Oberlandesgericht München Beschluss, 20. Mai 2016 - 1 Ws 369/16

20.05.2016
vorgehend
Landgericht Traunstein, 4 Ns 260 Js 1622/14, 20.04.2016

Gericht

Oberlandesgericht München

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Laufen vom 24.02.2016 (2 Ls 260 Js 1622/14) und der Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 20.04.2016 (4 Ns 260 Js 1622/14) aufgehoben.

Der Angeklagte ist in dieser Sache sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I..

Dem Angeklagten liegt Betrug, Urkundenfälschung, Unterschlagung und Untreue im Zusammenhang mit dem Betrieb einer Schreinerei zur Last. Nach zweitägiger Hauptverhandlung wurde er am 24.02.2016 vom Amtsgericht Laufen - Schöffengericht - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Mit Urteilsverkündung erließ das Amtsgericht einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl, aufgrund dessen sich der Angeklagte seither in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Bad Reichenhall befindet.

Gegen das amtsgerichtliche Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung zum Landgericht Traunstein eingelegt.

Die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 09.03.2016 wurde vom Landgericht Traunstein mit Beschluss vom 14.03.2016 verworfen (6 Qs 49/16). Die hiergegen gerichtete weitere Haftbeschwerde vom 22.03.2016 wurde vom Landgericht Traunstein - nachdem dort am 29.03.2016 die Berufungen gegen das amtsgerichtliche Urteil eingegangen waren - in einen Haftprüfungsantrag umgedeutet und führte zum Beschluss vom 20.04.2016, mit dem das Landgericht Traunstein den amtsgerichtlichen Haftbefehl aufrecht erhielt. Gegen diesen landgerichtlichen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit der erneuten Haftbeschwerde im Verteidigerschriftsatz vom 27.04.2016, der das Landgericht Traunstein mit Beschluss vom 04.05.2016 nicht abgeholfen hat.

II. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als Haftbeschwerde statthaft und zulässig (§§ 117 Abs. 2 S. 2, 304 Abs. 1, 306 Abs. 1 StPO). Diese erweist sich als begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls und der ihn bestätigenden Haftprüfungsentscheidung.

Der Senat vermag - anders als die Vorinstanzen - keine Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) zu erkennen, die den Erlass eines Haftbefehls rechtfertigen könnte.

Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der

Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen. Diese Gefahr muss sich bei objektiver Betrachtung nachvollziehbar, aber nicht notwendig zwingend, aus bestimmten Tatsachen ableiten lassen. Eine bloß schematische Beurteilung ist hierbei zu vermeiden; vielmehr muss die Fluchtgefahr den konkreten Umständen des Einzelfalles entnommen werden. Kriminalistische Erfahrungen können dabei zuungunsten des Beschuldigten mit verwertet werden. In die gebotene Gesamtwürdigung sind alle entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalles, vor allem die persönlichen Verhältnisse des Täters, ein-zubeziehen. Hierbei sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegenüber denjenigen abzuwägen, die ihr entgegenstehen. Der Fluchtverdacht kann nicht schon bejaht werden, wenn die äußeren Bedingungen für eine Flucht günstig sind; vielmehr ist zu prüfen, ob der Beschuldigte voraussichtlich von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen wird (Graf in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Auflage 2013, Rn. 16 zu § 112; Hervorh. OLG).

Vorliegend sind schon keine Tatsachen erkennbar, die bei objektiver Betrachtung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Flucht des Angeklagten begründen könnten. Gegenteilig sprechen mehrere Umstände, insbesondere die familiären Verhältnisse des Angeklagten, dagegen.

Der Angeklagte hat sich dem seit Anfang 2014 laufenden Verfahren gestellt, welches schließlich zur Anklage vor dem Schöffengericht gegen ihn führte. Er musste daher mit einer bis zu 4-jährigen Freiheitsstrafe rechnen, was ihm nach glaubhaftem Vortrag seiner Verteidiger von diesen auch dargelegt wurde. Die Vermutung der Vorinstanzen, der Angeklagte sei von der erfolgten Verurteilung zu einer Vollzugsstrafe überrascht worden, hat angesichts des Verfahrensverlaufs und insbesondere seines unter dem Eindruck der Beweisaufnahme schließlich abgegebenen Teilgeständnisses keine tatsächliche Grundlage zumal auch sein Verteidiger eine immerhin 2-jährige Bewährungsstrafe beantragt hat. Auch dem Angeklagten dürfte bekannt gewesen sein, dass Verteidigeranträge nicht selten überboten werden.

Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat keine Beziehungen ins Ausland. Er ist - wie seine Familie -vollkommen vermögenslos und hoch verschuldet, was Anlass für die verfahrensgegenständlichen Taten gewesen sein dürfte. Anders als die Vorinstanzen sieht der Senat in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen keinen besonderen Fluchtanreiz. Gegenteilig dürfte sich eine Flucht ohne Geldmittel schwieriger als mit solchen gestalten. Dementsprechend sind dem Senat eine Vielzahl von Haftbefehlen bekannt, in denen gerade das liquide Vermögen des Inhaftierten als Grund für die Fluchtgefahr benannt wurde. Die umgekehrte Argumentation der Vorinstanzen läuft darauf hinaus, dass sowohl vorhandenes Vermögen als auch das Fehlen eines solchen Fluchtgefahr begründet. Dem ist nicht zu folgen.

Die Argumentation schließlich, der Angeklagte, der mit seiner Frau und drei kleinen Kinder im Alter von 4, 6 und 9 Jahren zusammenlebt, könne „bei einer Flucht ins Ausland für seine Familie besser sorgen“ erscheint geradezu an den Haaren herbei gezogen. Eine erfolgversprechende Flucht zusammen mit den Kindern erscheint dem Senat ausgeschlossen. Fernliegend ist aber auch die Möglichkeit, mit im Ausland erworbenen Geldmitteln die Familie daheim auf Dauer zu versorgen. Unerfindlich bleibt dem Senat auch das amtsgerichtliche Bemerken einer „angeblichen“ familiären Bindung: Die (ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls nicht gem. § 52 StPO belehrte!) Ehefrau des Angeklagten ist unter derselben Anschrift wie dieser ansässig.

Angesichts der somit nicht begründbaren Fluchtgefahr kann dahinstehen, ob auch die schleppende Verfahrensbearbeitung durch die Vorinstanzen zur Aufhebung des Haftbefehls gezwungen hätten. Dem Senat ist jedenfalls nicht entgangen, dass er erst knapp 3 Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten mit der Sache befasst wurde.

Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 464 Abs. 2, 473 Abs. 3 und 4 (entspr.) StPO.

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Strafprozeßordnung - StPO | § 112 Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe


(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßr

Strafprozeßordnung - StPO | § 52 Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten


(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt 1. der Verlobte des Beschuldigten;2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;2a. der Lebenspartner des Beschuldigten, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteh

Strafprozeßordnung - StPO | § 117 Haftprüfung


(1) Solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, kann er jederzeit die gerichtliche Prüfung beantragen, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug nach § 116 auszusetzen ist (Haftprüfung). (2) Neben dem Antrag auf Haftprüfung ist die

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(1) Solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, kann er jederzeit die gerichtliche Prüfung beantragen, ob der Haftbefehl aufzuheben oder dessen Vollzug nach § 116 auszusetzen ist (Haftprüfung).

(2) Neben dem Antrag auf Haftprüfung ist die Beschwerde unzulässig. Das Recht der Beschwerde gegen die Entscheidung, die auf den Antrag ergeht, wird dadurch nicht berührt.

(3) Der Richter kann einzelne Ermittlungen anordnen, die für die künftige Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft von Bedeutung sind, und nach Durchführung dieser Ermittlungen eine neue Prüfung vornehmen.

(4) (weggefallen)

(5) (weggefallen)

(1) Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.

(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen

1.
festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2.
bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3.
das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a)
Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b)
auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c)
andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).

(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 176c, 176d, 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.

(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt

1.
der Verlobte des Beschuldigten;
2.
der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht;
2a.
der Lebenspartner des Beschuldigten, auch wenn die Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht;
3.
wer mit dem Beschuldigten in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt oder bis zum zweiten Grad verschwägert ist oder war.

(2) Haben Minderjährige wegen mangelnder Verstandesreife oder haben Minderjährige oder Betreute wegen einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung von der Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechts keine genügende Vorstellung, so dürfen sie nur vernommen werden, wenn sie zur Aussage bereit sind und auch ihr gesetzlicher Vertreter der Vernehmung zustimmt. Ist der gesetzliche Vertreter selbst Beschuldigter, so kann er über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts nicht entscheiden; das gleiche gilt für den nicht beschuldigten Elternteil, wenn die gesetzliche Vertretung beiden Eltern zusteht.

(3) Die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigten Personen, in den Fällen des Absatzes 2 auch deren zur Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts befugte Vertreter, sind vor jeder Vernehmung über ihr Recht zu belehren. Sie können den Verzicht auf dieses Recht auch während der Vernehmung widerrufen.