Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Beschluss, 12. Feb. 2013 - L 5 AS 57/13 NZB
Gericht
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 7. Juni 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
- 1
Der Kläger und Beschwerdeführer begehrt die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts Magdeburg, mit dem dieses die Erledigung eines Rechtsstreits durch Vergleich festgestellt hat, und die Durchführung des Berufungsverfahrens.
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Der am ... 1962 geborene Kläger bezieht von dem Beklagten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Mit einer am 14. November 2007 beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhobenen Klage (S 4 AS 2469/07) wandte er sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 1. Februar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 2007. Der Beklagte hatte die Leistungen nach SGB II für die Zeit vom 1. Juli bis zum 30. September 2005 wegen Einkommenserzielung teilweise aufgehoben und insgesamt einen Erstattungsbetrag von 436,77 EUR geltend gemacht. Der Kläger führte zur Begründung dieser Klage aus, bei der Einkommensanrechnung seien Fahrtkosten, Kosten für Arbeitsbekleidung sowie Freibeträge nicht ordnungsgemäß berücksichtigt worden.
- 3
Das SG führte eine nichtöffentliche Sitzung am 4. Februar 2010 durch. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage schlossen die Beteiligten ausweislich des Protokolls dieser Sitzung, das dem Kläger am 11. Februar 2010 zugestellt wurde, den folgenden Vergleich:
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"1. Der Kläger verpflichtet sich, an die Beklagte 336,77 EUR zu zahlen.
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2. Eine Kostenerstattung findet nicht statt.
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3. Die Beteiligten erklären den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt."
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Ausweislich der Sitzungsniederschrift ist der Vergleichstext laut diktiert, den Beteiligten vorgespielt und von ihnen genehmigt worden.
- 8
Am 22. Februar 2010 legte der Kläger "gegen das Gerichtsurteil vom 4.2.2010 Widerspruch" ein. Anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 1. März 2010 erklärte er schriftlich, das Schreiben könne als erledigt angesehen werden. Am 16. Januar 2012 führte er aus, seinen Widerspruch weiterhin aufrecht zu erhalten. Das Schreiben war mit dem Datum 15. November 2012 versehen. Er führte später zur Begründung aus: "Unsachgemäße Bearbeitung" sowie "falsche Berechnungen". Auf Nachfrage des SG ergänzte er, der Mitarbeiter des Beklagten habe das SG "in der Gerichtsverhandlung belogen". Er habe mit der Richterin "gemeinsame Sache gemacht". Er frage sich, wann das SG "nun endlich mal gewillt ist, diese Angelegenheit ordnungsgemäß zu Ende zu bringen".
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Das SG hat mit Urteil vom 7. Juni 2012 festgestellt, dass der Rechtsstreit S 4 AS 2469/07 durch gerichtlichen Vergleich vom 4. Februar 2010 beendet worden ist. Der in der Sitzungsniederschrift protokollierte Prozessvergleich sei ausweislich des Protokolls in Anwesenheit der Beteiligten laut diktiert, vorgespielt und von ihnen genehmigt worden. Damit sei der Vergleich prozessualrechtlich wirksam zustande gekommen. Er sei auch materiellrechtlich wirksam. Anhaltspunkte für einen Nichtigkeit gemäß §§ 116 bis 118 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) seien nicht ersichtlich. Zudem scheide eine Anfechtung wegen des Ablaufs sämtlicher Anfechtungsfristen aus. Eine Anfechtung wegen Irrtums oder wegen falscher Übermittlung nach §§ 119, 120 BGB müsse ohne schuldhaftes Zögern, also innerhalb einer nach den Umständen des Einzelfalls zu bemessenden Prüfungs- und Überlegungsfrist angebracht werden. Als Obergrenze sei von einer Frist von zwei Wochen auszugehen. Wegen Täuschung oder Drohung könne der Vergleich nur binnen Jahresfrist angefochten werden. Hier habe der Kläger frühestens mit Schreiben vom "15.11.2012", bei Gericht eingegangen am 16. Januar 2012 und damit knapp zwei Jahre nach der Zustellung der Sitzungsniederschrift eine Anfechtung des Prozessvergleiches erklärt. Diese Erklärung sei verfristet. Das SG hat die Berufung für nicht zulässig erachtet.
- 10
Gegen das ihm am 10. Juli 2012 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2. Juli 2012 Beschwerde eingelegt und zur Begründung ausgeführt: "Zum Sachverhalt sind immer noch falsche Berechnungen und unsachgemäße Bearbeitung". Der Beklagte hat erwidert, ein Zulassungsgrund für die Berufung liege nicht vor.
- 11
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
1.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde ist rechtzeitig erhoben und statthaft, da die Berufung nicht kraft Gesetzes zulässig ist. Gemäß § 144 Abs. 1 SGG in der ab dem 1. April 2008 gültigen Fassung bedarf die Berufung der Zulassung in einem Urteil des Sozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes
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1. bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR oder
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2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000,00 EUR
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nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
- 16
Hier streiten die Beteiligten um die Fortführung eines Klageverfahrens, in dem sich der Kläger gegen die Rückforderung von Leistungen in Höhe von 436,77 EUR wendet. Der Wert des Beschwerdegegenstandes bestimmt sich nach dem Streitgegenstand des beendeten Verfahrens (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 1. Dezember 2010 – L 7 AS 524/09 – juris).
2.
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Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Berufung gegen seinen Gerichtsbescheid zu Recht nicht zugelassen. Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
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1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
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2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
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Der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegt nicht vor, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage ist gegeben, wenn sie ungeklärt ist und eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Hier ist keine derartige Bedeutung ersichtlich. Die Anfechtungsfristen, die der Kläger nach dem angefochtenen Urteil des SG versäumt hat, ergeben sich aus dem Gesetz.
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Es liegt auch keine Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG vor. Diese besteht nur dann, wenn das anzufechtende Urteil von einer Entscheidung des Berufungsgerichts oder des BSG abweicht (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 144 Rn. 30, 30a). Weder hat der Kläger ein solches Urteil genannt, noch ist für den Senat erkennbar, dass das angefochtene Urteil im Widerspruch zu einem obergerichtlichen Urteil stünde.
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Auch ein Zulassungsgrund im Sinne des § 144 Abs. 3 Nr. 3 SGG liegt nicht vor. Dieser ist nur dann gegeben, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, dieser vorliegt und die Entscheidung auf ihm beruhen kann. Unter einem Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt, zu verstehen. Soweit der Kläger in seiner Beschwerdebegründung pauschal rügt, es seien "immer noch falsche Berechnungen und unsachgemäße Bearbeitung" zu beanstanden, lässt sich hieraus kein Verfahrensmangel ableiten. Es ist auch kein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt, zu erkennen. Vielmehr hat das SG verfahrensrechtlich zutreffend aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2012 entschieden, dass der Rechtstreit in dem Verfahren mit dem Aktenzeichen S 4 AS 2469/07 durch gerichtlichen Vergleich vom 4. Februar 2010 beendet worden ist.
3.
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(1) Wer bei der Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, kann die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde.
(2) Als Irrtum über den Inhalt der Erklärung gilt auch der Irrtum über solche Eigenschaften der Person oder der Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden.
Eine Willenserklärung, welche durch die zur Übermittlung verwendete Person oder Einrichtung unrichtig übermittelt worden ist, kann unter der gleichen Voraussetzung angefochten werden wie nach § 119 eine irrtümlich abgegebene Willenserklärung.
(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes
- 1.
bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder - 2.
bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn
- 1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, - 2.
das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder - 3.
ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.
(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.
(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.
(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.
(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.
(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.
Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.