Urteils-Kommentar zu Bundesgerichtshof Urteil, 10. Apr. 2025 - IX ZR 95/24 von Dirk Streifler

originally published: 19.09.2025 15:36, updated: 19.09.2025 15:40
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Bundesgerichtshof Urteil, 10. Apr. 2025 - IX ZR 95/24

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„Vergleich geschlossen – Insolvenzforderung geblieben“ (BGH, IX ZR 95/24)

Aufhänger. Ebenfalls am 10. April 2025 hat der BGH (IX ZR 95/24) in einer Luftfahrt‑Insolvenz zentrale Abgrenzungen zwischen Insolvenz‑ und Masseverbindlichkeiten geschärft: Weder die Ausstellung einer Bordkarte nach Verfahrenseröffnung noch ein Vergleich oder abstraktes Anerkenntnis über eine bereits bestehende Insolvenzforderung werten diese Ansprüche zu Masseverbindlichkeiten aufes sei denn, es liegt eine echte Novation vor. Das Urteil erging als Versäumnisurteil.

Kernaussagen des Urteils

  1. Sekundäransprüche bleiben „alt“. Sekundäransprüche, die nur die Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht (mehr) durchsetzbarer Primäransprüche kompensieren sollen, begründen keine Masseverbindlichkeiten(§ 55 InsO), sondernbleiben Insolvenzforderungen (§ 38 InsO). Dies gilt auch in Branchen mit Massenkundenbeziehungen (hier: Luftbeförderung). 

  2. Kein „Masse‑Upgrade“ durch Verfahrenskommunikation. Die Ausstellung einer Bordkarte nach Eröffnungändert an der Qualifikation nichts: Allein der operative Vollzug im Massengeschäft führt nicht zu einem neuen, masseverbindlichen Schuldgrund

  3. Vergleich/Anerkenntnis ≠ Novation. Vergleiche oder abstrakte Anerkenntnisse über „alte“ Forderungen verändern deren rechtliche Qualität nicht, sofern keine Novation gewollt und klargestellt ist (Stichwort: schuldumschaffende Vereinbarung, eindeutige Neubegründung einer Masseverbindlichkeit). 

  4. Kontinuität der Linie. Der Senat knüpft damit an seine Vorentscheidungen (u. a. IX ZR 150/21, IX ZR 146/22) an: Es gibt keine Aufwertung insolvenzbedingter Nichterfüllungsfolgen zu Masseschulden allein durch betriebspraktische Handlungen im eröffneten Verfahren. 

Einordnung

Dogmatisch bestätigt der BGH die strikte Trennung zwischen Alt‑ und Neuverbindlichkeiten: Masseverbindlichkeiten entstehen nur aufgrund gesetzlicher Anordnung oder eigenständiger Handlungen des Verwalters/Masse, die nach Eröffnung einen neuen Schuldgrund schaffen (z. B. Erfüllungswahl, Massegeschäft, unberechtigte Bereicherung der Masse). Kommunikative/organisatorische Handlungen (Bordkarte, Standardmails etc.) ohne schuldrechtliche Neubegründung genügen nicht.

Für Vergleiche/Anerkenntnisse gilt: Wer eine Masseverbindlichkeit begründen will, muss sprachlich und inhaltlichunmissverständlich Novation/Neu‑Begründung regeln (z. B. „Die Parteien sind sich einig, dass die bisherige Insolvenzforderung im Wege der Novation erlischt und als Masseverbindlichkeit i. S. d. § 53 InsO neu begründet wird“), flankiert durchZuständigkeits‑ und Budgetnachweise des Verwalters.

Praxisfolgen & To‑dos

  • Verwalter/Distressed‑Counsel: Templates für Vergleiche/Anerkenntnisse prüfen: Novations‑Klauseln nur, wenn bewusst gewollt; ansonsten klarer Ausschluss jeder Massebegründung. Kommunikationsbausteine (z. B. Bordkarten‑/Voucher‑Prozesse) rechtssicher standardisieren.

  • Gläubiger mit Massenforderungen (Airlines, Ticketing, E‑Com): Beweislast beachten: Wer Massequalität reklamieren will, braucht klare Novationsdokumente. Operative Kulanz gegenüber Dritten begründet keine Selbstbindung gegenüber dem konkreten Gläubiger. 

  • Prozessual: Ansprüche präzise qualifizieren (Anmeldung vs. Leistungsklage gegen die Masse). Bei bestehenden Vergleichen Auslegung auf Novationswillen; im Zweifel bleibt die Forderung Insolvenzforderung

Take‑away: Alte Forderung bleibt alt – es sei denn, man sagt und will ausdrücklich etwas anderes. Für die Vertrags‑ und Prozesspraxis bringt das Urteil Klarheit und reduziert Streit über „versteckte“ Massebegründungen.

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(1) Masseverbindlichkeiten sind weiter die Verbindlichkeiten: 1. die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzv

Die Insolvenzmasse dient zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger).
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(1) Masseverbindlichkeiten sind weiter die Verbindlichkeiten:

1.
die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören;
2.
aus gegenseitigen Verträgen, soweit deren Erfüllung zur Insolvenzmasse verlangt wird oder für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgen muß;
3.
aus einer ungerechtfertigten Bereicherung der Masse.

(2) Verbindlichkeiten, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter begründet worden sind, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist, gelten nach der Eröffnung des Verfahrens als Masseverbindlichkeiten. Gleiches gilt für Verbindlichkeiten aus einem Dauerschuldverhältnis, soweit der vorläufige Insolvenzverwalter für das von ihm verwaltete Vermögen die Gegenleistung in Anspruch genommen hat.

(3) Gehen nach Absatz 2 begründete Ansprüche auf Arbeitsentgelt nach § 169 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch auf die Bundesagentur für Arbeit über, so kann die Bundesagentur diese nur als Insolvenzgläubiger geltend machen. Satz 1 gilt entsprechend für die in § 175 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch bezeichneten Ansprüche, soweit diese gegenüber dem Schuldner bestehen bleiben.

(4) Umsatzsteuerverbindlichkeiten des Insolvenzschuldners, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder vom Schuldner nach Bestellung eines vorläufigen Sachwalters begründet worden sind, gelten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. Den Umsatzsteuerverbindlichkeiten stehen die folgenden Verbindlichkeiten gleich:

1.
sonstige Ein- und Ausfuhrabgaben,
2.
bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuern,
3.
die Luftverkehr- und die Kraftfahrzeugsteuer und
4.
die Lohnsteuer.

Die Insolvenzmasse dient zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger).