Bundessozialgericht Beschluss, 13. März 2018 - B 11 AL 79/17 B

ECLI:ECLI:DE:BSG:2018:130318BB11AL7917B0
bei uns veröffentlicht am13.03.2018

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. September 2017 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die als Rechtsanwältin zugelassene Klägerin war seit 2008 bei dem beigeladenen Versorgungswerk der Rechtsanwälte in Brandenburg als Geschäftsführerin beschäftigt. Während dieser Tätigkeit war sie weiterhin als Rechtsanwältin tätig. Der Beigeladene kündigte "das Dienstverhältnis" mit Wirkung zum 30.6.2012.

2

Den Antrag auf Alg mit Wirkung zum 1.7.2012 lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin in den letzten zwei Jahren weniger als zwölf Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg ab dem 1.7.2012 zu gewähren, weil sie bei dem Beigeladenen in der Zeit vom 15.8.2008 bis 30.6.2012 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei (Urteil vom 15.4.2016). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27.9.2017). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Senat habe keine für eine entsprechende Überzeugungsbildung hinreichenden Tatsachen festzustellen vermocht, aus denen sich herleiten lasse, dass die Klägerin ab 1.7.2012 arbeitslos gewesen sei, also die im streitgegenständlichen Zeitraum (weiterhin) ausgeübte Tätigkeit als niedergelassene Rechtsanwältin regelmäßig auf weniger als 15 Stunden beschränkt gewesen sei. Ihr Vorbringen hierzu sei bereits im erstinstanzlichen Verfahren unkonkret gewesen. Aus den zu den Gerichtakten gereichten Steuerbescheiden, nach deren Inhalt die Klägerin in den Jahren 2012 und 2013 aus ihrer anwaltlichen Tätigkeit augenscheinlich Verluste erzielt habe, sowie den eingereichten Kopien der Prozessregister ließen sich keine Rückschlüsse zur zeitlichen Inanspruchnahme durch die tatsächlich weiter ausgeübte Anwaltstätigkeit ziehen. Zu weitergehenden detaillierten Auskünften sei sie auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht nicht bereit gewesen. Hinzu komme, dass die Klägerin gegenüber der Rechtsanwaltskammer erklärt habe, eine gutgehende Anwaltskanzlei in P. zu führen. Die objektive Nichtfeststellbarkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen gehe zulasten der Klägerin, die hieraus Rechte ableiten wolle.

3

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt die Klägerin eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Es handele sich um eine Überraschungsentscheidung, mit der sie nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht hätte rechnen müssen. Nachdem das LSG gegenüber den Beteiligten angekündigt habe, die Berufung der Beklagten durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen(Schreiben vom 20.10.2016), habe sie nicht damit rechnen müssen, dass der Senat das Urteil des SG - mit entgegengesetzter Begründung - aufheben werde. Die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil, "zu weitergehenden detaillierten Auskünften war die Klägerin auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung … nicht bereit", seien objektiv unrichtig gewesen, weil sie in dem Termin nicht anwesend gewesen sei. Auf entsprechenden Hinweis des LSG hätte sie vorgetragen und Beweis dazu angeboten, dass in der Zeit ab 1.7.2012 keinesfalls eine Arbeit von mehr als 15 Wochenstunden angefallen sei.

4

II. Die zulässige Beschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Der Entscheidung liegt der Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) zugrunde, auf dem die angefochtene Entscheidung auch beruhen kann.

5

Gemäß § 62 Halbsatz 1 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. Der in Art 103 Abs 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in funktionalem Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (BVerfG vom 29.11.1989 - 1 BvR 1011/88 - BVerfGE 81, 123, 129; BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art 103 Abs 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist insbesondere auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter - unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262; BVerfG vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188, 190; BVerfG vom 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133, 144 f; BVerfG Beschluss vom 1.8.2017 - 2 BvR 3068/14 - juris RdNr 47, 51; BVerfG Beschluss vom 7.2.2018 - 2 BvR 549/17 - juris RdNr 4 ff).

6

Eine Verletzung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Senats fest. Zwar konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass die Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit vom Berufungsgericht in gleicher Weise wie vom SG beurteilt werde, weil ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte und Tatsachenwürdigungen von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen muss (Voelzke in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGG, § 160 RdNr 169, Stand 15.12.2017). Auch wenn die Klägerin - wie von ihr vorgetragen - aufgrund des Hinweises des LSG vom 20.10.2016 auf eine vom gesamten Senat getragene Absicht zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten zunächst davon ausgehen konnte, dass das Berufungsgericht die von ihr erstinstanzlich vorgelegten Unterlagen zur ihrer anwaltlichen Tätigkeit in gleicher Weise werten werde wie das SG, hat sich eine Änderung der Sachlage nach dem weiteren Schreiben des Berufungsgerichts an die Beteiligten vom 14.6.2017 ergeben. Nachdem das LSG mitgeteilt hatte, es sei nicht mehr beabsichtigt, durch Beschluss zu entscheiden, konnte die Klägerin nicht mehr annehmen, dass die im streitigen Zeitraum während der Arbeitslosigkeit weiterhin ausgeübte anwaltliche Tätigkeit nicht mehr Gegenstand der mündlichen Verhandlung beim LSG sein werde (vgl nur BVerfG vom 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218, 263 zu im Laufe der gerichtlichen Auseinandersetzung bereits vorgebrachten Argumenten).

7

Eine Überraschungsentscheidung liegt aber darin begründet, dass das LSG die objektive Nichtfeststellbarkeit einer Arbeitslosigkeit ab 1.7.2012 ausdrücklich damit begründet hat, dass die Klägerin selbst - also nicht ihr in der mündlichen Verhandlung allein anwesender Prozessbevollmächtigter - auch auf Befragen des Senats in der mündlichen Verhandlung unter Berufung auf ihre anwaltliche Schweigepflicht zu weiteren detaillierten Auskünften nicht bereit gewesen sei. Mit diesem vom Senat zugrunde zu legenden Inhalt der Entscheidungsgründe des LSG musste ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter schon deshalb nicht rechnen, weil die Klägerin unstreitig an dem Termin zur mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hatte. Dies ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (§ 122 SGG iVm § 165 Satz 1 ZPO), die entsprechend auch eine Anhörung der Klägerin als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht enthält (BSG vom 8.2.2012 - B 5 RS 76/11 B - juris, RdNr 5; BSG vom 23.7.2015 - B 5 R 196/15 B - juris, RdNr 14; BSG vom 31.8.2017 - B 2 U 74/17 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 19 RdNr 9).

8

Der Annahme eines Verfahrensfehlers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs steht auch nicht § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG entgegen, wonach die Revisionszulassung nicht auf eine Verletzung der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann. Die freie Beweiswürdigung muss auf der Basis eines fairen Verfahrens unter Einhaltung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs erfolgen (BSG vom 28.9.2017 - B 3 KR 7/17 B - SozR 4-1720 § 186 Nr 1). Dies ist hier nicht der Fall.

9

Auch der Grundsatz, dass ein Beteiligter für eine erfolgreiche Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs alles getan haben muss, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (BSG vom 28.9.2017 - B 3 KR 7/17 B - SozR 4-1720 § 186 Nr 1), wirkt sich nicht zulasten der Klägerin aus. In der mündlichen Verhandlung vom 27.9.2017, zu der ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, war sie durch ihren Prozessbevollmächtigten vertreten. Sie hat nicht damit rechnen können, dass das LSG eine tatsächlich nicht abgegebene persönliche Erklärung ihrerseits zur Grundlage einer ablehnenden Entscheidung macht. Insofern sind die Vorgaben des SGG zur Prozessführung zu beachten. Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hierzu hat die Klägerin vorgetragen, dass die Beteiligten bis zum Schluss in dem Glauben gelassen worden seien, dass das LSG die Berufung aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückweisen werde. Entsprechend sind Hinweise auf diesbezügliche Mitwirkungspflichten der Klägerin und die negativen Folgen einer fehlenden Mitwirkung weder im Vorfeld der mündlichen Verhandlung erfolgt noch dem Sitzungsprotokoll (s zur negativen Beweiskraft des Sitzungsprotokolls bereits oben) zu entnehmen.

10

Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das LSG ohne den Verstoß anders entschieden hätte (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262, 2263). Die Klägerin hat dargelegt, welcher weitere Vortrag zu den in der Zeit ab 1.7.2012 bearbeiteten Mandatsfällen (elf neue Fälle in einem Jahr, davon vier die eigene Person betreffend) bei einem richterlichen Hinweis erfolgt wäre. Sie habe nur wenige, dazu nicht umfangreiche Vertretungen übernommen. Hierauf kann die angefochtene Entscheidung beruhen, weil das Berufungsgericht bei Annahme einer Arbeitslosigkeit der Klägerin zu einem Anspruch auf Alg gelangen könnte.

11

Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Wegen der Erforderlichkeit weiterer Sachaufklärung macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

12

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

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(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

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(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt. (2) Das Landessozialgericht

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Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen seinen diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

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(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

Tenor

1. Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 18. August 2011 - 715 C 85/11 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes und wird aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek zurückverwiesen.

2. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 - 715 C 85/11 - ist damit gegenstandslos.

3. ...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen, die im amtsgerichtlichen Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a ZPO) ohne Durchführung einer - vom Beschwerdeführer zuvor beantragten - mündlichen Verhandlung ergangen sind.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer erwarb am 6. Juni 2009 bei der "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH, Hamburg" ein "iPhone 3G". Da das Gerät zu diesem Zeitpunkt nur in Verbindung mit einem Vertrag über Telekommunikationsdienste der "T-Mobile Deutschland GmbH" verkauft wurde, schloss der Beschwerdeführer gleichzeitig einen Nutzungsvertrag mit der "T-Mobile Deutschland GmbH" zum Tarif "Complete XS" mit einer vereinbarten Laufzeit von 24 Monaten.

3

2. Mit Telefax vom 1. Juni 2011 erklärte der Beschwerdeführer, "den zum 06.06.2011 auslaufenden Vertrag" zu kündigen. Mit Schreiben vom 8. Juni 2011 teilte die "Telekom Deutschland GmbH" dem Beschwerdeführer jedoch mit, dass eine Kündigung erst zum 6. Juni 2012 möglich sei. Da der Beschwerdeführer die dreimonatige Kündigungsfrist vor Ablauf der "Mindestlaufzeit" (6. Juni 2011) nicht eingehalten habe, habe sich der Vertrag inzwischen um weitere zwölf Monate verlängert.

4

3. Am 13. Juni 2011 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Amtsgericht Hamburg-Wandsbek gegen die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" mit dem Antrag festzustellen, dass die Laufzeit seines "Telekom Deutschland Handy-Vertrages" vom 6. Juni 2009 mit Ablauf des 6. Juni 2011 beendet sei und nicht bis zum 6. Juni 2012 fortbestehe. Dies ergebe sich aus der ausdrücklich vereinbarten Vertragslaufzeit von 24 Monaten. Etwa entgegenstehende allgemeine Geschäftsbedingungen seien nicht erkennbar, wären angesichts der individualvertraglich vereinbarten Befristung auf 24 Monate aber jedenfalls nicht wirksam einbezogen worden. Bei Vertragsschluss am 6. Juni 2009 habe der "Beauftragte der Beklagten" die Vertragslaufzeit von 24 Monaten auf ausdrücklichen Wunsch des Beschwerdeführers in den Vertrag aufgenommen, da dieser die monatliche Belastung mit einem Benutzungsentgelt von 24,95 Euro nur so lange wie nach den Kaufbedingungen unbedingt erforderlich habe akzeptieren wollen.

5

4. Mit Verfügung vom 24. Juni 2011 ordnete das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Durchführung des vereinfachten Verfahrens nach § 495a ZPO an und teilte den Parteien zugleich mit, ein Termin zur mündlichen Verhandlung werde nur dann anberaumt, wenn eine der Prozessparteien dies ausdrücklich unter Hinweis auf § 495a ZPO beantrage oder das Gericht dies für erforderlich halte.

6

5. Die Beklagte rügte mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 8. Juli 2011 die fehlende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek, da die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand am Konzernsitz in Bonn habe.

7

Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 beantragte der Beschwerdeführer unter Hinweis auf § 495a Satz 2 ZPO die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Zur Sache replizierte er, die Zuständigkeit des Gerichts sei gegeben, da der streitgegenständliche Kaufvertrag nicht mit der "Telekom Deutschland GmbH" als Konzernmutter, sondern mit der rechtlich selbstständigen "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" abgeschlossen worden sei, die ihren Geschäftssitz im Gerichtsbezirk des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek habe. Selbst wenn aber für die vorliegende Klage die "Telekom Deutschland GmbH" in Anspruch zu nehmen sei, bliebe es bei der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts unter dem Gesichtspunkt des besonderen Gerichtsstands der Niederlassung nach § 21 ZPO.

8

Mit Schriftsatz vom 22. Juli 2011 hielt der Prozessbevollmächtigte der beklagten "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" seine Rüge der örtlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek aufrecht. Die Beklagte unterhalte im Zuständigkeitsbereich des angerufenen Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek weder ihren Hauptsitz noch Niederlassungen im Sinne des § 21 ZPO. Darüber hinaus sei die Beklagte nicht passivlegitimiert: Der streitgegenständliche Mobilfunkvertrag sei mit der "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen aufgegangen in der "Telekom Deutschland GmbH", abgeschlossen worden. In dem Vertragsformular über Telekommunikationsdienstleistungen sei stets von der "T-Mobile Deutschland GmbH" als Vertragspartnerin die Rede. Die Klage sei auch im Übrigen unbegründet. Bei den im Vertrag genannten 24 Monaten handle es sich um eine "Mindestvertragslaufzeit". Gemäß Ziffer 11 der vom Beschwerdeführer akzeptierten "Allgemeinen Geschäftsbedingungen Mobilfunk-Dienst (Privatkunden)" gelte für Vertragsverhältnisse mit einer vereinbarten Mindestlaufzeit von 24 Monaten für beide Vertragspartner eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten, soweit schriftlich mit einer Frist von drei Monaten frühestens zum Ablauf der Mindestvertragslaufzeit gekündigt werde. Eine individualvertragliche Abrede dahingehend, dass das Vertragsverhältnis fix nach 24 Monaten ende, werde bestritten.

9

6. Durch Urteil vom 18. August 2011 wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Klage ohne mündliche Verhandlung ab. Die Klage sei mangels Feststellungsinteresses unzulässig und zudem unbegründet. Ein Rechtsschutzinteresse für das Feststellungsbegehren bestehe nur gegenüber dem Vertragspartner hinsichtlich des Vertrags über Telekommunikationsdienstleistungen. Dies sei aber nicht die Beklagte, sondern vielmehr die vormalige "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen "Telekom Deutschland GmbH". Mit der Beklagten habe der Beschwerdeführer lediglich den Handy-Kaufvertrag abgeschlossen. Ob die Beklagte eine selbstständige Niederlassung im Bezirk des Gerichts habe, sei deshalb nicht entscheidungserheblich.

10

Das Urteil vom 18. August 2011 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 26. August 2011, dem Beschwerdeführer am 29. August 2011 zugestellt.

11

Vor Zustellung des Urteils machten die Parteien jeweils noch schriftsätzlich Ausführungen zur Sache (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 22. August 2011; Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 28. August 2011).

12

7. Mit Schreiben vom 29. August 2011 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und rügte die unterlassene Durchführung der von ihm beantragten mündlichen Verhandlung. In der mündlichen Verhandlung wäre er entsprechenden Hinweisen des Gerichts gefolgt und hätte die Klage auf die "Telekom Deutschland GmbH" als Zweitbeklagte erstreckt und hilfsweise die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Bonn beantragt.

13

8. Mit Beschluss vom 8. September 2011wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Anhörungsrüge zurück. Der Beschwerdeführer mache zwar zutreffend geltend, dass auf seinen Antrag hin nach § 495a Satz 2 ZPO mündlich hätte verhandelt werden müssen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei jedoch nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden, da das Vorbringen nichts dafür hergebe, dass das Gericht in einer mündlichen Verhandlung zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können. Dem für den Fall einer mündlichen Verhandlung in Aussicht gestellten Hilfsantrag auf Verweisung an das Amtsgericht Bonn wäre nicht stattzugeben gewesen. Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek ergebe sich aus § 21 ZPO, da es sich bei dem Telekom Shop, in dem der Beschwerdeführer das iPhone erworben habe, um eine selbstständige Niederlassung handele. Abschließend führte das Gericht aus: "Auch eine Klageerweiterung hätte die Erfolgsaussicht der vorliegenden Klage nicht verbessert. Eine etwaige örtliche Unzuständigkeit des Gerichts hinsichtlich der eventuellen weiteren Beklagtenpartei hätte sich nicht auf die Beklagte erstreckt."

II.

14

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht habe entgegen der zwingenden Vorschrift des § 495a Satz 2 ZPO keine mündliche Verhandlung durchgeführt und damit seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Auf die im Urteil des Amtsgerichts vom 18. August 2011 dargelegten Bedenken gegen die Zulässigkeit und Begründetheit der Feststellungsklage hätte das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach § 139 ZPO im Rahmen der materiellen Prozessleitung hinweisen und dem Beschwerdeführer damit Gelegenheit geben müssen, die Klage zu erweitern sowie - hilfsweise - einen Verweisungsantrag nach § 281 ZPO zu stellen. Eine Abweisung der Klage als unzulässig und unbegründet hätte insoweit vermieden werden können. Ferner hätte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme über das Zustandekommen des streitgegenständlichen Vertrags und über das Vorliegen einer Individualabrede stattfinden können.

III.

15

Die Behörde für Justiz und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg sowie die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem Bundesverfassungsgericht hat die Verfahrensakte des Amtsgerichts vorgelegen.

IV.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

17

1. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

18

a) aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Der "Mehrwert" der Verbürgung besteht darin, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (BVerfGE 119, 292 <296>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>, stRspr). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>).

19

bb) Die einfachrechtlichen Gewährleistungendes rechtlichen Gehörs in den Verfahrensordnungen können über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen. Insoweit stellt eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen nicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, es sei denn, das Gericht hätte bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt. Danach bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (BVerfGE 60, 305 <310>; vgl. auch BVerfGE 54, 94 <97, 99>; 74, 228 <233 f.>).

20

cc) Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt nicht unmittelbar ein verfassungskräftiger Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>). Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 67, 208 <211>; 74, 1 <5>; 89, 381 <391>; BVerfGK 4, 83 <86>; zur Diskussion der Anforderungen, die im Hinblick auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung aus Art. 6 EMRK folgen, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 169 ff. m.w.N.).

21

Für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, begründet aber der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht der Partei auf Äußerung in dieser Verhandlung (BVerfGE 42, 364 <370>). Jedenfalls für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattzufinden hat, einem Verfahrensbeteiligten aber die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zur Äußerung in dieser Verhandlung dadurch versagt wird, dass das Gericht überraschend ohne mündliche Verhandlung entscheidet, kann nichts anderes gelten (vgl. BFH, Urteil vom 5. November 1991 - VII R 64/90 -, juris; so auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 103 Rn. 52). Eine derartige Anwendung der Verfahrensbestimmung, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreibt, verkennt die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör schon deshalb, weil in einem solchen Fall die Verfahrensbeteiligten darauf vertrauen durften, ihr von Art. 103 Abs. 1 GG geschütztes Äußerungsrecht noch in der mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können. Dieses prozessuale Vertrauen wird in grober Weise enttäuscht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 - 2 BvR 547/07 -, juris), wenn das Gericht Verfahrensbeteiligten die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Äußerung in einer mündlichen Verhandlung unversehens dadurch abschneidet, dass es seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trifft.

22

b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen den in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör.

23

Stellt ein Verfahrensbeteiligter in einem Verfahren, in dem der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt und das Gericht daher sein Verfahren gemäß § 495a Satz 1 ZPO nach billigem Ermessen bestimmen kann, einen Antrag auf mündliche Verhandlung, muss diese durchgeführt werden (§ 495a Satz 2 ZPO). Einen solchen Antrag hatte der Beschwerdeführer hier gestellt. Das Gericht hat darauf nicht reagiert, sondern ohne weiteres entschieden, ohne die gesetzlich vorgesehene mündliche Verhandlung durchzuführen. Mit dieser Verfahrensweise hat es das rechtlich geschützte Vertrauen des Beschwerdeführers, Tatsachen und Rechtsauffassungen noch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung unterbreiten zu können, in überraschender Weise enttäuscht und die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt.

24

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn es dem Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge geleistet hätte. Dass der Beschwerdeführer seine Klage erweitert und - gegebenenfalls nach einer beantragten Verweisung des Rechtsstreits - obsiegt hätte, erscheint zumindest denkbar.

25

3. Ob - etwa unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Hinweispflichten (vgl. BVerfGE 42, 64 <72 ff.>; 84, 188 <189 f.>) - Art. 103 Abs. 1 GG noch in weiteren Hinsichten verletzt ist und neben der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren oder gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) vorliegt, bedarf keiner Entscheidung.

26

4. Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist das angegriffene Urteil vom 18. August 2011 aufzuheben und das Verfahren zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 ist damit gegenstandslos.

27

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

28

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Für das Protokoll gelten die §§ 159 bis 165 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen seinen diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

Für das Protokoll gelten die §§ 159 bis 165 der Zivilprozeßordnung entsprechend.

(1) Das Protokoll enthält

1.
den Ort und den Tag der Verhandlung;
2.
die Namen der Richter, des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und des etwa zugezogenen Dolmetschers;
3.
die Bezeichnung des Rechtsstreits;
4.
die Namen der erschienenen Parteien, Nebenintervenienten, Vertreter, Bevollmächtigten, Beistände, Zeugen und Sachverständigen und im Falle des § 128a den Ort, von dem aus sie an der Verhandlung teilnehmen;
5.
die Angabe, dass öffentlich verhandelt oder die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist.

(2) Die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung sind aufzunehmen.

(3) Im Protokoll sind festzustellen

1.
Anerkenntnis, Anspruchsverzicht und Vergleich;
2.
die Anträge;
3.
Geständnis und Erklärung über einen Antrag auf Parteivernehmung sowie sonstige Erklärungen, wenn ihre Feststellung vorgeschrieben ist;
4.
die Aussagen der Zeugen, Sachverständigen und vernommenen Parteien; bei einer wiederholten Vernehmung braucht die Aussage nur insoweit in das Protokoll aufgenommen zu werden, als sie von der früheren abweicht;
5.
das Ergebnis eines Augenscheins;
6.
die Entscheidungen (Urteile, Beschlüsse und Verfügungen) des Gerichts;
7.
die Verkündung der Entscheidungen;
8.
die Zurücknahme der Klage oder eines Rechtsmittels;
9.
der Verzicht auf Rechtsmittel;
10.
das Ergebnis der Güteverhandlung.

(4) Die Beteiligten können beantragen, dass bestimmte Vorgänge oder Äußerungen in das Protokoll aufgenommen werden. Das Gericht kann von der Aufnahme absehen, wenn es auf die Feststellung des Vorgangs oder der Äußerung nicht ankommt. Dieser Beschluss ist unanfechtbar; er ist in das Protokoll aufzunehmen.

(5) Der Aufnahme in das Protokoll steht die Aufnahme in eine Schrift gleich, die dem Protokoll als Anlage beigefügt und in ihm als solche bezeichnet ist.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 23. August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Mit Gerichtsbescheid vom 12.4.2011, der dem Kläger am 18.4.2011 zugestellt worden ist, hat das SG Chemnitz die Feststellung der Zeiten vom 1.10.1966 bis 16.1.1972 und vom 1.7.1986 bis 16.4.1990 als Zeiten der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVItech) einschließlich der dabei erzielten Arbeitsentgelte verneint. Der Berufungsschriftsatz des Klägers vom 17.5.2011 trägt den Posteingangsstempel des Sächsischen LSG von Donnerstag, den "19. Mai 2011", sowie den Zusatz "Nachtbriefkasten". Das LSG wies den Kläger darauf hin, dass die Berufung nach Lage der Akten verfristet sei, und übermittelte ihm eine Auskunft der Poststelle zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens. Der Klägerbevollmächtigte versicherte anwaltlich, er habe den kuvertierten Berufungsschriftsatz am 18.5.2011 zwischen 18.30 Uhr und 18.45 Uhr persönlich in den Nachtbriefkasten des LSG eingelegt, hilfsweise werde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Mit Urteil vom 23.8.2011 hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers sei - ebenso wie seine anwaltliche, gegebenenfalls eidesstattliche Versicherung - nicht geeignet, "die Richtigkeit des Posteingangsstempels" zu widerlegen und den Nachweis eines fristgerechten Berufungseingangs zu erbringen. Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten; Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestünden nicht. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.

2

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

3

Der Kläger hat ordnungsgemäß dargetan, dass das LSG gegen §§ 62, 128 Abs 2 SGG verstoßen habe und das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen könne(§ 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Der Eingangsstempel auf der bei Gericht eingegangenen Berufungsschrift des Klägers ist eine öffentliche Urkunde iS von § 418 Abs 1 ZPO und erbringt damit grundsätzlich den vollen Beweis für den Zeitpunkt der Ausstellung(BSG SozR 4100 § 59e Nr 1). Auch die rechtzeitige Vornahme einer Prozesshandlung - hier die fristgerechte Einlegung der Berufung - wird im Regelfall durch den Eingangsstempel des angegangenen Gerichts auf dem Berufungsschriftsatz bewiesen (BSG Beschluss vom 9.3.2011 - B 4 AS 60/10 BH - Juris RdNr 5). Das LSG ist davon ausgegangen, dass der durch den Eingangsstempel bezeugte Tag vorliegend dem Tag des Eingangs, dh des Zugangs in den Zugriffsbereich des Berufungsgerichts entspricht. Doch ist vorbehaltlich abweichenden Landesrechts gemäß § 418 Abs 2 ZPO grundsätzlich der Gegenbeweis zulässig. Hinsichtlich dieses Gegenbeweises hat das LSG gegen § 128 Abs 2 SGG verstoßen. Bei den negativen Feststellungen des LSG, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden, kann es sich jeweils nur um die schlussfolgernde Erkenntnis des Wahrheitsgehalts dieser Aussagen im Sinne des Beweises handeln. Ihnen müssen daher denknotwendig vom Berufungsgericht bereits als feststehend und rechtlich relevant erkannte Einzelumstände (Tatsachen) und/oder Beweismittel und Beweisergebnisse vorangehen, die nach der Auffassung des Tatsachengerichts derartige Schlussfolgerungen mit der notwendigen Verlässlichkeit erlauben. Umstände dieser Art hat das LSG dem Kläger indessen weder vor dem noch im Termin zur mündlichen Verhandlung mitgeteilt; auch ergibt sich nicht umgekehrt, dass er hiervon auf sonstige Weise Kenntnis erlangt und Stellung genommen bzw die an sich eröffnete Gelegenheit zur Stellungnahme nur ungenutzt gelassen hat. Er hatte damit vor Abschluss des Verfahrens in der Tatsacheninstanz keine Gelegenheit zur Stellungnahme, obwohl § 62 SGG gebietet, den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren und das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten(§ 128 Abs 2 SGG).

5

Um den Verfahrensmangel darzulegen, durfte sich die Beschwerdebegründung zunächst auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 SGG iVm § 165 S 1 ZPO) berufen. Diese erbringt vorbehaltlich der Fälle des § 165 S 2 ZPO grundsätzlich abschließend ("nur") Beweis über die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, beweist also bei Fehlen einer Feststellung im Protokoll auch negativ, dass eine Förmlichkeit nicht beachtet wurde (Stöber in Zöller, ZPO, 29. Aufl 2012, § 165 RdNr 3). Zu den Förmlichkeiten in diesem Sinne gehören ua die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung iS von § 160 Abs 2 ZPO, dh der Verfahrensablauf, soweit er für die Entscheidung und die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens durch das Rechtsmittelgericht erforderlich ist(Stöber aaO § 160 RdNr 3). Im Rahmen der entsprechenden Anwendung von § 160 Abs 2 ZPO in Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gehört hierzu ua § 128 Abs 2 SGG. Die Vorschrift gebietet, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Ein Hinweis darauf, dass der Kläger zu den Tatsachen und Beweisergebnissen hätte Stellung nehmen können, die den genannten Feststellungen des LSG zugrunde liegen, findet sich im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.8.2011 nicht. Nicht anders als bei Verletzungen der Pflicht der Zivilgerichte, das Beweisergebnis mit den Parteien "zu erörtern" (§ 279 Abs 3 ZPO) steht damit hinsichtlich der mündlichen Verhandlung der Verstoß gegen § 128 Abs 2 SGG und damit zugleich gegen das Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör bereits allein aufgrund der fehlenden Erwähnung im Protokoll exklusiv und abschließend fest(vgl BGH Beschluss vom 20.12.2005 - VI ZR 307/04 - BGHReport 2006, 529).

6

Der in der Sitzungsniederschrift enthaltene Satz "Das Sach- und Streitverhältnis wird mit ihnen (den Beteiligten) erörtert", ist demgegenüber für sich allein keinesfalls geeignet, verlässlichen Nachweis für eine ausreichende Unterrichtung der Beteiligten über die entscheidungserheblichen Tatsachen und Erkenntnisquellen zu liefern. Als bloß formelhafte Wiederholung des Gesetzeswortlauts lässt er weder Inhalt noch Umfang der Erörterung erkennen, sondern gibt Raum für Spekulationen. Infolge dieser Unschärfe kann er keinesfalls Grundlage für die Entscheidung sein, ob das Gericht seine konkreten Mitteilungs- und Erörterungspflichten erfüllt, dh den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Einzelfall be- oder missachtet hat (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 4 S 5 f).

7

Hinsichtlich des Gangs der mündlichen Verhandlung kommt es unter diesen Umständen auch von vornherein weder auf die nachrangige und allein positive Beweiskraft des Protokolls als öffentlicher Urkunde iS von § 418 ZPO(vgl BGH Urteil vom 8.12.1993 - XII ZR 133/92 - FamRZ 1994, 300 ff) noch auf die ebenfalls nachrangige und nur positiv auf das mündliche Parteivorbringen beschränkte Beweiskraft des Urteilstatbestandes (§ 314 S 1 ZPO) an. Beide haben neben der exklusiven negativen Beweiswirkung des § 165 S 1 ZPO keine eigenständige Bedeutung.

8

Schließlich ergibt sich hinsichtlich des Verfahrensgangs im Übrigen aus den Akten des Berufungsgerichts kein positiver Hinweis darauf, dass der Kläger außerhalb der mündlichen Verhandlung auf Tatsachen und Beweisergebnisse hingewiesen worden wäre, denen das Berufungsgericht entnehmen will, zum "streitgegenständlichen Zeitpunkt" seien am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten und es hätten auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden. Insofern hätte sich bei Beachtung des sozialgerichtlichen Verfahrensrechts ein Hinweis darauf finden müssen, dass dem Kläger gemäß § 107 SGG nach Anordnung des Vorsitzenden entweder eine Abschrift der Niederschrift einer durchgeführten Beweisaufnahme oder deren Inhalt und bei Anordnungen nach § 106 SGG jedenfalls eine Unterrichtung von der durchgeführten Maßnahme und ihrer Bedeutung für eine Entscheidung des Rechtsstreits mitgeteilt wurde(vgl BSG Beschluss vom 19.1.2005 - B 11a/11 AL 215/04 B -, Juris RdNr 9 f). Ebenso wenig lässt der Akteninhalt auch nur andeutungsweise erkennen, dass dem Kläger entsprechende Umstände auf sonstige Weise bekannt gewesen sein könnten und er hierzu schriftlich Stellung genommen haben oder trotz Kenntnis der rechtlichen Relevanz dieser Umstände von einer Stellungnahme Abstand genommen haben könnte. Da auch die Beweiskraft in der Gerichtsakte des Berufungsgerichts enthaltener öffentlicher und privater Urkunden stets nur auf einen positiven Inhalt beschränkt wäre (§§ 415 ff ZPO), steht damit die Verletzung von § 128 Abs 2 SGG zwar hinsichtlich des Verfahrensgangs außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht auch abschließend negativ fest, doch gilt auch bei der Feststellung der Sachurteilsvoraussetzungen, dass § 103 S 1 Halbs 1 SGG keine Ermittlungen "ins Blaue hinein" gebietet. Gibt daher auch der Akteninhalt keinen Anlass, der Frage weiter nachzugehen, ob sich der Kläger zu den Grundlagen der in Frage stehenden Beweisfeststellungen des LSG äußern konnte, darf das Revisionsgericht seine abschließende Überzeugung, dass dies entsprechend dem Beschwerdevorbringen nicht der Fall war, auch ohne Durchführung aller nur denkbaren Maßnahmen der Sachaufklärung bilden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als auch der Prozessgegner des Klägers dessen Vorbringen im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur mit einer nicht näher substantiierten Verneinung der gesetzlichen Revisionszulassungsgründe entgegentritt.

9

Auf dem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn der Kläger zuvor Gelegenheit gehabt hätte, sich zu denjenigen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, denen das LSG entnehmen will, dass am Nachtbriefkasten keine technischen Defekte aufgetreten seien und auch keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Bearbeitung durch das zuständige Personal bestanden hätten. Er hätte dann ihm während des Verfahrens bekannt gewordene Umstände möglicherweise qualifiziert bestreiten und damit erreichen können, dass das LSG - nach einer etwaigen weiteren Beweiserhebung - zu einer abweichenden Entscheidung gekommen wäre (BSG vom 19.1.2005 aaO RdNr 11). Mögliche Konkretisierungsdefizite bei der Darlegung dieses Vorbringens im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde können dem Kläger, dem das rechtliche Gehör durch das Verschweigen entscheidungsrelevanter Umstände verweigert wurde und der die für die Beweiserkenntnis des LSG maßgeblichen Umstände auch nicht wenigstens nachträglich dem angefochtenen Urteil oder den Prozessakten entnehmen konnte, nicht entgegengehalten werden. Eine Verpflichtung "ins Blaue hinein" vorzutragen, obwohl das Berufungsgericht Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht mitgeteilt hat, stünde Art 19 Abs 4 GG entgegen. Der Kläger hat darüber hinaus auch Umstände dargelegt, die es als möglich erscheinen lassen, dass der gemäß § 418 Abs 2 ZPO erforderliche Beweis der Unrichtigkeit des gerichtlichen Eingangsstempels als öffentliche Urkunde aufgrund am Schluss der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisanträge zu seinen Gunsten als geführt angesehen werden könnte. Er hätte dann zumindest die Zeugenvernehmungen seines Prozessbevollmächtigten, der Rechtsanwaltsfachangestellten R. und der Auszubildenden G. zum Zeitpunkt von Kuvertierung und Einwurf des Berufungsschriftsatzes, die Zeugenvernehmung des zuständigen Poststellenmitarbeiters zur Nachtbriefkastenleerung und Postbearbeitung sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Funktionsweise des Nachtbriefkastens beantragen können, um der Tatsacheninstanz unmittelbar vor deren Entscheidung zu signalisieren, dass er die bisherige Sachaufklärung für defizitär hält ("Warnfunktion") und wie diesem Mangel konkret abgeholfen werden kann ("Hinweisfunktion").

10

Darauf, ob sich aus den Darlegungen des Klägers weitere Verfahrensfehler - so etwa eine weitere Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Zurückweisung seines Vorbringens zu den Umständen der Berufungseinlegung ohne jede inhaltliche Auseinandersetzung oder das teilweise Fehlen von Urteilsgründen - ergeben, bedarf unter diesen Umständen keiner näheren Erörterung.

11

Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Damit entfällt gleichzeitig auch die Ablehnungsentscheidung des LSG über den hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag. Denn über ihn ist erst und nur dann zu entscheiden, wenn nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger die Berufungsfrist gewahrt hat (vgl dazu BGH Beschluss vom 27.5.2003 - VI ZB 77/02 - NJW 2003, 2460). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil ungeklärt ist, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Berufungsschrift noch fristgerecht am 18.5.2011 in den Nachtbriefkasten des LSG eingeworfen hat.

12

Das LSG wird schließlich auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Februar 2015 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

1

Mit Urteil vom 23.2.2015 hat das LSG Nordrhein-Westfalen einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung verneint.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf einen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist.

4

Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

-       

die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG),

-       

das Urteil von einer Entscheidung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG abweicht und auf dieser Abweichung beruht (aaO Nr 2) oder

-       

ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (aaO Nr 3).

5

Derartige Gründe werden in der Beschwerdebegründung nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 S 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

6

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

7

Der Kläger rügt eine Verletzung des § 103 SGG.

8

Hierzu trägt er vor, er habe die im Schriftsatz vom 8.8.2012 gestellten Anträge auf Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der Ärztin Dr. M. bzw ihre Anhörung zu verschiedenen Punkten in der mündlichen Verhandlung vom 23.2.2015 wiederholt. Diese Beweisanträge hätten allerdings keinen Eingang in das Sitzungsprotokoll gefunden. Seinen Protokollberichtigungsantrag vom 20.5.2015 habe das LSG mit der Begründung abgelehnt, es habe kein von Amts wegen zu protokollierender Beweisantrag vorgelegen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts habe er aber einen formell konkreten Beweisantrag gestellt, den der Berufungssenat hätte berücksichtigen müssen.

9

Mit diesem Vorbringen ist eine Verletzung der tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht nicht schlüssig bezeichnet.

10

Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob die vom Kläger im Schriftsatz vom 8.8.2012 formulierten Beweisanträge prozessordnungsgemäß iS der ZPO sind. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich jedenfalls, dass der Kläger diese nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten hat.

11

Ein Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz vor der Entscheidung vor Augen führen, dass die gerichtliche Aufklärungspflicht von einem Beteiligten noch nicht als erfüllt angesehen wird. Dieser Vorgabe ist nicht genügt, wenn ein Beweisantrag lediglich in einem vorbereitenden Schriftsatz gestellt wird (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73 f; BSG Beschluss vom 6.3.2008 - B 5a R 426/07 B - Juris RdNr 9). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann ein rechtskundig vertretener Beteiligter - wie der Kläger - nur dann mit der Rüge des Übergehens eines Beweisantrags nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 103 SGG gehört werden, wenn er diesen bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung aufrechterhalten, dh wenigstens hilfsweise wiederholt hat, was sich aus dem Sitzungsprotokoll oder dem angefochtenen Urteil ergeben muss(vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73 mwN; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Anderenfalls ist davon auszugehen, dass der Beweisantrag nicht (mehr) gestellt wird.

12

Die Beschwerdebegründung zeigt nicht auf, dass das LSG in seinem Urteil Beweisanträge aufführt oder solche ins Sitzungsprotokoll aufgenommen sind. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich vielmehr, dass das Sitzungsprotokoll vom 23.2.2015 ursprünglich nur einen Sachantrag enthalten hat und auch nicht nachträglich im Wege der Berichtigung gemäß § 164 ZPO iVm § 122 SGG um Beweisanträge ergänzt worden ist. Damit steht nach der Beschwerdebegründung fest, dass im Termin vom 23.2.2015 Beweisanträge nicht gestellt worden sind.

13

Dies ist unabhängig davon der Fall, ob Beweisanträge zu den Förmlichkeiten der mündlichen Verhandlung zählen (dafür: zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 64 S 68; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 73. Aufl 2015, § 165 RdNr 5; offengelassen: BFH Beschluss vom 4.9.2001 - I B 14/01 - Juris RdNr 4) und dementsprechend insoweit für die Beweiskraft des Protokolls § 165 ZPO maßgeblich ist oder sie keine Förmlichkeiten darstellen(so zB BVerwG Urteil vom 6.10.1982 - 7 C 17/80 - Juris RdNr 14; BVerwG Beschluss vom 2.11.1987 - 4 B 204/87 - Juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 122 RdNr 10)mit der Folge, dass sich die Beweiskraft nach § 415 Abs 1 ZPO richtet.

14

Die Förmlichkeiten der mündlichen Verhandlung können nur durch das Protokoll bewiesen werden; jedes andere Beweismittel ist ausgeschlossen. Die positive Feststellung im Protokoll beweist, dass die Förmlichkeit gewahrt ist, das Schweigen des Protokolls beweist, dass sie nicht gewahrt ist (Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 35. Aufl 2014, § 165 RdNr 5). Gegen den Inhalt der Niederschrift, soweit er Förmlichkeiten betrifft, ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 165 S 2 ZPO iVm § 122 SGG), also der wissentlich falschen Beurkundung (BGH NJW-RR 1994, 386, 387) oder der nachträglichen Fälschung (Reichold aaO). Dass das Sitzungsprotokoll vom 23.2.2015 gefälscht ist, hat der Kläger nicht behauptet.

15

Sollten Beweisanträge nicht zu den Förmlichkeiten iS des § 165 S 1 ZPO iVm § 122 SGG gehören, müsste die gemäß § 415 Abs 1 ZPO iVm § 118 Abs 1 S 1 SGG bestehende Beweiskraft des Protokolls darüber, dass im vorliegenden Fall keine Beweisanträge gestellt worden sind, entkräftet werden. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich indes, dass er den Gegenbeweis iS von § 415 Abs 2 ZPO nicht geführt hat. Das LSG hat die beantragte Protokollberichtigung in Form der Aufnahme eines Beweisantrags in das Protokoll abgelehnt. Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG nicht anfechtbar.

16

An Entscheidungen, die dem Endurteil des LSG vorausgegangen sind, ist das BSG gemäß § 557 Abs 2 ZPO iVm § 202 S 1 SGG gebunden, sofern sie - wie hier - unanfechtbar sind. Eine Bindung an unanfechtbare Vorentscheidungen besteht allerdings nach der Rechtsprechung des BSG bei der Zurückweisung von Befangenheitsanträgen gegen Richter oder Sachverständige und der Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das LSG ausnahmsweise nicht, wenn der Beschwerdeführer im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde einen Verfahrensmangel rügt, der als Folge der beanstandeten Vorentscheidung fortwirkt und damit dem angefochtenen Urteil anhaftet, sofern die Vorentscheidung gegen das Willkürverbot oder ein Verfahrensgrundrecht verstößt (vgl zur Zurückweisung eines Befangenheitsantrags gegen einen Richter: zB BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 1; BSG SozR 4-1100 Art 101 Nr 3; BSG SozR 4-1500 § 60 Nr 6; BSG Beschlüsse vom 9.1.2008 - B 12 KR 24/07 B - Juris, vom 27.10.2009 - B 1 KR 68/09 B - Juris, vom 19.11.2009 - B 11 AL 76/09 B - Juris, vom 11.12.2013 - B 6 KA 36/13 B - Juris und vom 9.4.2014 - B 14 AS 363/13 B - Juris; zur Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs gegen einen Sachverständigen: zB BSG Beschluss vom 24.5.2013 - B 1 KR 50/12 B - Juris; zur Ablehnung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe: zB BSG Beschluss vom 3.12.2013 - B 13 R 447/12 B - Juris; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 21). Ob dies auch in Fällen der Ablehnung von Protokollberichtigungsanträgen gilt, ist indes nicht unzweifelhaft.

17

Nach der Rechtsprechung insbesondere des BGH (Beschluss vom 14.7.2004 - XII ZB 268/03 - Juris RdNr 8; vgl auch BAG Beschluss vom 25.11.2008 - 3 AZB 64/08 - Juris RdNr 10) ist die Beschwerde gegen eine sachliche Berichtigung des Protokolls nicht statthaft, weil das Beschwerdegericht mangels Teilnahme an der Sitzung zu einer Überprüfung nicht imstande sei. Eine Anfechtungsmöglichkeit des Berichtigungsvermerks schließt der BGH (aaO, RdNr 11; vgl auch BAG, aaO RdNr 24) selbst unter dem Gesichtspunkt einer greifbaren Gesetzeswidrigkeit oder einer Verletzung wesentlicher Verfahrensgrundrechte aus. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat das OLG Koblenz (Beschluss vom 19.3.2012 - 5 W 142/12 - Juris RdNr 3) zu Recht ausgeführt, dass das Argument, das Beschwerdegericht könne die inhaltliche Protokollberichtigung durch das Instanzgericht mangels Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung nicht beurteilen, genauso gelte, wenn die Vorinstanz die Protokollberichtigung abgelehnt habe, weil der Inhalt des Berichtigungsantrags sachlich nicht zutreffe.

18

Ob ablehnende Entscheidungen über Protokollberichtigungsanträge im sozialgerichtlichen Verfahren unter den dargestellten Voraussetzungen ausnahmsweise mittelbar überprüfbar sind, bedarf hier letztendlich keiner Entscheidung. Der Kläger hat weder willkürliche Erwägungen des LSG noch eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten vorgetragen.

19

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

20

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Februar 2017 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Wiedergewährung einer Rente aufgrund eines 1974 erlittenen Arbeitsunfalls, den die Beklagte mit der Unfallfolge "Linsenlosigkeit nach perforierender Verletzung des rechten Auges" anerkannt und bis 1985 entschädigt hat. 1985 wurde die Rente nach einer MdE in Höhe von 20 vH unter Auszahlung von 102 468,20 DM gemäß § 604 RVO abgefunden.

2

Die Beklagte lehnte den am 5.6.2011 nach § 44 SGB X sowie nach § 48 SGB X gestellten Überprüfungs- bzw Verschlimmerungsantrag des Klägers nach Einholung eines augenärztlichen Sachverständigengutachtens durch zwei Bescheide vom 16.8.2012 ab. Das Widerspruchsverfahren war erfolglos. Das SG wies die Klage nach Einholung eines weiteren augenärztlichen Sachverständigengutachtens mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei.

3

Der Kläger hat Berufung beim LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt, mit der er die Zahlung einer Rente wegen Eintritts einer wesentlichen Verschlimmerung begehrte. Das LSG hat am 7.2.2017 in Anwesenheit des Klägers und dessen Prozessbevollmächtigten eine mündliche Verhandlung durchgeführt und auf diese mündliche Verhandlung hin die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen einer entschädigungspflichtigen Verschlimmerung seien nicht gegeben, weil keine wesentliche Änderung iS des § 73 Abs 3 SGB VII vorliege. Die aus den Sachverständigengutachten ableitbaren Beeinträchtigungen der Sehschärfe des Klägers ergäben lediglich einen Unfallfolgezustand, der mit einer MdE iHv 25 vH zu bewerten sei. Für eine relevante Entstellung des Gesichts durch die Augenverletzung bzw das Innenschielen gebe es keinerlei Anhaltspunkte. Hiervon habe sich der Senat selbst im Rahmen der mündlichen Verhandlung, bei der der Kläger anwesend gewesen sei, überzeugen können.

4

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er in der mündlichen Verhandlung zwar anwesend gewesen sei, jedoch eine Brille getragen habe. Er sei oftmals durch seinen Prozessbevollmächtigten - von der Richterbank aus gesehen - verdeckt gewesen. Die vom LSG getroffene Feststellung einer fehlenden entstellenden Wirkung habe man vom Richtertisch aus überhaupt nicht beurteilen können. Seine Augenpartie sehe für Dritte auffällig entstellt aus und löse betroffene Blicke im zwischenmenschlichen Kontakt aus. Das LSG habe damit eine heimliche Bewertung des Grades der Entstellung aus der Ferne durchgeführt und so eine Überraschungsentscheidung zu seinen Lasten gefällt. Wenn ihn alle Richter aus der Nähe angesehen hätten, wäre ihre Bewertung anders ausgefallen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass laut Protokoll keine förmliche Augenscheinseinnahme des Entstellungsgrades, also überhaupt keine Beweisaufnahme stattgefunden habe. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl 2010, S 292, 293 betrage die MdE in der Unfallversicherung bei einseitiger Erblindung 25 Prozent, jedoch 30 Prozent, wenn sowohl relevante Komplikationen als auch Erschwernisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlägen, wie zB eine Gesichtsentstellung.

5

II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

6

Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

7

Der Entscheidung des LSG liegt ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zugrunde, weil das LSG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß § 62 Halbs 1 SGG iVm Art 103 GG verletzt hat, indem es das Gesicht des Klägers in Augenschein genommen hat, ohne dies und das Ergebnis der Augenscheinseinnahme dem Kläger vor seiner Entscheidung mitzuteilen.

8

Gemäß § 62 Halbs 1 SGG, der einfachrechtlich das durch Art 103 Abs 1 GG garantierte prozessuale Grundrecht wiederholt, ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren; dies gilt insbesondere für eine die Instanz abschließende Entscheidung, wie das am 7.2.2017 nach mündlicher Verhandlung verkündete Urteil. Demgemäß darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Darüber hinaus verlangt § 107 SGG, dass den Beteiligten der Inhalt einer Beweisaufnahme mitzuteilen ist. Letzteres ist zwar grundsätzlich nicht erforderlich, wenn der Beteiligte bei der Beweisaufnahme anwesend war (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 107 RdNr 9), jedoch kann dies nur dann gelten, wenn dem Beteiligten die Durchführung der Beweisaufnahme bewusst war. Die Mitteilung des Ergebnisses muss jedenfalls vor der Entscheidung erfolgen, damit die Beteiligten ausreichend Zeit für eine Stellungnahme haben (BSG vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - SozR 3-1500 § 62 Nr 5; s auch BSG vom 23.10.2003 - B 4 RA 37/03 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 1 RdNr 7; vgl Müller in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 107 RdNr 11 f). Ansonsten liegt ein Überraschungsurteil vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zum Gegenstand der Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war (vgl BVerwG vom 25.5.2001 - 4 B 81.00 - Buchholz 310 § 108 Abs 2 VwGO Nr 34). Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat Vorrang vor der in § 106 Abs 2 SGG verankerten Beschleunigungspflicht, den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen(so BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG; BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5 S 9; BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 14 S 28; BSG vom 11.12.2002 - B 6 KA 8/02 R - SGb 2003, 152).

9

Das LSG hat den Eindruck, den es vom äußeren Erscheinungsbild des Klägers und damit faktisch aufgrund einer Augenscheinseinnahme, nämlich einer sinnlichen Wahrnehmung, deren Gegenstand nicht der Inhalt einer gedanklichen Erklärung ist (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, aaO, § 118 RdNr 9; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 75. Aufl 2017, Übers § 371 RdNr 4) gewonnen hat, seiner Entscheidung zugrunde gelegt, ohne diesen mit dem Kläger zu erörtern oder auch nur zur Kenntnis mit der Möglichkeit der Stellungnahme zu geben. Letzteres ergibt sich aus der negativen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift (§ 122 SGG iVm § 165 S 1 ZPO), die eine entsprechende Anhörung des Klägers als vorgeschriebene Förmlichkeit eines wesentlichen Vorgangs der Verhandlung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 ZPO) nicht aufführt (BSG vom 8.2.2012 - B 5 RS 76/11 B - Juris RdNr 5; vgl auch BSG vom 23.7.2015 - B 5 R 196/15 B - Juris RdNr 14). Damit musste den Kläger die Verwertung seines äußeren Erscheinungsbildes für die Entscheidung überraschen, weil mit der Durchführung einer Augenscheinseinnahme nach dem Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war und deren Durchführung ihm gegenüber nicht offengelegt wurde.

10

Dahinstehen kann, ob zugleich ein Verstoß gegen § 116 S 1 SGG vorliegt. Diese Norm sowie der damit verbundene Grundsatz der Parteiöffentlichkeit beinhalten, dass die Durchführung einer Beweisaufnahme selbst bei physischer Präsenz eines Beteiligten nicht im Verborgenen "hinter seinem Rücken" erfolgen darf, sondern dieser über die der Beweisaufnahme dienenden Handlungen des Gerichts unterrichtet werden muss (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 118 RdNr 3 und 9), damit er adäquat auf Ergebnisse der Beweisaufnahme und Erkenntnisse, die das Gericht aus der Beweisaufnahme gewinnt, reagieren kann.

11

Keiner Entscheidung bedurfte es schließlich, ob über den Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinaus eine Verletzung des aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip bzw Art 6 EMRK folgenden Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl EGMR vom 27.10.1993 - 37/1992/382/460 - NJW 1995, 1413 - Dombo Beheer; BSG Beschlüsse vom 12.12.2014 - B 10 ÜG 15/14 B - Juris RdNr 8 und vom 17.4.2013 - B 9 V 36/12 B - SozR 4-1500 § 118 Nr 3 RdNr 16) vorliegt, sowie, ob die den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 GG) tangierende Erhebung von Eindrücken des äußeren Erscheinungsbildes ohne Wissen des Betroffenen einer über § 372 ZPO iVm § 118 SGG hinausgehenden besonderen gesetzlichen Grundlage bedurft hätte(vgl LSG Nordrhein-Westfalen vom 8.6.2011 - L 12 AS 201/11 B ER - Juris; Bayerisches LSG vom 25.1.2008 - L 7 AS 72/07 - Juris RdNr 43; vgl auch Mushoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 103 RdNr 60; Bieresborn, SGb 2010, 501, 503, 507; Hammel, ZfSH/SGB 2011, 577, 582).

12

Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

13

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Dezember 2016 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Das LSG Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 6.12.2016 einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung über den Festbetrag hinausgehender Kosten für die Beschaffung von digitalen Hörgeräten für beide Ohren in Höhe von 4500 Euro abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es komme nicht darauf an, ob verfügbare, eigenanteilsfreie Hörgeräte geeignet gewesen seien, die Hörminderung der Klägerin angemessen zu kompensieren, da die Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 SGB V nicht gegeben seien. Die Versorgung mit Hörgeräten stelle keine unaufschiebbare Leistung iS von § 13 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB V dar und auch die Voraussetzungen von § 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V seien nicht erfüllt. Es fehle an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung des Antrags durch die Krankenkasse und der Kostenbelastung des Versicherten, wenn dieser sich unabhängig davon, wie die Entscheidung der Krankenkasse ausfalle, von vornherein auf eine bestimmte Art der Krankenbehandlung durch einen bestimmten Leistungserbringer festgelegt habe und fest entschlossen sei, sich die Leistung auch dann selbst zu beschaffen, wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnen sollte (sog Vorfestlegung). Die Klägerin sei zwar erst nach Bekanntgabe der auf den Festbetrag begrenzten Versorgungszusage der Beklagten mit Bescheid vom 20.1.2010, in der zugleich eine teilweise ablehnende Entscheidung liege, bezüglich der begehrten Hörgeräte eine unbedingte rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Leistungserbringer eingegangen, nämlich am 19.2.2010. Zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 20.1.2010 sei die Klägerin aber bereits dergestalt vorfestgelegt gewesen, dass sie in jedem Fall Hörgeräte von der Hörgeräteakustik-Firma K mit einer bestimmten technischen Ausstattung habe anschaffen wollen, die eigenanteilsfrei zum Festbetrag nicht erhältlich gewesen seien. Dies ergebe sich zur Überzeugung des Senats aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme. Die in der Hörgeräteakustik-Firma K tätig gewesene Zeugin, welche die Klägerin bei der Hörgeräteversorgung beraten und schließlich Hörgeräte mit dem streitigen Eigenanteil von 4500 Euro an die Klägerin abgegeben habe, habe ausgesagt, die Klägerin und ihr Ehemann hätten bereits beim ersten Besuch deutlich gemacht, dass nach ihren Erfahrungen eine Versorgung mit eigenanteilsfreien Geräten nicht in Frage komme. Diese Ausführungen seien schlüssig, plausibel und glaubhaft, weil auch die Klägerin und ihr Ehemann übereinstimmend vorgetragen hätten, sie hätten sich bereits zuvor bei verschiedenen Hörgeräteakustikern erkundigt und viele Geräte ausprobiert und seien zu dem Schluss gekommen, dass nur eine bestimmte technische Ausstattung den Hörverlust der Klägerin angemessen kompensieren könne. Deshalb sei die Klägerin für andere, insbesondere eigenanteilsfreie Geräte schon bei ihrem ersten Besuch bei der Hörgeräteakustik-Firma K nicht mehr offen gewesen und habe solche Geräte auch nicht mehr ausprobiert. Die Aussage der Klägerin und ihres Ehemannes, sie sei nicht auf Geräte mit bestimmten Eigenschaften fixiert, sondern wäre auch mit einem Kassengerät zufrieden gewesen, wenn dieses ein ausreichendes Sprachverständnis beim Fernsehhören und Telefonieren ermöglicht hätte, halte der Senat für eine Schutzbehauptung. Denn beide hätten ausgesagt, es habe nach den bisherigen Erfahrungen kein eigenanteilsfreies Gerät mit der erforderlichen Funktionalität in Bezug auf Fernsehhören und Telefonieren gegeben. Schließlich habe die Klägerin selbst in einem Schriftsatz ausgeführt, die bei der Hörgeräteakustik-Firma tätige Zeugin habe in der Verkaufsberatung gesagt, sie (die Klägerin) brauche eigenanteilsfreie Geräte nicht auszuprobieren, weil diese nicht über eine solche Technik verfügten. Von einer solchen Beratung seitens der Zeugin habe sich der Senat allerdings nicht überzeugen können, weil diese eine entsprechende Behauptung der Klägerin ausdrücklich bestritten habe. Der Senat verkenne zwar nicht das Eigeninteresse der Zeugin an ihrer Aussage, die Glaubwürdigkeit der Zeugin stehe jedoch nicht in Frage. Vielmehr dränge es sich auf, dass die Klägerin und ihr Ehemann ihren Vortrag zu einer angeblich fortbestehenden Offenheit gegenüber Kassengeräten nachträglich modifiziert hätten. Zur Testung eigenanteilsfreier Hörgeräte hätten beide kein konstantes Aussageverhalten gezeigt. Die Klägerin selbst habe in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich und kaum nachvollziehbar vorgetragen, sodass lediglich habe protokolliert werden können, dass sie nicht mehr wisse, wann Kassengeräte getestet worden seien.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG richtet sich Beschwerde der Klägerin. Sie beruft sich neben einer Abweichung von der Rechtsprechung des BSG und einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auch auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG).

3

Zum Vorliegen eines Verfahrensmangels hat die an fortschreitender schwerer beidseitiger Schwerhörigkeit leidende Klägerin ausgeführt, sie habe sowohl im Termin vom 12.4.2016 (Erörterungstermin) als auch in dem Termin zur mündlichen Verhandlung vom 6.12.2016 wegen ihres schlechten Sprachverständnisses gebeten, ihr Hörsystem nutzen zu dürfen. Dazu gehöre ein Mikrofon, das die Stimme des Sprechenden jeweils direkt an das im Ohr befindliche Hörgerät weiterleite. Dies trage bei ihr zu einem deutlich verbesserten Sprachverständnis bei. In beiden Terminen sei ihre Bitte vom Gericht abgelehnt worden, unter Hinweis darauf, dass bei der Verwendung von Mikrofonen Tonaufnahmen Dritter nicht auszuschließen seien. Weil sie die an sie herangetragenen Fragestellungen nicht sogleich verstanden habe, habe sie mehrfach nachfragen müssen und nicht so deutlich antworten können wie bei vollständigem Sprachverstehen. Deshalb habe sie den Eindruck eines unsicheren bzw widersprüchlichen Aussageverhaltens erweckt. Dies sei in die Würdigung ihrer Aussage durch das Berufungsgericht eingeflossen.

4

Der Senat hat als Beschwerdegericht zu diesem Vorbringen dienstliche Stellungnahmen der Berufsrichter des Berufungsgerichts eingeholt. Der Berichterstatter, der den Erörterungstermin durchgeführt hat, hat ausgeführt, er sei sich zwar nicht sicher, es könne aber durchaus sein, dass der Ehemann der Klägerin oder ihr Prozessbevollmächtigter es für möglich erachtet hätten, dass sich die Verständnismöglichkeiten der Klägerin verbessern könnten, wenn sie ein solches Gerät im Erörterungstermin benutzen könne und dass er daraufhin spontan Bedenken dahingehend geäußert habe, dass es sich möglicherweise um unzulässige Tonaufnahmen handeln könnte. Darüber sei jedoch nicht lange und intensiv gesprochen worden. Eine Diskussion über die rechtliche Zulässigkeit der Benutzung eines solchen Gerätes habe nach seiner Erinnerung nicht stattgefunden. Die Klägerin habe auch keinen Antrag auf Benutzung eines solchen Gerätes gestellt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung habe der Prozessbevollmächtigte dann zu Beginn der Sitzung behauptet, die Benutzung des genannten Gerätes sei im Erörterungstermin abgelehnt bzw untersagt worden. In der mündlichen Verhandlung sei aber die Verwendung des Gerätes oder eines Mikrofons zu keinem Zeitpunkt Thema gewesen. Nach seiner Erinnerung - diesbezüglich sei er sich jedoch ebenfalls nicht sicher - habe der Prozessbevollmächtigte vorgetragen, die Klägerin habe das Gerät zur mündlichen Verhandlung nicht mitgebracht. Jedenfalls habe der Senat über die Zulässigkeit der Verwendung des Gerätes nicht beraten oder entschieden und dies daher auch nicht abgelehnt oder untersagt. Verständnisschwierigkeiten habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Er habe den Eindruck gehabt, sie habe dem Verlauf der Verhandlung gut folgen und insgesamt ausreichend hören können.

5

Ein weiterer Berufsrichter des Senats hat in einer dienstlichen Äußerung zur mündlichen Verhandlung ausgeführt, der Senat sei mit einem solchen Antrag der Klägerin nicht befasst gewesen und habe daher auch nicht darüber entschieden. Er habe den Eindruck gehabt, dass die Klägerin den Ausführungen des Senats, der Beteiligten und der Zeugen habe folgen können.

6

II. Die Beschwerde der Klägerin führt zur Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG. Die Klägerin hat einen Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

7

1. Nach § 202 SGG iVm § 186 Abs 1 GVG erfolgt die Verständigung mit einer hör- oder sprachbehinderten Person in der mündlichen Verhandlung nach ihrer Wahl mündlich, schriftlich oder mit Hilfe einer die Verständigung ermöglichenden Person, die vom Gericht hinzuzuziehen ist. Für die mündliche und schriftliche Verständigung hat das Gericht die geeigneten technischen Hilfsmittel bereitzustellen. Die hör- oder sprachbehinderte Person ist auf ihr Wahlrecht hinzuweisen. Entsprechend Art 13 Abs 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (BGBl 2008 II, 1419, 1420, UN-BRK) soll diese spezielle Vorschrift zur Kommunikation im gerichtlichen Verfahren den gleichberechtigten und wirksamen Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen gewährleisten (vgl Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland vom 3.8.2011 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen, S 35 f; Roller, SGb 2016, 17, 20).

8

Eine Verletzung dieser Bestimmung steht zur Überzeugung des Senats fest. Insbesondere setzt diese Verfahrensvorschrift keinen Antrag der hörbehinderten Person voraus. Die Hörbehinderung der Klägerin war dem LSG bereits aus den Verfahrensakten bekannt, schließlich geht es in der Sache um ihre Versorgung mit Hörgeräten. Das LSG hätte die Klägerin daher nach § 186 Abs 1 S 3 GVG darauf hinweisen müssen, dass ihr ein Wahlrecht zustand, ob die Verhandlung mündlich, schriftlich oder mit Hilfe einer die Verständigung ermöglichenden Person erfolgen solle. Es hätte darüber hinaus die für eine mündliche Verständigung geeigneten technischen Hilfsmittel bereitstellen müssen, sofern dies nicht nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich gewesen wäre (§ 186 Abs 2 GVG). Zu den geeigneten technischen Hilfsmitteln, die das Gericht zur Verfügung zu stellen hat, gehören insbesondere Tonübertragungseinrichtungen, bei denen die Beteiligten in Mikrofone sprechen (vgl hierzu Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses <6. Ausschuss> zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksache 14/8763 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten, BT-Drucks 14/9266 S 40; Wickern in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl 2010, § 186 GVG RdNr 14). Zweckmäßiger Weise erfolgt ein solcher gerichtlicher Hinweis bereits rechtzeitig vor dem Termin, damit entsprechende Vorkehrungen getroffen werden können. Das ist nach dem Akteninhalt nicht erfolgt. Auch im Erörterungstermin oder im Termin zur mündlichen Verhandlung ist ein Hinweis seitens des LSG nicht erfolgt, denn ein solcher ist weder protokolliert worden, noch behauptet einer der Beteiligten einen solchen Hinweis. Vielmehr hält es der Berichterstatter sogar für möglich, dass er im Erörterungstermin auf die Bitte um Benutzung eines solchen mitgebrachten Gerätes spontan Bedenken wegen unzulässiger Tonaufnahmen geäußert haben könnte.

9

2. Trotz der in den vorbeschriebenen Umständen zum Ausdruck kommenden besonderen Schwere der Verletzung von § 202 SGG iVm § 186 GVG liegt kein absoluter Revisionsgrund iS des nach § 202 SGG entsprechend anzuwendenden § 547 ZPO vor. Es handelt sich vielmehr um einen Verstoß gegen eine spezielle Form der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl hierzu BSG Beschluss vom 17.8.2009 - B 11 AL 11/09 B - Juris; BSG Beschluss vom 8.10.1992 - 5 BJ 160/92 - SozR 3-1720 § 189 Nr 1). Eine Verletzung des Grundsatzes auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) begründet die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nur dann, wenn die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann. Hierzu genügt es, dass die Möglichkeit einer anderen Entscheidung besteht (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 62 RdNr 11; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 160 RdNr 23).

10

Vorliegend lässt sich nicht ausschließen, dass das Berufungsgericht bei hinreichender Gewährung rechtlichen Gehörs zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Das LSG hat seine Entscheidung ganz wesentlich damit begründet, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung widersprüchlich und kaum nachvollziehbar vorgetragen habe, sodass schon die Protokollierung ihres Vortrags schwierig gewesen sei. Das Berufungsgericht ist deshalb in allen Punkten, die es für entscheidungserheblich gehalten hat, nicht den Angaben der Klägerin, sondern allein der Aussage der Zeugin gefolgt und dies, obwohl das Berufungsgericht durchaus ein Eigeninteresse der Zeugin, sich gegenüber der Beklagten im Hinblick auf die Hörsysteme-Vereinbarung als vertragstreu darzustellen, erkannt hat. Es lässt sich daher nicht ausschließen, dass das LSG zu einer anderen Bewertung der Glaubwürdigkeit der Klägerin und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben gekommen wäre, wenn die Klägerin aufgrund eines besseren Verständnisses der an sie gerichteten Fragen beim Gericht einen anderen Eindruck hinterlassen hätte. Denn das Berufungsgericht ist wegen der Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin insbesondere auch deren Angaben nicht gefolgt, die Zeugin habe ihr in der Verkaufsberatung gesagt, eigenanteilsfreie Geräte könnten den gewünschten Erfolg des Sprachverstehens, des Telefonierens mit Handy und Festnetz und das Fernsehhören nicht gewährleisten und bräuchten deshalb nicht ausprobiert zu werden. Eine dahingehende Beratung seitens der Zeugin ist aber naheliegend, wenn - wie der gerichtlich bestellte Gutachter zweifelsfrei ausgeführt hat - es zum Versorgungszeitpunkt tatsächlich keine eigenanteilsfreien Hörgeräte mit diesen Funktionen gab. Die Zweifel des LSG an der Glaubwürdigkeit der Klägerin waren für die Entscheidung in Bezug auf die Vorfestlegung der Klägerin auf teurere als eigenanteilsfreie Geräte selbst dann ausschlaggebend, wenn das LSG von dem Gutachten nicht überzeugt gewesen sein sollte und eine hinreichende Versorgung der Klägerin mit eigenanteilsfreien Geräten zum Versorgungszeitpunkt für möglich hielt. Denn einen nachvollziehbaren Grund dafür, dass die Klägerin ausschließlich auf teurere Geräte vorfestgelegt war, obgleich eigenanteilsfreie Geräte mit gleicher Funktionalität zur Verfügung gestanden hätten, hat das LSG nicht festgestellt.

11

Durch die Annahme eines Verfahrensfehlers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs wird hier nicht der Rechtssatz nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG umgangen, nach dem die Revisionszulassung nicht auf eine Verletzung der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 S 1 SGG gestützt werden kann. Denn die freie Beweiswürdigung muss auf der Basis eines fairen Verfahrens unter Einhaltung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs erfolgen.

12

3. Der Grundsatz, dass der Betroffene alles getan haben muss, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl stRspr zB BVerwG NJW 1989, 601, BVerwG NJW 1992, 3185; BSG Beschluss vom 25.11.2008 - B 5 R 308/08 B - RdNr 7 - zitiert nach Juris sowie BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22; BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1), wirkt sich hier nicht zu Lasten der Klägerin aus. Er kann als Ausdruck des Gebots eines fairen Verfahrens nämlich nur unter Berücksichtigung der Wertungen des Gesetzgebers Anwendung finden, die sich hier insbesondere aus der detaillierten Regelung des § 186 GVG im Lichte des Art 13 Abs 1 UN-BRK ergeben. Danach gehört es - zumindest wenn das entscheidende Gericht genügend Hinweise auf eine schwere Schwerhörigkeit eines Beteiligten hat und dieser sogar um die Nutzung einer selbst mitgebrachten besonderen technischen Ausstattung bittet - nicht zu den Obliegenheiten des Beteiligten, die Nutzung von Geräten, die ihm eine hinreichende Verständigung vor Gericht ermöglichen, von sich aus und ohne Hinweis des Gerichts auf die Regelung des § 186 GVG förmlich beim Gericht zu beantragen. Vielmehr weist diese Vorschrift die Fürsorgepflicht zur Sicherstellung ausreichender Verständigungsmöglichkeiten in vollem Umfang dem Gericht zu.

13

4. In dem wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG zu beachten haben, dass dem geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch eine Vorfestlegung der Klägerin nicht entgegengehalten werden kann, wenn die Klägerin lediglich eine unzureichende Versorgung abgelehnt hat. Denn ein Hörgerät, von dem aufgrund seiner technischen Ausstattung von vornherein feststeht, dass es den Anforderungen an eine ausreichende Versorgung nicht gerecht werden kann, muss ein Versicherter nicht austesten.

14

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es bei der Hörgeräteversorgung allgemein üblich geworden ist, dass sich Rehabilitationsträger ihrer leistungsrechtlichen Verantwortung durch sog "Verträge zur Komplettversorgung" nahezu vollständig entziehen und die Versorgung mit Hörgeräten dadurch praktisch nicht mehr vom Rehabilitationsträger selbst vorgenommen, sondern in die Hände der Leistungserbringer "outgesourced" wird (vgl hierzu BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19, RdNr 20; dem sich der 5. Senat in vollem Umfang angeschlossen hat: BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7 RdNr 35, 36), kann es der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie genau den von der Beklagten durch entsprechende Verträge mit den Leistungserbringern eingerichteten Beratungsweg einhielt und sich sogar bei mehreren Leistungserbringern beraten ließ. Eine dem Kostenerstattungsanspruch entgegenstehende Vorfestlegung kommt bei dieser Sachlage nur in Betracht, wenn der Versicherte von vornherein jede sinnvolle, dh auf eine ausreichende Versorgung gerichtete Beratung durch Leistungserbringer ablehnt, weil er bereits so fest auf ein bestimmtes Leistungsbegehren fixiert ist, dass eine offene Prüfung und Beratung insgesamt obsolet erscheint.

15

Deshalb wird das LSG aufzuklären haben, ob die Klägerin eine ausreichende Versorgung zum Festbetrag abgelehnt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG haben Versicherte der GKV Anspruch auf diejenige Hörgeräteversorgung, die die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt, soweit dies im Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil bietet. Dies gilt auch dann, wenn eine solche Versorgung zum Festbetrag nicht gewährleistet ist (BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2). Deshalb müsste die Klägerin zunächst dazu beraten worden sein, mit welchen zum Festbetrag erhältlichen Geräten eine nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder möglich gewesen wäre. Es müsste ihr zumindest ein solches Gerät konkret zum Austesten angeboten und vorgestellt worden sein. Erst wenn die Klägerin das Austesten eines solchen Gerätes abgelehnt haben sollte, obwohl die von ihr gewünschte Versorgung keine im Alltagsleben relevante funktionale Verbesserung bietet, sondern allenfalls Vorteile im Bereich von Bequemlichkeit, Komfort oder Ästhetik, kann von einer Vorfestlegung ausgegangen werden. Die Ablehnung eines unzureichenden Angebotes kann der Klägerin demgegenüber nicht entgegengehalten werden. Denn ein Versicherter ist nicht verpflichtet, Hörgeräte auszutesten, bei denen von vornherein feststeht, dass damit die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder nicht erreichbar ist.

16

5. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung des LSG vorbehalten.

(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten.

Tenor

1. Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 18. August 2011 - 715 C 85/11 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes und wird aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek zurückverwiesen.

2. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 - 715 C 85/11 - ist damit gegenstandslos.

3. ...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen, die im amtsgerichtlichen Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a ZPO) ohne Durchführung einer - vom Beschwerdeführer zuvor beantragten - mündlichen Verhandlung ergangen sind.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer erwarb am 6. Juni 2009 bei der "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH, Hamburg" ein "iPhone 3G". Da das Gerät zu diesem Zeitpunkt nur in Verbindung mit einem Vertrag über Telekommunikationsdienste der "T-Mobile Deutschland GmbH" verkauft wurde, schloss der Beschwerdeführer gleichzeitig einen Nutzungsvertrag mit der "T-Mobile Deutschland GmbH" zum Tarif "Complete XS" mit einer vereinbarten Laufzeit von 24 Monaten.

3

2. Mit Telefax vom 1. Juni 2011 erklärte der Beschwerdeführer, "den zum 06.06.2011 auslaufenden Vertrag" zu kündigen. Mit Schreiben vom 8. Juni 2011 teilte die "Telekom Deutschland GmbH" dem Beschwerdeführer jedoch mit, dass eine Kündigung erst zum 6. Juni 2012 möglich sei. Da der Beschwerdeführer die dreimonatige Kündigungsfrist vor Ablauf der "Mindestlaufzeit" (6. Juni 2011) nicht eingehalten habe, habe sich der Vertrag inzwischen um weitere zwölf Monate verlängert.

4

3. Am 13. Juni 2011 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Amtsgericht Hamburg-Wandsbek gegen die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" mit dem Antrag festzustellen, dass die Laufzeit seines "Telekom Deutschland Handy-Vertrages" vom 6. Juni 2009 mit Ablauf des 6. Juni 2011 beendet sei und nicht bis zum 6. Juni 2012 fortbestehe. Dies ergebe sich aus der ausdrücklich vereinbarten Vertragslaufzeit von 24 Monaten. Etwa entgegenstehende allgemeine Geschäftsbedingungen seien nicht erkennbar, wären angesichts der individualvertraglich vereinbarten Befristung auf 24 Monate aber jedenfalls nicht wirksam einbezogen worden. Bei Vertragsschluss am 6. Juni 2009 habe der "Beauftragte der Beklagten" die Vertragslaufzeit von 24 Monaten auf ausdrücklichen Wunsch des Beschwerdeführers in den Vertrag aufgenommen, da dieser die monatliche Belastung mit einem Benutzungsentgelt von 24,95 Euro nur so lange wie nach den Kaufbedingungen unbedingt erforderlich habe akzeptieren wollen.

5

4. Mit Verfügung vom 24. Juni 2011 ordnete das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Durchführung des vereinfachten Verfahrens nach § 495a ZPO an und teilte den Parteien zugleich mit, ein Termin zur mündlichen Verhandlung werde nur dann anberaumt, wenn eine der Prozessparteien dies ausdrücklich unter Hinweis auf § 495a ZPO beantrage oder das Gericht dies für erforderlich halte.

6

5. Die Beklagte rügte mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 8. Juli 2011 die fehlende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek, da die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand am Konzernsitz in Bonn habe.

7

Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 beantragte der Beschwerdeführer unter Hinweis auf § 495a Satz 2 ZPO die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Zur Sache replizierte er, die Zuständigkeit des Gerichts sei gegeben, da der streitgegenständliche Kaufvertrag nicht mit der "Telekom Deutschland GmbH" als Konzernmutter, sondern mit der rechtlich selbstständigen "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" abgeschlossen worden sei, die ihren Geschäftssitz im Gerichtsbezirk des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek habe. Selbst wenn aber für die vorliegende Klage die "Telekom Deutschland GmbH" in Anspruch zu nehmen sei, bliebe es bei der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts unter dem Gesichtspunkt des besonderen Gerichtsstands der Niederlassung nach § 21 ZPO.

8

Mit Schriftsatz vom 22. Juli 2011 hielt der Prozessbevollmächtigte der beklagten "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" seine Rüge der örtlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek aufrecht. Die Beklagte unterhalte im Zuständigkeitsbereich des angerufenen Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek weder ihren Hauptsitz noch Niederlassungen im Sinne des § 21 ZPO. Darüber hinaus sei die Beklagte nicht passivlegitimiert: Der streitgegenständliche Mobilfunkvertrag sei mit der "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen aufgegangen in der "Telekom Deutschland GmbH", abgeschlossen worden. In dem Vertragsformular über Telekommunikationsdienstleistungen sei stets von der "T-Mobile Deutschland GmbH" als Vertragspartnerin die Rede. Die Klage sei auch im Übrigen unbegründet. Bei den im Vertrag genannten 24 Monaten handle es sich um eine "Mindestvertragslaufzeit". Gemäß Ziffer 11 der vom Beschwerdeführer akzeptierten "Allgemeinen Geschäftsbedingungen Mobilfunk-Dienst (Privatkunden)" gelte für Vertragsverhältnisse mit einer vereinbarten Mindestlaufzeit von 24 Monaten für beide Vertragspartner eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten, soweit schriftlich mit einer Frist von drei Monaten frühestens zum Ablauf der Mindestvertragslaufzeit gekündigt werde. Eine individualvertragliche Abrede dahingehend, dass das Vertragsverhältnis fix nach 24 Monaten ende, werde bestritten.

9

6. Durch Urteil vom 18. August 2011 wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Klage ohne mündliche Verhandlung ab. Die Klage sei mangels Feststellungsinteresses unzulässig und zudem unbegründet. Ein Rechtsschutzinteresse für das Feststellungsbegehren bestehe nur gegenüber dem Vertragspartner hinsichtlich des Vertrags über Telekommunikationsdienstleistungen. Dies sei aber nicht die Beklagte, sondern vielmehr die vormalige "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen "Telekom Deutschland GmbH". Mit der Beklagten habe der Beschwerdeführer lediglich den Handy-Kaufvertrag abgeschlossen. Ob die Beklagte eine selbstständige Niederlassung im Bezirk des Gerichts habe, sei deshalb nicht entscheidungserheblich.

10

Das Urteil vom 18. August 2011 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 26. August 2011, dem Beschwerdeführer am 29. August 2011 zugestellt.

11

Vor Zustellung des Urteils machten die Parteien jeweils noch schriftsätzlich Ausführungen zur Sache (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 22. August 2011; Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 28. August 2011).

12

7. Mit Schreiben vom 29. August 2011 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und rügte die unterlassene Durchführung der von ihm beantragten mündlichen Verhandlung. In der mündlichen Verhandlung wäre er entsprechenden Hinweisen des Gerichts gefolgt und hätte die Klage auf die "Telekom Deutschland GmbH" als Zweitbeklagte erstreckt und hilfsweise die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Bonn beantragt.

13

8. Mit Beschluss vom 8. September 2011wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Anhörungsrüge zurück. Der Beschwerdeführer mache zwar zutreffend geltend, dass auf seinen Antrag hin nach § 495a Satz 2 ZPO mündlich hätte verhandelt werden müssen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei jedoch nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden, da das Vorbringen nichts dafür hergebe, dass das Gericht in einer mündlichen Verhandlung zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können. Dem für den Fall einer mündlichen Verhandlung in Aussicht gestellten Hilfsantrag auf Verweisung an das Amtsgericht Bonn wäre nicht stattzugeben gewesen. Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek ergebe sich aus § 21 ZPO, da es sich bei dem Telekom Shop, in dem der Beschwerdeführer das iPhone erworben habe, um eine selbstständige Niederlassung handele. Abschließend führte das Gericht aus: "Auch eine Klageerweiterung hätte die Erfolgsaussicht der vorliegenden Klage nicht verbessert. Eine etwaige örtliche Unzuständigkeit des Gerichts hinsichtlich der eventuellen weiteren Beklagtenpartei hätte sich nicht auf die Beklagte erstreckt."

II.

14

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht habe entgegen der zwingenden Vorschrift des § 495a Satz 2 ZPO keine mündliche Verhandlung durchgeführt und damit seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Auf die im Urteil des Amtsgerichts vom 18. August 2011 dargelegten Bedenken gegen die Zulässigkeit und Begründetheit der Feststellungsklage hätte das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach § 139 ZPO im Rahmen der materiellen Prozessleitung hinweisen und dem Beschwerdeführer damit Gelegenheit geben müssen, die Klage zu erweitern sowie - hilfsweise - einen Verweisungsantrag nach § 281 ZPO zu stellen. Eine Abweisung der Klage als unzulässig und unbegründet hätte insoweit vermieden werden können. Ferner hätte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme über das Zustandekommen des streitgegenständlichen Vertrags und über das Vorliegen einer Individualabrede stattfinden können.

III.

15

Die Behörde für Justiz und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg sowie die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem Bundesverfassungsgericht hat die Verfahrensakte des Amtsgerichts vorgelegen.

IV.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

17

1. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

18

a) aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Der "Mehrwert" der Verbürgung besteht darin, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (BVerfGE 119, 292 <296>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>, stRspr). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>).

19

bb) Die einfachrechtlichen Gewährleistungendes rechtlichen Gehörs in den Verfahrensordnungen können über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen. Insoweit stellt eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen nicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, es sei denn, das Gericht hätte bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt. Danach bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (BVerfGE 60, 305 <310>; vgl. auch BVerfGE 54, 94 <97, 99>; 74, 228 <233 f.>).

20

cc) Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt nicht unmittelbar ein verfassungskräftiger Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>). Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 67, 208 <211>; 74, 1 <5>; 89, 381 <391>; BVerfGK 4, 83 <86>; zur Diskussion der Anforderungen, die im Hinblick auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung aus Art. 6 EMRK folgen, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 169 ff. m.w.N.).

21

Für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, begründet aber der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht der Partei auf Äußerung in dieser Verhandlung (BVerfGE 42, 364 <370>). Jedenfalls für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattzufinden hat, einem Verfahrensbeteiligten aber die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zur Äußerung in dieser Verhandlung dadurch versagt wird, dass das Gericht überraschend ohne mündliche Verhandlung entscheidet, kann nichts anderes gelten (vgl. BFH, Urteil vom 5. November 1991 - VII R 64/90 -, juris; so auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 103 Rn. 52). Eine derartige Anwendung der Verfahrensbestimmung, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreibt, verkennt die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör schon deshalb, weil in einem solchen Fall die Verfahrensbeteiligten darauf vertrauen durften, ihr von Art. 103 Abs. 1 GG geschütztes Äußerungsrecht noch in der mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können. Dieses prozessuale Vertrauen wird in grober Weise enttäuscht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 - 2 BvR 547/07 -, juris), wenn das Gericht Verfahrensbeteiligten die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Äußerung in einer mündlichen Verhandlung unversehens dadurch abschneidet, dass es seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trifft.

22

b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen den in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör.

23

Stellt ein Verfahrensbeteiligter in einem Verfahren, in dem der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt und das Gericht daher sein Verfahren gemäß § 495a Satz 1 ZPO nach billigem Ermessen bestimmen kann, einen Antrag auf mündliche Verhandlung, muss diese durchgeführt werden (§ 495a Satz 2 ZPO). Einen solchen Antrag hatte der Beschwerdeführer hier gestellt. Das Gericht hat darauf nicht reagiert, sondern ohne weiteres entschieden, ohne die gesetzlich vorgesehene mündliche Verhandlung durchzuführen. Mit dieser Verfahrensweise hat es das rechtlich geschützte Vertrauen des Beschwerdeführers, Tatsachen und Rechtsauffassungen noch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung unterbreiten zu können, in überraschender Weise enttäuscht und die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt.

24

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn es dem Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge geleistet hätte. Dass der Beschwerdeführer seine Klage erweitert und - gegebenenfalls nach einer beantragten Verweisung des Rechtsstreits - obsiegt hätte, erscheint zumindest denkbar.

25

3. Ob - etwa unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Hinweispflichten (vgl. BVerfGE 42, 64 <72 ff.>; 84, 188 <189 f.>) - Art. 103 Abs. 1 GG noch in weiteren Hinsichten verletzt ist und neben der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren oder gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) vorliegt, bedarf keiner Entscheidung.

26

4. Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist das angegriffene Urteil vom 18. August 2011 aufzuheben und das Verfahren zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 ist damit gegenstandslos.

27

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

28

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.