erfolgswertgleichheit auf Notwendigkeiten im Umrechnungsverfahren, noch dient sie der Prämierung und Stärkung der Personenwahl oder der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtages. Einen weiteren zwingenden Grund stellt die Zielvorgabe der Verfassung dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV), dass der Landtag mit möglichst nicht mehr als 69 Landtagsabgeordneten zu besetzen ist. Die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs nach § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG ist jedoch unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen nicht in der Lage, diese Zielvorgabe mit der Wahlgleichheit in einen schonenden Ausgleich zu bringen. Sie ignoriert auch, dass vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind, die unter den derzeitigen politischen Verhältnissen aufgrund der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG regelhaft entstehen.

102

aa) Als „zwingender Grund“ anerkannt ist zwar jede Differenzierung, die sich bei der Umrechnung von Zweitstimmen in Sitze und den dabei anfallenden Reststimmen und Bruchteilen in Anwendung des jeweiligen Verteilungsverfahrens schon aus mathematischen Gründen unausweichlich ergibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 - 2 BvC 4/88 - BVerfGE 79, 169 ff., Juris Rn. 5; und Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 104). Maßgeblich ist, ob die mit den ungedeckten Mehrsitzen benötigte durchschnittliche Stimmenzahl noch im Rahmen des höchsten und niedrigsten Durchschnittswerts aller Parteien liegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. November 1988 a.a.O., Juris Rn. 10 bis 12). Hierum geht es indes unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen bei der begrenzenden Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht. Wie zudem oben in der Tabelle (Rn. 92) beispielhaft dargestellt, verließ die CDU nach Zuteilung dreier ungedeckter Mehrsitze mit den dann noch benötigten Zweitstimmen (14.870,91) deutlich den Rahmen, der vom Durchschnittswert der SPD (16.305,72) und der Partei DIE LINKE (19.152,80) gebildet wurde. Als augenfällig problematisch unter dem Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit erweist sich hierbei bereits das angewandte Höchstzahlverfahren nach d’Hondt, das bei der letzten Wahl im reinen Verhältnisausgleich zu einem Stimmenunterschied von bis zu 2.847,08 Zweitstimmen führte, den die einzelnen Parteien für einen weiteren Landtagssitz erringen mussten.

103

bb) Die durch die ungedeckten Mehrsitze eintretende Differenzierung im Stimmgewicht ist auch nicht mit dem Gedanken einer „Prämie“ aus der Mehrheitswahl zu rechtfertigen. Selbst wenn mit der „Prämie“ ein Anreiz für die Parteien geschaffen werden sollte, attraktive und überzeugungskräftige Wahlkreiskandidatinnen und Wahlkreiskandidaten aufzustellen und mit diesen orts- und bürgernahe Wahlkreisarbeit zu leisten (so Papier , JZ 1996, 265 <270>; ihm folgend Ehlers/ Lechleitner , JZ 1997, 761 <762>), wäre die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs schon kein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, da der Eintritt dieses Anreizes generell nicht vorhersehbar ist und sich bis zur Landtagswahl 2009 tatsächlich auch noch nie realisiert hatte. Diese Prämie für erfolgreiche Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber wäre zudem daran gekoppelt, dass sich deren Erfolg nicht in vollem Umfang im Zweitstimmenanteil ihrer Partei umgesetzt hat. Insofern ist die systemkonforme „Prämie“ im Zweistimmenwahlsystem nicht das Überhangmandat, sondern das durch Wahlkreisbewerberinnen und Wahlkreisbewerber gewonnene Vertrauen für die Liste ihrer Partei.

104

cc) Zu den mit einer Parlamentswahl verfolgten Zielen zählt auch die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung (vgl. BVerfG, Urteile vom 10. April 1997 - 2 BvC 3/96 - a.a.O., Juris Rn. 44; und vom 3. Juli 2008 a.a.O., Juris Rn. 98). Mit der Personenwahl im vorgeschalteten Mehrheitswahlsystem erhält jede Wählerin und jeder Wähler die Möglichkeit, einer oder einem der im eigenen Wahlkreis kandidierenden Bewerberinnen oder Bewerber ein Landtagsmandat zu verschaffen. Dadurch wird die Verbindung zwischen den Wählerinnen und Wählern und ihren Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, gestärkt.

105

Auch wenn man die Verbindung zu den direkt gewählten Bewerberinnen und Bewerbern für auf diese Weise stärkungsbedürftig halten wollte (kritisch etwa Mahrenholz , in: Festgabe für Karin für Graßhof, 1998, S. 69 <78>), stellt dies ebenfalls keinen zwingenden Grund dar. Die Stärkung dieser Verbindung wird bereits durch § 3 Abs. 5 Satz 1 LWahlG bewirkt, sobald die erfolgreichen Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber auch dann einen (Mehr-) Sitz im Landtag erhalten, wenn die Zahl der Direktmandate ihrer Partei deren verhältnismäßigen Sitzanteil übersteigt (vgl. Papier , JZ 1996, 265 <269 f.>; Backhaus , DVBl. 1997, 737 <742>; und im Ergebnis ähnlich Mahrenholz , a.a.O., S. 77 f.).

106

dd) Die Verzerrung der Erfolgswertgleichheit durch Begrenzung des Sitzausgleichs ist auch nicht durch das Ziel der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Landtags zu rechtfertigen, obwohl dieses ein „verfassungsrechtlicher Belang von höchstem Rang“ ist (vgl. Becker/ Heinz , NordÖR 2010, 131 <132>).

107

Die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments ist vor allem im Zusammenhang mit der 5 % - Sperrklausel als Differenzierungsgrund anerkannt. Im Fokus steht dabei die Sorge, dass das Parlament aufgrund einer Zersplitterung der vertretenen Kräfte funktionsunfähig wird, insbesondere nicht mehr in der Lage ist, aus sich heraus stabile Mehrheiten zu bilden und eine aktionsfähige Regierung zu schaffen (vgl. nur BVerfG, Urteile vom 5. April 1952 - 2 BvH 1/52 - BVerfGE 1, 208 ff., Juris Rn. 127 f.; vom 29. September 1990 - 2 BvE 1/90 u.a. - BVerfGE 82, 322 ff., Juris Rn. 45; und vom 13. Februar 2008 - 2 BvK 1/07 - BVerfGE 120, 82 ff., Juris Rn. 121 m.w.N., stRspr.; Caspar , in: ders./ Ewer/ Nolte/ Waack , Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar, 2006, Art. 3 Rn. 41). Auch hierum geht es bei § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG nicht.

108

Die zur Rechtfertigung der Sperrklausel anerkannten Argumente sind auf eine Verzerrung der Wahlgleichheit durch die zahlenmäßige Begrenzung der Gesamtsitzzahl nicht übertragbar. Anders als im Falle der fehlenden Sperrklausel kommt es ohne die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs noch nicht zu einer Erschwerung der Meinungsfindung und Mehrheitsbildung. Während die Sperrklausel den Einzug einer Vielzahl kleiner Parteien in das Parlament verhindern soll, verhindert die Begrenzung des Mehrsitzausgleichs zunächst einmal nur eine Zuweisung weiterer Sitze an die im Landtag ohnehin vertretenen Parteien. Denn beim Mehrsitzausgleich erhöht sich nicht die Zahl der Fraktionen, sondern nur die Zahl der Angehörigen der dem Landtag ohnehin angehörenden Fraktionen.

109

Generell hängt die Arbeits- und Funktionsfähigkeit eines Parlaments eher vom Vorhandensein großer, durch gemeinsame politische Zielsetzungen verbundener Gruppen von Abgeordneten ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Mai 1979 - 2 BvR 193/79 u.a. - BVerfGE 51, 222 ff., Juris Rn. 76, 78) als von einer bestimmten Abgeordnetenzahl. Dies belegt schon der Umstand, dass größere Landesparlamente ebenso wie der Bundestag regulär aus deutlich mehr als 100 Abgeordneten bestehen, ohne dass ihre Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Frage gestellt würde (vgl. Morlok , Stellungnahme zu Landtags-Drucksache 17/10, LandtagsUmdruck 17/752, S. 4). Entsprechend ist auch vorliegend weder ersichtlich noch geltend gemacht, dass der gegenwärtige Landtag mit 95 oder auch - nach vollem Ausgleich - mit 101 Abgeordneten nicht arbeitsfähig sein sollte.

110

ee) Dessen ungeachtet hat sich der Verfassungsgeber entschieden, selbst die Abgeordnetenzahl im Landtag festzulegen und damit eine größenmäßige Zielvorgabe zu schaffen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV). Trotz der zugleich vorgesehenen Möglichkeit der Erhöhung durch Überhang- und Ausgleichsmandate (Art. 10 Abs. 2 Satz 4 LV) ist damit in der Verfassung ein Ziel formuliert, an dem sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu orientieren hat. Auch wenn die zahlenmäßige Begrenzung des Mehrsitzausgleichs dieser Zielvorgabe zuträglich ist, stellt sie sich unter den bestehenden wahlgesetzlichen Bedingungen derzeit doch als unverhältnismäßig dar.

111

(1) Das durch die Verfassung vorgegebene Ziel, im Ergebnis nur geringfügige Überschreitungen der Regelgröße von 69 Abgeordneten im Landtag zuzulassen , ist ein zumindest „zureichender“ Grund, um einen Eingriff in die Wahlgleichheit durch Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten zu rechtfertigen. Die beiden widerstreitenden Verfassungsvorgaben in Art. 10 Abs. 2 LV sind vom Gesetzgeber zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Der ihm dabei zur Verfügung stehende verfassungsrechtliche Gestaltungsrahmen ist vom Gericht zu achten, solange dessen Grenzen eingehalten sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 - 2 BvC 1/07 u.a. - BVerfGE 121, 266 ff., Juris Rn. 115 m.w.N.).

112

(2) Unter den derzeitigen politischen Gegebenheiten eines erweiterten Parteienspektrums und der derzeitigen gesetzlichen Ausgestaltung des übrigen Wahlgesetzes ist die Regelung aber schon nicht geeignet, im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe von 69 Abgeordneten zu wirken. Ein Wahlergebnis wie das zum 17. Landtag im Jahr 2009 zeigt, dass die zahlenmäßige Begrenzung der weiteren Sitze zulasten der Ausgleichsmandate nicht im Sinne der verfassungsmäßigen Zielvorgabe in Art. 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 LV zu wirken vermag. Diese Zielvorgabe wird selbst mit der Begrenzung durch § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG deutlich verfehlt, wenn statt der regelhaft vorgesehenen 69 tatsächlich 95 Abgeordnetensitze vergeben werden.

113

Zudem erfolgt diese Begrenzung einseitig zulasten der Ausgleichsmandate und ignoriert damit, dass unter der verfassungsrechtlich zugleich gegebenen Vorgabe der Erfolgswertgleichheit unter den Bedingungen einer personalisierten Verhältniswahl nach Art. 3 Abs. 1 LV in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 Satz 3 bis 5 LV vorrangig Überhangmandate zu vermeiden sind. Die damit verbundene Beeinträchtigung der Wahlgleichheit ist unter den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten jedenfalls nicht erforderlich, da der Gesetzgeber die Möglichkeit hat, durch das Zusammenspiel anderer geeigneter Maßnahmen zu einer Reduzierung der Abgeordnetenzahl zu kommen, die weder die Wahlgleichheit noch andere von der Verfassung geschützten Belange beeinträchtigen. Diese Möglichkeit setzt bei der derzeitigen Ausgestaltung des Wahlrechts insbesondere in den § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG an (Zweistimmenwahlrecht, Anzahl der Wahlkreise und direkt gewählter Abgeordneter, Abweichung der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise). Denn das Zusammenwirken dieser Regelungen führt gegenwärtig in der politischen Realität eines Fünfparteiensystems - zuzüglich einer verfassungsfesten Sonderrolle des SSW - systemisch dazu, dass Überhang-(und Ausgleichs-) mandate in einer Größenordnung entstehen können und so die Gesamtzahl von Abgeordneten im Landtag derart ansteigen kann, dass die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV zum Ausdruck gebrachte Zielgröße von 69 Abgeordneten regelmäßig überschritten wird.

114

(3) Zu den Ursachen des Entstehens von Überhangmandaten und den gesetzgeberischen Möglichkeiten, diese zu verhindern, ist die Landeswahlleiterin als sachkundige Dritte in der mündlichen Verhandlung gehört worden. Ihre Bekundungen stimmen im Wesentlichen überein mit den jüngst vom Landtag eingeholten Stellungnahmen und Gutachten bei der Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes für den Landtag von Schleswig-Holstein (LandtagsDrucksache 17/10), die auch auf Erfahrungen bei den Wahlen in den anderen Ländern und im Bund eingehen. Nach dem gegenwärtigen Landeswahlrecht entstehen Überhangmandate bei Abweichung des prozentualen Erststimmenergeb-nisses vom Zweitstimmenergebnis, wenn eine Partei viele Wahlkreise direkt gewinnt, die für ihre Landesliste abgegebenen Zweitstimmen aber nicht ausreichen, um im Rahmen des Verhältnisausgleichs einen mindestens gleich großen Anteil an der Gesamtzahl der regulär zu vergebenden Mandate zu erlangen (Stellungnahme der Landeswahlleiterin vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/738, S. 2). Ursächlich hierfür sind verschiedene tatsächliche und rechtliche Vorbedingungen, die im Falle ihres Zusammentreffens kumulativ wirken und die Gesamtzahl der Landtagsabgeordneten weit über die Zielvorgabe anwachsen lassen.

115

(a) Im Tatsächlichen sind etwa die Anzahl der Parteien mit Wahlkreisbewerberinnen und -bewerbern, die später am Verhältnisausgleich teilnehmen, die Wahlbeteiligung und die Anzahl ungültiger Zweitstimmen ursächlich (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes vom 26. April 2010, Landtags-Umdruck 17/761, S. 20 f.). Dabei werden die Wahlkreise nach wie vor nur von den großen Parteien (CDU und SPD) gewonnen. Ihre Zweitstimmenanteile sind demgegenüber rückläufig (vgl. Meyer , Stellungnahme vom 7. Juni 2010, Landtags-Umdruck 17/938, S. 2).

116

(b) Einen besonders großen Einfluss auf das Entstehen von Überhangmandaten hat die Zahl der Wahlkreise. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG gibt es derzeit 40 Wahlkreise. Den Wahlkreisabgeordneten stehen bei einer Größe des Landtages von 69 Abgeordneten (vgl. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV, § 1 Abs. 1 Satz 1 LWahlG) nur 29 Abgeordnete aus den Landeslisten gegenüber. Je mehr die Zahl der durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten die Zahl der durch Verhältniswahl aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten übersteigt, desto größer ist die Gefahr, dass die vorgesehene Regelgröße des Landtages überschritten wird (Stellungnahme der Landeswahlleite-rin, a.a.O., S. 2 f.). Würde man die Zahl der in den Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten gegenüber den aus den Landeslisten zu wählenden Abgeordneten wenigstens auf ein ausgeglichenes Verhältnis reduzieren, ließe sich die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Überhangmandaten senken (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 24; vgl. auch Meyer, a.a.O., S. 1; sowie die Rechenbeispiele in der Stellungnahme der Landeswahlleiterin Mecklenburg-Vorpommerns vom 22. April 2010, Landtags-Umdruck 17/739, Beispielsrechnung 1 und 1a, S. 2 f.).

117

(c) Eine weitere rechtlich zu beeinflussende Ursache ist der Zuschnitt der Wahlkreise. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen Erststimmen einen Wahlkreis gewinnt, hängt nicht zuletzt von der Größe dieses Wahlkreises im Vergleich zu den anderen Wahlkreisen ab (Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 3). Gegenwärtig werden die Wahlkreise nach § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG auf der Grundlage der Bevölkerungszahl eingeteilt, wobei eine Abweichung von bis zu 25 v.H. von der durchschnittlichen Zahl der Bevölkerung in den Wahlkreisen zugelassen ist. Stattdessen wäre eine maximale Abweichung vom größten Wahlkreis von lediglich 15 v.H. zu den anderen Wahlkreisen anzustreben. Betrachtet man die Landtagswahl 2009, so betrug unter Zugrundelegung der Zahl der Wahlberechtigten die Durchschnittsgröße eines Wahlkreises 55.603. Im kleinsten Wahlkreis Husum-Land lebten 42.037 und im größten Wahlkreis Segeberg-Ost 69.408 Wahlberechtigte; dies entspricht Abweichungen von 24,4 % bzw. 24,8 % von der durchschnittlichen Zahl der Wahlberechtigten, absolut aber einer Abweichung von 39,4 % des kleinsten vom größten Wahlkreis.

118

Die für das Bundestagswahlrecht als verfassungskonform anerkannte Maximalabweichung von bis zu 25 v.H. (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWahlG) beruht auf Erwägungen, die auf die Verhältnisse in einem einzelnen Land nicht übertragbar sind. So ist für den Bundesgesetzgeber die gleiche Größe der Wahlkreise sowohl für den einzelnen Wahlkreis als auch berechnet auf die Bevölkerungsdichte jedes Landes eine aus der Wahlgleichheit folgende Bedingung (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 2 BvR 1252/99 u.a. -, NVwZ 2002, 71 f., Juris Rn. 22; weitere Nachweise in der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 14). Hiervon ausgehend hat der Bundesgesetzgeber dafür Sorge zu tragen, dass die Wahlkreise im Verhältnis der Bevölkerungsanteile auf die einzelnen Länder verteilt werden (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BWahlG; BVerfG, Urteil vom 10. April 1997 - 2 BvF 1/95 - BVerfGE 95, 335 ff., Juris Rn. 97). Demgegenüber findet der Landesgesetzgeber ein einheitliches Wahlgebiet vor, weshalb er insoweit nicht eines vergleichbar großen Spielraums bedarf.

119

Hinzu kommt, dass die derzeit gewählte Bemessungsgrundlage beim Zuschnitt der Wahlkreise (durchschnittliche Bevölkerungszahl gemäß § 16 Abs. 2 und 3 LWahlG) keine Unterscheidung zwischen wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern vornimmt. Ist der Anteil des nicht wahlberechtigten Bevölkerungsanteils eines Wahlkreises größer als im Durchschnitt, erleichtert dies das Erreichen der relativen Mehrheit und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wahlkreisbewerberinnen und -bewerber erfolgreich sind, als es prozentual dem Zweitstimmenanteil der jeweiligen Partei entspricht. Die Gefahr von Überhangmandaten ließe sich hier reduzieren, wenn nur auf die Wahlberechtigten abgestellt wird (vgl. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes, a.a.O., S. 20 f. m.w.N.; Ipsen, JZ 2002, 469 <471>).

120

(d) Schließlich ist es möglich, § 1 Abs. 2 LWahlG zu ändern, um das Zweistimmenwahlrecht und mit ihm das Überhangmandate fördernde Stimmensplitting abzuschaffen und das Einstimmenwahlrecht wieder einzuführen (vgl. Stellungnahme der Landeswahlleiterin, a.a.O., S. 2; Wissenschaftlicher Dienst, a.a.O., S. 21; Meyer , a.a.O., S. 2).

121

(e) Alternativ wäre zu erwägen, das Wahlsystem grundlegender neu zu gestalten. Es könnte etwa derart umgestellt werden, dass die Zahl der Wahlkreise erheblich gesenkt und zugleich in den Wahlkreisen die Zahl der zu wählenden Bewerberinnen und Bewerber erhöht wird.

122

(4) Solange diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, erweist sich die Regelung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG als ungeeignet und nicht erforderlich, das von der Verfassung vorgegebene Ziel eines Landtages mit allenfalls wenig mehr als 69 Abgeordneten zu erreichen. Ein Wahlsystem, das durch die Regelungen in § 3 Abs. 5, § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG mit derzeit 95 Abgeordneten den von der Verfassung in Art. 10 Abs. 2 LV verbindlich vorgegebenen Auftrag, einen deutlich kleineren Landtag mit möglichst wenig Überhang- (und Ausgleichs-)mandaten zu erreichen, so grundlegend verfehlt, stellt sich insgesamt als verfassungswidrig dar.

IV.

123

Eine verfassungskonforme Auslegung der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 und § 16 LWahlG ist nicht möglich.

124

Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzes in Widerspruch tritt. Im Wege der verfassungskonformen Auslegung darf einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt oder das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 - NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 104 m.w.N.). Sie ist aber auch dann nicht möglich, wenn in einer Norm zwei widerstreitende Verfassungsvorgaben zum Ausgleich gebracht werden müssten.

125

1. Der eindeutige Wortlaut der § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und des § 16 LWahlG steht bereits einer verfassungskonformen Auslegung dieser Vorschriften entgegen. § 1 Abs. 2 LWahlG bestimmt, dass jede Wählerin und jeder Wähler zwei Stimmen hat; eine Erststimme für die Wahl einer Bewerberin oder eines Bewerbers im Wahlkreis, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste. Diese Vorschrift bietet keinen Ansatz, sie dahingehend auszulegen, dass ein Einstimmenwahlrecht möglich sein könnte. Die Zahl der Wahlkreise legen § 1 Abs. 1 Satz 2 LWahlG und § 16 Abs. 1 LWahlG mit 40 fest. Auch sie bieten keinen Ansatz für eine Auslegung, die eine geringere Zahl der Wahlkreise zuließe. Die weiteren Vorschriften des § 16 LWahlG bestimmen für den Zuschnitt der Wahlkreise als Ausgangspunkt der Berechnung die Bevölkerungszahl und nicht die Wahlberechtigten eines Wahlkreises. Auch die mögliche Größe der Abweichung und ihr Bezugspunkt sind mit 25 v. H. von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise (§ 16 Abs. 3 Satz 1 LWahlG) eindeutig festgelegt und einer Auslegung nicht zugänglich.

126

2. Einer verfassungskonformen Auslegung des § 3 Abs. 5 LWahlG, etwa im Sinne eines „großen Ausgleichs“, stünde bereits die weitere Vorgabe der Verfassung entgegen, den Landtag möglichst nicht über 69 Abgeordnete anwachsen zu lassen. Im Übrigen kommt eine solche Auslegung in Anbetracht der eindeutigen Entstehungsgeschichte, der klaren Gesetzessystematik und des darin zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers auch nicht in Betracht.

127

Während der Wortlaut des § 3 Abs. 5 LWahlG noch offen scheint, führen seine Entstehungsgeschichte und seine systematische Auslegung auch im normativen Zusammenhang zu einer detaillierten, in sich geschlossenen Regelung, die eine andere Deutung nicht zulässt. Der Gedanke des „großen Ausgleichs“ argumentiert vom Ergebnis her und vermengt Ursache und Wirkung. Die innerhalb des Wahlverfahrens für das Entstehen von Mehrsitzen ursächlichen Faktoren unterstreichen zwar den Bedarf nach einem Ausgleich, rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass das Gesetz von seiner Systematik her auf einen vollen Ausgleich angelegt wäre (vgl. ausführlich: Urteil vom 30. August 2010 - LVerfG 1/10 - ).

V.

128

Die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift führt im Regelfall zu deren Nichtigkeit ex tunc (§ 42 Satz 1, vgl. auch § 46 Satz 2 und § 48 LVerfGG). Ausnahmsweise kann die Vorschrift aber auch für unvereinbar mit der Landesverfassung erklärt werden. Dies dient dem Schutz der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und ist geboten, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, einen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (Urteil vom 26. Februar 2010 a.a.O., Juris Rn. 106 ff. m.w.N.).

129

Unter den gegebenen tatsächlichen Bedingungen kumulieren die in § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 Abs. LWahlG normativ verankerten Ursachen die Gefahr von Überhangmandaten mit einer zu erwartenden Regelmäßigkeit und in einer Größenordnung, dass der damit verbundene Eingriff in die vorgegebene Regelgröße von 69 Abgeordneten nicht mehr als vernachlässigenswerte Erscheinung zu rechtfertigen ist, zumal die entstandenen Überhangmandate (Mehrsitze) von Verfassungs wegen noch entsprechend viele Ausgleichsmandate nach sich ziehen müssen. Um diese Regelgröße möglichst genau zu erreichen, hat der Gesetzgeber daher das Entstehen von Überhangmandaten so weit wie möglich einzuschränken und darf nicht vorrangig die Ausgleichsmandate begrenzen. Dem Gesetzgeber stehen verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, um die wahlrechtlichen Verhältnisse so zu ändern, dass einerseits die Entstehung ungedeckter Überhangmandate (Mehrsitze) für die Zukunft ausgeschlossen werden kann und andererseits ein unzuträgliches Anwachsen des Landtags vermieden wird. Im Rahmen des ihm zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlichen Gestaltungsrahmens bleibt es ihm überlassen, in welcher Weise er von den oben aufgezeigten Möglichkeiten Gebrauch macht (vgl. Urteil vom 26. Februar 2010 - LVerfG 1/09 -NordÖR 2010, 155 ff. = Die Gemeinde SH 2010, 79 ff. = SchlHA 2010, 131 ff., Juris Rn. 147-152 m.w.N.).

130

Möchte der Gesetzgeber an dem bestehenden Wahlsystem im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 LV festhalten und auch an der Begrenzung des Mehrsitzausgleichs, sollte er jedenfalls die mit § 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 sowie § 16 LWahlG benannten Handlungsmöglichkeiten, die zur Vermeidung von Überhangmandaten beitragen, soweit wie möglich und gleichzeitig ausschöpfen. Sollte der Gesetzgeber § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG zum Schutze der Erfolgswertgleichheit streichen, bliebe zu bedenken, dass ein im Übrigen unverändertes Wahlrecht zu Ergebnissen führen kann, die sich von der Zielvorgabe des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV noch weiter entfernen. Auch dann müssten die weiteren Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden.

131

Anders als bei der Nichtigkeitsfeststellung wird die verfassungswidrige Norm durch die Feststellung ihrer Unvereinbarkeit nicht aus der Rechtsordnung ausgeschieden, sondern besteht formell fort (vgl. Heußner , NJW 1982, 257 f.). Allerdings tritt auch hier vom Zeitpunkt der Entscheidung an bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber eine Anwendungssperre ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. November 1998 - 2 BvL 10/95 - BVerfGE 99, 280 ff., Juris Rn. 76 m.w.N.; Heußner, a.a.O., 258; Bethge , Jura 2009, 18 <21>). Diese Anwendungssperre umfasst grundsätzlich alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen, die auf der für verfassungswidrig erklärten Regelung beruhen (§ 43 Abs. 2 Satz 1 LVerfGG; Urteil vom 26. Februar 2010 a.a.O., Juris Rn. 108 m.w.N., ebenso für die wortgleiche Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG: BVerfG, Beschluss vom 11. November 1998 a.a.O., Juris Orientierungssatz 4.a und Rn. 76, stRspr.; vgl. auch Bethge , a.a.O.). Die Gültigkeit der Landtagswahl vom 27. September 2009 bleibt jedoch aus den oben genannten Gründen von der Entscheidung im Normenkontrollver-fahren unberührt (siehe B ).

132

Durch die Unvereinbarkeitsfeststellung ist sichergestellt, dass § 3 Abs. 5 LWahlG und § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 sowie § 16 LWahlG im bestehenden Gefüge des Landeswahlrechts für den Fall einer Neuwahl auch während der Übergangszeit nicht mehr zur Anwendung kommen. Dennoch belässt sie dem Gesetzgeber die Möglichkeit, das bestehende Landeswahlrecht derart umzugestalten, dass auch eine Beibehaltung des § 3 Abs. 5 Satz 3 LWahlG oder einer oder mehrerer der Regelungen in § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 und § 16 LWahlG denkbar erscheint. Zum Schutz der verfassungsmäßigen Zielvorgaben des Art. 10 Abs. 2 LV und in Anbetracht der parallel getroffenen Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren (LVerfG 1/10) sieht sich das Gericht aber zugleich veranlasst, an den Gesetzgeber zu appellieren, die zu treffende Neuregelung unverzüglich und unter Berücksichtigung der im Urteil aufgezeigten Handlungsmöglichkeiten und -gebote zu veranlassen (zur sog. Appellentscheidung: Bethge , a.a.O., S. 23 f. m.w.N.). Nur so kann sichergestellt werden, dass das bestehende Landeswahlrecht nicht im Übrigen unverändert nochmals zur Anwendung kommt. Denn dies brächte die Gefahr eines wiederum verfassungswidrigen Wahlergebnisses mit sich, weil die Zielvorgabe von 69 Abgeordneten nochmals deutlich verfehlt werden könnte.

VI.

133

Das Verfahren ist kostenfrei (§ 33 Abs. 1 LVerfGG). Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 LVerfGG). Eine Entscheidung über die Vollstreckung entfällt (§ 34 LVerfGG).

VII.

134

Das Urteil ist einstimmig ergangen.


(1) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen der Bundesanstalt einschließlich der Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln auf der Grundlage des § 2c Absatz 1b Satz 1 und 2, Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4, des § 3 Absatz 4, des § 6 Absatz 1b, der §§ 6a, 6c und 8a Absatz 3 bis 5, des § 10 Absatz 3, 3a und 4, des § 12a Absatz 2, des § 13c Absatz 3 Satz 4, des § 25b Absatz 4a des § 25c Absatz 4c, des § 28 Absatz 1, des § 35 Absatz 2 Nummer 2 bis 6 und Absatz 2a Satz 1, der §§ 36, 37 und 44 Absatz 1, auch in Verbindung mit § 44b, Absatz 2 und 3a Satz 1, des § 44a Absatz 2 Satz 1, der §§ 44c, 45 und 45a Absatz 1, des § 45b Absatz 1, der §§ 45c, 46, 46a, 46b, 48u Absatz 1 und 7, des § 53b Absatz 12, der §§ 53l, 53n Absatz 1 sowie der §§ 53p und 53q Absatz 2 haben keine aufschiebende Wirkung.

(2) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen und Entscheidungen der Bundesanstalt auf der Grundlage des Artikels 6 Absatz 4, des Artikels 8 Absatz 1 und des Artikels 63 der Verordnung (EU) 2019/1238 sowie gegen die Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln gegen diese Maßnahmen und Entscheidungen haben keine aufschiebende Wirkung.

(1) Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig.

(2) Im übrigen bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 Abs. 2 oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Die Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung ist unzulässig. Soweit die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung durchzuführen ist, gilt die Vorschrift des § 767 der Zivilprozeßordnung entsprechend. Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung sind ausgeschlossen.

(1) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen der Bundesanstalt einschließlich der Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln auf der Grundlage des § 2c Absatz 1b Satz 1 und 2, Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4, des § 3 Absatz 4, des § 6 Absatz 1b, der §§ 6a, 6c und 8a Absatz 3 bis 5, des § 10 Absatz 3, 3a und 4, des § 12a Absatz 2, des § 13c Absatz 3 Satz 4, des § 25b Absatz 4a des § 25c Absatz 4c, des § 28 Absatz 1, des § 35 Absatz 2 Nummer 2 bis 6 und Absatz 2a Satz 1, der §§ 36, 37 und 44 Absatz 1, auch in Verbindung mit § 44b, Absatz 2 und 3a Satz 1, des § 44a Absatz 2 Satz 1, der §§ 44c, 45 und 45a Absatz 1, des § 45b Absatz 1, der §§ 45c, 46, 46a, 46b, 48u Absatz 1 und 7, des § 53b Absatz 12, der §§ 53l, 53n Absatz 1 sowie der §§ 53p und 53q Absatz 2 haben keine aufschiebende Wirkung.

(2) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Maßnahmen und Entscheidungen der Bundesanstalt auf der Grundlage des Artikels 6 Absatz 4, des Artikels 8 Absatz 1 und des Artikels 63 der Verordnung (EU) 2019/1238 sowie gegen die Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln gegen diese Maßnahmen und Entscheidungen haben keine aufschiebende Wirkung.