Oberlandesgericht Hamm Beschluss, 18. Aug. 2016 - 2 Ausl. 111/15
Gericht
Tenor
1.
Die Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung nach Rumänien wegen der ihm in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Arad/Rumänien vom 26.03.2015 (Az.: 1552/55/2014) i.V.m. dem Urteil des Gerichts in Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) – rechtskräftig durch Strafbefehl des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 (Nr. 225A – 1552/55/2014) - zur Last gelegten Tat ist unzulässig.
2.
Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 28.07.2015, außer Vollzug gesetzt mit Beschluss des Senats vom 17.11.2015, wird aufgehoben.
1
Gründe:
2I.
3Y, eine im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 1 IRG zuständige Behörde, hat durch Ausschreibung im Schengener Informationssystem um die Festnahme des Verfolgten zum Zwecke der Auslieferung nach Rumänien zur Strafvollstreckung wegen versuchten Raubes ersucht. Die Ausschreibung gründet sich auf den Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Arad/Rumänien vom 26.03.2015 (Az.: 1552/55/2014), der gestützt ist auf den Haftbefehl des Gerichts in Arad vom 26.02.2015 (Az.: Nr. 2303/2014).
4Das Ersuchen und der Haftbefehl sind gestützt auf das Urteil das Gerichts in Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) – rechtskräftig durch Strafbefehl des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 (Nr. 225A – 1552/55/2014) -, durch das der Verfolgte wegen versuchten Raubes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, die noch vollständig zu verbüßen ist. Im Einzelnen ist dem Verfolgten vorgeworfen worden, am 11.02.2013 in Arad in dem Einkaufszentrum „X“ in dem Sportgeschäft B gegen 12:30 Uhr versucht zu haben, unter Gewaltanwendung dem Geschädigten T eine Jacke im Wert von 519,-- rumänischen RON (ca. 115,-- €) zu entwenden.
5Die Hauptverhandlung, die zu dem Urteil des Gerichts Arad vom 30.09.2014 (1552/55/2014) geführt hat, fand in Abwesenheit des Verfolgten statt. Der Verfolgte war unter der Anschrift, an der er auch die Übernahme der Anklageschrift unterschrieben hatte, geladen worden; die Ladung hat der Verfolgte jedoch nicht persönlich entgegengenommen, sondern seine Mutter. In der Hauptverhandlung ist der Verfolgte durch einen Pflichtverteidiger vertreten worden. Ausweislich des Europäischen Haftbefehls vom 26.03.2015 ist das Urteil des Gerichts in Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) dem Verfolgten bislang nicht persönlich zugestellt worden. Der Verteidiger des Verfolgten hatte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Der Verfolgte hat an der Berufungshauptverhandlung am 28.01.2015 teilgenommen und ist in diesem Termin zur Sache vernommen worden. Zur Urteilsverkündung am 25.02.2015, zu der er mündlich geladen war, ist er nicht erschienen. Die Entscheidung des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 hat der Verfolgte bislang ebenfalls nicht erhalten. Sowohl das Strafurteil des Gerichts Arad vom 30.09.2014 als auch der Strafbefehl des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 werden dem Verfolgten jedoch nach Auslieferung – unter Bekanntgabe der Fristen zur Einspruchseinlegung – überreicht, so dass er nach Maßgabe von Art. 466 f. der rumänischen Strafprozessordnung die Wiederaufnahme des Verfahrens und eine neue Hauptverhandlung erreichen kann.
6Der Verfolgte ist am 22.07.2015 in A festgenommen worden und befand sich seit dem 23.07.2015 – zunächst aufgrund der Festhalteanordnung des Amtsgerichts Detmold vom 23.07.2015 (2 Gs 1460/15), sodann aufgrund des förmlichen Auslieferungshaftbefehls des Senats vom 28.07.2015 - bis zu seiner Haftverschonung durch Beschluss des Senats vom 17.11.2015 in Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt A.
7Bei seiner Vorführung vor die Ermittlungsrichterin des Amtsgerichts Detmold am 23.07.2015 hat der Verfolgte Einwendungen gegen seine Auslieferung erhoben. Im Einzelnen hat er angegeben, rumänischer Staatsangehöriger und im Schaustellergewerbe tätig zu sein. Er habe zuletzt allein in A gewohnt. Er sei seit drei Jahren in Deutschland. Die ersten Jahre habe er Zelte für Schützenfeste aufgebaut, derzeit arbeite er an einem Auto-Scooter. Er habe eine Frau und einen Sohn, die bislang nicht in Deutschland gelebt hätten, jedoch in Kürze nach Deutschland kämen. Er habe für seine Frau Arbeit gefunden. Sein Rechtsanwalt in Rumänien habe ihm berichtet, dass „alles gut“ sei, wenn er „nichts mehr mache“. Der Anwalt habe sich jedoch nicht „richtig gekümmert“. Eine Aussage habe er in Rumänien noch nicht gemacht. Im Februar sei er in Rumänien zu einer Verhandlung gewesen. Zu dem Tatvorwurf könne er angeben, dass er die Jacke „fünfmal“ habe bezahlen wollen. Er habe mit der Polizei zusammengearbeitet, um Ladendiebe zu stellen. Am Tattag sei er aus dem Fitnessstudio in der zweiten Etage des Hauses gekommen und habe nach dem Sport bei der Firma B in der ersten Etage eine Jacke kaufen wollen. Er habe die Jacke anprobiert und seine Freundin gefragt, ob sie ihm stehe. Ein Verkäufer habe ihn dabei gesehen und erklärt: „Ich habe eine Überraschung für dich“. Anschließend habe ihn der Verkäufer gepackt und versucht, ihn zu schlagen, wobei die Jacke zerrissen sei. Schließlich habe ihm der Verkäufer die Jacke hinterher geworfen und erklärt, er, der Verfolgte, müsse diese jetzt bezahlen. Er habe das Geschäft daraufhin normal gehend verlassen. Er wolle nicht zurück nach Rumänien, sondern weiter seiner Arbeit in Deutschland nachgehen.
8Mit der vereinfachten Auslieferung und dem Verzicht auf die Beachtung des Grundsatzes der Spezialität hat sich der Verfolge nicht einverstanden erklärt.
9Mit Beschluss vom 28.07.2015 hat der Senat gegen den Verfolgten die förmliche Auslieferungshaft angeordnet und zugleich die Generalstaatsanwaltschaft gebeten, die rumänischen Behörden um ergänzende Mitteilungen zu dem Zustandekommen des Abwesenheitsurteil und um etwaige Garantien hinsichtlich eines neuen Strafverfahrens, in dem der dem Verfolgten gemachte Vorwurf erneut in vollem Umfang überprüft wird, zu ersuchen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Senatsbeschluss vom 28.07.2015 verwiesen.
10Mit Zuschrift vom 18.08.2015 haben die rumänischen Behörden mitgeteilt, der Verfolgte sei „persönlich“ zu dem Hauptverhandlungstermin geladen worden; die Empfangsbestätigung der Ladung sei von seiner Mutter unterschrieben worden. In der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 30.09.2014 sei der Verfolgte durch einen Wahlverteidiger vertreten gewesen. Der Verfolgte sei zudem in der Berufungsverhandlung am 28.01.2015 verhört worden. Erkenntnisse darüber, ob sich der Verfolgte dem (erstinstanzlichen) Verfahren durch Flucht entzogen habe, lägen nicht vor. Die Frage, welche Garantien im Hinblick auf Art. 4 a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RB-EuHB) abgegeben werden können, haben die rumänischen Behörden mit der – auszugsweisen – Wiedergabe des Wortlauts des Art. 466 der rumänischen Strafprozessordnung, der die Wiederaufnahme des Verfahrens bei Abwesenheitsurteilen regelt, beantwortet.
11Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 24.08.2015 beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären.
12Der Verfolgte hat hierzu mit Schreiben seines Beistandes vom 09.09.2015 Stellung genommen und beantragt, die Auslieferung für unzulässig zu erklären. Er hat zunächst den Tatvorwurf bestritten und – ohne jegliche Belege – einen Sachverhalt dargelegt, der es seiner Meinung nach rechtfertige, ausnahmsweise eine Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG vorzunehmen. Des Weiteren hat er bestritten, zu dem Hauptverhandlungstermin am 30.09.2014 vor dem Amtsgericht Arad persönlich geladen worden zu sein; eine angebliche persönliche Ladung sei bereits deshalb nicht nachvollziehbar, weil er seit dem 19.05.2014 seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt habe und seither hier ununterbrochen einer Arbeitstätigkeit im Schaustellergewerbe nachgegangen sei. Auch habe er nie einen Hinweis erhalten, dass gegen ihn in seiner Abwesenheit verhandelt werden könne. Von dem gegen ihn geführten Gerichtsverfahren habe er lediglich telefonisch durch seinen Bruder erfahren. Aufgrund dieser Informationen habe er Kontakt zu einem Anwalt in Rumänien aufgenommen. Von diesem habe er, nachdem er u.a. eine Schadensersatzleistung gezahlt habe, die Nachricht bekommen, dass er nicht mehr zum Gericht kommen müsse, sondern alles geregelt sei. Dass gleichwohl im September 2014 eine Gerichtsverhandlung gegen ihn geführt worden sei, sei ihm nicht bewusst gewesen. Er habe erst nach diesem Termin die Information seines Anwalts erhalten, dass Berufung eingelegt worden sei. An dem Termin der Berufungshauptverhandlung am 28.01.2015 habe er persönlich teilgenommen. Da aber sein Anwalt nicht erschienen sei, habe an diesem Tag keine Verhandlung zur Sache mehr stattgefunden, sondern die Verhandlung sei vertagt worden. Eine Ladung zu der neuen Berufungshauptverhandlung habe er nicht erhalten. Aufgrund der unzutreffenden Informationen seines Anwalts habe er Zweifel daran, dass dieser überhaupt am 30.09.2014 an der erstinstanzlichen Verhandlung teilgenommen habe. Eine schriftliche Vertretungsvollmacht, die nach der rumänischen Strafprozessordnung hierfür erforderlich sei, habe er jedenfalls nicht erteilt. Eine Notwendigkeit hierfür habe es auch nicht gegeben, da er davon ausgegangen sei, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Ihm sei der Hauptverhandlungstermin vom 30.09.2014 nicht bewusst gewesen. Des Weiteren hält der Verfolgte die Auskunft der rumänischen Behörden vom 18.08.2015 für unzureichend, soweit sie sich auf die Garantien für ein neues Strafverfahren bezieht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens wird auf die Zuschrift des Beistandes des Verfolgten vom 09.09.2015 verwiesen.
13Der Senat hat mit Beschluss vom 17.09.2015 gegen den Verfolgten die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zurückgestellt, weil weiterer Aufklärungsbedarf hinsichtlich der in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Urteile des Gerichts in Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) und des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 (Nr. 225A – 1552/55/2014) bestand. Insoweit hat der Senat die Generalstaatsanwaltschaft gebeten, die rumänischen Behörden um die Beantwortung verschiedener Fragen zu ersuchen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Senatsbeschluss vom 17.09.2015 Bezug genommen.
14Nachdem die rumänischen Behörden die Fragen des Senats zunächst nicht beantwortet hatten, hat der Senat mit Beschluss vom 17.11.2015 den förmlichen Auslieferungshaftbefehl vom 28.07.2015 außer Vollzug gesetzt und weitere Fragen an die rumänischen Behörden gerichtet.
15Mit Zuschrift der rumänischen Behörden vom 25.11.2015 haben diese im Wesentlichen unter Beifügung von Urkunden und Gerichtsprotokollen mitgeteilt, der Verfolgte sei in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung durch einen Wahlverteidiger vertreten gewesen. Bei Verkündung des Berufungsurteils am 25.02.2015 sei der Verfolgte ebenfalls nicht anwesend gewesen, aber auch hier durch einen Wahlverteidiger vertreten worden, der über eine Prozessvollmacht für das Berufungsverfahren verfügt habe.
16Die Generalstaatsanwaltschaft hat daraufhin mit Zuschrift vom 15.12.2015 beantragt, die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zur Strafvollstreckung wegen der ihm in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Arad/Rumänien vom 26.03.2015 zur Last gelegten Tat festzustellen.
17Der Verfolgte ist dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und insbesondere der Mitteilung der rumänischen Behörden mit Zuschrift seines Beistandes vom 17.01.2016 – auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird - entgegengetreten.
18Mit Beschluss vom 14.06.2016, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat der Senat die Entscheidung über die Zulässigkeit erneut zurückgestellt und weitere ergänzende Fragen an die rumänischen Behörden gerichtet.
19Die rumänischen Behörden (Amtsgericht Arad) haben hierauf mit Zuschrift vom 07.07.2016 mitgeteilt, dass der beauftragte Richter im Rahmen des Verwaltungsverfahrensverfahrens nicht beurteilen könne, ob Art. 466 der rumänischen Strafprozessordnung im konkreten Fall zur Anwendung komme. Grundsätzlich werde dem Verfolgten das Recht auf Wiederholung der zweitinstanzlichen Verhandlung gewährt, allerdings mit den Einschränkungen, die sich aus Art. 420 Abs. 5 der rumänischen Strafprozessordnung ergäben, nämlich dass die Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht eingeschränkt werden könne, mit der Folge, dass die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme gar nicht oder nur teilweise wiederholt wird.
20Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 25.07.2016 erneut beantragt, die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zur Strafvollstreckung für zulässig zu erklären.
21II.
22Da sich der Verfolgte mit seiner Auslieferung nicht einverstanden erklärt hat, hat der Senat gem. den §§ 29 f. IRG über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden. Entgegen dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft war die Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung nach Rumänien wegen der ihm in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Arad/Rumänien vom 26.03.2015 (Az.: 1552/55/2014) i.V.m. dem Urteil des Gerichts in Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) – rechtskräftig durch Strafbefehl des Berufungsgerichts Timisoara vom 25.02.2015 (Nr. 225A – 1552/55/2014) - zur Last gelegten Tat für unzulässig zu erklären.
23Zwar liegen – wie der Senat in seinen Beschlüssen vom 28.07.2015 und 17.09.2015 ausgeführt hat und auf die insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird – die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Auslieferung vor.
24Allerdings besteht – unabhängig von den problematischen Haftbedingungen in Rumänien - ein Auslieferungshindernis im Sinne des § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG, da das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts Arad vom 30.09.2014 (Az.: 1552/55/2014) in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist und keiner der Ausnahmefälle des § 83 Abs. 2 bis 4 IRG vorliegt.
25Ein Fall der persönlichen Ladung zu dem erstinstanzlichen Hauptverhandlungstermin am 30.09.2014 im Sinne des § 83 Abs. 2 Nr. 1 aa) IRG liegt nicht vor, da ausweislich der Mitteilung der rumänischen Behörden vom 18.08.2015 die Ladung nicht an Verfolgten persönlich, sondern lediglich an dessen Mutter ausgehändigt worden ist. Dass der Verfolgte diese Ladung erhalten hat, ist – insbesondere vor dem Hintergrund seines Vorbringens, er habe bereits am 19.05.2014 seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt – nicht nachgewiesen. Aus der Zuschrift der rumänischen Behörden ergibt sich auch nicht, dass der Verfolgte im Sinne des § 83 Abs. 2 Nr. 1 bb) IRG auf andere Weisetatsächlich offiziell von dem vorgesehen Verhandlungstermin und –ort Kenntnis erlangt hat.
26Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft genügt vorliegend auch nicht, dass ein Verteidiger an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung am 30.09.2014 teilgenommen hat. Dies begründet die Zulässigkeit der Auslieferung im Falle eines Abwesenheitsurteils nur dann, wenn die verurteilte Person in Kenntnis der anberaumten Verhandlung einen Verteidiger bevollmächtigt hat, sie in der Hauptverhandlung zu vertreten, und von diesem dann auch tatsächlich verteidigt wurde, § 83 Abs. 2 Nr. 3 IRG. Der Nachweis, dass der Verfolgte den Verteidiger in Kenntnis der anberaumten Verhandlung mit der Verteidigung in dieser Hauptverhandlung beauftragt hat, ist nicht geführt. Der Verfolgte hat insoweit angegeben, den Verteidiger lediglich mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt zu haben, nachdem er durch seinen Bruder telefonisch von dem gegen ihn geführten Verfahren erfahren habe. Dass gegen ihn eine Gerichtsverhandlung geführt worden sei, sei ihm nicht bewusst gewesen; vielmehr sei er nach den Informationen seines Verteidigers davon ausgegangen, dass das gegen ihn geführte Verfahren eingestellt worden sei. Für die Richtigkeit dieser Einlassung des Verfolgten spricht, dass die von den rumänischen Behörden übersandte Ablichtung der erstinstanzlichen Vertretungsvollmacht zwar in der Rubrik „Client/Reprezentant“ eine Unterschrift aufweist, die aber – wie sich aus dem Vergleich mit der Unterschrift des Verfolgten in der vor dem Berufungsgericht gemachten „Angeklagtenaussage“ vom 28.01.2015 ergibt – offensichtlich nicht von dem Verfolgten stammt.
27Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf das Berufungsverfahren. Auch insoweit kann nicht festgestellt werden, dass der Verfolgte in dem Berufungsverfahren durch einen beauftragten Verteidiger vertreten worden ist. Die von den rumänischen Behörden in Ablichtung übersandte Vertretungsvollmacht enthält in der Rubrik „Client/Reprezentant“ überhaupt keine Unterschrift. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Sitzungsprotokoll der Hauptverhandlung vom 28.01.2015 vor dem Berufungsgericht Timisoara, dass dem Verfolgten offenbar eine Pflichtverteidigerin beigeordnet worden war, die aber zu dem Hauptverhandlungstermin nicht erschienen war und anschließend durch einen anderen Verteidiger ersetzt wurde. Bei dem die vorherige Pflichtverteidigerin ersetzenden Verteidiger dürfte es sich daher ebenfalls um einen Pflichtverteidiger gehandelt haben, zumal – s.o. – eine Verteidigervollmacht von dem Verfolgten nicht unterschrieben worden ist.
28Ein Fluchtfall im Sinne des § 83 Abs. 2 Nr. 2 IRG liegt ebenfalls nicht vor. Die rumänischen Behörden haben mit Zuschrift vom 18.08.2015 mitgeteilt, keine Erkenntnisse darüber zu haben, dass sich der Verfolgte der erstinstanzlichen Hauptverhandlung am 30.09.2014 durch Flucht entzogen habe.
29Für die Frage, ob die Auslieferung letztlich zulässig ist, kommt es daher – wie der Senat in seinem Beschluss vom 17.09.2015 im Einzelnen ausgeführt hat - darauf an, dass die rumänischen Behörden hinreichende Garantien im Hinblick auf Art. 4 a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RB-EuHB) abgeben.
30Dies ist indes nicht der Fall.
31Aus der Auskunft der rumänischen Behörden vom 07.07.2016 ergibt sich zwar, dass Art. 466 der rumänischen Strafprozessordnung grundsätzlich auch dann Anwendung findet, wenn – wie hier – der Verteidiger des Verfolgten gegen das erstinstanzlich gegen den Verfolgten in Abwesenheit ergangene Urteil Berufung eingelegt hat und das Berufungsurteil ebenfalls in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Aus dem Zusammenhang der Zuschrift der rumänischen Behörden ergibt sich desweiteren – unter Berücksichtigung des Art. 470 der rumänischen Strafprozessordnung -, dass dem Verfolgten in der vorliegenden Fallkonstellation allerdings nur die Wiederholung der Berufungshauptverhandlung garantiert wird.
32Art. 4a Abs. 1 Buchstabe c und d RbEuHb erfasst insoweit die – vorliegend relevanten - Konstellationen, in denen die betroffene Person berechtigt ist, einen Rechtsbehelf gegen die Verurteilung einzulegen, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann. Dem Angeklagten wird es in diesen Fällen also ermöglicht, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe durch ein Gericht auch in tatsächlicher Hinsicht überprüfen zu lassen. Das setzt voraus, dass auch das für ein eventuelles Rechtsbehelfsverfahren zuständige Gericht den Angeklagten anhört und prozessrechtlich dazu in der Lage ist, die ihm zur Last gelegten Vorwürfe nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht zu prüfen. Soweit Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb ein Verfahren vorschreibt, bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft und die ursprüngliche Entscheidung aufgehoben werden "kann", wird dem mit der Sache befassten Gericht damit kein Ermessen eingeräumt. Das in Art. 4a Abs. 1 Buchstabe d (i) RbEuHb verwendete Verb "kann" dient vielmehr der Kennzeichnung der Befugnisse des Gerichts und bedeutet so viel wie "in der Lage ist" (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 -, juris).
33Vor diesem Hintergrund genügen die von den rumänischen Behörden abgegebenen Zusicherungen nicht den an sie zu stellenden Anforderungen hinsichtlich der Gewährleistung eines neuen (Berufungs-)Verfahrens, in dem der dem Verfolgten gemachte Vorwurf vollumfänglich einschließlich aller, auch neuer, Beweismittel erneut geprüft wird.
34Zwar haben die rumänischen Behörden mit Zuschrift vom 07.07.2016 grundsätzlich die Möglichkeit bejaht, dass Art. 466 der rumänischen Strafprozessordnung auch dann Anwendung findet, wenn – wie hier – der Verteidiger des Verfolgten gegen das erstinstanzlich gegen den Verfolgten in Abwesenheit ergangene Urteil Berufung eingelegt hat und das Berufungsurteil ebenfalls in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Aus der weiteren Auskunft der rumänischen Behörden ergibt sich aber des Weiteren, dass die – als Berufungsverfahren durchgeführte – neue Hauptverhandlung den Beschränkungen des Art. 420 der rumänischen Strafprozessordnung für das Berufungsverfahren unterliegt. Diese Auskunft entspricht Art. 470 der rumänischen Strafprozessordnung, in dem es heißt: „Die [nach Art. 466 gewährte] Neuverhandlung der Sache erfolgt gemäß den Regeln der Strafprozessordnung für die Instanz, in der die Wiedereröffnung des Strafprozesses verfügt wurde.“ Art. 420 Abs. 5 der rumänischen Strafprozessordnung erlaubt es aber dem erkennenden Berufungsgericht, eine Wiederholung der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme – auch wenn diese in Abwesenheit des Verfolgten durchgeführt wurde – nach seinem Ermessen ganz oder teilweise abzulehnen, wie dies auch in der Berufungsverhandlung vom 28.01.2015 geschehen ist. In dieser Hauptverhandlung hat das Berufungsgericht Timisoara den von dem Verfolgten bzw. seinem Verteidiger gestellten Antrag, sämtliche erstinstanzlich vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen mit der Begründung, dass „die Zeugen in den vorhergehenden Verfahrensphasen ausführlich angehört wurden“, abgelehnt.
35Die insoweit dem Verfolgten grundsätzlich nach Art. 466 der rumänischen Strafprozessordnung eröffnete Möglichkeit auf Durchführung eines neuen Berufungsverfahrens genügt damit nicht den Anforderungen des § 83 Abs. 4 i.V.m. § 83 Abs. 3 Satz 2 IRG bzw. des Art. 4 a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RB-EuHB), weil aufgrund des Art. 420 Abs. 5 der rumänischen Strafprozessordnung nicht hinreichend sichergestellt ist, dass dem Verfolgten ein Verfahren garantiert wird, bei dem der Sachverhalt einschließlich neuer Beweismittel erneut vollumfänglich geprüft wird.
36Bei dieser Sachlage ist aber, da dem Täter die Tat und Schuld prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden muss, die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes gefährdet, weil die Ermittlungen des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist, sondern der Umfang der neu durchzuführenden Beweisaufnahme in das Ermessen des Berufungsgerichts gestellt ist (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14 – m.w.N., Rdz. 56 f juris). Dies führt zur Unzulässigkeit der Auslieferung.
37Vor diesem Hintergrund geht auch die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 25.07.2016 fehl, dem Verfolgten sei bereits aufgrund seiner Teilnahme an der Berufungshauptverhandlung am 28.01.2015 und wegen der mündlichen Ladung zu dem Folgetermin am 25.02.2015 hinreichend rechtliches Gehör gewährt worden. Wie bereits oben angesprochen, hat das Berufungsgericht in der Hauptverhandlung vom 28.01.2015 offensichtlich von der Möglichkeit des Art. 420 Abs. 5 der rumänischen Strafprozessordnung Gebrauch gemacht und den Antrag des Verfolgten bzw. seines Verteidigers auf Durchführung einer erneuten - vollständigen – Beweisaufnahme durch Vernehmung sämtlicher erstinstanzlicher Zeugen abgelehnt. Mithin stellte diese Berufungshauptverhandlung kein Verfahren dar, in dem der dem Verfolgten gemachte Vorwurf vollumfänglich einschließlich aller vorliegenden Beweismittel erneut geprüft wurde. Unter diesen Umständen ist dem Anspruch des Verfolgten, auch wenn er in der Hauptverhandlung vom 28.01.2015 anwesend gewesen ist, auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung nicht Genüge getan, weil in dieser Hauptverhandlung der Sachverhalt, einschließlich aller Beweismittel, nicht umfassend neu geprüft worden ist.
38Nach alledem war die Auslieferung des Verfolgten nach Rumänien zur Strafvollstreckung wegen der ihm der ihm in dem Europäischen Haftbefehl des Gerichts in Arad/ Rumänien vom 26.03.2015 (Az.: 1552/55/2014) zur Last gelegten Tat für unzulässig zu erklären.
39III.
40Die Aufhebung des förmlichen Auslieferungshaftbefehls vom 28.07.2015 beruht auf § 24 Abs. 1 IRG.
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Annotations
(1) Die Auslieferungshaft kann unter den Voraussetzungen des § 15 schon vor dem Eingang des Auslieferungsersuchens angeordnet werden, wenn
- 1.
eine zuständige Stelle des ersuchenden Staates darum ersucht oder - 2.
ein Ausländer einer Tat, die zu seiner Auslieferung Anlaß geben kann, auf Grund bestimmter Tatsachen dringend verdächtig ist.
(2) Der Auslieferungshaftbefehl ist aufzuheben, wenn der Verfolgte seit dem Tag der Ergreifung oder der vorläufigen Festnahme insgesamt zwei Monate zum Zweck der Auslieferung in Haft ist, ohne daß das Auslieferungsersuchen und die Auslieferungsunterlagen bei der in § 74 bezeichneten Behörde oder bei einer sonst zu ihrer Entgegennahme zuständigen Stelle eingegangen sind. Hat ein außereuropäischer Staat um Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft ersucht, so beträgt die Frist drei Monate.
(3) Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens und der Auslieferungsunterlagen entscheidet das Oberlandesgericht unverzüglich über die Fortdauer der Haft.
(1) Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn wegen der Tat ein Haftbefehl, eine Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung oder ein vollstreckbares, eine Freiheitsentziehung anordnendes Erkenntnis einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates und eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vorgelegt worden sind. Wird um Auslieferung zur Verfolgung mehrerer Taten ersucht, so genügt hinsichtlich der weiteren Taten anstelle eines Haftbefehls oder einer Urkunde mit entsprechender Rechtswirkung die Urkunde einer zuständigen Stelle des ersuchenden Staates, aus der sich die dem Verfolgten zur Last gelegte Tat ergibt.
(2) Geben besondere Umstände des Falles Anlaß zu der Prüfung, ob der Verfolgte der ihm zur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig erscheint, so ist die Auslieferung ferner nur zulässig, wenn eine Darstellung der Tatsachen vorgelegt worden ist, aus denen sich der hinreichende Tatverdacht ergibt.
(3) Die Auslieferung zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sonstigen Sanktion, die in einem dritten Staat verhängt wurde, ist nur zulässig, wenn
- 1.
das vollstreckbare, eine Freiheitsentziehung anordnende Erkenntnis und eine Urkunde des dritten Staates, aus der sich sein Einverständnis mit der Vollstreckung durch den Staat ergibt, der die Vollstreckung übernommen hat, - 2.
eine Urkunde einer zuständigen Stelle des Staates, der die Vollstreckung übernommen hat, nach der die Strafe oder sonstige Sanktion dort vollstreckbar ist, - 3.
eine Darstellung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen sowie - 4.
im Fall des Absatzes 2 eine Darstellung im Sinne dieser Vorschrift
(1) Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn
- 1.
der Verfolgte wegen derselben Tat, die dem Ersuchen zugrunde liegt, bereits von einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall der Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann, - 2.
der Verfolgte zur Tatzeit nach § 19 des Strafgesetzbuchs schuldunfähig war oder - 3.
bei Ersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung die verurteilte Person zu der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich erschienen ist oder - 4.
die dem Ersuchen zugrunde liegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Mitgliedstaates mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer sonstigen lebenslangen freiheitsentziehenden Sanktion bedroht ist oder der Verfolgte zu einer solchen Strafe verurteilt worden war und eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe oder Sanktion auf Antrag oder von Amts wegen nicht spätestens nach 20 Jahren erfolgt.
(2) Die Auslieferung ist abweichend von Absatz 1 Nummer 3 jedoch zulässig, wenn
- 1.
die verurteilte Person - a)
rechtzeitig - aa)
persönlich zu der Verhandlung, die zu dem Urteil geführt hat, geladen wurde oder - bb)
auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung, die zu dem Urteil geführt hat, in Kenntnis gesetzt wurde, sodass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass die verurteilte Person von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, und
- b)
dabei darauf hingewiesen wurde, dass ein Urteil auch in ihrer Abwesenheit ergehen kann,
- 2.
die verurteilte Person in Kenntnis des gegen sie gerichteten Verfahrens, an dem ein Verteidiger beteiligt war, eine persönliche Ladung durch Flucht verhindert hat oder - 3.
die verurteilte Person in Kenntnis der anberaumten Verhandlung einen Verteidiger bevollmächtigt hat, sie in der Verhandlung zu verteidigen, und sie durch diesen in der Verhandlung tatsächlich verteidigt wurde.
(3) Die Auslieferung ist abweichend von Absatz 1 Nummer 3 auch zulässig, wenn die verurteilte Person nach Zustellung des Urteils
- 1.
ausdrücklich erklärt hat, das ergangene Urteil nicht anzufechten, oder - 2.
innerhalb geltender Fristen keine Wiederaufnahme des Verfahrens oder kein Berufungsverfahren beantragt hat.
(4) Die Auslieferung ist abweichend von Absatz 1 Nummer 3 ferner zulässig, wenn der verurteilten Person unverzüglich nach ihrer Übergabe an den ersuchenden Mitgliedstaat das Urteil persönlich zugestellt werden wird und die verurteilte Person über ihr in Absatz 3 Satz 2 genanntes Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Berufungsverfahren sowie über die hierfür geltenden Fristen belehrt werden wird.
(1) Der Auslieferungshaftbefehl ist aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der vorläufigen Auslieferungshaft oder der Auslieferungshaft nicht mehr vorliegen oder die Auslieferung für unzulässig erklärt wird.
(2) Der Auslieferungshaftbefehl ist auch aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht dies beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag ordnet sie die Freilassung des Verfolgten an.