Landessozialgericht NRW Urteil, 30. Jan. 2015 - L 13 SB 381/13
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 13.09.2013 geändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 24.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 04.07.2011 verurteilt, bei der Klägerin ab dem 03.11.2010 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren zu einem Drittel. Außergerichtliche Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten darum, ob bei der Klägerin ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 30 festzustellen ist.
3Die am 00.00.1950 geborene Klägerin arbeitete zuletzt als OP-Krankenschwester und zwar von 1997 bis zu ihrem Renteneintritt Anfang 2014. Sie ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. In den 1960er und 1970er Jahren wurden drei Operationen im Bauchraum vorgenommen. 2000 spendete die Klägerin ihrem Ehemann eine Niere. Sie macht maßgeblich Beschwerden der Schulter und Migräne bzw. Kopfschmerzen geltend.
4Das Versorgungsamt N stellte mit Bescheid vom 20.09.2000 einen GdB von 30 wegen der Entfernung der linken Niere sowie einer Migräne fest und lehnte mit Bescheid vom 08.02.2002 die Feststellung eines höheren GdB ab, da diese auch unter Berücksichtigung der bestehenden Verwachsungsbeschwerden nach Darmoperation nicht gerechtfertigt sei. Am 03.11.2010 stellte die Klägerin den hier maßgeblichen Verschlimmerungsantrag, mit dem sie eine rückwirkende Feststellung eines höheren GdB ab dem 01.01.2010 wegen Steuervorteilen begehrte. Der Beklagte holte Befundberichte der Allgemeinmediziner und Urologen Dres. T3 ein. Der Augenarzt und Allgemeinmediziner Dr. T bewertete die Entfernung der linken Niere mit einem Einzel-GdB von 30, die Migräne mit einem Einzel-GdB von 20 und den GdB insgesamt weiter mit 30. Der Beklagte lehnte daraufhin den Antrag mit Bescheid vom 24.01.2011 ab. Die Klägerin legte am 04.02.2011 Widerspruch ein und trug vor, aufgrund der fehlenden Niere in ihren sportlichen Aktivitäten und in ihrem Beruf eingeschränkt zu sein. Der Beklagte holte weitere Befundberichte von der Radiologin Dr. T1, dem Internisten Dr. C, dem Orthopäden Dr. Z, den Radiologen Dr. H und Dr. I sowie vom Universitätsklinikum N ein. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme führte Dr. S aus, die Nierenfunktion sei nicht eingeschränkt. Die Bezirksregierung N wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2011 zurück.
5Am 15.07.2011 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Münster erhoben und die Feststellung eines GdB von 50 ab Antragstellung begehrt. Sie müsse sich wegen ihrer Einnierigkeit schonen. Ihre Leistungsfähigkeit habe nachgelassen. Sie leide an einem Fatigue-Syndrom. Wegen ihrer Migräne sei sie nicht in ärztlicher Behandlung. Sie habe die Erfahrung gemacht, dass ohnehin nur Schmerzmittel verordnet würden. Diese könne sie sich angesichts ihrer medizinischen Vorbildung selbst besorgen.
6Das Sozialgericht hat von Amts wegen Sachverständigengutachten des Internisten Prof. Dr. H, des Orthopäden Dr. G und des Neurologen und Psychiaters Dr. C eingeholt. Laut dem Sachverständigen Prof. Dr. H hat die Klägerin dort angegeben, die Funktion ihrer rechten Niere sei in Ordnung. Sie habe gelegentlich Harnwegsinfekte gehabt, zuletzt 2010. Wegen Kopfschmerzen und Schulterbeschwerden könne sie schlecht schlafen. Die Migräne trete ca. ein- bis zweimal im Monat auf. Sowohl wegen der Schulterschmerzen als auch wegen der Migräne nehme sie bei Bedarf Ibuprofen 800 und zwar ca. 25 Tabletten pro Monat. Der Sachverständige hat ausgeführt, die Klägerin habe den linken Arm schmerzbedingt nicht über den Kopf heben können. Das Nierenleiden sei wegen einer Leukozyturie mit einem Einzel-GdB von 30, die Migräne bei mittelgradigem Verlauf ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 30 und das Schulterleiden mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der GdB insgesamt betrage 40. Es komme zu negativen Wechselwirkungen zwischen der Migräne und den Schulterbeschwerden, das Nierenleiden führe nicht zu einer Erhöhung. Laut dem Sachverständigen Dr. G hat die Klägerin angegeben, ca. zwei bis drei Tabletten Ibuprofen 800 pro Woche einzunehmen. Der Sachverständige hat ausgeführt, Schultergürtel und Arme seien seitengleich konturiert ohne Atrophien. Bei der segmental motorischen Untersuchung der Arme seien sämtliche Bewegungen seitengleich vorgeführt worden. Bei der Messung nach der Neutral-Null-Methode wird eine Einschränkung des Abspreizens bzw. Anhebens des linken Armes auf 90 Grad angegeben. Der Nackengriff gelinge links nicht vollständig. Als einzig relevantes orthopädisches Leiden sei das Schulterleiden mit einem Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Laut dem Sachverständigen Dr. C hat die Klägerin dort angegeben, sie habe zweimal wöchentlich pochende Kopfschmerzen über Stunden, manchmal einen Tag lang. Wenn sie erbreche, verschwänden die Schmerzen. Außerdem habe sie einmal wöchentlich dumpfe Kopfschmerzen. Insgesamt bestünden ca. an fünfzehn Tagen monatlich Kopfschmerzen. Ihre Arbeit könne sie gleichwohl ausüben. Teilweise erhalte sie von ärztlichen Kollegen Spritzen.
7Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 13.09.2013 verpflichtet, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von 50 festzustellen. Ausgehend von einem Einzel-GdB von 30 für das Migräneleiden und einem Einzel-GdB von 20 für die Bewegungseinschränkung der linken Schulter sei - als Zwischenergebnis - ein GdB von 40 zu bilden. Das Nierenleiden führe aufgrund der Höhe des Einzel-GdB zwingend zu einer weiteren Anhebung.
8Der Beklagte hat gegen das ihm am 19.09.2013 zugestellte Urteil am 15.10.2013 Berufung eingelegt und die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils beantragt, soweit er darin zu einer Feststellung eines GdB von mehr als 40 verpflichtet werde. Er trägt unter Bezugnahme auf versorgungsärztliche Stellungnahmen des MKG-Chirurgen C vor, es bestehe keine Pflicht, den GdB allein deshalb auf 50 anzuheben, weil der Nierenlverlust mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet werde. Da angesichts der von Dr. T2 erhobenen Befunde eine Leukozyturie jedenfalls nicht als Dauerzustand vorliege, sei für den Nierenverlust auch nur ein Einzel-GdB von 25 anzusetzen. Der Einzel-GdB von 20 für das Schulterleiden durch Dr. G begegne insofern Bedenken, als dieser nach der Neutral-Null-Methode eine Anhebung links nur bis 90 Grad angebe, gleichzeitig aber ausführe, die Untersuchung der Arme sei beidseits regelrecht ausgeführt worden. Dass die Klägerin regelmäßig schwimme, spreche ebenfalls gegen eine wesentliche Einschränkung im Schulterbereich. Die Klägerin weite ihr Vorbringen zur Migräne immer weiter aus. Weder erfolge diesbezüglich eine Behandlung, noch werde ein Kopfschmerztagebuch geführt. Eine relevante Angstsymptomatik sei gegenüber Dr. C verneint und von diesem auch sonst nicht festgestellt worden. Auch eine Tagesmüdigkeit sei nicht festgestellt worden.
9Der Beklagte beantragt,
10das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 13.09.2013 zu ändern und die Klage abzuweisen, soweit die Feststellung eines GdB von mehr als 40 begehrt wird.
11Die Klägerin beantragt,
12die Berufung zurückzuweisen.
13Die Klägerin hat auf Anregung des Senats ein Kopfschmerztagebuch für den Zeitraum November bis Dezember 2013 geführt und vorgelegt. Sie trägt vor, sie habe nach der Nierenspende häufig Harnwegsinfekte gehabt. Sie vermeide gezielt gefährliche Sportarten. Während sie früher Motorrad und Fahrrad gefahren und gelaufen sei, gehe sie nun nur noch schwimmen, was trotz Schulterbeschwerden möglich sei. Im Hinblick auf die fehlende Niere sei sie funktionell durch ihr Schonverhalten, vor allem aber durch die Angst um eine Erkrankung der verbleibenden Niere beeinträchtigt. Hierzu hätte Dr. C sie näher befragen müssen. Die ärztlichen Kollegen, die sie gelegentlich behandelt hätten, könne sie nicht mehr benennen.
14Der Senat hat Behandlungsdokumentationen der Krankenkasse der Klägerin beigezogen und Befundberichte des Urologen Dr. T3 und des Nephrologen Dr. T2 sowie von Amts wegen Sachverständigengutachten des Nephrologen Prof. Dr. X und der Neurologin und Psychiaterin Dr. L eingeholt. Dr. T2 hat ausgeführt, es bestehe formal eine Niereninsuffizienz ersten Grades. Im Übrigen sei der Befund unauffällig. Der Sachverständige Prof. Dr. X hat ausgeführt, die Klägerin lasse ihre Niere nur unregelmäßig kontrollieren. Die Nierenfunktion sei nicht eingeschränkt, eine Niereninsuffizienz liege nicht vor. Die Klägerin sei lediglich insofern eingeschränkt, als keine gefährlichen Sportarten durchgeführt werden sollten. Laut der Sachverständigen Dr. L hat die Klägerin angegeben, die nachlassende Leistungsfähigkeit sei ihr vor zwei bis drei Jahren bewusst geworden. Mit der Klage gehe es um eine höhere Rente. Sie wolle sich außerdem nicht alles gefallen lassen. Die Sachverständige hat ausgeführt, Ibuprofen sei im Urin nicht nachweisbar gewesen. Eine echte Migräne in der von der Klägerin angegebenen Häufigkeit wäre mit dem von ihr ausgeübten Beruf nicht vereinbar gewesen. Ibuprofen helfe allein gegen Kopfschmerzen, nicht aber gegen die vegetativen Begleiterscheinungen einer Migräne. Obwohl weniger nierenschädliche Medikamente existierten, werde keine migränespezifische Behandlung bzw. Medikation in Anspruch genommen. Durch gezieltes Erbrechen könne eine Migräne nicht, wie von der Klägerin angegeben, beendet werden. Der Beschwerdevortrag sei ausgeweitet worden. Mangels jedweder Objektivierung könne die Migräne allenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet werden. Ein Fatigue-Syndrom sei ebenfalls nicht objektiviert. Es gebe auch keine Erkenntnisse, dass ein Fatigue-Syndrom Folge einer Nierenspende sei. Die Klägerin sei insgesamt keinesfalls so beeinträchtigt wie Schwerbehinderte, bei denen allein wegen eines Leidens ein GdB von 50 gerechtfertigt sei. Der GdB betrage allenfalls 40.
15Die Klägerin hat beide Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Der Berichterstatter hat den Antrag mit Beschluss vom 13.11.2014 zurückgewiesen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
17Entscheidungsgründe:
18Die zulässige und auf eine teilweise Klageabweisung gerichtete Berufung ist begründet. Denn das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, einen höheren GdB ab 40 festzustellen.
19Nach Auflösung der Landesversorgungsverwaltung und Übertragung der Aufgaben nach den §§ 69, 145 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) auf die Kreise und kreisfreien Städte durch §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 des als Art. 1 des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007 erlassenen Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen ist der Kreis Coesfeld richtiger Beklagter (vgl. zur Rechtmäßigkeit dieser Aufgabenübertragung grundlegend LSG NRW Urteil vom 12.02.2008 - L 6 SB 101/06, juris und Urteil vom 05.03.2008 - L 10 SB 40/06, juris; BSG Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R, juris Rn 15 ff).
20Die Zuständigkeit der Bezirksregierung N zur Entscheidung über den Widerspruch ergibt sich aus § 2 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (vgl. hierzu LSG NRW Beschluss vom 16.01.2012 - L 10 SB 197/11, juris Rn 16).
21Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Bezugspunkt für die Frage einer wesentlichen Änderung ist die zuletzt mit Bescheid vom 08.02.2002 erfolgte Feststellung eines GdB von 30. Eine wesentliche Änderung dergestalt, dass der GdB nunmehr mehr als 40 beträgt, liegt nicht vor.
22Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG (seit 01.07.2011 § 30 Abs. 16 BVG) erlassenen Rechtsverordnung (VersMedV vom 10.12.2008) und insbesondere ihrer Anlage 2 (VMG) entsprechend. Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B, juris Rn 5 m.w.N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R, juris Rn 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R, juris Rn 25; vgl. zum Ganzen auch LSG NRW, Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11, juris Rn 42 ff. und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013 - B 9 SB 69/12 B, juris Rn 8 ff).
23Den höchsten Einzel-GdB bedingt hier unverändert die fehlende linke Niere. Eine fehlende Niere ist bei gesunder anderer Niere gemäß Teil B Nr. 12.1.1 VMG mit einem GdB von 25 zu bewerten. Erst ein Schaden der verbleibenden Niere mit zumindest krankhaftem Harnbefund rechtfertigt einen GdB von 30. Sämtliche behandelnden Ärzte und Sachverständigen gehen von einer uneingeschränkten Nierenfunktion aus. Daher ist der Einzel-GdB mit 25 anzusetzen. Die vom Sachverständigen Prof. Dr. H festgestellte Leukozyturie stellt angesichts der gegenteiligen Feststellungen von Dr. T2 und Prof. Dr. X jedenfalls keinen Dauerzustand dar. Ob allein aufgrund des Fehlens einer Niere mit Dr. T2 eine Niereninsuffizienz ersten Grades vorliegt, kann dahinstehen, da auch Dr. T2 im Übrigen einen unauffälligen Befund beschreibt. Da es sich nicht um das einzige Leiden handelt, ist eine Aufrundung auf einen GdB von 30 nicht geboten (vgl. Teil A Nr. 2e VMG; Wendler/Schillings, VMG, 6. Aufl. 2013, S. 22). Aus der Entscheidung des BSG vom 27.01.1976 (8 RU 264/74) ergibt sich nichts anderes. Dort wurde lediglich ausgeführt, warum auch im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung die im Recht der Kriegsopferversorgung angesetzten Werte anzunehmen sind. Frühere Auffassungen des Beklagten zur Höhe des Einzel-GdB sind nicht bindend, da sie keinen Teil des Verfügungssatzes darstellen und damit nicht bestandskräftig werden können (vgl. BSG, Urteil vom 24.04.2008 - B 9/9a SB 6/06 R, juris Rn 20; Beschluss vom 17.04.2013 - B 9 SB 69/12 B, juris Rn 10 m.w.N.).
24Das Migräne- bzw. Kopfschmerzleiden ist mit einem GdB von nicht mehr als 20 zu bewerten. Kopfschmerzen sind ebenso wie eine echte Migräne nach Teil B Nr. 2.3 VMG zu bewerten (vgl. Wendler/Schillings, a.a.O., S. 113). Bei mittelgradiger Verlaufsform mit häufigeren Anfällen, jeweils einen oder mehrere Tage anhaltend, kommt ein GdB von 20-40 in Betracht. Gerade bei kaum objektivierbaren Erkrankungen wie der Migräne bzw. Kopfschmerzen kommt der Glaubhaftigkeit der Angaben eine besondere Bedeutung zu (vgl. Wendler/Schillings, a.a.O., S. 112-113). Die Sachverständige Dr. L weist nachvollziehbar darauf hin, dass es hier mangels Inanspruchnahme ärztlicher oder spezifischer medikamentöser Behandlungsoptionen und (zunächst) fehlender Eigendokumentation an ebendiesen objektiven Anhaltspunkten fehlt. Gerade angesichts der medizinischen Erfahrung der Klägerin überrascht die unzureichende bzw. angesichts der Nierenbelastung durch Ibuprofen ggf. sogar kontraindizierte Selbstmedikation der Klägerin. Die von ihr zuletzt - etwa in dem auf Aufforderung des Gerichts über den Zeitraum von knapp einem Monat erstellten Migränetagebuch - angegebene Häufigkeit der Anfälle bei Angabe von mehrstündigen und sogar mehr als einen Tag dauernden Anfällen ist nicht glaubhaft. Denn eine solche Anfallshäufigkeit und -dauer ist mit der von der Klägerin bis zuletzt ohne relevante Unterbrechungen ausgeübten Tätigkeit als OP-Schwester nicht zu vereinbaren. Nicht glaubhaft ist es zudem, dass die Klägerin zunächst angibt, sie habe sich gelegentlich von Kollegen behandeln lassen, dann aber, bei entsprechender Nachfrage, meint, die Namen der Betreffenden nicht angeben zu können, da sie nur deren Vornamen aber nicht die Nachnamen kenne. Auch die Angabe zur Medikamenteneinnahme ist widersprüchlich und zwar selbst dann, wenn die Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. H zur Anfallshäufigkeit tatsächlich - wie die Klägerin behauptet - auf einen Übertragungsfehler zurückgehen. So passt etwa die Angabe der Einnahme von Ibuprofen 800 zwei- bis dreimal die Woche gegenüber den Sachverständigen Dr. G und Dr. C nicht mit der Angabe gegenüber Prof. Dr. H zusammen, es würden ca. 25 Tabletten Ibuprofen 800 pro Monat eingenommen. Allein aufgrund der konstanten Angabe von Migräne- bzw. Kopfschmerzbeschwerden und kontinuierlicher Medikamenteneinnahme kommt hier ein Einzel-GdB von 20 in Betracht.
25Weitere Beeinträchtigungen betreffend das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche sind nicht erwiesen. Wie Dr. L in ihrem Gutachten überzeugend dargelegt hat, sind weder eine relevante Angstsymptomatik noch ein Fatigue-Syndrom objektiviert. Dr. L hat zutreffend darauf verwiesen, dass keine Befunde oder biographischen Veränderungen ersichtlich sind, die eine Abnahme der Belastbarkeit oder der Dauerleistungsfähigkeit plausibel machen könnten. Die Klägerin hat sich wegen solcher Beschwerden auch zu keinem Zeitpunkt in ärztlicher Behandlung befunden. Es gibt, ausweislich der Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. X und Dr. L, auch keine wissenschaftlich belegten Hinweise dafür, dass Menschen mit nur einer Niere minderbelastbar oder leichter erschöpft sind, wenn - wie hier bei der Klägerin - die Nierenfunktion intakt und die Nierenwerte normal sind.
26Die bei der Klägerin bestehenden Verwachsungsbeschwerden nach Darmoperation sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unverändert gut kompensiert und bedingen gemäß Teil B Nr. 10.2.2 VMG weiterhin einen Einzel-GdB von 10.
27Das ausweislich der Befundberichte der behandelnden Ärzte seit dem Jahr 2007 bestehende Schulterleiden bedingt einen Einzel-GdB von allenfalls 20. Gemäß Teil B Nr. 18.13 VMG bedingt die Einschränkung der Armhebung auf 90 Grad einen GdB von 20. Der Sachverständige Dr. G beschreibt eine solche Bewegungseinschränkung. Schonungszeichen wie eine Minderbemuskelung werden dagegen nicht beschrieben. Der Sachverständige Prof. Dr. H führt aus, dass eine Armhebung über den Kopf nicht möglich gewesen sei. Dies bedeutete aber eine Armhebung um zumindest etwas mehr als 90 Grad. Dr. G beschrieb den Nackengriff links lediglich als "nicht vollständig durchführbar".
28Weitere Leiden, die für die Bildung des GdB von Relevanz sein könnten, sind nicht ersichtlich.
29Auf der Grundlage der dargelegten Einzel-GdB-Werte beträgt der Gesamt-GdB nicht mehr als 40. Auszugehen ist gemäß Teil A Nr. 3c VMG vom Nierenverlust, da dieser mit einem Wert von 25 den höchsten Einzel-GdB bedingt. Dieser Wert kann aufgrund des Migräneleidens auf einen GdB von 30 aufgerundet werden. Dementsprechend ist auch in dem Bescheid vom 08.02.2002 ein GdB von 30 festgestellt worden. Unter Berücksichtigung der seitdem eingetretenen Änderung durch Hinzutritt des Schultererleidens, das sich vor allem bei Überkopfarbeiten auswirkt, ist ein GdB von allenfalls 40 gerechtfertigt. Dabei hat der Senat auch berücksichtigt, dass bei der Feststellung des GdB eine Addition der Einzel-GdB-Werte oder andere rechnerische Modelle unzulässig sind. Maßgebend sind vielmehr die Gesamtauswirkungen sämtlicher Funktionsbeeinträchtigungen, wobei nach Teil A Nr. 3 d) ee) VMG von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen und es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Die sonach gebotene Gesamtbetrachtung lässt die Feststellung eines höheren GdB als 40 nicht zu. Eine weitere Erhöhung scheitert schon an der vergleichsweise geringen Bewertung des hinzugetretenen Leidens (vgl. zur Relevanz von Einzel-GdB von 20 das Urteil des Senats vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11, juris Rn 44; die gegen dieses Urteil eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BSG mit Beschluss vom 17.04.2013 - B 9 SB 69/12 B zurückgewiesen).
30Bei der Bildung des GdB hat der Senat auch berücksichtigt, dass die Gesamtheit der Leiden der Klägerin nicht mit Leiden vergleichbar ist, die allein einen GdB von 50 bedingen, wie etwa einer schweren Migräne i.S.v. Teil B Nr. 2.3 VMG oder einer mittelgradigen Nierenfunktionseinschränkung i.S.v. Teil B Nr. 12.1.3 VMG. Anders als die Menschen mit Nierenfunktionseinschränkungen mittleren Grades, die zu stärkeren Beeinträchtigungen des Allgemeinbefindens führen oder Menschen, die an einer schweren Migräne mit lang andauernden Anfällen und Anfallspausen von nur wenigen Tagen leiden, ist bei der Klägerin durchaus regelmäßig noch ein geordneter aktiver Tagesablauf darstellbar. Die Einnierigkeit bedingt für die Klägerin lediglich den Verzicht auf gefährliche Sportarten und tritt in ihren Auswirkungen hinter diese Leiden zurück. Wenn die Klägerin tatsächlich darüber hinaus auch auf Sportarten wie Laufen oder Radfahren verzichten sollte, ist dies weder durch die Einnierigkeit noch die anderen Beeinträchtigungen indiziert. Damit ist die Beeinträchtigung maßgeblich geprägt durch Migräne bzw. Kopfschmerzen, die aber trotz anspruchsvoller und anstrengender OP-Tätigkeit keine wesentliche berufliche oder private Einschränkung bewirkten sowie durch das Schulterleiden, das sich vor allem bei Überkopfarbeiten auswirkt, aber auch nur einseitig besteht und - wie das regelmäßige Schwimmen zeigt - nicht jegliche Armhebung über Schulterhöhe ausschließt.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
32Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Landessozialgericht NRW Urteil, 30. Jan. 2015 - L 13 SB 381/13
Urteilsbesprechung schreiben0 Urteilsbesprechungen zu Landessozialgericht NRW Urteil, 30. Jan. 2015 - L 13 SB 381/13
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Urteil einreichenLandessozialgericht NRW Urteil, 30. Jan. 2015 - L 13 SB 381/13 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
Haben Leistungsempfänger Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen und wird im Anschluss daran eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben ausgeführt, so wird bei der Berechnung der diese Leistungen ergänzenden Leistung zum Lebensunterhalt von dem bisher zugrunde gelegten Arbeitsentgelt ausgegangen; es gilt die für den Rehabilitationsträger jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze.
(1) Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen; als vorübergehend gilt ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. Bei beschädigten Kindern und Jugendlichen ist der Grad der Schädigungsfolgen nach dem Grad zu bemessen, der sich bei Erwachsenen mit gleicher Gesundheitsstörung ergibt, soweit damit keine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Für erhebliche äußere Gesundheitsschäden können Mindestgrade festgesetzt werden.
(2) Der Grad der Schädigungsfolgen ist höher zu bewerten, wenn Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen im vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, im nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen sind, der nach Eintritt der Schädigung ausgeübt wurde oder noch ausgeübt wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn
- 1.
auf Grund der Schädigung weder der bisher ausgeübte, begonnene oder nachweisbar angestrebte noch ein sozial gleichwertiger Beruf ausgeübt werden kann, - 2.
zwar der vor der Schädigung ausgeübte oder begonnene Beruf weiter ausgeübt wird oder der nachweisbar angestrebte Beruf erreicht wurde, Beschädigte jedoch in diesem Beruf durch die Art der Schädigungsfolgen in einem wesentlich höheren Ausmaß als im allgemeinen Erwerbsleben erwerbsgemindert sind, oder - 3.
die Schädigung nachweisbar den weiteren Aufstieg im Beruf gehindert hat.
(3) Rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, erhalten nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich in Höhe von 42,5 vom Hundert des auf volle Euro aufgerundeten Einkommensverlustes (Absatz 4) oder, falls dies günstiger ist, einen Berufsschadensausgleich nach Absatz 6.
(4) Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen. Haben Beschädigte Anspruch auf eine in der Höhe vom Einkommen beeinflußte Rente wegen Todes nach den Vorschriften anderer Sozialleistungsbereiche, ist abweichend von Satz 1 der Berechnung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente zugrunde zu legen, die sich ohne Berücksichtigung dieser Rente wegen Todes ergäbe. Ist die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemindert, weil das Erwerbseinkommen in einem in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nicht mehr als die Hälfte des Erwerbslebens umfaßt, schädigungsbedingt gemindert war, so ist die Rentenminderung abweichend von Satz 1 der Einkommensverlust. Das Ausmaß der Minderung wird ermittelt, indem der Rentenberechnung für Beschädigte Entgeltpunkte zugrunde gelegt werden, die sich ohne Berücksichtigung der Zeiten ergäben, in denen das Erwerbseinkommen der Beschädigten schädigungsbedingt gemindert ist.
(5) Das Vergleichseinkommen errechnet sich nach den Sätzen 2 bis 5. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind die Grundgehälter der Besoldungsgruppen der Bundesbesoldungsordnung A aus den vorletzten drei der Anpassung vorangegangenen Kalenderjahren heranzuziehen. Beträge des Durchschnittseinkommens bis 0,49 Euro sind auf volle Euro abzurunden und von 0,50 Euro an auf volle Euro aufzurunden. Der Mittelwert aus den drei Jahren ist um den Prozentsatz anzupassen, der sich aus der Summe der für die Rentenanpassung des laufenden Jahres sowie des Vorjahres maßgebenden Veränderungsraten der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (§ 68 Absatz 2 in Verbindung mit § 228b des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ergibt; die Veränderungsraten werden jeweils bestimmt, indem der Faktor für die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um eins vermindert und durch Vervielfältigung mit 100 in einen Prozentsatz umgerechnet wird. Das Vergleichseinkommen wird zum 1. Juli eines jeden Jahres neu festgesetzt; wenn das nach den Sätzen 1 bis 6 errechnete Vergleichseinkommen geringer ist, als das bisherige Vergleichseinkommen, bleibt es unverändert. Es ist durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu ermitteln und im Bundesanzeiger bekanntzugeben; die Beträge sind auf volle Euro aufzurunden. Abweichend von den Sätzen 1 bis 5 sind die Vergleichseinkommen der Tabellen 1 bis 4 der Bekanntmachung vom 14. Mai 1996 (BAnz. S. 6419) für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 30. Juni 1998 durch Anpassung der dort veröffentlichten Werte mit dem Vomhundertsatz zu ermitteln, der in § 56 Absatz 1 Satz 1 bestimmt ist; Satz 6 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.
(6) Berufsschadensausgleich nach Absatz 3 letzter Satzteil ist der Nettobetrag des Vergleicheinkommens (Absatz 7) abzüglich des Nettoeinkommens aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit (Absatz 8), der Ausgleichsrente (§§ 32, 33) und des Ehegattenzuschlages (§ 33a). Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(7) Der Nettobetrag des Vergleichseinkommens wird bei Beschädigten, die nach dem 30. Juni 1927 geboren sind, für die Zeit bis zum Ablauf des Monats, in dem sie auch ohne die Schädigung aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wären, längstens jedoch bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beschädigte die Regelaltersgrenze nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch erreicht, pauschal ermittelt, indem das Vergleichseinkommen
- 1.
bei verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 716 Euro übersteigende Teil um 36 vom Hundert und der 1 790 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert, - 2.
bei nicht verheirateten Beschädigten um 18 vom Hundert, der 460 Euro übersteigende Teil um 40 vom Hundert und der 1 380 Euro übersteigende Teil um 49 vom Hundert
(8) Das Nettoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Erwerbstätigkeit wird pauschal aus dem derzeitigen Bruttoeinkommen ermittelt, indem
- 1.
das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit um die in Absatz 7 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Vomhundertsätze gemindert wird, - 2.
Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Renten wegen Alters, Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und Landabgaberenten nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte um den Vomhundertsatz gemindert werden, der für die Bemessung des Beitrags der sozialen Pflegeversicherung (§ 55 des Elften Buches Sozialgesetzbuch) gilt, und um die Hälfte des Vomhundertsatzes des allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen (§ 241 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch); die zum 1. Januar festgestellten Beitragssätze gelten insoweit jeweils vom 1. Juli des laufenden Kalenderjahres bis zum 30. Juni des folgenden Kalenderjahres, - 3.
sonstige Geldleistungen von Leistungsträgern (§ 12 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) mit dem Nettobetrag berücksichtigt werden und - 4.
das übrige Bruttoeinkommen um die in Nummer 2 genannten Vomhundertsätze und zusätzlich um 19 vom Hundert des 562 Euro übersteigenden Betrages gemindert wird; Nummer 2 letzter Halbsatz gilt entsprechend.
(9) Berufsschadensausgleich nach Absatz 6 wird in den Fällen einer Rentenminderung im Sinne des Absatzes 4 Satz 3 nur gezahlt, wenn die Zeiten des Erwerbslebens, in denen das Erwerbseinkommen nicht schädigungsbedingt gemindert war, von einem gesetzlichen oder einem gleichwertigen Alterssicherungssystem erfaßt sind.
(10) Der Berufsschadensausgleich wird ausschließlich nach Absatz 6 berechnet, wenn der Antrag erstmalig nach dem 21. Dezember 2007 gestellt wird. Im Übrigen trifft die zuständige Behörde letztmalig zum Stichtag nach Satz 1 die Günstigkeitsfeststellung nach Absatz 3 und legt damit die für die Zukunft anzuwendende Berechnungsart fest.
(11) Wird durch nachträgliche schädigungsunabhängige Einwirkungen oder Ereignisse, insbesondere durch das Hinzutreten einer schädigungsunabhängigen Gesundheitsstörung das Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer gemindert (Nachschaden), gilt statt dessen als Einkommen das Grundgehalt der Besoldungsgruppe der Bundesbesoldungsordnung A, der der oder die Beschädigte ohne den Nachschaden zugeordnet würde; Arbeitslosigkeit oder altersbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gilt grundsätzlich nicht als Nachschaden. Tritt nach dem Nachschaden ein weiterer schädigungsbedingter Einkommensverlust ein, ist dieses Durchschnittseinkommen entsprechend zu mindern. Scheidet dagegen der oder die Beschädigte schädigungsbedingt aus dem Erwerbsleben aus, wird der Berufsschadensausgleich nach den Absätzen 3 bis 8 errechnet.
(12) Rentenberechtigte Beschädigte, die einen gemeinsamen Haushalt mit ihrem Ehegatten oder Lebenspartners, einem Verwandten oder einem Stief- oder Pflegekind führen oder ohne die Schädigung zu führen hätten, erhalten als Berufsschadensausgleich einen Betrag in Höhe der Hälfte der wegen der Folgen der Schädigung notwendigen Mehraufwendungen bei der Führung des gemeinsamen Haushalts.
(13) Ist die Grundrente wegen besonderen beruflichen Betroffenseins erhöht worden, so ruht der Anspruch auf Berufsschadensausgleich in Höhe des durch die Erhöhung der Grundrente nach § 31 Abs. 1 Satz 1 erzielten Mehrbetrags. Entsprechendes gilt, wenn die Grundrente nach § 31 Abs. 4 Satz 2 erhöht worden ist.
(14) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen:
- a)
welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen ist, - b)
wie der Einkommensverlust bei einer vor Abschluß der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung zu ermitteln ist, - c)
wie der Berufsschadensausgleich festzustellen ist, wenn der Beschädigte ohne die Schädigung neben einer beruflichen Tätigkeit weitere berufliche Tätigkeiten ausgeübt oder einen gemeinsamen Haushalt im Sinne des Absatzes 12 geführt hätte, - d)
was als derzeitiges Bruttoeinkommen oder als Durchschnittseinkommen im Sinne des Absatzes 11 und des § 64c Abs. 2 Satz 2 und 3 gilt und welche Einkünfte bei der Ermittlung des Einkommensverlustes nicht berücksichtigt werden, - e)
wie in besonderen Fällen das Nettoeinkommen abweichend von Absatz 8 Satz 1 Nr. 3 und 4 zu ermitteln ist.
(15) Ist vor dem 1. Juli 1989 bereits über den Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben entschieden worden, so verbleibt es hinsichtlich der Frage, ob Absatz 4 Satz 1 oder 3 anzuwenden ist, bei der getroffenen Entscheidung.
(16) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des Absatzes 1 maßgebend sind, sowie die für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach § 1 Abs. 3 maßgebenden Grundsätze und die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit und der Stufen der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 aufzustellen und das Verfahren für deren Ermittlung und Fortentwicklung zu regeln.
Tenor
-
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Mai 2010 wird als unzulässig verworfen.
-
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
- 1
-
Durch Urteil vom 21.5.2010 hat das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers von 50 auf 30 wegen Ablaufs einer Heilungsbewährung bestätigt. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Zur Begründung macht er geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
- 2
-
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil er den behaupteten Zulassungsgrund nicht so dargelegt hat, wie es § 160a Abs 2 Satz 3 SGG verlangt.
- 3
-
Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
- 4
-
Der Kläger hält die Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" zur Versorgungsmedizin-Verordnung in ihrem Wortlaut und ihrer Rechtsanwendungspraxis bei karzinogenen Erkrankungen im Einklang mit dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nach wie vor eine Herabstufung unter einen Gesamt-GdB von 50 vorsehen darf. Bei dieser Frage handelt es sich nicht zweifelsfrei um eine reine Rechtsfrage, also eine Frage, die allein unter Anwendung juristischer Methodik beantwortet werden kann.
- 5
-
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10), wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (erster Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem zweiten und dritten Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sog antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten (s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Für die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung gilt das Gleiche.
- 6
-
Die Feststellung des GdB ist dabei in einen rechtlichen Rahmen eingebettet, den das Tatsachengericht zwingend zu beachten hat. Rechtlicher Ausgangspunkt ist stets § 69 Abs 1, 3 und 4 SGB IX(s zuletzt BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). AHP und VG setzen die gesetzlichen Vorgaben um, wobei insbesondere auch medizinische Sachkunde zum Tragen kommt. Es kann hier offenbleiben, inwieweit in diesem Rahmen grundsätzlich bedeutsame Rechtsfragen iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG auftreten können. Jedenfalls hat der Kläger die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit der von ihm aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargetan.
- 7
-
Es wird schon nicht deutlich, auf welche Bestimmung der VG sich die Frage des Klägers bezieht. Sollte er insoweit auf Teil B Nr 1 Buchst c VG Bezug nehmen, so hätte er darlegen müssen, inwieweit sich daraus ergebe, dass eine Herabsetzung des GdB auf unter 50 zwingend vorgesehen sei. Besonderer Ausführungen hätte es schon deshalb bedurft, weil die betreffende Vorschrift an sich nur die pauschal bemessene Höhe des GdB während der Heilungsbewährung regelt. Für die Zeit danach ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen (vgl dazu Teil A Nr 2 VG). Dabei sind selbstverständlich auch seelische Begleiterscheinungen und erst recht psychische Störungen, auf die der Kläger hinweist, zu berücksichtigen (vgl Teil A Nr 2 Buchst i VG). Insoweit ist nicht klar, inwiefern die VG nach Ansicht des Klägers in diesem Zusammenhang rechtliche Zweifelsfragen aufwerfen.
- 8
-
Letztlich zielt die Frage des Klägers offenbar auf eine (möglichst unbeschränkte) Verlängerung der Heilungsbewährungszeit und der damit verbundenen pauschalen GdB-Bemessung. Sicher würde die Regelung in Teil B Nr 1 Buchst c VG gegen § 69 SGB IX verstoßen, wenn sie nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entspräche(vgl § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX iVm § 30 Abs 17 BVG; dazu auch § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung). Da es zu den Aufgaben des beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin gehört, die Fortentwicklung der VG entsprechend dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft vorzubereiten, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen der VG diesem Qualitätsmaßstab entsprechen. Insoweit hätte es näherer Darlegungen des Klägers dazu bedurft, inwiefern aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse eine längere Heilungsbewährungszeit geboten sein könnte. Der Kläger beschränkt sich hingegen auf allgemeine Behauptungen, ohne auf wissenschaftliche Quellen Bezug zu nehmen. Das reicht nicht aus.
- 9
-
Soweit der Kläger schließlich die in seinem Fall erfolgte GdB-Bemessung angreift, rügt er im wesentlichen die berufungsgerichtliche Sachverhaltsaufklärung und Beweiswürdigung, ohne die Beschränkungen zu berücksichtigen, die sich bei behaupteten Verletzungen von § 103 und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG für die Revisionszulassung aus § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG ergeben.
- 10
-
Die Beschwerde ist daher ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbs 2 iVm § 169 SGG).
(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).
Tenor
-
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 aufgehoben.
-
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
- 1
-
Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertenrecht.
- 2
-
Wegen eines juxtakortikalen Chondrosarkoms (bösartiger Knochentumor) im Bereich des linken Schulterblattes bei familiärer Osteochondromatose wurde am 23.9.2002 bei dem 1960 geborenen Kläger eine subtotale Schulterblattentfernung links durchgeführt.
- 3
-
Auf seinen im September 2002 angebrachten Antrag stellte das Amt für Familie und Soziales Leipzig durch Bescheid vom 2.6.2003 wegen "Erkrankung des Schulterblattes links (in Heilungsbewährung), Teilverlust des Schulterblattes links, Bewegungseinschränkung des Schultergelenkes links" einen GdB von 50 fest. Den Widerspruch des Klägers wies das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales (Landesversorgungsamt) durch Widerspruchsbescheid vom 8.9.2003 zurück. Nach Überprüfung aufgrund gerichtlichen Vergleichs (Sozialgericht
Leipzig - S 2 SB 277/03) stellte die ehemalige sächsische Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 fest, dass der GdB weiter 50 betrage.
- 4
-
Nach Beweiserhebung hat das vom Kläger angerufene SG Leipzig die auf Feststellung des GdB mit 80 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 24.7.2007). Zur Überzeugung des Gerichts sei das Chondrosarkom des Schulterblattes im Frühstadium entfernt worden, so dass nach Nr 26.1 Abs 3 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) ein GdB von 50 angemessen sei. Die beim Kläger verbliebenen Organ- und Gliedmaßenschäden seien nicht mit einem GdB von mehr als 50 zu bewerten, so dass der Gesamt-GdB ebenfalls 50 betrage.
- 5
-
Während des vom Kläger geführten Berufungsverfahrens ist die beklagte Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat den bereits erstinstanzlich als Sachverständigen gehörten Unfallchirurgen Prof. Dr. J. ergänzend befragt sowie ein weiteres Sachverständigengutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. W. beigezogen. Prof. Dr. J. ist in seiner Stellungnahme vom 10.11.2008 bei seiner im Gutachten vom 14.10.2006 vertretenen Auffassung verblieben, dass die generalisierten funktionellen Defizite des Klägers die Einschätzung eines GdB von 60 rechtfertigten. Prof. Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 2.12.2008 die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 70 für gerechtfertigt gehalten.
- 6
-
Durch Urteil vom 26.8.2009 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Richtiger Klagegegner sei die Stadt Leipzig. Der Freistaat Sachsen sei aufgrund einer Zuständigkeitsänderung durch sächsische Landesgesetze zum 1.8.2008 kraft Gesetzes aus dem Verfahren ausgeschieden und durch die Beklagte ersetzt worden. Diese landesgesetzlichen Bestimmungen stünden mit höherrangigem Recht in Einklang.
- 7
-
Der Bescheid vom 2.6.2003 und der Bescheid vom 30.1.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.3.2005 seien rechtmäßig. Die vorliegende Osteochondromatose könne nicht mit einem alle betroffenen Körperteile abdeckenden GdB bewertet werden. Sie sei in den AHP nicht aufgeführt und auch nicht mit einer Gelenkerkrankung des rheumatisch entzündlichen Formenkreises vergleichbar. Die sich daraus ergebenden Funktionsstörungen seien daher einzeln zu bewerten. Es ergäben sich Einzel-GdB von jeweils 10 für die leichte Funktionsstörung im Bereich des linken Hüftgelenks, das leichte Funktionsdefizit in den oberen Sprunggelenken, die mittelschweren Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme sowie ein Teil-GdB von 20 für die schwere Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks. Der Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms des Schulterblattes links sei, wie es auch das SG zutreffend angenommen habe, mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, weil die Entfernung im Frühstadium erfolgt sei. Nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 (Anl VersMedV) sei der GdB für das Chondrosarkom von 50 nicht entsprechend höher zu bewerten, da weder der verbliebene Körperschaden bzw Organ- oder Gliedmaßenschaden noch außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingten. Bis zum Ablauf der Heilungsbewährung - in der Regel bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Geschwulstbeseitigung - sei beim Kläger somit ein GdB von 50 festzustellen. Prof. Dr. J. habe die Einzel-GdB zu einem Gesamt-GdB von 60 addiert, was unzulässig sei. Prof. Dr. W. habe bei seiner Gesamt-GdB-Bildung nicht die Maßgabe nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV beachtet.
- 8
-
Mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 69 Abs 1 SGB IX iVm den AHP und der Anl VersMedV geltend. Das angefochtene Urteil weiche zur Bildung des Gesamt-GdB insbesondere von dem Urteil des BSG vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - ab. Zudem habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere zur Frage, ob der Tumor im Frühstadium oder in einem anderen Stadium entfernt worden sei, habe das LSG seinen Sachvortrag nicht zur Kenntnis genommen. Ebenfalls habe das LSG den Sachverhalt hinsichtlich der von ihm - dem Kläger - behaupteten Vererblichkeit seiner Erkrankung nicht hinreichend aufgeklärt. Zudem habe das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt, indem es überraschend und ohne eigene Sachkunde keinem der beiden vorinstanzlich gehörten ärztlichen Fachgutachter gefolgt sei. Schließlich habe das LSG gegen § 62 SGG auch dadurch verstoßen, dass es dem Sachverständigen Prof. Dr. Wirth höhere Sachkunde zugesprochen habe als Prof. Dr. J. Hierzu habe er - der Kläger - sich nicht äußern können.
- 9
-
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 26. August 2009 und das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 24. Juli 2007 sowie die Bescheide des Amtes für Familie und Soziales Leipzig vom 2. Juni 2003 und 30. Januar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 30. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm ab 6. September 2002 einen höheren GdB als 50 festzustellen.
- 10
-
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
- 11
-
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
- 12
-
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
- 13
-
Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
- 14
-
Im Laufe des Berufungsverfahrens ist auf Beklagtenseite kraft Gesetzes ein Beteiligtenwechsel erfolgt (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; BSGE 99, 9 = SozR 4-3250 § 69 Nr 6, RdNr 13 f; BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1, RdNr 20). Zum 1.8.2008 ist die Stadt Leipzig an die Stelle des Freistaates Sachsen getreten, weil von diesem Zeitpunkt an die bis dahin von den Ämtern für Familie und Soziales des Landes wahrgenommenen Aufgaben des Schwerbehindertenrechts nach dem SGB IX auf die Landkreise und kreisfreien Städte übertragen worden sind. Dies geschah durch Art 44 Nr 5 Gesetz zur Neuordnung der Sächsischen Verwaltung vom 29.1.2008 (Sächsisches GVBl 138) und ergänzender landesrechtlicher Regelungen, deren Inhalt als Landesrecht das LSG für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat (§ 202 SGG iVm § 560 ZPO; s Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 162 RdNr 7). Einwendungen gegen diese Feststellungen des Inhalts des Sächsischen Landesrechtes sind nicht erhoben worden.
- 15
-
Diese durch das Sächsische Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung ist mit revisiblem Recht (vgl § 162 SGG) vereinbar. Sie ist rechtswirksam erfolgt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu der dem erwähnten sächsischem Landesrecht ähnlichen Zuständigkeitsveränderung in Nordrhein-Westfalen verstößt die Übertragung der Aufgaben des Schwerbehindertenrechts auf die Kreise und kreisfreien Städte nicht gegen höherrangiges Bundesrecht, insbesondere nicht gegen Vorschriften des Grundgesetzes (Urteile vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - juris und - B 9 SB 3/08 R - juris, Urteil vom 29.4.2010 - B 9 SB 1/10 R - juris; zur Übertragung der Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung, der Soldatenversorgung und der Opferentschädigung auf die Kommunalen Landschaftsverbände in Nordrhein-Westfalen s Urteile vom 11.12.2008 - B 9 V 3/07 R - SGb 2009, 95 und - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1). Die für die Verwaltungsreform in Nordrhein-Westfalen geltende Rechtslage muss in gleicher Weise für die ebenfalls durch formelles Landesgesetz erfolgte Zuständigkeitsänderung in Sachsen gelten. Gegenteilige rechtliche Bedenken sind nicht ersichtlich und auch vom Kläger nicht vorgebracht worden.
- 16
-
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung im September 2002. Darüber ist in den angefochtenen Bescheiden vom 2.6.2003 und 30.1.2004 ablehnend entschieden, denn darin ist für den Kläger lediglich ein GdB von 50 festgestellt worden. Weitere Bescheide, insbesondere für die Zeit nach Ablauf der Heilungsbewährung sind nicht ergangen.
- 17
-
Ob der Kläger, wie das LSG entschieden hat, nur Anspruch auf die bereits erfolgte Feststellung eines GdB von 50 oder, wie der Kläger geltend macht, Anspruch auf Feststellung eines darüber hinausgehenden GdB hat, kann der Senat auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG (s § 163 SGG) noch nicht abschließend entscheiden.
- 18
-
Rechtsgrundlage für einen möglichen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines höheren GdB als 50 ist § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046), für die Zeit ab 1.5.2004 idF des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) sowie - für die Zeit ab 21.12.2007 - idF des Gesetzes vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF). Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (aller Fassungen) die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (aller Fassungen) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
- 19
-
Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in den bis zum 20.12.2007 maßgeblichen Fassungen (aF) gelten bei der Feststellung der Behinderung (des GdB) die Maßstäbe des § 30 Abs 1 BVG entsprechend(BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 bis 21 mwN). Durch diesen Verweis stellt § 69 SGB IX auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem ab, dessen Ausgangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äußerer Körperschäden iS der Nr 5 Allgemeine Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der AHP ab. In § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX in der ab 21.12.2007 geltenden Fassung (nF) wird zusätzlich auf die auf Grund des § 30 Abs 17 BVG mit Wirkung ab 1.1.2009 erlassene Rechtsverordnung Bezug genommen. Anzuwenden sind vorliegend für die Zeit ab Antragstellung im September 2002 bis zum Ende des Jahres 2008 die AHP 1996, 2004, 2005 und 2008. Für die Zeit ab 1.1.2009 ist die Anl VersMedV Grundlage für die Feststellung des GdB. Aus diesem Wechsel ergeben sich hier keine inhaltlichen Abweichungen, da der Wortlaut der maßgebenden Abschnitte der AHP und der Anl VersMedV ("Versorgungsmedizinische Grundsätze") identisch ist.
- 20
-
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass die AHP grundsätzlich den Maßstab angeben, nach dem der GdB einzuschätzen ist (BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9). Bei den AHP handelt es sich um antizipierte Sachverständigengutachten, die im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten sind (zum Ganzen s BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Entsprechendes gilt für die seit dem 1.1.2009 in Kraft befindliche VersMedV als verbindliche Rechtsquelle. Zweifel am Inhalt der AHP oder der Anl VersMedV, der durch besondere, vor allem medizinische Sachkunde bestimmt ist, sind vorzugsweise durch Nachfrage bei dem verantwortlichen Urheber, hier also beim Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin bzw bei dem für diesen geschäftsführend tätigen BMAS (§ 3 VersMedV) zu klären (vgl dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - juris RdNr 21). Im Übrigen sind AHP und VersMedV auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbesondere § 69 SGB IX - zu überprüfen(BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 SB 3/08 R -, SozialVerw 2009, 59, 62 mwN). Dabei sind sie im Lichte des § 69 SGB IX auszulegen. Bei nach entsprechender Auslegung verbleibenden Verstößen gegen § 69 SGB IX sind diese Rechtsquellen nicht anzuwenden(BSG Urteil vom 23.4.2009, aaO).
- 21
-
Bei der Feststellung des (Gesamt)-GdB ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprinzip (zum Rechtszustand nach dem Schwerbehindertengesetz s BSG SozR 3870 § 57 Nr 1 S 5; s auch Teil A Nr 2.a Satz 1 Anl VersMedV) zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des GdB nach § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX festgeschrieben worden ist. Danach sind alle dauerhaften Gesundheitsstörungen unabhängig von ihrem Entstehungsgrund zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 11.12.2008 - B 9/9a SB 4/07 R - zum Begriff der sog Organkomplikationen unter Hinweis auf Knickrehm, SGb 2008, 220, 221; s auch Nr 18 Abs 1 AHP/Teil A Nr 2.a Anl VersMedV). Das BSG (aaO) hat dargelegt, dass möglicherweise durch eine Haupterkrankung (dort: Diabetes Mellitus) hervorgerufene Gesundheitsstörungen (dort: zB Netzhautveränderungen etc) wie von der Haupterkrankung unabhängig entstandene Gesundheitsstörungen zu behandeln sind und in ihren Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit unabhängig von dem für die Haupterkrankung festzustellenden Einzel-GdB separat zu berücksichtigen sind. Entsprechend hat das BSG im Falle der durch die Haupterkrankung (Schilddrüsenentfernung wegen Karzinom) hervorgerufenen Verletzung eines Stimmbandnervs entschieden (BSG Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 10). Danach begegnet es durchgreifenden Bedenken, mit der GdB-Bewertung eines Zustands nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung auch abgrenzbare und nennenswerte Schäden an anderen Organen zu erfassen, die nicht immer mit einer derartigen Behandlung verbunden sind.
- 22
-
Gemäß Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten im Folgenden angegebenen GdB/MdE/GdS-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". "Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung - zB langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind gegebenenfalls zusätzlich zu berücksichtigen". Ferner bestimmt Nr 26.1 Abs 3 AHP/Teil B Nr 1.c Anl VersMedV, dass, sofern bis zum Ablauf der Heilungsbewährung der GdB während dieser Zeit 50 beträgt, der GdB entsprechend höher zu bewerten ist, wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden und/oder außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB von 50 oder mehr bedingen.
- 23
-
Wie der Begriff des Organschadens zu verstehen ist, ist in den AHP und der Anl VersMedV nicht näher geregelt. Der erkennende Senat hat dazu mehrere Möglichkeiten aufgezeigt (BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 28). Jedenfalls aber darf die Einschätzung des Gesamt-GdB nicht unterschiedlich ausfallen in Fällen, in denen der Organschaden schon vor der Krebsoperation vorhanden war, und Fällen, in denen er erst mit oder nach der Operation aufgetreten ist (BSG aaO, RdNr 30, 31). Soweit Nr 26.1 Abs 3 letzter Satz AHP und Teil B Nr 1.c letzter Satz Anl VersMedV bestimmen, dass der wegen Heilungsbewährung anzunehmende GdB erhöht werden muss ("ist … höher zu bewerten"), wenn der verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschaden (Körperschaden) - für sich allein - einen GdB von 50 oder mehr bedingt, kann sich diese Regelung mithin nur auf den von der Geschwulsterkrankung betroffenen Körperteil und die mit der Tumorentfernung typischerweise verbundenen Schäden beziehen. Ob die festgelegte Grenze eines GdB von 50 für derartige verbliebene Organ- oder Gliedmaßenschäden zu hoch angesetzt ist, muss hier nicht erörtert werden; denn die schwere Funktionsstörung des linken Schultergelenks, die neben dem Teilverlust des linken Schulterblatts als vom GdB des Zustands nach Tumorentfernung miterfasst angesehen werden könnte, bedingt nach den bisherigen Feststellungen des LSG nur einen GdB von 20.
- 24
-
Die Feststellung des GdB ist tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10; zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung als Tatsachenfeststellung s zuletzt BSG SozR 4-2700 § 56 Nr 2 RdNr 10 mwN) und kann im Revisionsverfahren nur durch entsprechende Verfahrensrügen angegriffen werden (vgl § 163 SGG). Sie ist jedoch in den dargestellten rechtlichen Rahmen eingebettet, den Verwaltung und Tatsachengerichte zwingend zu beachten haben. Entsprechende Rechtsverstöße durch das Tatsachengericht sind vom Revisionsgericht zu beanstanden (§ 162 SGG).
- 25
-
Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese - soweit möglich - den in den AHP/der Anl VersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP/Teil A Nr 3.c Anl VersMedV) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der AHP/Anl VersMedV feste GdB/MdE-Werte bzw feste GdS-Werte angegeben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP/Teil A Nr 3.b Anl VersMedV).
- 26
-
Ausgehend von diesen rechtlichen Rahmenbedingungen hat das LSG im ersten Verfahrensschritt Feststellungen über die beim Kläger bestehenden, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen getroffen, die für das Revisionsgericht bindend sind, zumal sie vom Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind (§ 163 SGG). Danach liegen ein Zustand nach Entfernung eines Chondrosarkoms mit Teilentfernung des linken Schulterblattes und schwerer Funktionsstörung im Bereich des linken Schultergelenks sowie - im Wesentlichen auf der Grundlage einer familiären Osteochondromatose - Funktionsstörungen im Bereich des linken Hüftgelenks und der oberen Sprunggelenke, mittelschwere Funktionsdefizite beider Handgelenke und Unterarme vor. Soweit sich der Kläger gegen die Feststellung des LSG wendet, das Chondrosarkom sei im Frühstadium entfernt worden, betrifft sein Vorbringen weniger den gegenwärtigen Gesundheitszustand, sondern vielmehr ein Merkmal, das nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV für die pauschale GdB-Bemessung während der Heilungsbewährung von Bedeutung ist.
- 27
-
Der Senat lässt es dahinstehen, inwiefern die vom LSG im zweiten Verfahrensschritt vorgenommenen Feststellungen über die Zuordnung der Gesundheitsstörungen zu in den AHP und der Anl VersMedV aufgeführten Funktionssystemen und deren Bewertung mit jeweils einem Einzel-GdB bindend sind. Insbesondere bleibt offen, ob die vom LSG auf Nr 26.1 Abs 3 AHP und Teil B Nr 1.c Anl VersMedV gestützte Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Entfernung des Chondrosarkoms insoweit auf einer das BSG bindenden Tatsachenfeststellung beruht, als das LSG angenommen hat, die Entfernung sei im Frühstadium erfolgt. Denn selbst wenn die Bewertung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung mit 50 im Ansatz zutreffend sein sollte, begegnet das weitere Vorgehen des LSG durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
- 28
-
Das LSG hat die Regelung der Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV unrichtig angewendet. Es hat bereits verkannt, dass diese Bestimmungen nur die Ermittlung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung während der Heilungsbewährung und nicht die Bemessung des Gesamt-GdB betreffen. Es hätte zudem nicht alle mit der familiären Osteochondromatose des Klägers zusammenhängenden Funktionsstörungen in die Bemessung des Einzel-GdB für den Zustand nach Tumorentfernung einbeziehen, sondern insoweit nur die unmittelbar damit verbundenen Schäden berücksichtigen dürfen. Wäre danach der Einzel-GdB von 50 nicht zu erhöhen gewesen, so hätten die übrigen Gesundheitsstörungen (insbesondere im Bereich der Hände, Unterarme, Hüft- und Sprunggelenke) in einem dritten Verfahrensabschnitt in die Bildung des Gesamt-GdB einbezogen werden müssen.
- 29
-
Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Vorgehensweise zu einem höheren Gesamt-GdB als 50 hätte führen können. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die betreffenden Funktionsstörungen nach den Feststellungen des LSG jeweils nur einen GdB von 10 bedingen.
- 30
-
Nach Nr 19 Abs 4 AHP und Teil A Nr 3.d.ee Anl VersMedV führen, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Ein derartiger Ausnahmefall könnte hier vorliegen. Die vom LSG festgestellten Beweglichkeitseinschränkungen am linken Hüftgelenk, den Handgelenken und Unterarmen sowie den oberen Sprunggelenken sind offenbar einer sog Systemerkrankung - nämlich einer familiären Osteochondromatose - zuzuordnen. Dadurch könnten die Auswirkungen der einzelnen Erscheinungen insgesamt ein stärkeres Gewicht erhalten. Hinzu könnten besondere seelische Begleiterscheinungen kommen, die sich aus der Vererblichkeit dieser Erkrankung ergeben.
- 31
-
Sollte der Kläger - wie seinem Vorbringen entnommen werden könnte - darüber hinaus an einer psychischen Erkrankung leiden, wäre diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und bei der Bildung des Gesamt-GdB gesondert zu berücksichtigen.
- 32
-
Nach alledem fehlen weitere tatrichterliche Feststellungen, die das BSG im Revisionsverfahren nicht nachholen kann. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
- 33
-
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG erneut zu prüfen und festzustellen haben, ob sich das Chondrosarkom des linken Schulterblattes bei seiner Entfernung tatsächlich erst im Frühstadium oder - wie der Kläger geltend macht - in einem fortgeschrittenen Stadium befunden hat. Letzteres würde nach Nr 26.1 Abs 3 AHP bzw Teil B Nr 1.c Anl VersMedV während der Heilungsbewährung zu einem höheren Einzel-GdB führen.
- 34
-
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Tenor
-
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 2012 wird zurückgewiesen.
-
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
- 1
-
Der von der 1950 geborenen Klägerin im Wege des § 48 SGB X geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 für die Zeit ab Antragstellung im Juni 2009 blieb im Verwaltungsverfahren erfolglos(Bescheid vom 6.10.2009; Widerspruchsbescheid vom 31.3.2010).
- 2
-
Die anschließende Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln nach Einholung von Gutachten auf psychiatrischem, orthopädischem und internistischem Gebiet mit Urteil vom 28.2.2011 (S 35 SB 663/10) abgewiesen, weil der für das Funktionssystem Psyche bestehende Einzel-GdB von 30 sowie die Einzel-GdB-Werte von jeweils 20 für die Funktionssysteme Wirbelsäule und Arme in einer durchzuführenden Gesamtschau einen Gesamt-GdB von 40 bedingten.
- 3
-
Im anschließenden Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) weitere Ermittlungen durchgeführt. Daraufhin hat der Beklagte für die Zeit ab Juni 2011 einen GdB von 50 anerkannt. Dieses Teilanerkenntnis hat die Klägerin angenommen und im Übrigen den Rechtsstreit fortgeführt. Mit Urteil vom 29.6.2012 hat das LSG sodann die Berufung zurückgewiesen, weil für den noch streitigen Zeitraum der Gesamt-GdB nur mit 40 zu bewerten sei. Dem lägen Gesundheitsstörungen in den Funktionssystemen Psyche (Einzel-GdB von 30), Rumpf (Einzel-GdB von 20) und Arme (Einzel-GdB von 20) sowie weitere bei der Klägerin vorliegende Gesundheitsstörungen mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 zugrunde. Bei Vorliegen mehrerer Funktionsstörungen schreibe § 69 Abs 3 S 1 SGB IX vor, den GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergebe sich dabei aus einer Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Insoweit gelte der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher aufgestellte Grundsatz, dass bei der Feststellung des Gesamt-GdB weder mathematische Formeln noch feste Rechenregeln angewendet werden dürften. Durch das Zusammenspiel verschiedener Gesundheitsstörungen könnten sich einzelne Störungen stärker auswirken als bei einem bis auf die einzelne Störung gesunden Menschen. Andererseits sei es auch möglich, dass sich das Maß der Behinderung insgesamt durch hinzutretende Leiden nicht vergrößere (so schon BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVs 12/78 -, Juris RdNr 13). Die von der Klägerin verlangte generelle Rechenregel 30+20+20=50 könne der Senat den gesetzlichen Vorschriften nicht entnehmen.
- 4
-
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich mit einer umfangreichen Begründung auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
- 5
-
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Es fehlt an einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache.
- 6
-
Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wie sie die Klägerin hier geltend macht, hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65)oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (vgl BSG SozR 1300 § 13 Nr 1; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 7), wenn sie so gut wie unbestritten ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (vgl BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort aus vorhandenen höchstrichterlichen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (vgl BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8). Falls zu der Rechtsfrage schon Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vorliegt, kann sie erneut klärungsbedürftig geworden sein, wenn zB im neueren Schrifttum, erhebliche Einwände dagegen vorgebracht worden sind (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 23 S 42; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f). Diese Anforderungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl zB BVerfG
SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 10 f; BVerfG .SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14)
- 7
-
Eine Klärungsbedürftigkeit in diesem Sinne ist hier nicht gegeben. Die Klägerin hält es für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung,
ob Einzelgrade der Behinderung von wenigstens 20 den Gesamt-GdB stets um wenigstens 10 erhöhen.
- 8
-
Zur Begründung dieser Rechtsfrage verweist die Klägerin darauf, dass sich diese weder aus dem Gesetz noch aus der Rechtsprechung und auch nicht aus der Literatur beantworten lasse. Die Frage der Bewertung eines "geringen" GdB im Rahmen der Feststellung des Gesamt-GdB sei bereits seit der Geltung des Schwerbehindertengesetzes als klärungsbedürftig angesehen worden (vgl Ockenga "Feststellung des GdB nach dem Schwerbehindertengesetz" in, Die Sozialversicherung 1991, S 281 ff). Auch durch die Versorgungsmedizinischen Grundsätze in Anlage 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung werde die Rechtsfrage nicht beantwortet.
- 9
-
Soweit die von der Klägerin aufgeworfene Frage auf die Klärung eines allgemeinen Erfahrungssatzes bei der GdB-Bewertung gerichtet sein sollte, handelt es sich von vornherein nicht um eine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG(vgl BSG Urteil vom 2.12.2010 - B 9 SB 3/09 R - RdNr 16 mwN). In rechtlicher Hinsicht kann sich die Frage zwar auf die Auslegung und Anwendung des § 69 Abs 3 SGB IX beziehen. Dabei wird im Grunde danach gefragt, ob bei der Feststellung des GdB eine bestimmte Rechenoperation rechtlich geboten ist. Insoweit ist die Frage jedoch entgegen der Auffassung der Klägerin durch die Rechtsprechung des Senats hinreichend geklärt. Zu Recht setzt sich die Klägerin mit der Rechtsprechung des BSG zu den Modalitäten bei der Feststellung des GdB iS von § 69 Abs 3 S 1 SGB IX auseinander(vgl Urteile vom 16.3.1994 - 9 RVs 6/93 - SozR 3-3870 § 4 Nr 9; vom 13.12.2000 - B 9 V 8/00 R - SozR 3-3870 § 4 Nr 28; vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 6/06 R und 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9) und verweist dabei auf die drei Prüfungspunkte, die nach der Rechtsprechung des BSG bei der Bemessung des GdB einzuhalten sind (vgl zB Urteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 B - SozR 4-3250 § 69 Nr 10 RdNr 18 ff; Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 6/06 R - RdNr 16; Urteil vom 24.4.2008 - B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 23). Allerdings vermögen die Wiedergabe unterschiedlicher zweitinstanzlicher Entscheidungen zur Bildung eines Gesamt-GdB und die Benennung aktueller Ansichten in der Literatur (Benz, Der Grad der Behinderung im Schwerbehindertenrecht bei Mehrfachbehinderungen, SGb 2011, 625; Dau in Dau/Düwell/Joussen, Lehr- und Praxiskommentar SGB IX, 3. Aufl 2011, § 69 RdNr 27) ebenso wenig eine Klärungsbedürftigkeit der hier konkret gestellten Rechtsfrage zu begründen wie der Hinweis der Klägerin, dass § 69 Abs 1 und 3 SGB IX keine Aussage dazu enthalte, wie Einzel-GdB-Werte mit 20 bei der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen seien; das Gesetz spreche lediglich davon, dass eine Gesamtschau der bestehenden Einzel-GdB durchzuführen sei.
- 10
-
Das BSG hat sich - gestützt auf die oben bezeichnete und von der Klägerin selbst angeführte Rechtsprechung zur Bildung des Gesamt-GdB und zur Bedeutung der Einzel-GdB-Werte - bereits dahingehend geäußert, dass letztere als bloße Messgrößen für mehrere zugleich vorliegende Funktionsbeeinträchtigungen restlos in der Gesamtbeurteilung des GdB aufgehen, der allein das Maß der Behinderungen nach den Gesamtauswirkungen sämtlicher Funktionsbeeinträchtigungen angibt (Urteil vom 10.9.1997 - 9 RVs 15/96 - BSGE 81, 50, 53 f = SozR 3-3870 § 3 Nr 7). Nach der Rechtsprechung des BSG kommt bei der Feststellung des GdB eine wie auch immer geartete Bindungswirkung der Einzel-GdB-Werte nicht in Betracht, insbesondere sind eine Addition oder andere rechnerische Modelle unzulässig (Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 12/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 4 RdNr 18; Urteil vom 9.3.1988 - 9/9a RVs 14/86 - MeSoB 20a/229; Urteil vom 15.3.1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82, 85 f = SozR 3870 § 3 Nr 4
; BSG SozR 3870 § 3 Nr 5; BSG Urteil vom 7.11.1979 - 9 RVs 12/78 -) . Bereits in der letztgenannten Entscheidung hat das BSG ausdrücklich klargestellt, dass mathematische Formeln kein rechtlich zulässiges oder gar gebotenes Beurteilungsmittel zur Feststellung des Gesamt-GdB sind, weil sich dieser nicht rechnerisch ermitteln lasse.
- 11
-
Auch in dem von der Klägerin selbst zitierten Beschluss vom 22.9.1993 (- 9 BVs 32/93 -) hat das BSG ausdrücklich dargelegt, dass der dortige Beschwerdeführer zur Begründung der Grundsätzlichkeit der Rechtssache hätte ausführen müssen, dass der Gesamt-GdB vom LSG im Wege einer vereinfachenden Rechenoperation gewonnen worden sei, indem ein festgestellter höchster Einzel-GdB schematisch für jeden weiteren Einzel-GdB von 20 um 10 erhöht worden sei. Tatsächlich beruhe die Entscheidung des LSG aber auf der gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen unter Berücksichtigung sämtlicher individueller Gegebenheiten. Damit hat das BSG auch in dieser Entscheidung zu erkennen gegeben, dass der Gesamt-GdB gerade nicht im Wege einer vereinfachenden Rechenoperation gewonnen werden kann, sondern aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen unter Berücksichtigung sämtlicher individueller Gegebenheiten zu ermitteln ist. Folglich ist die von der Klägerin gestellte Rechtsfrage bereits dahingehend beantwortet, dass Einzel-GdB-Werte von wenigstens 20 den Gesamt-GdB nicht aus Rechtsgründen stets um wenigstens 10 Punkte erhöhen. Der GdB ist vielmehr jeweils im Rahmen tatrichterlicher Einschätzung aufgrund einer gebotenen Gesamtbetrachtung aller Einzelbehinderungen zu ermitteln, wobei auch allgemeine Erfahrungssätze berücksichtigt werden können.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.
(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.