Verwaltungsgericht Würzburg Beschluss, 08. Mai 2018 - W 2 S 18.563

bei uns veröffentlicht am08.05.2018

Gericht

Verwaltungsgericht Würzburg

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Beklagten vom 24. April 2018 (Schulentlassung) wird bis zum Ende des Schuljahres 2017/2018 angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wesentlichen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen seine Entlassung von der Schule.

Der am … 2001 geborene Antragsteller besucht die 11. Jahrgangsstufe des …-Gymnasiums in W.

Auf der Grundlage eines Beschlusses des Disziplinarausschusses vom 18. April 2018 wurde der Antragsteller mit Bescheid vom 24. April 2018, den Erziehungsberechtigten des Klägers am 25. April 2018 zugegangen, von der Schule entlassen. Der Disziplinarausschuss habe nach Anhörung des Antragstellers, seiner Eltern und des hinzugezogenen Vertrauenslehrers festgestellt, dass der Antragsteller nach eigenem Eingeständnis mindestens einmalig – laut Aussage des Käufers mehrmalig (drei bis fünfmal) Drogen an einen Mitschüler „verkauft“ habe. Erschwerend komme hinzu und sei geeignet, auch weiterhin zur Gefährdung der Schule beizutragen, dass der Antragsteller während der Ausschusssitzung keine Einsicht gezeigt habe. Stattdessen habe er zu Beginn seiner Ausführungen auf die Legalisierungsdiskussion verwiesen, die allerdings nicht geeignet sei, sein aktuelles Vergehen zu rechtfertigen. Ein schulischer Bezug seines Verhaltens sei „eindeutig“ dadurch gegeben, dass es sich bei dem Käufer um einen Mitschüler gehandelt habe. Zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags sei daher nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unter Abwägung der oben genannten Gesichtspunkte die Ordnungsmaßnahme der Entlassung zu treffen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 24. April 2018 Bezug genommen.

Dagegen ließ der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten am 26. April 2018 Widerspruch einlegen.

Mit Schriftsatz vom 30 April 2018, beim Verwaltungsgericht Würzburg per Telefax am selben Tag vorab eingegangen, ließ der Antragsteller einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Schulentlassung stellen.

Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen: Die Schulentlassung sei rechtswidrig. Das vorgeworfene Verhalten habe keinen schulischen Bezug. Der Antragsteller habe keine Drogen (Marihuana) an einen Mitschüler verkauft. Richtig sei, dass der Antragsteller dem Mitschüler auf dessen Verlangen Betäubungsmittel weitergegeben habe. Die Weitergabe sei im privaten Umfeld erfolgt. Der Antragsteller habe nie in der Schule, in der Nähe der Schule oder im Rahmen sonstiger schulischer Aktivitäten mit Betäubungsmitteln gehandelt, diese weitergegeben oder in sonstiger Weise für Betäubungsmittel geworben. Es bestehe auch keine schulische Gefährdung. Es gebe keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Mitschüler. Der Antragsteller sei weder als Händler oder dergleichen in der Klasse oder der Schule bekannt gewesen. Die als Ordnungsmaßnahme gewählte Schulentlassung sei nicht verhältnismäßig. Die Schule habe den Versuch unterlassen, durch anderweitige Ordnungsmaßnahmen weiteren Verstößen entgegenzuwirken. Insoweit lägen Ermessensfehler vor. Das positiv geprägte Auftreten des Antragstellers in der Schulgemeinschaft sei nicht berücksichtigt worden. Er sei bei Musikaufführungen, im Chor und den verschiedenen Schulbands sowohl als Musiker als auch als Techniker aktiv gewesen. Die im Bescheid vom 24. April 2018 in Bezug genommenen Aussagen des Antragstellers aus der Anhörung vom 18. April 2018 seien aus dem Zusammenhang gerissen. Es gebe in W. zudem keine andere Schule, die dem Antragsteller die beabsichtigte Ablegung der Abiturprüfung im Fach Musik ermögliche. Sollte der Antragsteller den Unterricht bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache nicht besuchen dürfen, drohe ihm das Nichtbestehen des Kursziels und damit die Wiederholung eines Schuljahres. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 30. April 2018 Bezug genommen.

Der Antragsteller lässt beantragen,

  • 1.Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 26. April 2018 gegen den Bescheid des … …-Gymnasiums W. vom 24. April 2018, zugegangen am 25. April 2018, wird angeordnet.

  • 2.Der Vollzug des Bescheides vom 24. April 2018 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner beantragt,

Der Antrag wird abgewiesen.

Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Der Antrag sei unbegründet. Die Schulentlassung sei rechtmäßig. Der vom Antragsteller selbst eingestandene Sachverhalt genüge als Grundlage für die Ordnungsmaßnahme. Da es nach Angaben der Erziehungsberechtigten kein Strafverfahren geben werde, habe eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht abgewartet werden müssen. Gemäß Art. 86 Abs. 3 Nr. 5 des Bayerisches Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) i.d.F. d. Bek. v. 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geänd. d. G.v. 12. Juli 2017 (GVBl. S. 362), könne auch außerschulisches Verhalten eine Ordnungsmaßnahme begründen, soweit es die Verwirklichung der Aufgaben der Schule gefährde. Die „Veräußerung“ von Betäubungsmitteln an einen Mitschüler begründe auch außerhalb des Schulbereichs eine solche Gefährdung. Das Fehlverhalten wirke in den schulischen Bereich hinein und beeinträchtigte den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, die zum Schutz der Gesundheit der ihr anvertrauten Jugendlichen verhindern müsse, dass Schüler im schulischen Kontakt Zugang zu Betäubungsmittel bekommen könnten. Das Hineinwirken sei auch dadurch gegeben, dass Mitschüler die Betäubungsmittelkontakte des Antragstellers ihren Eltern gegenüber kommuniziert und diese die Problematik in einer Elternbeiratssitzung thematisiert hätten. Vorliegend habe sich durch die „Veräußerung“ von Betäubungsmittel an einen Mitschüler bereits eine schulische Gefährdung realisiert. Gleichzeitig sei die Aufgabenerfüllung der Schule gefährdet. Diese Gefährdung habe bei Erlass des Bescheides noch bestanden, auch wenn der betroffene Mitschüler die Schule bereits verlassen habe. Trotz der knappen Begründung sei die Entscheidung ermessenfehlerfrei. Die maßgeblichen Gesichtspunkte seien ausreichend erkennbar. Zu den Ermessenserwägungen werde ergänzend auf die Niederschrift zur Sitzung des Disziplinarausschusses verwiesen. Die Folgen für die weitere schulische Entwicklung des Antragstellers seien in die Erwägungen eingestellt worden. In tatsächlicher Hinsicht sei es auch nicht korrekt, dass das …-Gymnasium das einzige Gymnasium in W. sei, an dem Musik im Abitur als Prüfung abgelegt werden könne. Aus der Niederschrift werde deutlich, dass sich der Disziplinarausschuss auch mit anderen Maßnahmen „gedanklich“ auseinander gesetzt habe. Letztlich entspreche die sofortige Schulentlassung den Grundsätzen der Rechtsprechung zu Konsum und Weitergabe von Betäubungsmitteln im schulischen Bereich. Die Schule sei bei ihrer Entscheidung von Feststellungen ausgegangen, die einer sachlichen Überprüfung standhielten, ein Einfluss sachfremder Erwägungen sei nicht erkennbar und die pädagogische Bewertung begegne auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinen Bedenken. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 2. Mai 2018 Bezug genommen.

Auf das vor der Sitzung des Disziplinarausschusses unter dem Aktenzeichen W 2 E 18.440 anhängige verwaltungsgerichtliches Verfahren zu Fragen der Akteneinsicht, Auskunftsansprüchen und der Zulassung eines Rechtsbeistands bei der Anhörung des Antragstellers durch den Disziplinarausschuss wird Bezug genommen.

Für die weiteren Einzelheiten wird im Übrigen auf die Gerichtsakte in diesem wie im Verfahren W 2 E 18.440 sowie die in beiden Verfahren beigezogene Behördenakte verwiesen.

II.

Der Antrag ist bezogen auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Schulentlassung zulässig und begründet. Im Übrigen ist er unzulässig.

Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen belastenden Verwaltungsakt anordnen bzw. wiederherstellen. Soweit die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt kraft Gesetzes ausgeschlossen ist – wie hier im Falle der Entlassung eines Schülers nach Art. 88 Abs. 8 BayEUG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO –, hat der Gesetzgeber damit einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet, so dass es besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zu rechtfertigen (BVerfG, B.v. 10.10.2003 – 1 BvR 2025/08 – juris Rn. 21; B.v. 8.11.2010 – 1 BvR 722/10 – juris; B.v. 24.8.2011 – 1 BvR 1611/11 – juris). Dies ist der Fall, wenn gegen die Rechtmäßigkeit der Maßnahme als solche, wie im vorliegenden Fall, durchgreifende Bedenken bestehen.

Das Gericht erachtet die angegriffene Entscheidung, den Antragsteller von der Schule zu entlassen, unter Berücksichtigung der Vorläufigkeit des Verfahrens sowie des derzeitigen Verfahrensstandes als offenkundig rechtswidrig. Es bestehen nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 24. April 2018. Ein Obsiegen in der Hauptsache ist überwiegend wahrscheinlich, weil der angegriffene Bescheid formell und überwiegend wahrscheinlich auch materiell rechtswidrig ist. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt daher im konkreten Fall das Vollziehungsinteresse des Antragsgegners.

Als Ordnungsmaßnahme findet die Schulentlassung ihre Rechtsgrundlage in Art. 86 Abs. 1, Abs. 2 Nr.10 BayEUG.

Der darauf gestützte Bescheid dürfte bereits formell rechtswidrig sein. Dabei kann das Gericht anhand der ihm vorliegenden Akten die ordnungsgemäße Besetzung des gem. Art. 88 Abs. 1 Nr. 3, Art. 58 Abs. 1 Satz 3 BayEUG an Stelle der Lehrerkonferenz zur Entscheidung berufenen Disziplinarausschusses im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht überprüfen. Gem. § 7 Abs. 5 der Schulordnung für schulartübergreifende Regelungen an Schulen in Bayern (Bayerische Schulordnung – BaySchO) vom 1. Juli 2016 (GVBl S. 164), zuletzt geänd. d. V.v. 12. Januar 2018 (GVBl S. 23), gehören dem Disziplinarausschuss neben dem Schulleiter und dem ständigen Vertreter sieben weitere Mitglieder an, die zusammen mit einer ausreichenden Zahl von Ersatzmitgliedern von der Lehrerkonferenz gewählt werden. Gem. § 7 Abs. 6 Satz 2 BaySchO berät und entscheidet der Disziplinarausschuss stets mit der vollen Zahl seiner Mitglieder. Ausweislich der im Verfahren vorgelegten Sitzungsniederschrift haben neben dem Schulleiter und seinem ständigen Vertreter sieben weitere Mitglieder des Disziplinarausschusses an der Sitzung teilgenommen. Auch wenn auffällt, dass die auf der Einladung zur Sitzung des Disziplinarausschusses vermerkte Liste der Mitglieder des Disziplinarausschusses acht weitere Mitglieder aufführt, hat das Gericht damit noch keine ausreichenden Anhaltspunkte um bei summarischer Prüfung deshalb von einer fehlerhaften Besetzung des Disziplinarausschusses auszugehen.

Bei summarischer Prüfung erweist sich jedoch bereits die Verfahrensbeteiligung des Antragstellers und seiner Eltern als formell fehlerhaft. Dabei kann offenbleiben, ob die völlig unzureichende Auskunft über den dem Antragsteller zur Last gelegten Sachverhalt im Einladungsschreiben vom 15. März 2018 dadurch geheilt werden konnte, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers im verwaltungsgerichtlichen Verfahren W 2 E 18.440 Einsicht in die Verfahrensakte nehmen konnte bzw. ihm in diesem Zusammenhang weitere Informationen seitens des Antragsgegners zur Verfügung gestellt wurden.

Formell fehlerhaft ist jedenfalls die im Einladungsschreiben vom 15. März 2018 enthaltene Belehrung bezüglich des Rechts des Antragstellers zur Beteiligung des Elternbeirats. Der Hinweis, der Antragsteller bzw. seine Erziehungsberechtigten könnten zu dem „Gespräch“ (Anhörung vor dem Disziplinarausschuss) einen Vertreter des Elternbeirats hinzuziehen, entspricht nicht dem in Art. 88 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 BayEUG verankerten Recht, den Elternbeirat als Kollegialorgan im Wege einer eigenständigen Befassung zu beteiligen. Damit liegt ein Verstoß gegen die Hinweispflicht des Art. 88 Abs. 3 Satz 4 BayEUG vor. Ob die fehlerhafte Belehrung zur Beteiligungsmöglichkeit des Elternbeirats trotz der besonderen rechtssichernden Bedeutung der Regelungen über die Zuständigkeit und das Verfahren bei Ordnungsmaßnahmen (vgl. BVerfG, B.v. 27.1.1976 – BVerfGE 41, 251/265) in der vorliegenden Konstellation ausnahmsweise unbeachtlich sein könnte, bedarf angesichts der weiteren – auch materiell rechtlichen – Mängel der Schulentlassung im Rahmen der summarischen Prüfung keiner vertieften Erörterung.

Ebenso kann im Rahmen der summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage offen bleiben, ob es – angesichts der mit dem Umgang mit Betäubungsmitteln typischerweise einhergehenden Suchtproblematik – gem. Art. 88 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BayEUG einer Beteiligung der Beratungslehrkraft oder des Schulpsychologen bedurft hätte.

Offensichtlich formell rechtswidrig ist jedoch die Begründung der Entlassungsverfügung im Bescheid vom 24. April 2018. Sie genügt bei Weitem nicht den rechtstaatlich gebotenen Anforderungen des Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG. Danach sind in der Begründung des Bescheides selbst die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (Art. 39 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG). Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG), insbesondere auch die zugunsten des Schülers sprechenden Umstände. Vorliegend erschöpft sich der streitgegenständliche Bescheid in der Wiedergabe des vom Disziplinarausschuss zugrunde gelegten Sachverhaltes, der Bewertung von Einlassungen und Verhalten des Antragstellers vor dem Disziplinarausschuss und daran anknüpfend der Entlassung des Antragstellers als Ergebnis der Entscheidungsfindung des Disziplinarausschusses. Dem Bescheid ist damit nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, ob sich der Disziplinarausschuss seines pädagogischen Entscheidungsspielraums hinsichtlich Entschließungs- und Auswahlermessens überhaupt bewusst war, geschweige denn, welche Erwägungen mit welcher Gewichtung in die Entscheidung eingeflossen sind. In ihrer Apodiktik legt die Begründung des Bescheides sogar einen völligen Ermessensausfall nahe. Das zeigt sich insbesondere im drittletzten Absatz der Begründung auf Seite 2 des Bescheides in der Verwendung der Worte „war daher“. Zwar werden im Rahmen der Stellungnahme im anhängigen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergänzende Ausführungen zur Begründung der Entlassungsentscheidung gemacht, jedoch ist dabei zu beachten, dass notwendige Ergänzungen und ggf. Korrekturen formeller wie materieller Art der umfassenden originären Überprüfung des Bescheides durch den Antragsgegner im Rahmen des laufenden Widerspruchsverfahrens vorbehalten sind und deshalb nur im begrenzten Umfang vor einer Entscheidung des Antragsgegners über den Widerspruch antizipiert werden können. Im gegenwärtigen Stadium des offenen Widerspruchsverfahrens hat es der Antragsgegner selbst in der Hand den verfahrensgegenständlichen Bescheid auf seine Recht- und Zweckmäßigkeit zu überprüfen und eventuelle Defizite im Rahmen einer Entscheidung im Widerspruchsverfahren selbst zu begegnen.

Unabhängig von einer im Rahmen des Widerspruchsverfahrens weiterhin möglichen Begründungsergänzung des verfahrensgegenständlichen Bescheides ist die Schulentlassung bei summarischer Prüfung jedenfalls derzeit materiell rechtswidrig.

Dabei ist nach vorläufiger Rechtauffassung des Gerichts im Rahmen der summarischen Prüfung jedoch weder die Tatsachenfeststellung des Antragsgegners zu beanstanden, der Antragsteller habe – mindestens – einmal Betäubungsmittel an einen (ehemaligen) Mitschüler weitergegeben noch der daraus abgeleitete – fortbestehende – grundsätzliche schulische Bezug bzw. die Gefährdung der Verwirklichung der Aufgaben der Schule und zwar unabhängig vom eventuellen Übergabe- oder Konsumort des Rauschmittels. Denn jedenfalls im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz zur Fahndung nach dem Antragsteller vom 21. Februar 2018 wurde die Verbindung des Antragstellers zu Betäubungsmitteln schulöffentlich bekannt und wirkte damit in den Verantwortungsbereich der Schule hinein. Deren Aufgabe, den Schulfrieden zu wahren und die Schüler vor dem Zugang zu Drogen zu schützen, ist dadurch auch tatsächlich gefährdet. Denn tatbestandlich genügt schon das Vorliegen einer grundsätzlichen Gefährdung. Dem Grad der Gefährdung, der nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls konkret zu bestimmen ist, ist hingegen im Rahmen des Auswahl- und Erschließungsermessens hinreichend Rechnung zu tragen, insbesondere auch bei der Auswahl der geeigneten und erforderlichen Ordnungsmaßnahme.

Das Gericht geht mithin bei summarischer Prüfung davon aus, dass zwar grundsätzlich die Tatbestandsvoraussetzungen einer Schulentlassung gem. Art. 86 Abs. 2 Nr. 10 BayEUG vorliegen und die Ordnungsmaßnahme nicht bereits gemäß Art. 86 Abs. 3 Nr. 5 BayEUG deshalb unzulässig ist, weil sie sich auf außerschulisches Verhalten bezieht.

Die Entscheidung über die Schulentlassung, die gerichtlich nur eingeschränkt im Rahmen des § 114 VwGO überprüfbar ist, ist jedoch ermessensfehlerhaft ergangen.

Die Entlassung ist mit nicht unerheblichen Nachteilen – insbesondere in den beiden letzten Schuljahren – für den betroffenen Schüler verbunden, auch wenn er seine Ausbildung an einer anderen Schule fortsetzen kann. Die nach pflichtgemäßem Ermessen (Art. 40 BayVwVfG) zu treffende Entscheidung hat sich deshalb daran auszurichten, ob ein Verbleiben des Schülers an der betreffenden Schule im Hinblick auf die unbeeinträchtigte Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags oder wegen des Schutzes Dritter nicht mehr hingenommen werden kann oder ob dem Schüler in dieser Konsequenz und Eindeutigkeit vor Augen geführt werden muss, dass sein Verhalten nicht mehr geduldet werden kann (umfassend Dirnaichner, Praxis der Kommunalverwaltung, Art. 87 BayEUG, Ziff. 1). Diese Beurteilung entzieht sich einer vollständigen Erfassung nach rein rechtlichen Kriterien und bedingt sachnotwendig einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren pädagogischen Wertungsspielraum. Trotz dieser Grenzen der gerichtlichen Kontrolle haben die Gerichte aber den gegen die Entlassung erhobenen Einwendungen nachzugehen und die pädagogische Bewertung der Schule auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Sie haben insbesondere zu kontrollieren, ob die Entlassung gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt.

Gemäß Art. 86 Abs. 2 Nr. 9 BayEUG bedarf es grundsätzlich einer vorherigen Androhung der Schulentlassung. Denn der in der gesetzlichen Reihenfolge der Ordnungsmaßnahmen in Art. 86 Abs. 2 Nr. 1 bis 12 BayEUG normativ vorgegebene Gewichtung kommt im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine orientierende Bedeutung zu, die nicht ohne weiteres unberücksichtigt bleiben darf. Hier deuten sowohl die Begründung des Bescheides vom 24. April 2018 als auch die vorgelegten Entwürfe der Niederschrift der Sitzung des Disziplinarausschusses deutlich auf ein fehlerhaft ausgeübtes Auswahlermessen bzw. ein Ermessensdefizit hin. Denn sofern der Disziplinarausschuss sich tatsächlich mit anderen Ordnungsmaßnahmen als der Schulentlassung überhaupt auseinander gesetzt haben sollte – wie zuletzt behauptet – ist dies jedenfalls nicht unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber vorgesehenen Gewichtung der einzelnen Ordnungsmaßnahmen im Verhältnis zueinander und zum zugrunde liegenden Sachverhalt geschehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedenfalls, dass die zusammen mit der Antragserwiderung vorgelegte Fassung des Entwurfes der Niederschrift keinerlei Ausführungen dazu enthält, dass der Disziplinarausschuss andere Ordnungsmaßnahmen als die Schulentlassung auch nur in Betracht gezogen hätte. Auf diese dem Gericht am 3. Mai 2018 vorgelegte Fassung bezieht sich offenkundig auch die auf den 2. Mai 2018 datierende Antragserwiderung, wenn sie aus der Formulierung, die „Maßnahme sei unausweichlich“ eine jedenfalls gedankliche Auseinandersetzung des Disziplinarausschusses mit anderen Maßnahmen hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit eher künstlich ableiten will. Während sich nach der dem Gericht zunächst vorgelegten angeblich „nicht vollständigen“ Fassung der Niederschrift also die Schulentlassung als die einzig in Betracht gezogene Ordnungsmaßnahme darstellt, enthält die dem Gericht nachträglich am 3. Mai 2018 übersandte Fassung nunmehr eine entsprechende Einfügung. Da sich jedoch auch aus der eingefügten Passage „Es werden auch andere mögliche Ordnungsmaßnahmen (wie z.B. der Ausschluss vom Unterricht für einen begrenzten Zeitraum sowie die Androhung der Entlassung) diskutiert; von den meisten Ausschussmitgliedern werden diese Alternativen aber als nicht angemessen angesehen“ ersichtlich ebenfalls keine rechtsfehlerfreie Ausübung des Auswahlermessens hinsichtlich der Ordnungsmaßnahme entnehmen lässt, kann sowohl die Glaubwürdigkeit bezüglich der „versehentlichen Vorlage“ eines „nicht vollständigen Entwurfes der Niederschrift“ als auch die Frage dahinstehen, welche der Fassungen die Entscheidungsfindung des Disziplinarausschusses tatsächlich authentisch wiedergibt. Das auch schon deshalb, weil keiner dieser Entwürfe unterschrieben und diese schon deshalb mangels Urkundencharakters nichts beweisen können. Seitens des Gerichts sei aber in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass ein tatsächlicher Ermessensausfall oder ein Ermessensdefizit auch gemäß § 114 Satz 2 VwGO weder nachgeholt, nachträglich beseitigt oder im Sinne eines „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ durch die Ergänzung des Inhalts eines Protokolls geheilt werden kann.

Selbst wenn der Disziplinarausschuss mildere Ordnungsmaßnahmen wie den temporären Schulausschluss oder die Androhung der Schulentlassung als theoretische Alternativen tatsächlich am Rande angesprochen haben sollte, hat er dabei jedenfalls das Stufenverhältnis der in Betracht kommenden Ordnungsmaßnahmen offensichtlich verkannt. Aus der in Art. 86 Abs. 2 Nr. 9 und 10 BayEUG normierten Rangfolge zwischen der Androhung der Schulentlassung und der Schulentlassung selbst ergibt sich, dass eine Schulentlassung in der Regel einer vorherigen Androhung gem. Art. 86 Abs. 2 Nr. 9 BayEUG bedarf. Soweit der Antragsgegner sich auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bezieht und eine Androhung schon allein aufgrund des Drogenbezuges für entbehrlich hält, verkennt der Antragsgegner dabei, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof es in ständiger Rechtsprechung lediglich für nicht zu beanstanden hält, wenn dem Handel mit Drogen in (!) der Schule mit Nachdruck begegnet wird und deshalb bei solchen Delikten die Entlassung von der Schule auch ohne vorherige Androhung gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.4.2014 – 7 CS 14.553 – juris unter Bezugnahme auf BayVGH, B.v. 14.6.2002 – 7 CS 02.776 – juris). Damit hat er jedoch nicht für jedes mit einer Ordnungsmaßnahme zu ahndende Fehlverhalten eines Schülers mit Drogenbezug eine pauschale Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des Art. 86 Abs. 1 Nr. 9 und 10 BayEUG statuiert. Vielmehr hat er – unter Einbeziehung der konkreten Umstände des Einzelfalls – lediglich eine pädagogische Gewichtung für nachvollziehbar erachtet, die der Schule als von Drogen freizuhaltendem Raum eine herausgehobene Priorität einräumt. So ist es selbstverständlich auch in diesem Fall nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner dem Schutz der Schüler vor dem Zugang zu Drogen einen hohen Stellenwert beimisst. Zu beachten ist dabei jedoch, dass in den Fällen, die der zitierten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde liegen, Drogen jeweils innerhalb des Schulgeländes oder mit unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Bezug zum Schulgeschehen konsumiert oder weitergegeben wurden. Zum besonderen Stellenwert der Schule als drogenfreiem Raum kam also jeweils noch ein besonderes Maß an Gefährdung hinzu. Denn bei Drogenkonsum und Drogenhandel innerhalb der Schule oder bei unmittelbarem Bezug zum Schulgeschehen ist typischerweise eine besonders hohe Gefährdung anzunehmen. In diesen Fallkonstellationen kann – nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – dem Schutz der anderen Schüler in der Regel nur durch die sofortige Entlassung des betroffenen Schülers angemessen Rechnung getragen werden. Das ist aber im Entlassungsbescheid hinreichend zu begründen. Es enthebt die Schule jedoch nicht einer am Einzelfall orientierten ermessensfehlerfreien Auswahl der Ordnungsmaßnahme. Dabei kommt dem jeweiligen Grad der schulischen Gefährdung erhebliche Bedeutung zu. Dieser bemisst sich u.a. nach dem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang des in Rede stehenden Drogendeliktes zum Schulgeschehen und zu anderen Schülern. Soll dabei die Weitergabe von Drogen an einen Mitschüler außerhalb der Schule auch dann der Weitergabe innerhalb der Schule in ihrer Gefährlichkeit gleichgestellt werden, bedarf dies einer nachvollziehbaren und an den Umständen des Einzelfalls orientierten Begründung. Eine entsprechend differenzierte Auseinandersetzung muss deutlich machen, dass der Disziplinarausschuss den Unterschied zur typischen Fallkonstellation des Drogendeliktes in der Schule überhaupt wahrgenommen hat, und warum er gleichwohl von einem vergleichbar großen Gefährdungspotential ausgegangen ist. Er muss dabei transparent machen, welche Erwägungen dafür ausschlaggebend waren, auch in diesem Fall und un0ter angemessener Berücksichtigung der Belange des Antragstellers im Hinblick auf das im nächsten Jahr anstehende Abitur von einer vorherigen Androhung der Schulentlassung abzusehen. Dass eine entsprechend fundierte Auseinandersetzung mit den Umständen des Einzelfalls insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit bei der Auswahl der Ordnungsmaßnahme gerade nicht stattgefunden hat, stellt sich nach vorläufiger auf summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage basierender Auffassung des Gerichts als Ermessensdefizit im Rahmen des Auswahlermessens dar, das zur materiellen Rechtswidrigkeit der im Widerspruchsverfahren befindlichen Schulentlassung führt.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Schulentlassung war mithin anzuordnen, so dass dem Antragsteller der weitere Schulbesuch zunächst bis zum Ende des Schuljahres 2017/2018 ermöglicht werden muss. Bis dahin kann eine Entscheidung über den Widerspruch – auch nach der wohl erforderlichen weiteren Aufklärung des Sachverhalts – nach rechtsstaatlichen Grundsätzen (vgl. § 75 Satz 2 VwGO) erwartet werden.

Soweit der Antrag unter Ziffer 2 die Aufhebung des Vollzugs im Rahmen des vorläufigen Rechtschutzes begehrt, trägt der Antragsteller nicht substantiiert vor, um welchen Vollzug es sich – jenseits der sich bereits aus der kraft Gesetzes ausgeschlossenen aufschiebenden Wirkung ergebenden Möglichkeit des weiteren Schulbesuches – handeln soll. Soweit es sich auf das Nachholen von in der Vergangenheit liegenden Unterricht beziehen sollte, ist weder vorgetragen, wie dies faktisch möglich, noch warum dies unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG rechtlich geboten sein soll. Der Antrag war insoweit abzulehnen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Antrag zu Ziffer 2 spielt dabei eine nur untergeordnete Rolle (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

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Tenor I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen. II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt. Gründe

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 08. Nov. 2010 - 1 BvR 722/10

bei uns veröffentlicht am 08.11.2010

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(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).

(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur

1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen,
4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
Die Länder können auch bestimmen, daß Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung haben, soweit sie sich gegen Maßnahmen richten, die in der Verwaltungsvollstreckung durch die Länder nach Bundesrecht getroffen werden.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.

(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.

(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn

1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder
2.
eine Vollstreckung droht.

(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.

Tenor

1. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. November 2009 - S 83 KA 673/09 ER - und der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Februar 2010 - L 7 KA 169/09 B ER - verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 12 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 jeweils in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Februar 2010 - L 7 KA 169/09 B ER - wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen.

2. ...

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die sofortige Vollziehung einer Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung.

2

1. a) Die Beschwerdeführerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Sie betreibt in Berlin ein Medizinisches Versorgungszentrum, also eine fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtung, in denen in das Arztregister eingetragene Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Die Anstellung von Ärzten bedarf der Genehmigung des Zulassungsausschusses für Ärzte nach § 95 Abs. 2 Satz 7 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Das Medizinische Versorgungszentrum wurde im April 2008 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Im vierten Quartal 2008 - in diesem Zeitpunkt waren bei der Beschwerdeführerin 14 Ärzte angestellt - traten verschiedene Unregelmäßigkeiten bei der Honorarabrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Antragstellerin), auf. So wurden für drei Ärzte Positionen der Gebührenordnung abgerechnet, obwohl die Anstellung dieser Ärzte erst zum 1. Januar 2009 genehmigt worden war. Ferner wurden Gebührenpositionen unter der jedem Arzt zugeteilten "lebenslangen Arztnummer" einer nicht im Medizinischen Versorgungszentrum der Beschwerdeführerin beschäftigten Ärztin abgerechnet sowie weitere Abrechnungen unter drei bundesweit nicht vergebenen Arztnummern getätigt. Der Antragstellerin fielen die Fehlabrechnungen auf, so dass es nicht zu einer Auszahlung entsprechender Honorare kam. Die Beschwerdeführerin räumte den Sachverhalt im Wesentlichen ein und erklärte, die Ursachen lägen in einem fehleranfälligen EDV-System, einer unzureichenden Schulung der mit der Abrechnung befassten Mitarbeiter und einer allgemeinen Belastungssituation wegen eines Praxisumzugs. Diese Mängel seien zwischenzeitlich behoben.

3

b) Auf Antrag der Antragstellerin entzog der Zulassungsausschuss für Ärzte der Beschwerdeführerin gestützt auf § 95 Abs. 6 SGB V die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung, weil sie ihre vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt habe.

4

c) In der Folgezeit wurde der Widerspruch der Beschwerdeführerin durch den Berufungsausschuss für Ärzte zurückgewiesen und die Zulassung mit Wirkung "ab Zustellung dieses Beschlusses" entzogen. Die sofortige Vollziehung wurde nicht angeordnet. Die Beschwerdeführerin habe ihre vertragsärztlichen Pflichten gröblich verletzt, indem sie Ärzte ohne die erforderliche Genehmigung nach § 95 Abs. 2 Satz 7 SGB V beschäftigt und durch Verwendung falscher Arztnummern gegen das Gebot zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen habe. Soweit behauptet werde, es handele sich um bloße technische Abrechnungsfehler, sei dieses Vorbringen nicht überzeugend. Durch die Pflichtverletzungen sei das Vertrauen der Antragstellerin und der Krankenkassen in die ordnungsgemäße Behandlung der Versicherten und die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen so gestört, dass diesen eine weitere Zusammenarbeit nicht zumutbar sei.

5

d) Gegen diesen Beschluss erhob die Beschwerdeführerin Klage. Im Hinblick auf deren aufschiebende Wirkung beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Beschwerdeführerin war an diesem gegen den Berufungsausschuss gerichteten Verfahren als Beigeladene beteiligt.

6

Das Sozialgericht gab dem Antrag durch den angegriffenen Beschluss vom 20. November 2009 statt. Voraussetzung für die Anordnung sei, dass der Beschluss offensichtlich rechtmäßig sei und ein öffentliches Interesse bestehe, ihn bereits vor Eintritt der Bestandskraft zu vollziehen. Die Anforderungen an das öffentliche Interesse dürften allerdings nicht überspannt werden. Denn die aufschiebende Wirkung von Rechtsmitteln gegen eine Zulassungsentziehung habe zur Folge, dass der betroffene Arzt uneingeschränkt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sei und das abgerechnete Honorar behalten dürfe. Dem Anreiz, auch gegen ersichtlich rechtmäßige Zulassungsentziehungen zu klagen, um so lange wie möglich Einnahmen zu erzielen, könne und dürfe in eindeutigen Fällen durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung entgegengewirkt werden. Hiervon ausgehend, lägen die Voraussetzungen für die Anordnung des Sofortvollzugs vor. Die Zulassungsentziehung sei offensichtlich rechtmäßig. Es bestehe auch ein hinreichendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit. Wegen der zerstörten Vertrauensbasis zur Antragstellerin und den Krankenkassen sei es notwendig, dass die Beschwerdeführerin mit sofortiger Wirkung keine weiteren Abrechnungsmöglichkeiten mehr habe. Die Anordnung diene weiter auch dem Interesse der Versichertengemeinschaft, mit ihren Beiträgen einem Leistungserbringer, dem bereits die Zulassung in rechtmäßiger Weise entzogen worden sei, keine weiteren Einkommensmöglichkeiten mehr zu eröffnen. Im Übrigen sehe die Kammer auch die Gefahr, dass die Abrechnungsfehler sich während der Dauer des Gerichtsverfahrens wiederholen könnten, weil die von der Beschwerdeführerin verantwortlich gemachten übereifrigen Mitarbeiter bisher weder entlassen noch sonst von ihren Aufgaben entbunden worden seien. Die Beschwerdeführerin habe nicht vorgetragen, wie sie ihren Pflichten zukünftig besser nachkommen wolle und wer aus dem Gesellschafterkreis oder der Geschäftsführung persönlich für die Einhaltung der notwendigen Abrechnungsstandards garantieren könne und solle.

7

e) Das Landessozialgericht wies die Beschwerde mit dem ebenfalls angegriffenen Beschluss vom 9. Februar 2010 mit der Maßgabe, dass die sofortige Vollziehung mit Wirkung zum 1. April 2010 angeordnet werde, zurück. Ob die sofortige Vollziehung anzuordnen sei, entscheide sich nach Gegenüberstellung der Interessen der Antragstellerin und der Beschwerdeführerin. Je höher die Erfolgsaussichten der Klage seien, umso höher seien auch die Anforderungen an die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Selbst bei einer offensichtlich aussichtslosen Klage sei jedoch ein über den Erlass des Verwaltungsakts hinausgehendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung erforderlich. Hier sei die Klage offensichtlich aussichtslos. Das Sozialgericht habe im Ergebnis zu Recht die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet, weil hieran ein besonderes öffentliches Interesse bestehe. Allerdings greife die Anordnung in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin und in die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG ein. Für die Beschwerdeführerin handele es sich de facto um einen Eingriff in die Berufswahl, weil sie als Gesellschaft mit beschränkter Haftung berufsrechtlich nicht weiterhin als ärztliche Berufsausübungsgemeinschaft tätig sein könne. Sowohl spezial- als auch generalpräventive Überlegungen könnten in die Prüfung des öffentlichen Interesses einbezogen werden. Die sofortige Vollziehung verfolge in generalpräventiver Hinsicht das Ziel, keinen Anreiz zur Nachahmung zu schaffen und beuge so einer weiteren gesetzwidrigen Entwicklung vor. Im vorliegenden Fall liege das besondere öffentliche Interesse in der konkreten Gefährdung für das wichtige Gemeinschaftsgut der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung. Die Pflicht des Vertragsarztes zur peinlich genauen Abrechnung gehöre zu den essentiellen Grundlagen des Systems der vertragsärztlichen Versorgung. Das - hier gravierend gestörte - Vertrauen der Antragstellerin und der Krankenkassen in die ordnungsgemäße Abrechnung sei von entscheidender Bedeutung, weil ordnungsgemäße Leistungserbringung und Abrechnung lediglich in einem beschränkten Umfang der Überprüfung derjenigen zugänglich seien, die die Gewähr für die Sicherstellung der Versorgung zu tragen hätten. Hinzu komme, dass nach den Besonderheiten des vertragsärztlichen Vergütungswesens unberechtigte Honorarforderungen eines Arztes zu Honorarverlusten bei anderen Ärzten führten. Diese Gefahren würden verwirklicht, dürfte die Beschwerdeführerin auch nur bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens weiterhin an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen. Insoweit lasse der Senat offen, ob die eher spezialpräventiven Überlegungen des Sozialgerichts, welches vor allem auf eine Wiederholungsgefahr abgestellt habe, nach dem Beschwerdevorbringen zu den zwischenzeitlich veranlassten Veränderungen - neuer ärztlicher Leiter, neuer Standortmanager, Schulungen aller Mitarbeiter - noch Bestand haben könnten. Denn generalpräventive Erwägungen zur Wahrung der finanziellen Stabilität der vertragsärztlichen Versorgung rechtfertigten die Anordnung der sofortigen Vollziehung, um hierdurch alle anderen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Vertragsärzte und - in besonderem Maße - Medizinische Versorgungszentren vor ähnlichem Verhalten zu warnen und abzuschrecken. Anlass hierzu sehe der Senat, nachdem ihm aktuell durch mehrere Verfahren, an denen Medizinische Versorgungszentren beteiligt gewesen seien, die enorme Missbrauchsgefahr im Zusammenhang mit der den Medizinischen Versorgungszentren eingeräumten Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen geführt worden sei. Diese Gefahren hätten sich vorliegend in exemplarischer Form realisiert. Es werde nicht verkannt, dass der Sofortvollzug für die Beschwerdeführerin schwerwiegende finanzielle Nachteile befürchten lasse. Angesichts des Gewichts der Verfehlungen und der offensichtlichen Rechtmäßigkeit der Zulassungsentziehung müssten diese aber hinter der anderenfalls dringend gefährdeten Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung zurückstehen. Allerdings müsse der Beschwerdeführerin eine Auslauffrist zugebilligt werden, innerhalb der die bei ihr angestellten Ärzte die Möglichkeit hätten, begonnene Therapien zumindest zu einem teilweisen Abschluss zu bringen und eine geordnete Überleitung zu einer anderen Behandlung sicherzustellen.

8

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4, jeweils in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG, durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Beschlusses des Sozialgerichts und die Entscheidung des Landessozialgerichts, soweit diese den erstinstanzlichen Beschluss bestätigt.

9

3. Der Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin, der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin und den im Ausgangsverfahren Beigeladenen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.

II.

10

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. zu Art. 12 Abs. 1 GG: BVerfGE 44, 105<117 ff.>; vgl. zu Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfGE 35, 263<274 f.>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>). Die Verfassungsbeschwerde ist zudem offensichtlich begründet.

11

1. a) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch das Sozialgericht und der Beschluss des Landessozialgerichts verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG.

12

aa) Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der vertragsärztlichen Zulassung greift in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Die - durch den landessozialgerichtlichen Beschluss bestätigte - Abweichung von der im Gesetz grundsätzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG) stellt einen selbständigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfGK 2, 89 <93>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2157/07 -, NJW 2008, S. 1369). Der Beschwerdeführerin wird schon vor der rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache jedenfalls die Möglichkeit genommen, sich vertragsärztlich zu betätigen. Damit liegt jedenfalls eine der Berufswahl nahekommende Berufsausübungsregelung vor, die nur zur Sicherung besonders wichtiger Interessen der Allgemeinheit zulässig ist (vgl. BVerfGE 11, 30 <45>; 12, 144 <147>; auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 31. März 1998 - 1 BvR 2167/93 u.a. -, juris ).

13

bb) Da die durch den Sofortvollzug bewirkten Beschränkungen angesichts des hohen Anteils der gesetzlich krankenversicherten Patienten einem vorläufigen Berufsverbot zumindest nahekommen, sind sie - wie dieses - nur unter strengen Voraussetzungen zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 <117 ff.>). Allein die hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren zum Nachteil des Betroffenen ausgehen wird, reicht mithin nicht aus. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt vielmehr voraus, dass überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit des Betroffenen rechtfertigen, seinen Rechtsschutzanspruch gegen die Grundverfügung einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit schon vor Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (vgl. BVerfGE 44, 105 <117 f.>; BVerfGK 2, 89 <94>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2007, NJW 2008, S. 1369 m.w.N.).

14

cc) Diesen Anforderungen entsprechen die angegriffenen Entscheidungen nicht in jeder Hinsicht.

15

(1) Das Sozialgericht stützt das von ihm angenommene öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung zwar auch auf die Gefahr, dass die Abrechnungsfehler sich während der Dauer des Gerichtsverfahrens wiederholen könnten, und geht damit von einem Aspekt aus, der grundsätzlich geeignet ist, die Anordnung des Sofortvollzugs zu rechtfertigen. Denn mit der Annahme, es seien zwischenzeitlich erneute fehlerhafte Abrechnungen zu befürchten, nimmt das Gericht eine konkrete Gefahr für ein schutzwürdiges Gemeinschaftsgut in den Blick. Die Verlässlichkeit des Abrechnungssystems ist eine der Bedingungen für das Funktionieren der vertragsärztlichen Versorgung und dient damit der Sicherung eines besonders wichtigen Allgemeininteresses, das Beschränkungen des Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich auch im Rahmen des Sofortvollzugs erlaubt (vgl. nur BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 1995 - 1 BvR 2438/94 -, juris ).

16

Soweit das Gericht eine konkrete Gefahr bejaht, fehlt es jedoch an einer ausreichenden, den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügenden Abwägung der für beziehungsweise gegen die Verwirklichung einer solchen Gefahr sprechenden Gesichtspunkte. Das Sozialgericht berücksichtigt bei seiner Prüfung ausschließlich die für die Beschwerdeführerin ungünstigen Umstände, während die für sie günstigen Aspekte - wie die Entbindung des Standortmanagers von seiner Funktion und die Beauftragung eines Unternehmens, das die zukünftigen Abrechnungen überprüfen soll - keine Erwähnung finden. Auch die für die Beurteilung einer möglichen Wiederholungsgefahr in der Regel gebotenen Feststellungen dazu, ob seit dem Entzug der Zulassung erneut Abrechnungsfehler aufgetreten sind, fehlen gänzlich.

17

(2) Die Entscheidung des Landessozialgerichts leidet daran, dass das Gericht bei der Prüfung des öffentlichen Interesses für die Anordnung des Sofortvollzugs ein Verständnis von dem Vorliegen einer "konkreten Gefahr" zugrunde legt, das verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht gerecht wird. Das Gericht überdehnt den Begriff in zweifacher Weise. Zum einen begründet es die Notwendigkeit des Sofortvollzugs ausschließlich mit der gebotenen Abschreckungswirkung für andere Vertragsärzte und insbesondere Medizinische Versorgungszentren, sieht also die sofortige Vollziehung als Mittel der Generalprävention. Dabei stützt es sich jedoch auf eine Gefahrenlage, die von der Beschwerdeführerin weder verursacht wurde noch ihr aus sonstigen Gründen zugerechnet werden kann. Somit fehlt es an dem zur Rechtfertigung des Eingriffs notwendigen Zusammenhang zwischen einer weiteren beruflichen Betätigung der Beschwerdeführerin und der Gefährdung wichtiger Gemeinschaftsgüter. Zum anderen wird selbst im Hinblick auf die anderen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und die Medizinischen Versorgungszentren keine konkrete Gefahr von Missständen dargelegt. Das Landessozialgericht beschreibt insoweit nur, unter Bezugnahme auf vergangene, von ihm offenbar bereits entschiedene Fälle, bestimmte Konstellationen, die die abstrakte Gefahr eines Missbrauchs bergen. Solchen Gefahren ist aber nicht durch die Anordnung vorläufiger Berufsverbote oder vergleichbar wirkender Maßnahmen zu begegnen. Vielmehr sind sowohl der Gesetzgeber aufgerufen, einer missbräuchlichen Verwendung rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten durch entsprechende Anpassung der zugrunde liegenden Normen entgegenzuwirken, als auch die Verwaltung auf die Einhaltung der geltenden Vorschriften zu achten. Soweit, wie die Antragstellerin behauptet, nur unzureichende Kontrollmöglichkeiten bestehen, sind diese zu verbessern, rechtfertigen aber keine Ausdehnung der gerichtlichen Befugnisse zur Anordnung des Sofortvollzugs.

18

Im Übrigen hat das Landessozialgericht die Nachteile, die der Beschwerdeführerin durch den Sofortvollzug drohen, auch nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Abwägung eingestellt. Das Gericht spricht lediglich von "schwerwiegenden finanziellen Nachteilen", womit die Bedeutung des schwerwiegenden Eingriffs in die Berufsfreiheit, der einem vorläufigen Berufsverbot gegenüber der Beschwerdeführerin zumindest nahekommt, nur unzureichend zum Ausdruck gebracht wird. Den Interessen der Beschwerdeführerin wird zudem nur pauschal eine dringende Gefahr für die Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung gegenüber gestellt. Eine wertende Gewichtung beider Gesichtspunkte, zu der grundsätzlich auch Feststellungen zur Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gehören müssten, findet nicht statt.

19

b) Zugleich verletzen die Entscheidungen des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG.

20

Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Grundrechtsträger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>; stRspr). Der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher nicht nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in Rechte des Grundrechtsträgers eingreift, vollständig der richterlichen Prüfung zu unterstellen, sondern auch irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>). Allerdings können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dabei ist der Rechtsschutzanspruch umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>).

21

Diesen Voraussetzungen genügen die angegriffenen Entscheidungen wegen der unhaltbar begründeten Annahme einer konkreten Gefahr für Gemeinschaftsgüter während der Dauer des Hauptsacheverfahrens und wegen der unzureichenden Abwägung der gegenläufigen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht.

22

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den festgestellten Verstößen gegen Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG.

23

Es erscheint angezeigt, gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG nur den Beschluss des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache dorthin zurückzuverweisen. Das dient dem Interesse der Beschwerdeführerin, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten.

24

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.

Tenor

I.

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

III.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der am 18. September 1995 geborene Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 80 Abs. 5 VwGO) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die - wegen des Handels mit Drogen an der Schule verfügte - Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule (Bescheid der Schulleiterin des vom Antragsteller in der Jahrgangsstufe 11 besuchten Gymnasiums vom 19.12.2013).

Das Verwaltungsgericht München hat den Antrag des Antragstellers mit Beschluss vom 18. Februar 2014 abgelehnt. Die Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule sei nach summarischer Prüfung rechtmäßig. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses Bezug genommen.

Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Rechtsschutzziel weiter. Er gibt zur Begründung im Wesentlichen unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vorbringens an, die streitgegenständliche Ordnungsmaßnahme sei formell und materiell rechtswidrig. Der Bescheid vom 19. Dezember 2013 sei nicht hinreichend begründet. Er lasse namentlich die für die Ermessensentscheidung der Schule gebotene Abwägung des bisherigen schulischen Werdegangs und der Lebenssituation des Antragstellers mit dem vorgeworfenen Sachverhalt und der „Schwere“ der Ordnungsmaßnahme vermissen. Der dem Antragsteller vorgeworfene - und von diesem nicht eingeräumte - Sachverhalt sei im Bescheid im Übrigen nicht hinreichend substantiiert dargestellt. Der Antragsteller und dessen Erziehungsberechtigte seien über den zur Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule führenden Sachverhalt auch nicht frühzeitig schriftlich unterrichtet worden. Ihnen sei zudem das vorläufige Ergebnis der Untersuchung des Disziplinarausschusses nicht schriftlich (mit Einschreiben) mitgeteilt worden. Ferner seien im Entlassungsverfahren weder der Schularzt noch der zuständige Schulpsychologe zur gutachtlichen Äußerung beigezogen worden. Der Bescheid beruhe schließlich auf bloßen Vermutungen. Er stütze sich nicht auf ein dem Antragsteller nachgewiesenes Fehlverhalten. Es fehle außerdem an der Verhältnismäßigkeit der Ordnungsmaßnahme, weil der Entlassung des Antragstellers keine entsprechende Androhung vorangegangen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 17. März 2014 verwiesen.

Der Antragsgegner tritt dem Vorbringen des Antragstellers entgegen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten (Heftungen) Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

1. Das Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (§ 146 Abs. 4 Satz 6, § 80 Abs. 5 VwGO) rechtfertigt keine vom angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts abweichende Entscheidung. Der Senat folgt den ausführlichen Gründen jenes Beschlusses (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ergänzend ist zu bemerken:

Die vom Antragsteller gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule geltend gemachten Einwendungen greifen nicht durch.

a) Die vom zuständigen Disziplinarausschuss der Schule in seiner Sitzung vom 19. Dezember 2013 einstimmig beschlossene Entlassung des Antragstellers von der Schule (Art. 58 Abs. 1 Satz 3, Art. 86 Abs. 2 Nr. 9, Art. 87 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen [BayEUG] in der Fassung der Bekanntmachung vom 31.5.2000 [GVBl S. 414, BayRS 2230-1-1-K], zuletzt geändert durch Gesetz vom 24.7.2013 [GVBl S. 465]) ist im angefochtenen Bescheid der Schulleiterin vom 19. Dezember 2013 zwar nur sehr knapp dahin begründet worden, dass aufgrund der Aussagen mehrerer Schüler zweifelsfrei erwiesen sei, dass der Antragsteller tatsächlich an der Schule mit Betäubungsmitteln gehandelt habe. Auch fehlen im Bescheid die in der Sitzung des Disziplinarausschusses - ausweislich der Sitzungsniederschrift - zur Person des Antragstellers, seiner Lebenssituation und zur ausgesprochenen Ordnungsmaßnahme angestellten Ermessenserwägungen. Eine fehlende oder unvollständige Begründung (Art. 39 Abs. 1 BayVwVfG) rechtfertigt jedoch nicht schon die Annahme der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids. Denn die Schule kann die erforderliche Begründung noch nachträglich geben und alle wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe, welche die Schule zu ihrer Entscheidung bewogen haben sowie die Gesichtspunkte, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist, bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachholen (Art. 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BayVwVfG). Dies ist vorliegend durch die Stellungnahme der Schulleiterin vom 3. Februar 2014, welche die Regierung von Oberbayern als Prozessvertretung in das gerichtliche Verfahren (Klage- und Eilverfahren) eingeführt hat, geschehen.

b) Der Einwand des Antragstellers, er und seine Erziehungsberechtigten seien über den zur Ordnungsmaßnahme der Entlassung von der Schule führenden Sachverhalt nicht frühzeitig schriftlich unterrichtet worden, trifft nicht zu.

Die Schulleiterin ist - wie ihrem Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren zu entnehmen ist - erstmals am 6. Dezember 2013 von der Polizei über den dringenden Verdacht unterrichtet worden, dass der Antragsteller mit Betäubungsmitteln handelt und dieser Handel auch auf dem Schulgelände stattfindet. Die Polizei hat danach keinen Zweifel daran gelassen, dass nach dem Stand der bisherigen polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen mehrere Schüler des vom Antragsteller besuchten Gymnasiums von diesem seit längerer Zeit (jedenfalls seit dem Frühjahr 2013) Drogen bezogen haben. Die Schulleiterin hat nach Rücksprache mit dem Ministerialbeauftragten daraufhin den Antragsteller am 9. Dezember 2013 in einem persönlichen Gespräch mit dem Vorwurf konfrontiert, zu dem sich der Antragsteller nicht näher geäußert hat. Mit Schreiben vom 10. Dezember 2013 hat die Schulleiterin sowohl den zu diesem Zeitpunkt bereits volljährigen Antragsteller als auch dessen Onkel, bei dem der Antragsteller wohnt und der von den unverändert in Nigeria lebenden - und für die Schule weder postalisch noch sonst erreichbaren - Eltern des Antragstellers mittels einer schriftlichen „Delegation des Sorgerechts“ vom 20. August 2012 mit der Ausübung von „Sorgerecht und Aufenthaltsrecht“ in Bezug auf den Antragsteller beauftragt worden ist, über die Einleitung des Disziplinarverfahrens gegen den Antragsteller und den Tatvorwurf (polizeiliche Sicherstellung einer größeren Menge Drogen beim Antragsteller bei einer Hausdurchsuchung am 31.10.2013 und Ermittlungen wegen Besitzes und Handels mit Betäubungsmitteln) unterrichtet und Ort und Termin der Sitzung des Disziplinarausschusses (19.12.2013) mitgeteilt sowie die gesetzlich vorgesehenen Hinweise (etwa zur Möglichkeit der Teilnahme an der Sitzung, der Zuziehung eines Vertrauenslehrers oder des Elternbeirats) gegeben. Dass dieses tatsächlich zugegangene Schreiben nicht durch „Einschreiben“ übermittelt wurde, hat das Verwaltungsrecht zu Recht als unbeachtlich angesehen.

An der Sitzung des Disziplinarausschusses hat - ausweislich der Sitzungsniederschrift - der Onkel des Antragstellers teilgenommen und Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Antragsteller ist „auf Anraten seines Anwalts nicht erschienen“. In der Sitzung des Disziplinarausschusses sind auch die der Schulleiterin zwischenzeitlich durch Angaben weiterer Schüler bekannt gewordenen näheren Umstände des Handels mit Drogen durch den Antragsteller auf und vor dem Schulgelände erörtert worden.

Die Entscheidung des Disziplinarausschusses wurde dem anwesenden Onkel des Antragstellers noch am gleichen Tag mündlich eröffnet. Das Ergebnis des Disziplinarverfahrens (Entlassung von der Schule) ist dem Antragsteller sowie dessen Onkel mit Schreiben (Bescheid) vom 19. Dezember 2013 mitgeteilt worden. Die erneute Mitteilung eines „vorläufigen“ Ergebnisses der Untersuchung an die Erziehungsberechtigten durch Einschreiben (§ 17 Abs. 2 Satz 1 der Schulordnung für die Gymnasien in Bayern [Gymnasialschulordnung - GSO] vom 23.1.2007 [GVBl S. 68, BayRS 2235-1-1-1-K], zuletzt geändert durch Verordnung vom 12.6.2013 [GVBl S. 390]) war damit entbehrlich, zumal im Fall des nunmehr volljährigen Antragstellers ohnehin nur noch eine „Unterrichtung“ der früheren Erziehungsberechtigten gesetzlich vorgesehen ist (Art. 88a BayEUG).

c) Einer Beiziehung des Schularztes oder des zuständigen Schulpsychologen zur gutachtlichen Äußerung im Entlassungsverfahren bedurfte es „nach Lage des Falls“ (Art. 87 Abs. 2 BayEUG) vorliegend nicht, weil in der Person des Antragstellers keine besonderen Umstände physischer oder psychischer Art vorliegen.

d) Der Einwand des Antragstellers, der Bescheid beruhe auf „bloßen Vermutungen“ und stütze sich nicht auf ein dem Antragsteller nachgewiesenes Fehlverhalten, trifft nicht zu.

Die Entscheidung des Disziplinarausschusses stützt sich nicht nur auf die bekannt gewordenen polizeilichen Ermittlungen, sondern auch auf die der Schulleiterin in der Zeit vom 10. Dezember 2013 bis 19. Dezember 2013 bekannt gewordenen Aussagen von Schülern ihrer Schule, die Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens waren. Ebenso wie das Verwaltungsgericht hat auch der Senat keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Angaben.

e) Entgegen der Annahme des Antragstellers ist die Ordnungsmaßnahme verhältnismäßig, auch wenn der Entlassung des Antragstellers keine entsprechende Androhung vorangeht.

Der Senat hat bereits entschieden, dass es gerichtlich nicht zu beanstanden ist, wenn dem Handel mit Drogen in der Schule mit Nachdruck begegnet wird. Deshalb ist bei solchen Delikten die Entlassung von der Schule auch ohne vorherige Androhung gerechtfertigt (vgl. z. B. BayVGH, B. v. 14.6.2002 - 7 CS 02.776 - juris Rn. 44 ff.).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG i. V. m. Nr. 1.5 und Nr. 38.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der 2013 aktualisierten Fassung (http://www.bverwg.de/medien/pdf/streitwertkatalog.pdf). Sie entspricht der Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.

3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ist über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 68 zulässig. Die Klage kann nicht vor Ablauf von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, daß über den Widerspruch noch nicht entschieden oder der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aus. Wird dem Widerspruch innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist stattgegeben oder der Verwaltungsakt innerhalb dieser Frist erlassen, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 3 der Zivilprozessordnung:

1.
über die Anordnung eines Arrests, zur Erwirkung eines Europäischen Beschlusses zur vorläufigen Kontenpfändung, wenn keine Festgebühren bestimmt sind, und auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sowie im Verfahren über die Aufhebung, den Widerruf oder die Abänderung der genannten Entscheidungen,
2.
über den Antrag auf Zulassung der Vollziehung einer vorläufigen oder sichernden Maßnahme des Schiedsgerichts,
3.
auf Aufhebung oder Abänderung einer Entscheidung auf Zulassung der Vollziehung (§ 1041 der Zivilprozessordnung),
4.
nach § 47 Absatz 5 des Energiewirtschaftsgesetzes über gerügte Rechtsverletzungen, der Wert beträgt höchstens 100 000 Euro, und
5.
nach § 148 Absatz 1 und 2 des Aktiengesetzes; er darf jedoch ein Zehntel des Grundkapitals oder Stammkapitals des übertragenden oder formwechselnden Rechtsträgers oder, falls der übertragende oder formwechselnde Rechtsträger ein Grundkapital oder Stammkapital nicht hat, ein Zehntel des Vermögens dieses Rechtsträgers, höchstens jedoch 500 000 Euro, nur insoweit übersteigen, als die Bedeutung der Sache für die Parteien höher zu bewerten ist.

(2) In folgenden Verfahren bestimmt sich der Wert nach § 52 Absatz 1 und 2:

1.
über einen Antrag auf Erlass, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung oder § 114 der Finanzgerichtsordnung,
2.
nach § 47 Absatz 6, § 80 Absatz 5 bis 8, § 80a Absatz 3 oder § 80b Absatz 2 und 3 der Verwaltungsgerichtsordnung,
3.
nach § 69 Absatz 3, 5 der Finanzgerichtsordnung,
4.
nach § 86b des Sozialgerichtsgesetzes und
5.
nach § 50 Absatz 3 bis 5 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes.