Schleswig Holsteinisches Oberverwaltungsgericht Urteil, 16. Nov. 2017 - 4 LB 30/14
Gericht
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts – 8. Kammer, Einzelrichter – vom 4. Februar 2014 geändert.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Februar 2011 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Gegenstand des Rechtsstreits ist ein asylrechtlicher Widerrufsbescheid.
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Der 1975 im Südosten der Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Nach seiner Einreise nach Deutschland stellte er Anfang 1995 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge trug er vor, im September 1991 sei er mit der Guerilla in die Berge gegangen. An gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den türkischen Sicherheitskräften habe er nicht teilgenommen. Als er im November 1991 in sein Dorf zurückgekehrt sei, um Verwandte zu besuchen, sei er dort festgenommen und anschließend inhaftiert worden. Im Gefängnis habe man ihn geschlagen und gefoltert. Er sei zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Im Dezember 1993 sei er freigelassen worden. In der Folgezeit sei er ständig unter Beobachtung gewesen. Er sei auch mit dem Tode bedroht worden. Bei den Identitätskontrollen z. B. habe er merken können, dass man seinen Namen kannte. Man habe ihn sehr schlecht behandelt und ihm den Ausweis ins Gesicht geworfen. Man habe ihm auch gesagt, wenn er noch einmal bei etwas Verbotenem erwischt werde, werde er erschossen. Er sei auch sonst überwacht worden. Ihm sei nur die Wahl geblieben, sich der PKK anzuschließen und in die Berge zu gehen oder aber die Quälereien des türkischen Staates weiter zu ertragen. Er habe sich dann entschlossen, aus dieser unerträglichen Situation zu fliehen und in die Bundesrepublik Deutschland zu seiner Familie zu gehen.
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Mit Bescheid vom 6. Februar 1995 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs.1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorlägen, dass das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliege und dass im Übrigen Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Zur Begründung führte die Behörde aus: Aufgrund des vom Kläger geschilderten Sachverhalts und der vorliegenden Erkenntnisse sei davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG zu rechnen habe. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Abs. 4 AuslG liege vor, da der Kläger bei Rückkehr in die Türkei mit menschenrechtswidriger Behandlung zu rechnen habe.
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Mit Bescheid vom 28. Februar 2011 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Feststellungen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorlägen. Es stellte ferner fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 3 – 7 AufenthG nicht vorlägen. In der Begründung heißt es: Die Begünstigung sei dem Kläger deshalb gewährt worden, weil ihn die örtlichen Sicherheitskräfte nach der Haftentlassung entgegen der rechtlichen Ausgangslage nicht in Ruhe gelassen und in asylerheblicher Weise bedrängt und bedroht hätten. Diese Ausgangslage habe sich im Zuge der in der Türkei umgesetzten Reformvorhaben grundlegend zugunsten des Klägers geändert. Die örtlichen Stellen könnten sich heute nicht mehr das erlauben, was früher noch gängige Praxis gewesen sei. Jedenfalls gebe es eine interne Schutzalternative. Die heutige Einreise in die Türkei würde über die üblichen Kontrollen hinaus nicht zu sonstigen Überprüfungsmaßnahmen führen, denn schon seinerzeit habe nach der Haftentlassung nichts mehr gegen den Kläger vorgelegen.
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Der Kläger hat Klage erhoben und vorgetragen, es liege weiterhin keine hinreichende Verfolgungssicherheit vor. Er sei er in der Türkei in einem förmlichen Strafverfahren wegen Unterstützung der PKK zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ihm sei vorgeworfen worden, Mitglied der PKK zu sein, nur weil er kurdisch gesprochen habe. Er selbst sei kein Mitglied der PKK und auch kein PKK-Kämpfer gewesen.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes vom 28.02.2011 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. Februar 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Dem Kläger sei allein wegen des Gebrauchs der kurdischen Sprache die Unterstützung der PKK vorgeworfen worden. Deshalb sei er zu acht Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die Tatsache, dass er bereits nach zwei Jahren wieder freigelassen worden sei, zeige allerdings, dass die besonderen Umstände seines Falles (insbesondere die Minderjährigkeit) bereits damals beachtet und die Gefahr politischer Verfolgung lediglich wegen der damals herrschenden Verhältnisse in der Heimatregion des Klägers angenommen worden sei. Seit 1995 hätten sich die Verhältnisse in der Türkei hinsichtlich der Gefahr, bei Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterstützer der PKK angesehen zu werden, wesentlich und nachhaltig verändert. Mit der seit 2003 an der Macht befindlichen Regierung Erdoğan sei eine wesentliche Änderung der Kurdenpolitik insbesondere hinsichtlich der Zulassung des Gebrauchs der kurdischen Sprache eingetreten, die jedenfalls insoweit nachhaltig sei, dass bei Rückkehr des Klägers in die Türkei keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für Verfolgungsmaßnahmen bestehe.
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Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Klägers. Der Kläger macht geltend, die jüngste Entwicklung in der Türkei lasse nicht darauf schließen, dass sich die Lage von unter PKK-Verdacht stehenden Kurden grundlegend und nachhaltig verändert habe.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil der 8. Kammer sowie den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie trägt vor: Jeder Einreisende habe sich in der Türkei einer Personenkontrolle zu unterziehen. Wenn eine Person kein gültiges Reisedokument vorweise oder aus ihrem Reisepass erkennbar sei, dass sie sich ohne Aufenthaltstitel in Deutschland aufgehalten habe, oder wenn ersichtlich sei, dass sie abgeschoben worden sei, werde sie einer eingehenderen Befragung unterzogen. Schwierigkeiten für Abgeschobene könnten eintreten, wenn die Befragung oder die Durchsuchung des Gepäcks bei den Grenzbehörden oder Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen begründe. Dem Auswärtigen Amt sei in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei. Dies treffe auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen zu.
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Der Senat hat mit Verfügungen vom 14. August und 8. November 2017 Erkenntnismittel in das Verfahren eingeführt.
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Die Prozessvertreter der Beteiligten sind der Berufungsverhandlung ferngeblieben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Prozessvertreter verhandeln und entscheiden, weil die Beteiligten bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg. Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
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1. Soweit die Feststellung widerrufen wird, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, und soweit festgestellt wird, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen, findet der angefochtene Bescheid seine Grundlage in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG. Nach Satz 1 der Vorschrift ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach Satz 2 insbesondere dann der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die Norm knüpft ihrem Wortlaut nach an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) an. Auf die nach altem Recht getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist sie entsprechend anzuwenden.
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Maßgebend für die Beurteilung, ob eine entscheidungserhebliche Änderung vorliegt, ist der Vergleich der dem Ausgangsbescheid zugrunde gelegten Tatsachenlage – unabhängig davon, ob diese den wahren Tatsachen entsprach – mit derjenigen zum Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung über den Widerruf (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2011 – 10 C 29/10 –, juris Rn. 19).
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Der Ausgangsbescheid vom 6. Februar 1995 stützt sich für die Verfolgungsprognose auf den „vom Kläger geschilderten Sachverhalt“. Eine nähere Differenzierung enthält die Begründung des Bescheides nicht. Somit ist von sämtlichen in der Anhörung geschilderten verfolgungserheblichen Tatsachen anzunehmen, dass das Bundesamt sie für wahr gehalten hat. Infolgedessen stellt sich die dem Ausgangsbescheid zugrunde gelegte Tatsachenlage wie folgt dar:
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Der Kläger wurde 1991, nachdem er sich der PKK-Guerilla – wenn auch nicht kämpfend – angeschlossen hatte, festgenommen und inhaftiert. Er wurde im Gefängnis gefoltert. Schließlich wurde er zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt, musste davon aber nur zwei Jahre verbüßen. Nach seiner Freilassung war er bei den Sicherheitskräften weiterhin wegen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs registriert. Er wurde deshalb überwacht und bei Identitätskontrollen bedroht, u.a. damit, dass er bei einem weiteren Vergehen erschossen werde.
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Die Umstände, die die Furcht vor politischer Verfolgung begründen, haben sich in der Zeit bis zur Berufungsverhandlung nicht in entscheidungserheblicher Weise geändert. Bei der Bestimmung des Maßstabs, der an diese Änderung anzulegen ist, ist zu beachten, dass der Gesetzgeber mit § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG (jetzt: Richtlinie 2011/95/EU) – Qualifikationsrichtlinie – umgesetzt hat. Die Widerrufsvoraussetzungen sind daher unionsrechtskonform im Sinne der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie auszulegen, die sich ihrerseits an Art. 1 Buchst. C Nr. 5 und 6 der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren (BVerwG, Urteil vom 1. März 2012 – 10 C 7/11 –, juris Rn. 9).
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Bei der Prüfung des Erlöschensgrundes nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedstaat – unbeschadet der Pflicht des Flüchtlings, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie alle maßgeblichen Tatsachen offenzulegen und alle maßgeblichen, ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorzulegen – in jedem Einzelfall nachweist, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist.
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Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben. Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (BVerwG, Urteil vom 1. März 2012, a.a.O. Rn. 11 f.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris Rn. 32).
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Bei der gegebenen Beweislastverteilung ist zunächst zu Gunsten des Klägers anzunehmen, dass er weiterhin wegen des Vorwurfs, den bewaffneten Arm der PKK zu unterstützen, bei den Sicherheitskräften registriert ist.
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Vermerke über strafrechtliche Vorwürfe bleiben bei den türkischen Behörden u.U. über mehrere Jahrzehnte bestehen. Kamil Taylan hatte im Jahr 2013 die Möglichkeit, während eines Interviews mit einem Verantwortlichen bei der Polizei in einer südöstlichen Provinz die Einträge zu seinem Namen im Computersystem der Sicherheitskräfte in Augenschein zu nehmen. Dort waren noch die Ermittlungsverfahren aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verzeichnet (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 5 – 6). Im Übrigen existiert keine Möglichkeit, Ermittlungen zu der Frage anzustellen, ob eine Registrierung mittlerweile beseitigt ist. Aufgrund eines Runderlasses des Innenministeriums vom 18. Dezember 2004 dürfen keine Suchvermerke mehr in das Personenstandsregister eingetragen werden. Sie kennzeichneten bis dahin Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen. Angaben türkischer Behörden zufolge wurden Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern gelöscht. Somit besteht für das Auswärtige Amt keine Möglichkeit mehr, das Bestehen von Suchvermerken zu verifizieren, auch nicht über die bisher damit befassten Vertrauensanwälte (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 19. Februar 2017, S. 29).
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Auf Grund der besagten Registrierung muss der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, bei der Einreise festgenommen zu werden, zumal er auf Grund der Tatsache, dass er über einen sehr langen Zeitraum ohne türkischen Pass in Deutschland gelebt hat, leicht als (ehemaliger) Asylbewerber zu identifizieren ist.
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Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 19. Februar 2017, S. 29 – 30; Auskunft vom 9. Mai 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 1). Die Sicherheitsbehörden haben über die bei ihnen installierten Terminals Zugriff auf sämtliche sicherheitsrelevanten Daten der einreisenden Person, insbesondere zu abgeschlossenen oder laufenden Ermittlungsverfahren. Ein türkischer Staatsangehöriger, der jahrzehntelang ohne einen gültigen türkischen Pass im Ausland gelebt hat, fällt den Grenzbeamten mit Sicherheit auf (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 5, 7). Es ist davon auszugehen, dass Personen, aus deren Papieren zu schließen ist, dass sie im Ausland um Asyl nachgesucht haben, besonders überprüft werden. Das kann eine Anfrage bei der Polizei des Heimatortes umfassen und kann bedeuten, dass diese Person vorübergehend festgenommen wird, bis die entsprechende Auskunft vorliegt (Amnesty International, Auskunft vom 27. Januar 2016 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 1). Nach Auskunft verschiedener Kontaktpersonen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wurden die Einreisekontrollen nach dem Putschversuch für alle einreisenden Personen verschärft. Dies gelte auch für kurdische Personen. Es habe schon vor dem Putschversuch Kontrollen bei der Einreise gegeben. Allerdings würden die Behörden heute über mehr Listen mit Namen von gesuchten Personen verfügen. Auf diesen Listen seien Personen vermerkt, welche angebliche Verbindungen zur Gülen-Bewegung, zur PKK oder zu einer anderen aus Sicht der Behörden terroristischen Organisation hätten. Diese Personen würden weiteren Kontrollen unterzogen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der Länderanalyse vom 7. Juli 2017 zur Türkei, S. 1 – 2). Welche Folgen dies für den Kläger haben kann, zeigt etwa ein Vorfall im Februar 2015, als einige Personen bei der Einreise in die Türkei festgenommen wurden, weil sie von den Grenzkontrolleuren als PKK-Kämpfer identifiziert wurden (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 7). Eine mutmaßliche oder tatsächliche Unterstützung oder Verbindung zur PKK oder zu ähnlichen Gruppierungen kann zu einer Verhaftung durch den türkischen Staat führen. Verhaftungen erfolgen zum Teil willkürlich und Personen werden aufgrund fragwürdiger Indizien oder Geständnisse inhaftiert, als PKK-Mitglieder bezeichnet und angeklagt. In den Fokus geraten zudem auch Personen, die nur indirekt mit der PKK in Verbindung stehen. Behörden rufen zu Denunziationen von PKK-Sympathisierenden auf. Eine frühere Mitgliedschaft oder Aktivität in der PKK kann das Risiko einer erneuten Verhaftung erhöhen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Gefährdungsprofile, Update, 19. Mai 2017, S. 12 – 13).
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Der Kläger muss befürchten, im Gewahrsam der türkischen Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt zu werden.
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Das Auswärtige Amt führt zwar aus, dass in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit seinen früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei, was auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer gelte. Diese Feststellung werde auch von türkischen Menschenrechtsorganisationen sowie von Auskünften anderer EU-Staaten und den USA geteilt (Lagebericht vom 19. Februar 2017, S. 29). Diese Einschätzung ist allerdings nur bedingt aussagekräftig, da sich den Angaben nicht entnehmen lässt, dass unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen Personen waren, bei denen nach der bisherigen Erkenntnislage mit Übergriffen zu rechnen gewesen wäre (OVG Münster, Urteil vom 27. Mai 2016 – 9 A 653/11.A –, juris Rn. 136, OVG Lüneburg, Urteil vom 31. Mai 2016 – 11 LB 53/15 –, juris Rn. 39). Deshalb ist allgemein auf die Situation von Inhaftierten abzustellen, denen eine gegenwärtige oder frühere Verbindung zur PKK zugeschrieben wird.Eine Auskunft von Amnesty International an das Bundesverwaltungsgericht vom 29. August 2017 hebt die Tatsache hervor, dass Berichte über Folter in Polizeigewahrsam seit der Aufkündigung des Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der PKK im Juli 2015 und insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 drastisch zugenommen haben. Besonders häufig betroffen sind danach Personen, die der Unterstützung der PKK bezichtigt werden (BVerwG, Beschluss vom 19. September 2017 – 1 VR 7/17 –, juris Rn. 53 f.; vgl. auch Amnesty International, Auskunft vom 9. März 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 2; Amnesty Report 2017 Türkei, S. 4). Zahlreiche weitere Quellen bestätigen diese Feststellung (vgl. die Übersicht in: United Kingdom, Home Office, Country Policy and Information Note, Turkey: Kurdistan Workers’ Party (PKK), August 2017, S. 27 – 29). Die Lage hat sich insofern nach Erlass des angefochtenen Urteils erheblich verschlechtert. So heißt es bei Human Rights Watch: Seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 sind bis Mitte 2015 die Berichte über Folterungen und Misshandlungen in Polizeigewahrsam deutlich zurückgegangen. Mit dem Zusammenbruch eines Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und dem inhaftierten Führer der bewaffneten PKK wurde im Sommer 2015 der Konflikt im überwiegend kurdischen Südosten wieder aufgenommen. Im Zusammenhang mit Sicherheitsoperationen gegen die in den Städten und Stadtvierteln des Südostens fest verwurzelten städtischen Milizen der PKK ist erneut ein Anstieg von Berichten über Folterungen und Misshandlungen von Häftlingen in Polizeigewahrsam zu verzeichnen (Human Rights Watch, A Blank Check, Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture, Oktober 2016, S. 14 – 15). Das Österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt aus: Menschenrechtsverbänden zufolge gibt es Hinweise, dass die Anwendung von Folter und Misshandlungen weiterhin stattfinden, insbesondere an Personen in Polizeigewahrsam, jedoch nicht am Ort der Verhaftung, sondern an anderen Orten, wo ein Nachweis schwieriger zu dokumentieren ist. Die Schwächung der Schutzmaßnahmen gegen den Missbrauch in der Haft nach der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch wurde von zunehmenden Berichten über Folter und Misshandlungen in der Polizeigewalt begleitet, wie das Schlagen und Entkleiden von Inhaftierten, die Anwendung lang anhaltenden Stresspositionen sowie die Androhung von Vergewaltigung. Betroffen von besagten Misshandlungen waren nicht nur Angehörige des Militärs und der Polizei, die im Zusammenhang mit dem Staatsstreich verhaftet wurden, sondern auch kurdische Gefangene im Südosten des Landes. Angehörige der Strafverfolgungsbehörden wenden die Notverordnungen nicht nur auf Personen an, die verdächtigt werden, sich am Putschversuch beteiligt zu haben, sondern auch auf Gefangene, die angeblich Verbindungen zu bewaffneten kurdischen oder linken Gruppierungen haben. Auch diesen Menschen wird jeder Schutz vor Folter und anderer unberechtigter Verfolgung entzogen.Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Nils Melzer, berichtete Anfang Dezember 2016 von seinen Vorortbeobachtungen. Er und sein Team trafen auf zahlreiche Berichte über Folter und andere Formen von Misshandlungen von Insassen, die der Mitgliedschaft bei der PKK verdächtigt wurden. Die meisten Berichte zu Misshandlungen bezogen sich auf den Polizeigewahrsam und die dortigen Verhöre (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 7. Februar 2017, S. 40 – 41; Lage der Kurden – insbesondere der Haftbedingungen, 9. Februar 2017, S. 2). In den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe heißt es: Seit der erneuten Eskalation des Kurdenkonflikts Mitte 2015 und dem Putschversuch Mitte 2016 haben Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte stark zugenommen, darunter auch von Personen, die wegen angeblicher Verbindungen zur PKK beschuldigt wurden.Eine mutmaßliche oder tatsächliche Unterstützung oder Verbindung zur PKK oder zu ähnlichen Gruppierungen kann zu einer Verhaftung durch den türkischen Staat führen. Verhaftungen erfolgen zum Teil willkürlich und Personen werden aufgrund fragwürdiger Indizien oder Geständnisse inhaftiert, als PKK-Mitglieder bezeichnet und angeklagt. In den Fokus geraten zudem auch Personen, die nur indirekt mit der PKK in Verbindung stehen. Behörden rufen zu Denunziationen von PKK-Sympathisierenden auf. Wegen PKK-Verbindungen Verhaftete können keine fairen Verfahren erwarten und es besteht für sie ein erhebliches Risiko, in Haft misshandelt zu werden. Nach Angaben von verschiedenen Kontaktpersonen kann eine frühere Mitgliedschaft oder Aktivität in der PKK das Risiko einer erneuten Verhaftung erhöhen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Aktuelle Situation, Update, 19. Mai 2017, S. 13; Türkei, Gefährdungsprofile, Update, 19. Mai 2017, S. 12 – 13).
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Die Einschätzung, dass eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen kann, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer der PKK angesehen werden, deckt sich mit der jüngeren Rechtsprechung anderer Obergerichte (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 31. Mai 2016 – 11 LB 53/15 –, juris Rn. 37; OVG Bautzen, Urteil vom 7. April 2016 – 3 A 557/13.A –, juris Rn. 34; VGH Mannheim, Urteil vom 27. August 2013 – A 12 S 2023/11 –, juris Rn. 31; OVG Münster, Urteil vom 2. Juli 2013 – 8 A 2632/06.A –, juris Rn. 104).
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Der Umstand, dass seit der Ausreise des Klägers aus der Türkei ein verhältnismäßig langer Zeitraum vergangen ist (etwa 23 Jahre), lässt die beachtliche Verfolgungsgefahr nicht entfallen. In den vorliegenden Auskünften heißt es teilweise, die Länge eines Auslandsaufenthaltes sei aus der Sicht der türkischen Behörden nicht entscheidend (Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der Länderanalyse vom 17. Februar 2017 zur Türkei, S. 3; ähnlich Taylan, Auskunft vom 13. Januar 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 21 f.). Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass diesbezügliche Erfahrungen fehlen (Amnesty International, Auskunft vom 9. März 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 1).Der bloße Zeitablauf lässt es demnach einerseits nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die Gefahr politischer Verfolgung geringer geworden ist. Andererseits reicht dies mangels konkreter und belastbarer Indizien nicht aus, um bei der erforderlichen qualifizierenden Betrachtung eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit zu verneinen. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger noch in der Zeit, als er bereits aus der Strafhaft entlassen war, in asylerheblicher Weise bedrängt und bedroht worden ist.
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Für eine Umdeutung des Widerrufs- in einen Rücknahmebescheid fehlt es an hinreichenden Anhaltspunkten. Solche werden von der Beklagten auch nicht geltend gemacht.
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2. Soweit die Feststellung widerrufen wird, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliegt, und soweit festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt, ist der angefochtene Bescheid ebenfalls rechtswidrig. Der Tatbestand des § 73c Abs. 2 AsylG ist nicht erfüllt. Danach ist die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Die Norm ist auf die nach altem Recht getroffene Feststellung, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliegt, entsprechend anzuwenden.
- 39
Gemäß § 60 Absatz 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.Bei der Abschiebung in einen anderen Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention – wie hier in die Türkei – besteht eine Mitverantwortung des abschiebenden Staates, die Konventionsrechte im Zielstaat der Abschiebung zu gewährleisten, wenn dem Ausländer nach seiner Abschiebung Folter oder sonstige schwere und irreparable Misshandlungen drohen und effektiver Rechtsschutz – auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – nicht oder nicht rechtzeitig zu erreichen ist (BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 – 1 C 14/04 –, juris Rn. 18).
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Wegen der für den Kläger bestehenden Gefahr, nach seiner Abschiebung in der Türkei festgenommen und in der Haft misshandelt zu werden, wird auf die Ausführungen zu 1. verwiesen. Effektiver Rechtsschutz ist auf Grund des in der Türkei bestehenden Ausnahmezustandes nicht gewährleistet. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom 15. Juli 2016 wurde am 27. Juli 2016 das Dekret 668 erlassen. Dieses sieht weitreichende Abweichungen von den regulären Verfahrensgarantien für Verfahren gegen Personen vor, gegen die im Zuge der Verfahren auf Grund der Notstandsdekrete ermittelt wird. So wurde für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf 30 Tage erhöht. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für fünf Tage einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten. Teile dieser Bestimmungen wurden zwar durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 wieder rückgängig gemacht. Zusammenfassend muss jedoch festgehalten werden, dass bei Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand: Januar 2017, S. 16).
- 41
3. Der angefochtene Bescheid ist schließlich auch insoweit aufzuheben, als festgestellt wird, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 3, 4 und 7 AufenthG (in der Fassung bei Erlass des Widerrufsbescheides) nicht vorliegen. Gemäß § 73 Abs. 3, § 73c Abs. 3 AsylG handelt es sich bei der Feststellung von Abschiebungsverboten um eine Annexentscheidung. Diese teilt das rechtliche Schicksal des Widerrufs.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
- 43
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.
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Annotations
(1) Sobald der Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt ist, sind die Beteiligten mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen, bei dem Bundesverwaltungsgericht von mindestens vier Wochen, zu laden. In dringenden Fällen kann der Vorsitzende die Frist abkürzen.
(2) Bei der Ladung ist darauf hinzuweisen, daß beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
(3) Die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit können Sitzungen auch außerhalb des Gerichtssitzes abhalten, wenn dies zur sachdienlichen Erledigung notwendig ist.
(4) § 227 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ist nicht anzuwenden.
(1) In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. § 74 Absatz 2 Satz 2 bleibt unberührt.
(2) Das Gericht kann außer in den Fällen des § 38 Absatz 1 und des § 73b Absatz 7 bei Klagen gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz im schriftlichen Verfahren durch Urteil entscheiden, wenn der Ausländer anwaltlich vertreten ist. Auf Antrag eines Beteiligten muss mündlich verhandelt werden. Hierauf sind die Beteiligten von dem Gericht hinzuweisen.
(3) Das Gericht sieht von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt oder soweit die Beteiligten übereinstimmend darauf verzichten.
(4) Wird während des Verfahrens der streitgegenständliche Verwaltungsakt, mit dem ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, durch eine Ablehnung als unbegründet oder offensichtlich unbegründet ersetzt, so wird der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Das Bundesamt übersendet dem Gericht, bei dem das Verfahren anhängig ist, eine Abschrift des neuen Verwaltungsakts. Nimmt der Kläger die Klage daraufhin unverzüglich zurück, trägt das Bundesamt die Kosten des Verfahrens. Unterliegt der Kläger ganz oder teilweise, entscheidet das Gericht nach billigem Ermessen.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich
- 1.
aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - 2.
außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, - a)
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder - b)
in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
(2) Ein Ausländer ist nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er
- 1.
ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, - 2.
vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden, oder - 3.
den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat.
(3) Ein Ausländer ist auch nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn er
- 1.
den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge genießt oder - 2.
von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.
(4) Einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Absatz 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes oder das Bundesamt hat nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Andere Urteile sind gegen eine der Höhe nach zu bestimmende Sicherheit für vorläufig vollstreckbar zu erklären. Soweit wegen einer Geldforderung zu vollstrecken ist, genügt es, wenn die Höhe der Sicherheitsleistung in einem bestimmten Verhältnis zur Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages angegeben wird. Handelt es sich um ein Urteil, das ein Versäumnisurteil aufrechterhält, so ist auszusprechen, dass die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil nur gegen Leistung der Sicherheit fortgesetzt werden darf.
(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.
(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.