Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Sept. 2019 - 2 StR 281/19

bei uns veröffentlicht am11.09.2019

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 281/19
vom
11. September 2019
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
ECLI:DE:BGH:2019:110919B2STR281.19.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts am 11. September 2019 beschlossen:
Die Sache wird zur Entscheidung über den Antrag des Angeklagten vom 10. Dezember 2018 auf Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers an das Landgericht Gießen zurückgegeben.

Gründe:

I.

1
Das Landgericht hat den Angeklagten am 3. Dezember 2018 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat der Angeklagte mit Schreiben vom 5. Dezember 2018, eingegangen beim Landgericht am 6. Dezember 2018, Revision eingelegt. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2018, eingegangen bei dem Landgericht am 12. Dezember 2018, bat der Angeklagte um Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers und begründete dies damit, dass sein bisheriger Pflichtverteidiger ihn nicht mehr vertreten wolle, er aber Revision einlegen wolle. Auf dieses Schreiben, das der Vorsitzende dem Pflichtverteidiger zur Stellungnahme übersandt hatte, teilte letzterer am 14. Dezember 2018 mit, dass er nach der Urteilsverkündung zwei Gespräche mit dem Angeklagten, ersteres mit Dolmetscher, am 4. und 6. Dezember geführt habe und sie einvernehmlich entschieden hätten, kein Rechtsmittel einzulegen. Eine Beauftragung, gegen das Urteil des Landgerichts Gießen vom 3. Dezember 2018 Revision einzulegen, liege nicht vor. Eine Revi- sionsbegründung erfolgte bis zum Ablauf der am 14. März 2019 endenden Revisionsbegründungsfrist weder durch Schriftsatz des Pflichtverteidigers noch zu Protokoll der Geschäftsstelle.
2
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 20. März 2019 die Revision des Angeklagten gemäß § 346 Abs. 1 StPO mit der Begründung als unzulässig verworfen, das Rechtsmittel sei nicht innerhalb der in § 345 Abs. 1 StPO bestimmten Frist begründet worden. Den Antrag auf Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers hatte es bis zu diesem Zeitpunkt nicht beschieden. Eine Ausfertigung des von allen Richtern unterzeichneten und mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehenen Verwerfungsbeschlusses wurde dem Pflichtverteidiger des Angeklagten aufgrund einer Verfügung des Vorsitzenden vom 2. April 2019 am 11. April 2019 zugestellt und dem Angeklagten formlos übersandt. Mit undatiertem Schreiben, eingegangen bei dem Landgericht Gießen am 10. April 2019, stellte der Angeklagte den Antrag auf „Fristverlängerung und Zuteilung eines neuen Pflichtverteidigers“; sein bisheriger Pflichtverteidiger habe die Revision als sinnlos erachtet und eine Zusammenarbeit verweigert, jeder Versuch, ihn zu kontaktieren, sei vergeblich gewesen.

II.

3
Der Senat stellt die Entscheidung über das Gesuch des Angeklagten, das gemäß § 300 StPO als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Gießen vom 3. Dezember 2018 auszulegen ist, zurück.
4
1. Die Sache ist zur Entscheidung über den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung eines anderen Pflichtverteidigers an das Landgericht zurückzuge- ben. Aus dem Recht des Angeklagten auf ein faires, rechtstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. EGMR, Urteile vom 24. November 1993 − Imbrioscia/Schweiz, ÖJZ 1993, 517, 518 Z. 38; vom 21. April 1998 − Daud/Portugal, ÖJZ 1999, 198, 199 Z. 38; vom 10. Oktober 2002 − Czekalla/Portugal, NJW 2003, 1229, 1230 Nr. 60) ergab sich hier die Pflicht des Landgerichts, über den unmittelbar nach Ende der Revisionseinlegungsfrist gestellten Antrag auf Wechsel des Pflichtverteidigers so rechtzeitig zu entscheiden, dass der Angeklagte noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist entweder seinen bisherigen Verteidiger hätte auffordern können, die von ihm selbst eingelegte Revision zu begründen, selber einen anderen Verteidiger hätte beauftragen oder die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle erklären können (vgl. BayObLG, Beschluss vom 29. Dezember 1994 – 1 St RR 177/94, NStZ 1995, 300, 301; OLG Hamm, Beschluss vom 19. Oktober 2010 – 3 RVs 87/10, NStZ-RR 2011, 86; OLG Koblenz, Beschluss vom 2. November 2006 – 1 Ss 225/06, NStZ-RR 2008, 80, 81; OLG Bamberg, Beschluss vom 25. Oktober 2017 – 2 Ss OWi 1399/17, OLGSt StPO § 44 Nr. 42; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. Juni 2018 – 2 Rv 9 Ss 396/18, juris Rn. 5; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 346 Rn. 10; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 46 Rn. 4; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 346 Rn. 4).
5
2. Da die Nachholung der versäumten Handlung – die Einreichung der Revisionsbegründungsschrift – bislang nicht erfolgt ist, kommt die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – derzeit – nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Januar 2018 – 4 StR 610/17, NStZ-RR 2018, 84; 5. Juni 2018 – 4 StR 138/18, juris Rn. 1).
Appl Eschelbach Zeng Grube Schmidt

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Strafprozeßordnung - StPO | § 345 Revisionsbegründungsfrist


(1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Die Revisionsbegründungsfrist verlängert sich, wenn d

Strafprozeßordnung - StPO | § 44 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung


War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach den § 35a Satz 1

Strafprozeßordnung - StPO | § 346 Verspätete oder formwidrige Einlegung


(1) Ist die Revision verspätet eingelegt oder sind die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 vorgeschriebenen Form angebracht worden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, das Rechtsmittel durch Beschluß a

Strafprozeßordnung - StPO | § 300 Falschbezeichnung eines zulässigen Rechtsmittels


Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.

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Bundesgerichtshof Beschluss, 18. Jan. 2018 - 4 StR 610/17

bei uns veröffentlicht am 18.01.2018

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 4 StR 610/17 vom 18. Januar 2018 in der Strafsache gegen wegen besonders schweren Raubes u.a. ECLI:DE:BGH:2018:180118B4STR610.17.0 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts u

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(1) Ist die Revision verspätet eingelegt oder sind die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 vorgeschriebenen Form angebracht worden, so hat das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen.

(2) Der Beschwerdeführer kann binnen einer Woche nach Zustellung des Beschlusses auf die Entscheidung des Revisionsgerichts antragen. In diesem Falle sind die Akten an das Revisionsgericht einzusenden; die Vollstreckung des Urteils wird jedoch hierdurch nicht gehemmt. Die Vorschrift des § 35a gilt entsprechend.

(1) Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. Die Revisionsbegründungsfrist verlängert sich, wenn das Urteil später als einundzwanzig Wochen nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden ist, um einen Monat und, wenn es später als fünfunddreißig Wochen nach der Verkündung zu den Akten gebracht worden ist, um einen weiteren Monat. War bei Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung des Urteils und in den Fällen des Satzes 2 der Mitteilung des Zeitpunktes, zu dem es zu den Akten gebracht ist.

(2) Seitens des Angeklagten kann dies nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.

Ein Irrtum in der Bezeichnung des zulässigen Rechtsmittels ist unschädlich.

War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach den § 35a Satz 1 und 2, § 319 Abs. 2 Satz 3 oder nach § 346 Abs. 2 Satz 3 unterblieben ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 610/17
vom
18. Januar 2018
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schweren Raubes u.a.
ECLI:DE:BGH:2018:180118B4STR610.17.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 18. Januar 2018 beschlossen:
Die Sache wird zur weiteren Veranlassung, insbesondere zur Bestellung eines anderen Verteidigers, an das Landgericht Dortmund zurückgegeben.

Gründe:


1
Der Senat stellt die Entscheidung über das fristgerecht eingegangene, gemäß § 300 StPO analog als Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 17. März 2017 auszulegende Gesuch des Angeklagten vom 21. September 2017 sowie gegebenenfalls über den form- und fristgerecht angebrachten Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO zurück.
2
Die Sache ist zur Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers an das Landgericht zurückzugeben. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10. Oktober 2002 – Az.: 38830/97 – liegt hier ein „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung vor.Der am 8. Juni 2017 in laufender Revisionsbegründungsfrist neu beigeordnete Verteidiger hat nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre (vgl. BVerfG, NJW 1983, 2762, 2765), die Revision des Angeklagten form- und fristgerecht begründet und auch auf spätere Anschreiben des Vorsitzenden der Jugendkammer sowie des Generalbundesanwalts nicht reagiert. In dieser Situation verlangt Art. 6 Abs. 3c MRK nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (aaO) „positive Maßnahmen seitens der zuständigen Behörden“, um diesem Zustand abzuhelfen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Juni 2016 – 2 StR 265/15, StraFo 2016, 382). Dies wird das Landgericht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 141 Rn. 6, 6a mwN) mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung durch Bestellung eines neuen Pflichtverteidigers zu veranlassen haben.
3
Der Senat weist darauf hin, dass der neu beizuordnende Pflichtverteidiger ab seiner Bestellung form- und fristgerecht die Revision zu begründen haben wird. Das wird den Senat in die Lage versetzen, über das anhängige Wiedereinsetzungsgesuch und gegebenenfalls auch über den Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO zu befinden.
Sost-Scheible Roggenbuck Cierniak
Bender Paul