Bundesgerichtshof Urteil, 15. Juli 2010 - IX ZR 180/09

bei uns veröffentlicht am15.07.2010
vorgehend
Landgericht Krefeld, 2 O 184/07, 15.10.2008
Oberlandesgericht Düsseldorf, 23 U 184/08, 24.09.2009

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 180/09
Verkündet am:
15. Juli 2010
Kluckow
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Zum Abschluss eines stillschweigenden Stillhalteabkommens in der Steuerberaterhaftung.
BGH, Urteil vom 15. Juli 2010 - IX ZR 180/09 - OLG Düsseldorf
LG Krefeld
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 15. Juli 2010 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ganter, den Richter Vill,
die Richterin Lohmann, die Richter Dr. Fischer und Dr. Pape

für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 23. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. September 2009 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Die Klägerin, die auf Grund des notariellen Spaltungs- und Übernahmevertrages vom 12. Juli 1999 Betriebsvermögen der U. GmbH (fortan U. ) übernommen hatte, macht gegenüber der beklagten Wirtschaftsprüfer -, Steuerberater- und Anwaltssozietät (Beklagte zu 1, künftig Beklagte) und deren drei Gesellschaftern (Beklagte zu 2 bis 4) Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Beratung geltend.
2
Die U. , die von der Beklagten in allen steuerlichen Angelegenheiten beraten wurde, fasste in ihrer Gesellschafterversammlung am 15. Dezember 1994 einen von der Beklagten ausgearbeiteten Gewinnverteilungsbeschluss. Danach sollte eine Körperschaftssteuerminderung auf der Grundlage einer offenen Ausschüttung in Höhe von 81.008.000 DM aus dem mit Körperschafts- steuer belasteten Eigenkapital der Gesellschaft zum 31. Dezember 1993 geltend gemacht werden. Nachdem das zuständige Finanzamt die begehrte Körperschaftssteuerminderung nicht anerkannt hatte, schlossen die U. und die Beklagte am 21. Mai/20. Juni 1995 eine schriftliche Vereinbarung. Danach erklärte die U. , sie werde die Beklagte im Hinblick auf etwaige Beratungsfehler nur in Höhe der zu Gunsten der Beklagten bestehenden Haftpflichtversicherungssumme von 5.000.000 DM in Anspruch nehmen. Auf darüber hinausgehende Ersatzansprüche werde verzichtet. Mit Schreiben vom 13. Mai 1998 teilte die Beklagte der U. mit, sie verzichte hinsichtlich der im Raum stehenden Ersatzansprüche wegen fehlerhafter Beratung auf die Einrede der Verjährung mit folgender Maßgabe: Die Verzichtserklärung gelte für die Zeit bis einen Monat nach rechtskräftigem Abschluss des Rechtsmittelverfahrens gegen die Körperschaftssteuerveranlagung 1993.
3
gegen Die den ablehnenden Bescheid des Finanzamts eingelegten Rechtsmittel, bei der die U. von der Beklagten vertreten wurde, blieben letztinstanzlich ohne Erfolg. Mit Gerichtsbescheid vom 22. August 2006 wies der Bundesfinanzhof die Klage der U. ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Gewinnverteilungsbeschluss vom 15. Dezember 1994 sei nichtig. Im Hinblick auf den - auch von der Beklagten erstellten - Jahresabschluss 1993 hätte zwei Wochen ab der Beschlussfassung vom 15. Dezember 1994 ein hinsichtlich der Änderungen uneingeschränkter Bestätigungsvermerk erteilt werden müssen.
4
Mit ihrer am 25. Juli 2007 eingegangenen Klage nimmt die Klägerin die Beklagten wegen fehlerhafter Beratung auf Zahlung der Haftpflichtsumme sowie von außergerichtlichen Anwaltskosten in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage wegen eingetretener Verjährung abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

Entscheidungsgründe:


5
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg.

I.


6
Das Rechtsmittel erstreckt sich in zulässiger Weise auch auf den Beklagten zu 4. Der Umstand, dass der Beklagte zu 4 in der Revisionsbegründung - im Gegensatz zur Revisionsschrift, in der er ausdrücklich genannt wird - nicht angeführt wird, ist unschädlich. Denn dort heißt es, dass "die Klägerin ihre Klage in vollem Umfang weiter" verfolge. Auch sonst bietet die Revisionsbegründung keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sich die bisher geltend gemachte Haftung des Beklagten zu 4 erledigt haben könnte. Eine Beschränkung der Revision auf die Beklagten zu 1 bis 3 liegt mithin nicht vor.

II.


7
Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die von den Beklagten erhobene Einrede der Verjährung sei begründet. Die Verjährung der geltend gemachten Ansprüche wegen fehlerhafter Beratung richte sich nach § 68 StBerG, weil der Schwerpunkt der von der Beklagten erbrachten Beratung auf steuerrechtlichem Gebiet liege. Es könne offen bleiben, ob für den Verjährungsbeginn der Be- scheid vom 16. Mai 1995 oder der Körperschaftssteuerbescheid vom 30. Juli 1997 maßgeblich sei, weil auch im zweiten Fall die Verjährungsfrist lange vor Klageerhebung, nämlich am 2. August 2000, geendet habe. Ansprüche aus dem Gesichtspunkt der Sekundärhaftung seien spätestens am 2. August 2003 verjährt gewesen. Der Verzicht auf die Einrede der Verjährung komme nicht zum Tragen, weil die vereinbarte Frist nicht eingehalten sei.
8
Ein verjährungshemmendes Stillhalteabkommen sei zwischen den Parteien nicht zu Stande gekommen. Die Klägerin habe die von ihr geltend gemachte Abrede im Anschluss an die schriftliche Vereinbarung vom 21. Mai/ 20. Juni 1995 nicht nachzuweisen vermocht. Die diesbezügliche Beweiswürdigung des Landgerichts sei nicht zu beanstanden. Gegen eine konkludente Einigung spreche nicht nur die eingeschränkte schriftliche Vereinbarung über eine Haftungsbegrenzung, sondern auch der Umstand, dass die Parteien nach diesem Gespräch bis zur Verzichtserklärung der Beklagten vom 13. Mai 1998 weiterverhandelt hätten. Die Umstände, dass die Beklagte der Bitte der U. , den möglichen Schadensfall dem Haftpflichtversicherer zu melden, nachgekommen sei, die Beklagte eine Begrenzung der Haftung auf ihre Versicherungssumme angestrebt habe, sich die U. hierauf eingelassen habe und vereinbart worden sei, dass die Beklagte gegen den ablehnenden Bescheid des Finanzamtes Rechtsmittel im Namen der U. durchführe, ergeben weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit rechtsgeschäftliche Willenserklärungen, die als Stillhalteabkommen ausgelegt werden könnten.
9
Die Einrede der Verjährung sei keine unzulässige Rechtsausübung. Ein grober Verstoß gegen Treu und Glauben liege nicht vor. Der Umstand, dass das von der Beklagten geführte finanzgerichtliche Verfahren erst etwa acht Jahre nach Abgabe der Verjährungsverzichtserklärung der Beklagten geendet ha- be, führe zu keiner zusätzlichen Aufklärungsverpflichtung der Beklagten. Nach Ablauf der Verjährung für Sekundäransprüche sei es allein Aufgabe der Klägerin gewesen, rechtzeitig verjährungshemmende Maßnahmen zu treffen.

III.


10
Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung stand.
11
1. Nach dem hier noch anwendbaren (Art. 229 § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 13, § 6 EGBGB) § 68 StBerG verjährt der Anspruch der Auftraggeberin auf Schadensersatz aus dem zwischen ihr und dem Steuerberater bestehenden Vertragsverhältnis in drei Jahren von dem Zeitpunkt an, in dem der Anspruch entstanden ist.
12
a) Wenn der Steuerberater einen fehlerhaften Rat in einer Steuersache erteilt und dieser sich in einem für den Mandanten nachteiligen Steuerbescheid niedergeschlagen hat, ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine als Schaden anzusehende Verschlechterung der Vermögenslage des Mandanten grundsätzlich erst mit der Bekanntgabe des Bescheids eingetreten. Das gilt für alle Schadensfälle in Steuersachen, gleichgültig, ob die Schadensursache dazu führt, dass gegen den Mandanten ein Leistungsbescheid der Finanzbehörde ergeht oder ein Steuervorteil durch einen Feststellungs -(Grundlagen-) Bescheid versagt wird (BGHZ 119, 69, 72 f; 129, 368, 388; BGH, Urt. v. 18. Dezember 1997 - IX ZR 180/96, WM 1998, 779, 780; v. 23. Januar 2003 - IX ZR 180/01, WM 2003, 936, 939; v. 12. Februar 2004 - IX ZR 246/02, WM 2004, 2034, 2037; v. 3. November 2005 - IX ZR 208/04, WM 2006, 590, 591; v. 13. Dezember 2007 - IX ZR 130/06, WM 2008, 611, 612 Rn. 11).
13
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht zutreffend für den Beginn der Verjährungsfrist auf den Erlass der von ihm angeführten Bescheide vom 16. Mai 1995 und vom 30. Juli 1997 abgestellt. Danach endete die Primärverjährung spätestens zum 2. August 2000, die vom Berufungsgericht in Betracht gezogenen Sekundärverjährung zum 2. August 2003 (vgl. Zugehör in Zugehör/Fischer/Sieg/Schlee, Handbuch der Anwaltshaftung, 2. Aufl. Rn. 1406).
14
2. Im Rahmen revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme konnte das Berufungsgericht davon ausgehen , dass der von der Klägerin geltend gemachte Abschluss eines Stillhalteabkommens nicht hinreichend nachgewiesen ist.
15
a) Ein verjährungshemmendes (§§ 202 Abs. 1, 205 BGB a.F.) Stillhalteabkommen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur anzunehmen , wenn der Schuldner aufgrund einer rechtsgeschäftlichen Vereinbarung berechtigt sein soll, vorübergehend die Leistung zu verweigern, und der Gläubiger sich umgekehrt der Möglichkeit begeben hat, seine Ansprüche jederzeit weiterzuverfolgen (BGH, Urt. v. 14. November 1991 - IX ZR 31/91, NJW 1992, 836; v. 5. November 1992 - IX ZR 200/91, NJW 1993, 1320, 1323; v. 23. April 1998 - III ZR 7/97, NJW 1998, 2274, 2277; v. 16. Dezember 1998 - VIII ZR 197/97, NJW 1999, 1022, 1023; v. 27. Januar 1999 - XII ZR 113/97, NJW 1999, 1101, 1103; v. 6. Juli 2000 - IX ZR 134/09, WM 2000, 1812, 1813.). Eine solche Vereinbarung kann auch „stillschweigend“ durch schlüssiges Verhalten getroffen werden (BGH, Urt. v. 9. September 1999 - IX ZR 334/97, WM 1999, 2358, 2359; v. 6. Juli 2000 - IX ZR 134/09, aaO; Zugehör in Zugehör/ Fischer/Sieg/Schlee, aaO Rn. 1414). Hierfür muss aber ein äußeres Verhalten festgestellt werden, welches als Ausdruck einer solchen einvernehmlichen Entschließung ausgelegt werden kann (BGH, Urt. v. 14. November 1991 - IX ZR 31/91, aaO; v. 6. Juli 2000 - IX ZR 134/09, aaO; Mennemeyer in Fahrendorf/Mennemeyer/Terbille, Die Haftung des Rechtsanwalts 8. Aufl. Rn. 1335).
16
b) Diese Rechtsgrundsätze hat das Berufungsgericht beachtet. Entgegen der Ansicht der Revision kann dem Berufungsgericht bei seiner Würdigung der einzelnen Umstände weder ein Verstoß gegen § 286 Abs. 1 ZPO noch eine Verletzung der Auslegungsgrundsätze nach §§ 133, 157 BGB angelastet werden.
17
Die von der Revision für ein äußeres Verhalten angeführte Einigung der Parteien über die Prozessvertretung der U. durch die Beklagte sowie der Abschluss der Haftungsbegrenzungsvereinbarung sind Umstände, die das Berufungsgericht ausdrücklich angesprochen hat. Es konnte im Rahmen zulässiger tatrichterlicher Würdigung der angeführten Verhaltensweisen und Absprachen den Schluss ziehen, dass die von der Klägerin geltend gemachte konkludente Einigung hieraus nicht zwingend abgeleitet werden kann. Der Umstand, dass die U. mit der Haftungsbegrenzungsvereinbarung vom 21. Mai/20. Juni 1995 ein deutliches Entgegenkommen gegenüber der Beklagten gezeigt hat, wurde vom Berufungsgericht berücksichtigt. Er zwingt entgegen der Ansicht der Revision unter dem Gesichtspunkt der Denkgesetze und des allgemeinen Erfahrungssatzes keineswegs dazu, als Gegenleistung eine konkludente Bereitschaft zum Abschluss eines Stillhalteabkommens mit verjährungsrechtlicher Relevanz anzunehmen. Das Berufungsgericht durfte im Rahmen der Würdigung des maßgeblichen Prozessstoffes auch das spätere Verhalten der Parteien, insbesondere bei Abgabe der Verzichtserklärung vom 13. Mai 1998, zur Ermittlung des Inhalts der im Mai/Juni 1995 abgegebenen Erklärungen mit einbeziehen (vgl. BGH, Urt. v. 6. Juli 2000 - IX ZR 134/09, aaO, S. 1814). Daher ist seine Annahme, dass nach der Lebenserfahrung die Beklagte, hätte sie tatsächlich die von der Klägerin geltend gemachte Stillhalteabrede getroffen, hierauf im Jahre 1998 Bezug genommen und nicht unabhängig davon und ohne das Abkommen zu erwähnen, eine schriftliche Verjährungsverzichtserklärung abgegeben hätte, nicht von der Hand zu weisen. Die verbleibenden Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens der Klägerin gehen zu deren Lasten, weil der Mandant , der unter Berufung auf verjährungshemmende Umstände die Verjährungseinrede des Rechtsanwalts abwehren will, hierfür die Darlegungs- und Beweislast trägt (BGH, Urt. v. 5. November 1992 - IX ZR 200/91, WM 1993, 610, 615; v. 20. Juni 1996 - IX ZR 106/95, WM 1996, 1832, 1833).
18
3. Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Beklagten unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) nicht gehindert sind, die Einrede der Verjährung zu erheben.
19
a) Die Verjährungseinrede des Rechtsanwalts oder Steuerberaters gegenüber einem Schadensersatzanspruch des Mandanten ist unbeachtlich, wenn sie gegen das Verbot der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) verstößt (BGHZ 94, 380, 391 f; BGH, Urt. v. 29. Februar 1996 - IX ZR 180/95, WM 1996, 1106, 1108). Der Zweck der Verjährungsregelung verlangt, an diesen Einwand strenge Anforderungen zu stellen, so dass dieser einen groben Verstoß gegen Treu und Glauben voraussetzt (BGH, Urt. v. 1. Oktober 1987 - IX ZR 202/86, WM 1988, 127, 128; v. 29. Februar 1996 - IX ZR 180/95, aaO; v. 21. Juni 2001 - IX ZR 73/00, WM 2001, 1677, 1679). Dies kann der Fall sein, wenn der Schuldner, sei es auch nur unabsichtlich, den Gläubiger von der rechtzeitigen Einklagung der Regressforderung abgehalten hat, etwa indem er den Gläubiger nach objektiven Maßstäben zur Annahme veranlasst hat, der Anspruch werde auch ohne Rechtsstreit erfüllt oder nur mit Einwendungen in der Sache bekämpft (BGH, Urt. v. 29. Februar 1996 - IX ZR 180/95, aaO; v. 21. Juni 2001 - IX ZR 73/00, WM 2001, 1677, 1679). Ein solcher Vertrauenstatbestand kann vorliegen, wenn der haftpflichtige Anwalt den geschädigten Mandanten vor Eintritt der Verjährung bewogen hat, im Hinblick auf den Regressanspruch den Ausgang eines anderen Verfahrens abzuwarten (BGH, Urt. v. 29. Februar 1996 - IX ZR 180/95, aaO). Die Verjährungseinrede ist aber nicht allein deswegen ein Rechtsmissbrauch, weil der Anwalt zum geltend gemachten Schadensersatzanspruch geschwiegen hat oder der Mandant der Ansicht war, er könne mit der Klageerhebung noch zuwarten (BGH, Urt. v. 1. Oktober 1987 - IX ZR 202/86, aaO, WM 1988, 127, 128; Zugehör in Zugehör/Fischer/ Sieg/Schlee, aaO, Rn. 1437).
20
Die b) Voraussetzungen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens hat das Berufungsgericht zu Recht verneint. Ein grober Verstoß gegen Treu und Glauben kann der Beklagten nicht angelastet werden. Ein Ausnahmetatbestand im Sinne der angeführten Rechtsprechung liegt nicht vor.
21
4. Eine gesonderte Hinweispflicht der Beklagten auf die Notwendigkeit einer unverzüglichen Klageerhebung nach Abschluss des von der Beklagten geführten finanzgerichtlichen Verfahrens bestand nicht. Aus der Übernahme des Einspruchs- und Prozessmandats folgte entgegen der Ansicht der Revision keine gesonderte Hinweispflicht. Die Beklagte durfte davon ausgehen, dass die Klägerin über die Verjährungsproblematik im Bilde und deshalb nicht belehrungsbedürftig war. Soweit das Berufungsgericht dieses Ergebnis im Hinblick auf eine zu vermeidende "Tertiärhaftung" begründet hat, ist dies zwar rechtlich unzutreffend, hier aber nicht tragend.
Ganter Vill Lohmann
Fischer Pape
Vorinstanzen:
LG Krefeld, Entscheidung vom 15.10.2008 - 2 O 184/07 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 24.09.2009 - I-23 U 184/08 -

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Bundesgerichtshof Urteil, 15. Juli 2010 - IX ZR 180/09 zitiert 8 §§.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 242 Leistung nach Treu und Glauben


Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 133 Auslegung einer Willenserklärung


Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 157 Auslegung von Verträgen


Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Zivilprozessordnung - ZPO | § 286 Freie Beweiswürdigung


(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 675 Entgeltliche Geschäftsbesorgung


(1) Auf einen Dienstvertrag oder einen Werkvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, finden, soweit in diesem Untertitel nichts Abweichendes bestimmt wird, die Vorschriften der §§ 663, 665 bis 670, 672 bis 674 und, wenn dem Verpflichte

Bürgerliches Gesetzbuch - BGB | § 202 Unzulässigkeit von Vereinbarungen über die Verjährung


(1) Die Verjährung kann bei Haftung wegen Vorsatzes nicht im Voraus durch Rechtsgeschäft erleichtert werden. (2) Die Verjährung kann durch Rechtsgeschäft nicht über eine Verjährungsfrist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn hinaus

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(1) Auf einen Dienstvertrag oder einen Werkvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat, finden, soweit in diesem Untertitel nichts Abweichendes bestimmt wird, die Vorschriften der §§ 663, 665 bis 670, 672 bis 674 und, wenn dem Verpflichteten das Recht zusteht, ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, auch die Vorschriften des § 671 Abs. 2 entsprechende Anwendung.

(2) Wer einem anderen einen Rat oder eine Empfehlung erteilt, ist, unbeschadet der sich aus einem Vertragsverhältnis, einer unerlaubten Handlung oder einer sonstigen gesetzlichen Bestimmung ergebenden Verantwortlichkeit, zum Ersatz des aus der Befolgung des Rates oder der Empfehlung entstehenden Schadens nicht verpflichtet.

(3) Ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, die Anmeldung oder Registrierung des anderen Teils zur Teilnahme an Gewinnspielen zu bewirken, die von einem Dritten durchgeführt werden, bedarf der Textform.

(1) Die Verjährung kann bei Haftung wegen Vorsatzes nicht im Voraus durch Rechtsgeschäft erleichtert werden.

(2) Die Verjährung kann durch Rechtsgeschäft nicht über eine Verjährungsfrist von 30 Jahren ab dem gesetzlichen Verjährungsbeginn hinaus erschwert werden.

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schriftliche Verfahren durch die Richter Prof. Dr. Kayser, Raebel,
Prof. Dr. Gehrlein, Dr. Pape und Grupp

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 9. Juni 2009 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage hinsichtlich der am 22. November 2007 und am 2. Januar 2008 erfolgten Zahlungen zuzüglich Zinsen abgewiesen worden ist.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 30. Oktober 2008 wie folgt geändert: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 838,58 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2. Februar 2008 zu zahlen.
Die weitergehenden Rechtsmittel des Klägers werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 53 vom Hundert und die Beklagte 47 vom Hundert zu tragen.
Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 1.769 € festgesetzt.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Der Kläger ist Insolvenzverwalter in dem auf Eigenantrag vom 9. Januar 2008 am 1. Februar 2008 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der M. GmbH & Co. KG (fortan: Schuldnerin). Ab Oktober 2007 war die Schuldnerin zahlungsunfähig. Bereits seit Januar 2007 zahlte sie die der Beklagten geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge verspätet. Diese werden jeweils am drittletzten Bankarbeitstag des laufenden Kalendermonats fällig. Den Beitrag für den Monat Oktober 2007 überwies die Schuldnerin, nachdem ihr am 15. November 2007 eine Rückstandsanzeige der Beklagten nebst Androhung der Zwangsvollstreckung zugegangen war, am 22. November 2007. Den Betrag für den Monat November erbrachte sie nach Eingang einer entsprechenden Mahnung vom 19. Dezember 2007 am 2. Januar 2008. Am 4. Januar 2008 überwies die Schuldnerin den Betrag für den Monat Dezember 2007, ohne zuvor besonders gemahnt worden zu sein.
2
Der Kläger hat die drei Zahlungen angefochten. Die Beklagte hat die Arbeitgeberanteile aus den Zahlungen vom 22. November 2007 und 2. Januar 2008 erstattet. Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger Rückgewähr der Arbeitnehmeranteile aus den ersten beiden Zahlungen (838,58 €) sowie Rückgewähr der Zahlung vom 4. Januar 2008 über 930,42 €, insgesamt 1.769 € zuzüglich Zinsen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Entscheidungsgründe:


3
Die Revision ist bezüglich der ersten beiden Zahlungen begründet.

I.


4
Das Berufungsgericht hat gemeint: Hinsichtlich der Zahlungen der Arbeitnehmeranteile für die Monate Oktober und November 2007 in Höhe von insgesamt 838,58 € scheitere die Insolvenzanfechtung an der fehlenden objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO). Insoweit greife schon die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Neuregelung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV ein, wonach die Zahlung des vom Beschäftigen zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus seinem Vermögen erbracht gelte. Hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile in der Zahlung vom 4. Januar 2008 gelte dasselbe. Bezüglich des Arbeitgeberanteils der letzten Zahlung scheide eine Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO aus, weil der Zahlung keine Mahnung vorausgegangen sei und die Schuldnerin ohne Vollstreckungsdruck eine fällige Forderung ausgeglichen, mithin kongruent gehandelt habe. Die Zahlung vom 4. Januar 2008 sei auch nicht als kongruente Deckung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO anfechtbar. Die Schuldnerin habe in den Vormonaten zwar häufig verspätet und erst nach Mahnung unter Vollstreckungsankündigung geleistet. Daraus sei aus Sicht der Beklagten jedoch nicht zwingend auf deren Zahlungsunfähigkeit zu schließen gewesen, weil es zu keinem dauerhaften Rückstand gekommen sei. Andere Umstände, die auf eine Kenntnis der Beklagten hätten schließen lassen, habe der Kläger nicht vorgetragen.

II.


5
Dies hält rechtlicher Prüfung nur teilweise stand.
6
Nach 1. der erst nach Erlass des Berufungsurteils ergangenen Grundsatzentscheidung des Senats vom 5. November 2009 (IX ZR 233/08, ZIP 2009, 2301 f Rn. 8 ff, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ) kann die Zahlung der Arbeitnehmeranteile zu den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen als Rechtshandlung des Arbeitgebers im Insolvenzverfahren über dessen Vermögen als mittelbare Zuwendung an die Einzugsstelle angefochten werden (siehe hierzu auch BGH, Beschl. v. 17. Februar 2010 - IX ZR 66/09, Rn. 1, zitiert nach juris). Danach kann die objektive Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) auch hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile nicht verneint werden. Die Schuldnerin hat die Zahlungen vom 22. November 2007 und 2. Januar 2008 auf den durch die vorausgegangenen Schreiben der Beklagten erzeugten Druck hin erbracht , dass die Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorstehe (vgl. BGH, Urt. v. 15. Mai 2003 - IX ZR 194/02, ZIP 2003, 1304, 1305; v. 20. November 2008 - IX ZR 130/07, ZIP 2009, 83, 84 Rn. 13). Beide Zahlungen sind deshalb als inkongruente Deckungen gemäß § 131 Abs. 1 InsO anfechtbar. Die erste Zahlung fällt in den von § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO geschützten Zeitraum; die Anfechtung greift durch, weil die Schuldnerin zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 140 Abs. 1 InsO) zahlungsunfähig war. Die zweite Zahlung aus dem letzten Monat vor Insolvenzantragstellung ist auch nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar, ohne dass es weiterer Voraussetzungen bedarf.

7
2. Die Zahlung vom 4. Januar 2008, durch welche die Schuldnerin den Sozialversicherungsbeitrag für den Monat Dezember 2007 ausgeglichen hat, kann als kongruente Deckung nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO angefochten werden. Zu ihnen gehört die Kenntnis zumindest von den Umständen, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners schließen lassen. Diese Kenntnis hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint.
8
a) Entgegen der Auffassung der Revision kann der zur Inkongruenz führende Vollstreckungsdruck nicht durch Rückstandsanzeigen bezüglich der vorausgegangenen Monatsbeiträge erzeugt werden. Inkongruenz wird durch den zumindest unmittelbar bevorstehenden hoheitlichen Zwang begründet (BGHZ 136, 309, 311; 157, 242, 248). Der Schuldner leistet unter dem Druck einer unmittelbar drohenden Zwangsvollstreckung nur dann, wenn der Gläubiger zum Ausdruck gebracht hat, dass er alsbald die Mittel der Zwangsvollstreckung einsetzen werde, sofern der Schuldner die Forderung nicht erfülle. Dies beurteilt sich aus der objektivierten Sicht des Schuldners (BGH, Urt. v. 7. Dezember 2006 - IX ZR 157/05, ZIP 2007, 136 Rn. 8). Die Schuldnerin hätte deshalb zur Zeit ihrer Leistung damit rechnen müssen, dass ohne sie die Beklagte nach dem kurz bevorstehenden Ablauf einer letzten Zahlungsfrist mit der ohne weiteres zulässigen Zwangsvollstreckung sofort beginne (vgl. BGHZ 157, 242, 248; BGH, Urt. v. 7. Dezember 2006, aaO S. 137 Rn. 9). Dies war hier nicht der Fall. Die Beklagte hatte der Schuldnerin Anfang Januar 2008 noch nicht angekündigt , dass sie unmittelbar zur Zwangsvollstreckung schreiten werde, wenn der Beitrag für den Monat Dezember 2007 nicht unverzüglich ausgeglichen werde. Die Forderung war frühestens am 21. Dezember 2007 (Freitag vor den Weihnachtsfeiertagen ) fällig geworden. Bereits am dritten Bankarbeitstag im Neuen Jahr hatte die Schuldnerin für den Ausgleich gesorgt. Zu diesem Zeitpunkt war aus objektiver Sicht allenfalls mit einer Rückstandsanzeige, aber noch nicht mit Vollstreckungsmaßnahmen zu rechnen.
9
Die b) Feststellung der subjektiven Voraussetzungen der Anfechtung - hier der Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit (§ 130 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO) - obliegt zuvörderst dem Tatrichter (vgl. BGHZ 180, 63, 68 Rn. 15). Allerdings deutet gerade die Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die typischerweise nur dann nicht bei Fälligkeit ausgeglichen werden, wenn die erforderlichen Geldmittel hierfür nicht vorhanden sind, gemäß § 130 Abs. 2 InsO auf die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens hin (BGHZ 149, 178, 187; 180, 63, 68 Rn. 16; BGH, Urt. v. 12. Oktober 2006 - IX ZR 228/03, ZIP 2006, 2222, 2224 Rn. 24). Das hat das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat indes gemeint , der Umstand, dass die Rückstände auf die Rückstandsanzeigen hin immer wieder kurzfristig ausgeglichen worden seien und daher in keinem Fall Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung tatsächlich eingeleitet werden mussten, lasse die schleppende Zahlungsweise der Schuldnerin trotz der teilweisen Strafbewehrung der Forderungen noch nicht als derart gewichtig erscheinen , dass daraus zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden müsse. Die Verspätungen könnten ebenso gut als "Schlendrian" oder als Zeichen eines vorübergehenden Liquiditätsengpasses verstanden werden. Diese Würdigung, welche Ausmaß und Entwicklung des Rückstandes im Verhältnis zum späteren Anfechtungsgegner mit in den Blick nimmt, kann sich auf die Rechtsprechung des Senats stützen (vgl. BGHZ 149, 178, 187). Das Revisionsgericht hat sie als Tatfrage hinzunehmen.
Kayser Raebel Gehrlein
Pape Grupp
Vorinstanzen:
AG Bochum, Entscheidung vom 30.10.2008 - 83 C 179/08 -
LG Bochum, Entscheidung vom 09.06.2009 - I-9 S 174/08 -

(1) Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

(2) An gesetzliche Beweisregeln ist das Gericht nur in den durch dieses Gesetz bezeichneten Fällen gebunden.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IX ZR 134/09 Verkündet am:
17. Juni 2010
Preuß
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf das am 18. Mai 2010 geschlossene
schriftliche Verfahren durch die Richter Prof. Dr. Kayser, Raebel,
Prof. Dr. Gehrlein, Dr. Pape und Grupp

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 9. Juni 2009 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage hinsichtlich der am 22. November 2007 und am 2. Januar 2008 erfolgten Zahlungen zuzüglich Zinsen abgewiesen worden ist.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 30. Oktober 2008 wie folgt geändert: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 838,58 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2. Februar 2008 zu zahlen.
Die weitergehenden Rechtsmittel des Klägers werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 53 vom Hundert und die Beklagte 47 vom Hundert zu tragen.
Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 1.769 € festgesetzt.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Der Kläger ist Insolvenzverwalter in dem auf Eigenantrag vom 9. Januar 2008 am 1. Februar 2008 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der M. GmbH & Co. KG (fortan: Schuldnerin). Ab Oktober 2007 war die Schuldnerin zahlungsunfähig. Bereits seit Januar 2007 zahlte sie die der Beklagten geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge verspätet. Diese werden jeweils am drittletzten Bankarbeitstag des laufenden Kalendermonats fällig. Den Beitrag für den Monat Oktober 2007 überwies die Schuldnerin, nachdem ihr am 15. November 2007 eine Rückstandsanzeige der Beklagten nebst Androhung der Zwangsvollstreckung zugegangen war, am 22. November 2007. Den Betrag für den Monat November erbrachte sie nach Eingang einer entsprechenden Mahnung vom 19. Dezember 2007 am 2. Januar 2008. Am 4. Januar 2008 überwies die Schuldnerin den Betrag für den Monat Dezember 2007, ohne zuvor besonders gemahnt worden zu sein.
2
Der Kläger hat die drei Zahlungen angefochten. Die Beklagte hat die Arbeitgeberanteile aus den Zahlungen vom 22. November 2007 und 2. Januar 2008 erstattet. Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger Rückgewähr der Arbeitnehmeranteile aus den ersten beiden Zahlungen (838,58 €) sowie Rückgewähr der Zahlung vom 4. Januar 2008 über 930,42 €, insgesamt 1.769 € zuzüglich Zinsen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Entscheidungsgründe:


3
Die Revision ist bezüglich der ersten beiden Zahlungen begründet.

I.


4
Das Berufungsgericht hat gemeint: Hinsichtlich der Zahlungen der Arbeitnehmeranteile für die Monate Oktober und November 2007 in Höhe von insgesamt 838,58 € scheitere die Insolvenzanfechtung an der fehlenden objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO). Insoweit greife schon die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Neuregelung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV ein, wonach die Zahlung des vom Beschäftigen zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags als aus seinem Vermögen erbracht gelte. Hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile in der Zahlung vom 4. Januar 2008 gelte dasselbe. Bezüglich des Arbeitgeberanteils der letzten Zahlung scheide eine Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO aus, weil der Zahlung keine Mahnung vorausgegangen sei und die Schuldnerin ohne Vollstreckungsdruck eine fällige Forderung ausgeglichen, mithin kongruent gehandelt habe. Die Zahlung vom 4. Januar 2008 sei auch nicht als kongruente Deckung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO anfechtbar. Die Schuldnerin habe in den Vormonaten zwar häufig verspätet und erst nach Mahnung unter Vollstreckungsankündigung geleistet. Daraus sei aus Sicht der Beklagten jedoch nicht zwingend auf deren Zahlungsunfähigkeit zu schließen gewesen, weil es zu keinem dauerhaften Rückstand gekommen sei. Andere Umstände, die auf eine Kenntnis der Beklagten hätten schließen lassen, habe der Kläger nicht vorgetragen.

II.


5
Dies hält rechtlicher Prüfung nur teilweise stand.
6
Nach 1. der erst nach Erlass des Berufungsurteils ergangenen Grundsatzentscheidung des Senats vom 5. November 2009 (IX ZR 233/08, ZIP 2009, 2301 f Rn. 8 ff, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ) kann die Zahlung der Arbeitnehmeranteile zu den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen als Rechtshandlung des Arbeitgebers im Insolvenzverfahren über dessen Vermögen als mittelbare Zuwendung an die Einzugsstelle angefochten werden (siehe hierzu auch BGH, Beschl. v. 17. Februar 2010 - IX ZR 66/09, Rn. 1, zitiert nach juris). Danach kann die objektive Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) auch hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile nicht verneint werden. Die Schuldnerin hat die Zahlungen vom 22. November 2007 und 2. Januar 2008 auf den durch die vorausgegangenen Schreiben der Beklagten erzeugten Druck hin erbracht , dass die Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorstehe (vgl. BGH, Urt. v. 15. Mai 2003 - IX ZR 194/02, ZIP 2003, 1304, 1305; v. 20. November 2008 - IX ZR 130/07, ZIP 2009, 83, 84 Rn. 13). Beide Zahlungen sind deshalb als inkongruente Deckungen gemäß § 131 Abs. 1 InsO anfechtbar. Die erste Zahlung fällt in den von § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO geschützten Zeitraum; die Anfechtung greift durch, weil die Schuldnerin zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 140 Abs. 1 InsO) zahlungsunfähig war. Die zweite Zahlung aus dem letzten Monat vor Insolvenzantragstellung ist auch nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar, ohne dass es weiterer Voraussetzungen bedarf.

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2. Die Zahlung vom 4. Januar 2008, durch welche die Schuldnerin den Sozialversicherungsbeitrag für den Monat Dezember 2007 ausgeglichen hat, kann als kongruente Deckung nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO angefochten werden. Zu ihnen gehört die Kenntnis zumindest von den Umständen, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners schließen lassen. Diese Kenntnis hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei verneint.
8
a) Entgegen der Auffassung der Revision kann der zur Inkongruenz führende Vollstreckungsdruck nicht durch Rückstandsanzeigen bezüglich der vorausgegangenen Monatsbeiträge erzeugt werden. Inkongruenz wird durch den zumindest unmittelbar bevorstehenden hoheitlichen Zwang begründet (BGHZ 136, 309, 311; 157, 242, 248). Der Schuldner leistet unter dem Druck einer unmittelbar drohenden Zwangsvollstreckung nur dann, wenn der Gläubiger zum Ausdruck gebracht hat, dass er alsbald die Mittel der Zwangsvollstreckung einsetzen werde, sofern der Schuldner die Forderung nicht erfülle. Dies beurteilt sich aus der objektivierten Sicht des Schuldners (BGH, Urt. v. 7. Dezember 2006 - IX ZR 157/05, ZIP 2007, 136 Rn. 8). Die Schuldnerin hätte deshalb zur Zeit ihrer Leistung damit rechnen müssen, dass ohne sie die Beklagte nach dem kurz bevorstehenden Ablauf einer letzten Zahlungsfrist mit der ohne weiteres zulässigen Zwangsvollstreckung sofort beginne (vgl. BGHZ 157, 242, 248; BGH, Urt. v. 7. Dezember 2006, aaO S. 137 Rn. 9). Dies war hier nicht der Fall. Die Beklagte hatte der Schuldnerin Anfang Januar 2008 noch nicht angekündigt , dass sie unmittelbar zur Zwangsvollstreckung schreiten werde, wenn der Beitrag für den Monat Dezember 2007 nicht unverzüglich ausgeglichen werde. Die Forderung war frühestens am 21. Dezember 2007 (Freitag vor den Weihnachtsfeiertagen ) fällig geworden. Bereits am dritten Bankarbeitstag im Neuen Jahr hatte die Schuldnerin für den Ausgleich gesorgt. Zu diesem Zeitpunkt war aus objektiver Sicht allenfalls mit einer Rückstandsanzeige, aber noch nicht mit Vollstreckungsmaßnahmen zu rechnen.
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Die b) Feststellung der subjektiven Voraussetzungen der Anfechtung - hier der Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit (§ 130 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 InsO) - obliegt zuvörderst dem Tatrichter (vgl. BGHZ 180, 63, 68 Rn. 15). Allerdings deutet gerade die Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, die typischerweise nur dann nicht bei Fälligkeit ausgeglichen werden, wenn die erforderlichen Geldmittel hierfür nicht vorhanden sind, gemäß § 130 Abs. 2 InsO auf die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens hin (BGHZ 149, 178, 187; 180, 63, 68 Rn. 16; BGH, Urt. v. 12. Oktober 2006 - IX ZR 228/03, ZIP 2006, 2222, 2224 Rn. 24). Das hat das Berufungsgericht nicht verkannt. Es hat indes gemeint , der Umstand, dass die Rückstände auf die Rückstandsanzeigen hin immer wieder kurzfristig ausgeglichen worden seien und daher in keinem Fall Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung tatsächlich eingeleitet werden mussten, lasse die schleppende Zahlungsweise der Schuldnerin trotz der teilweisen Strafbewehrung der Forderungen noch nicht als derart gewichtig erscheinen , dass daraus zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden müsse. Die Verspätungen könnten ebenso gut als "Schlendrian" oder als Zeichen eines vorübergehenden Liquiditätsengpasses verstanden werden. Diese Würdigung, welche Ausmaß und Entwicklung des Rückstandes im Verhältnis zum späteren Anfechtungsgegner mit in den Blick nimmt, kann sich auf die Rechtsprechung des Senats stützen (vgl. BGHZ 149, 178, 187). Das Revisionsgericht hat sie als Tatfrage hinzunehmen.
Kayser Raebel Gehrlein
Pape Grupp
Vorinstanzen:
AG Bochum, Entscheidung vom 30.10.2008 - 83 C 179/08 -
LG Bochum, Entscheidung vom 09.06.2009 - I-9 S 174/08 -

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.