Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Juni 2018 - XII ZB 559/17
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. Juni 2018 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene leidet an einer fortgeschrittenen Demenz und ist zu einer freien Willensbildung nicht mehr in der Lage. Er hat eine auf den 3. Januar 2016 datierte umfassende Vorsorgevollmacht unterschrieben, in der zwei seiner Töchter - die Beteiligten zu 3 und 4 - als Bevollmächtigte und seine anderen beiden Töchter - die Beteiligten zu 1 und 2 - als Ersatzbevollmächtigte benannt sind.
- 2
- Mit Schreiben vom 9. März 2016 hat die Beteiligte zu 1 die Einrichtung einer Betreuung angeregt. Die Vollmacht vom 3. Januar 2016 hält sie für unwirksam.
- 3
- Das Amtsgericht hat die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt und das Verfahren eingestellt. Die hiergegen von der Beteiligten zu 1 eingelegte (vom Landgericht unzutreffend als sofortige Beschwerde bezeichnete) Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Beteiligte zu 1 weiterhin die Einrichtung einer Betreuung, hilfsweise einer Kontrollbetreuung , für den Betroffenen.
II.
- 4
- Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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- 1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
- 6
- Eine Betreuung für den Betroffenen sei nicht erforderlich, weil durch die Vorsorgevollmacht die Möglichkeit bestehe, die Belange des Betroffenen ebenso gut wie durch eine Betreuung zu besorgen. Die Unwirksamkeit der Vollmacht könne nicht positiv festgestellt werden, weil eine Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung nicht sicher feststellbar sei. Auch durchgreifende Bedenken gegen die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr seien nicht ersichtlich. Die bei den Beteiligten zu 1 und zu 4 bestehenden Zweifel an der Wirksamkeit der Vollmacht stünden dem nicht entgegen.
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- 2. Diese Ausführungen beruhen auf verfahrensfehlerhaft getroffenen Feststellungen. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben ist.
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- a) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschluss vom 23. August 2017 - XII ZB 611/16 - FamRZ 2017, 1865 Rn. 6 mwN).
- 9
- Auf dieser gesetzlichen Grundlage ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht es, wenn die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verbleiben, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers , wenn die verbleibenden Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschluss vom 23. August 2017 - XII ZB 611/16 - FamRZ 2017, 1865 Rn. 7 mwN).
- 10
- b) Gemessen hieran kann die Entscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben.
- 11
- aa) Zwar wurde eine Betreuung für den Betroffenen letztlich nicht angeordnet. Bei der für die Prüfung, ob ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist, erforderlichen ex-ante-Betrachtung (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 11. Dezember 2013 - XII ZB 280/11 - FamRZ 2014, 378 Rn. 8) war jedoch davon auszugehen, dass der von der möglicherweise anzuordnenden Betreuung erfasste Aufgabenkreis in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Lebensbereiche des Betroffenen umfassen und die einzelnen, verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebenssituation keinen nennenswerten eigenverantwortlichen Handlungsspielraum mehr belassen würden. Zwar hatte die Beteiligte zu 1 zunächst nur eine Betreuung in dem Aufgabenkreis Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten , Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post sowie Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten angeregt. Schon in dem vom Amtsgericht eingeholten Gutachten ist jedoch zusätzlich die Übertragung der Gesundheitsfürsorge auf einen Betreuer sowie die Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes vorgeschlagen worden. Im weiteren Verfahren hat sich der Betroffene als eindeutig geschäftsunfähig herausgestellt. Er ist in sämtlichen Lebensbereichen nicht mehr in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten ist nur unterblieben, weil Amtsgericht und Beschwerdegericht die erteilte Vorsorgevollmacht für wirksam und ausreichend angesehen haben, um die Belange des Betroffenen ebenso gut wie eine Betreuung zu wahren. Damit war Gegenstand des Verfahrens ein Auf- gabenkreis, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war.
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- bb) Da die Interessen des Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können.
- 13
- cc) Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 16. März 2016 - XII ZB 203/14 - NJW 2016, 1828 Rn. 11). Weil das Landgericht entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist.
- 14
- 3. Gemäß § 74 Abs. 5 und Abs. 6 Satz 2 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
- 15
- 4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung , zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Vorinstanzen:
AG Speyer, Entscheidung vom 31.01.2017 - 73 XVII 86/16 -
LG Frankenthal (Pfalz), Entscheidung vom 06.10.2017 - 1 T 165/17 -
Annotations
(1) Das Gericht hat dem Betroffenen einen geeigneten Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen erforderlich ist. Die Bestellung ist in der Regel erforderlich, wenn
- 1.
von der persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 278 Abs. 4 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 abgesehen werden soll oder - 2.
die Bestellung eines Betreuers oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts gegen den erklärten Willen des Betroffenen erfolgen soll.
(2) Von der Bestellung kann in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Die Nichtbestellung ist zu begründen.
(3) Der Verfahrenspfleger hat die Wünsche, hilfsweise den mutmaßlichen Willen des Betroffenen festzustellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen. Er hat den Betroffenen über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren und ihn bei Bedarf bei der Ausübung seiner Rechte im Verfahren zu unterstützen. Er ist nicht gesetzlicher Vertreter des Betroffenen.
(4) Als Verfahrenspfleger ist eine natürliche Person zu bestellen. Wer Verfahrenspflegschaften im Rahmen seiner Berufsausübung führt, soll nur dann zum Verfahrenspfleger bestellt werden, wenn keine andere geeignete Person zur Verfügung steht, die zur ehrenamtlichen Führung der Verfahrenspflegschaft bereit ist.
(5) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers soll unterbleiben oder aufgehoben werden, wenn die Interessen des Betroffenen von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten vertreten werden.
(6) Die Bestellung endet, sofern sie nicht vorher aufgehoben wird, mit der Rechtskraft der Endentscheidung oder mit dem sonstigen Abschluss des Verfahrens.
(7) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers oder deren Aufhebung sowie die Ablehnung einer derartigen Maßnahme sind nicht selbständig anfechtbar.
(8) Dem Verfahrenspfleger sind keine Kosten aufzuerlegen.
(1) Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde an sich statthaft ist und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, ist die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
(2) Ergibt die Begründung des angefochtenen Beschlusses zwar eine Rechtsverletzung, stellt sich die Entscheidung aber aus anderen Gründen als richtig dar, ist die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
(3) Der Prüfung des Rechtsbeschwerdegerichts unterliegen nur die von den Beteiligten gestellten Anträge. Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die geltend gemachten Rechtsbeschwerdegründe nicht gebunden. Auf Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, darf die angefochtene Entscheidung nur geprüft werden, wenn die Mängel nach § 71 Abs. 3 und § 73 Satz 2 gerügt worden sind. Die §§ 559, 564 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend.
(4) Auf das weitere Verfahren sind, soweit sich nicht Abweichungen aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts ergeben, die im ersten Rechtszug geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden.
(5) Soweit die Rechtsbeschwerde begründet ist, ist der angefochtene Beschluss aufzuheben.
(6) Das Rechtsbeschwerdegericht entscheidet in der Sache selbst, wenn diese zur Endentscheidung reif ist. Andernfalls verweist es die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Verfahrens zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht oder, wenn dies aus besonderen Gründen geboten erscheint, an das Gericht des ersten Rechtszugs zurück. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Gerichts erfolgen, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde liegt, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
(7) Von einer Begründung der Entscheidung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.