Landgericht Kiel Beschluss, 10. Nov. 2015 - 10 Qs 100/15

ECLI:ECLI:DE:LGKIEL:2015:1110.10QS100.15.0A
bei uns veröffentlicht am10.11.2015

Tenor

In der Strafsache

wegen Beiordnung eines Pflichtverteidigers

wird der Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 17. Juli 2015, durch den die Beiordnung von Rechtsanwalt A. A. als Pflichtverteidiger abgelehnt worden ist, aufgehoben.

Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt A. A. aus ... als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Gründe

I.

1

Die Staatsanwaltschaft Kiel erhob am 17. August 2014 Anklage beim Amtsgericht Kiel wegen eines am 1. Oktober 2013 begangenen gemeinschaftlichen Diebstahls. Die Anklage richtet sich gegen den Beschwerdeführer und einen weiteren Angeklagten. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich bereits mehrfach in Erscheinung getreten. Unter anderem wurde er am 8. Mai 2012 durch das Amtsgericht Kiel wegen gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt, deren Vollstreckung für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde; das Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 8. Mai 2012 ist seit dem 1. Juli 2014 rechtskräftig. Eine Vorstrafe wegen eines Vermögensdeliktes weist der Beschwerdeführer bislang nicht auf.

2

Die Anklageschrift wurde dem Beschwerdeführer am 5. Februar 2015 zugestellt. Eine Übersetzung der Anklageschrift wurde nicht angefertigt.

3

Am 10. Februar 2015 meldete sich Rechtsanwalt A. A. für den Beschwerdeführer und beantragte Akteneinsicht, welche Mitte Juni 2015 gewährt wurde. Für den Mitangeklagten des Beschwerdeführers hatte sich bereits während des Ermittlungsverfahrens ein anderer Verteidiger gemeldet.

4

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23. Juni 2015 hat der Beschwerdeführer beantragt, ihm gemäß § 140 Abs. 2 StPO seinen Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen. Es liege bereits angesichts des Urteils des Amtsgerichts Kiel vom 8. Mai 2012 bzw. der dort verhängten Bewährungsstrafe ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Zudem sei eine effektive Verteidigung nur nach vorheriger Akteneinsicht möglich. Schließlich sei er der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig und deshalb auf einen Dolmetscher für die türkische Sprache angewiesen.

5

Mit Beschluss vom 17. Juli 2015 hat das Amtsgericht Kiel den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers abgelehnt. Es seien keine Gründe im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO ersichtlich. Die vorgeworfene Tat wiege nicht so schwer, dass eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten in Betracht komme. Somit drohe auch unter Berücksichtigung eines eventuellen Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 8. Mai 2012 zur Bewährung keine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber. Die Sach- oder Rechtslage sei ebenfalls nicht so schwierig, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten wäre. Der Beschwerdeführer werde allein durch seinen Mitangeklagten als Mittäter belastet. Daneben sei der Zeuge M. dazu hören, ob er den Beschwerdeführer als eine der beiden unbekannten männlichen Personen wiedererkenne, welche kurz nach der Tat in der Nähe des Tatortes ein das Diebesgut enthaltendes Behältnis – nämlich eine dem Zeugen B. gehörende Geldkassette, welche 750,- Euro in bar enthielt – mit einem Stein gewaltsam geöffnet hätten. Besondere Schwierigkeiten begründe dies nicht. Die sprachlichen Schwierigkeiten des Beschwerdeführers könnten durch einen Dolmetscher ausgeglichen werden. Schließlich könne dem Beschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers auf der Geschäftsstelle Einsicht in die Akte gewährt werden.

6

Mit weiterem Beschluss vom 17. Juli 2015 hat das Amtsgericht Kiel die Anklage vom 17. August 2014 zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Zugleich hat das Amtsgericht Kiel für den 3. September 2015 Termin zur Hauptverhandlung anberaumt und den Beschwerdeführer zu diesem in türkischer Sprache geladen, und zwar unter Beifügung von schriftlichen Übersetzungen der beiden Beschlüsse vom 17. Juli 2015 in die türkische Sprache. Zur Hauptverhandlung wurden insgesamt drei Zeugen geladen: die Zeugen B. und M. sowie die Zeugin W.. Letztere hat in ihrer polizeilichen Vernehmung angegeben, kurz vor der Tat am Tatort, einer Wohnung in Kiel-Gaarden, gewesen zu sein; dort hätten sich zu diesem Zeitpunkt nur der Zeuge B. und der Mitangeklagte aufgehalten. Kurz darauf habe sie den Mitangeklagten mit einer dem Zeugen B. gehörenden Geldkassette aus dem Haus laufen sehen.

7

Der Termin zur Hauptverhandlung ist mittlerweile vom Amtsgericht Kiel wegen Verhinderung der Verteidiger auf den 10. Dezember 2015 verlegt worden.

8

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 27. Oktober 2015 hat der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts Norderstedt vom 17. Juli 2015 eingelegt. Die Pflichtverteidigungsbestellung sei auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit geboten, weil der Mitangeklagte verteidigt sei. Im Übrigen könnten seine sprachlichen Defizite durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht vollständig ausgeglichen werden, da vorliegend die Einlassung des Mitangeklagten kritisch zu hinterfragen sei.

9

Das Amtsgericht Kiel hat der Beschwerde mit Verfügung vom 29. Oktober 2015 nicht abgeholfen.

II.

10

Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist die Beschwerde statthaft (vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Auflage, § 142 Rn. 19).

11

Auch in der Sache hat die Beschwerde Erfolg.

12

Die Ansicht des Amtsgerichts Kiel, dass die Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 S. 1, 1. Alt. StPO die Beiordnung eines Verteidigers nicht gebiete, erscheint zweifelhaft. Zwar ist der Beuteanteil des Beschwerdeführers mit 50,- Euro gering gewesen. Auch weist der Beschwerdeführer keine einschlägige Vorstrafe auf. Zudem kommt entgegen der Ansicht des Amtsgerichts Kiel ein Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 8. Mai 2012 zur Bewährung nicht in Betracht, denn die diesbezügliche Bewährungszeit begann erst am 1. Juli 2014 und damit nach Begehung der den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildenden Diebstahlstat vom 1. Oktober 2013. Allerdings wäre aus der für die Tat vom 1. Oktober 2013 zu verhängenden Strafe und den hinter der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Kiel vom 8. Mai 2012 stehenden Einzelstrafen voraussichtlich eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden. Dass diese sich auf ein Jahr oder mehr belaufen würde, erscheint insbesondere deshalb nicht ausgeschlossen, weil – was in der Anklageschrift übersehen und auch vom Amtsgericht Kiel bislang nicht angesprochen worden ist – die Tat nicht bloß als einfacher Diebstahl nach § 242 Abs. 1 StGB zu qualifizieren ist, sondern als besonders schwerer Fall des Diebstahls nach § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB.

13

Letztlich kann indes dahingestellt bleiben, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 S. 1, 1. Alt. StPO vorliegt. Denn die Beiordnung eines Verteidigers ist jedenfalls wegen der Schwierigkeit der Sachlage geboten, § 140 Abs. 2 S. 1, 2. Alt. StPO. Dem die deutsche Sprache nur unzureichend beherrschenden Beschwerdeführer ist eine effektive Verteidigung angesichts der Beschaffenheit der Sachlage nur mit einem Verteidiger möglich. Die Sachverhaltsaufklärung wird sich – jedenfalls was die Rolle des Beschwerdeführers angeht – voraussichtlich alles andere als leicht gestalten.

14

(Potentiell) Belastend für den Beschwerdeführer sind – worauf das Amtsgericht Kiel in dem angegriffenen Beschluss zurecht hinweist – zum einen die Einlassung des Mitangeklagten und zum anderen die Aussage des Zeugen M., letztere wiederum vor allem im Hinblick auf ein eventuelles Wiedererkennen des Beschwerdeführers als einer der beiden unbekannten männlichen Personen, welche kurz nach der Tat mit der entwendeten Geldkassette in einen Hinterhof gingen und diese dort gewaltsam öffneten. Beide Beweismittel werden voraussichtlich kritisch zu hinterfragen sein.

15

Denn der Zeuge M. wurde bislang nicht förmlich vernommen, sondern nur (informatorisch) am Telefon befragt. Hierbei konnte er die beiden unbekannten männlichen Personen zwar relativ detailliert beschreiben, teilte aber zugleich mit, dass er diese nur kurz gesehen habe und deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Lichtbildern nicht wiedererkennen könne (vgl. dazu Bl. 8 d.A.). Folgerichtig wurde mit ihm im Ermittlungsverfahren – anders als bei allen anderen in der Anklageschrift aufgeführten Zeugen, die keine Polizeibeamten sind – keine Wahllichtbildvorlage durchgeführt.

16

Die Einlassung des Mitangeklagten wiederum steht, was die Frage der Beteiligung des Beschwerdeführers angeht, in diametralen Widerspruch zu der Aussage des geschädigten Zeugen B.. Der Zeuge B. hat angegeben, dass sich zum Tatzeitpunkt nur er sowie der Mitangeklagte am Tatort befunden hätten und der Mitangeklagte der alleinige Täter gewesen sei. Darüber hinaus hat der Zeuge B. keinen bloßen Diebstahl geschildert, sondern ein Raubgeschehen, denn er gab an, dass ihn der Mitangeklagte geschubst habe, woraufhin er das Gleichgewicht verloren habe. Dies habe der Mitangeklagte dazu genutzt, ihm die in einer umgehängten Tasche befindliche Kassette wegzureißen und die Flucht zu ergreifen. Der Mitangeklagte wiederum hat angegeben, dass er und der ebenfalls am Tatort anwesende Beschwerdeführer die Kassette heimlich an sich gebracht hätten, als der Zeuge B. diese für einen Moment aus den Augen gelassen habe, um das Badezimmer aufzusuchen. In der Hauptverhandlung werden vor diesem Hintergrund jedenfalls die Einlassung des Angeklagten und die Aussage des Zeugen B. besonders kritisch zu würdigen sein. In Bezug auf den Zeugen B. wird in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen sein, dass er widersprüchliche Angaben zu der Herkunft des Geldes gemacht hat, welche wiederum durchweg unvereinbar damit sind, was die Zeugin W. zur Herkunft des Geldes bekundet hat (vgl. dazu und zum folgenden auch den Vermerk in Ziffer 1 der staatsanwaltschaftlichen Abschlussverfügung vom 17. August 2014 auf Bl. 112 d.A.). Auseinander zu setzen haben wird man sich ferner damit, dass der Zeuge B. anders als der Mitangeklagte nichts von einem im Zusammenhang mit der Tat stattgefundenen Betäubungsmittelkonsum berichtet hat. In Bezug auf den Mitangeklagten wird dagegen zu berücksichtigen sein, dass seine Einlassung unvereinbar ist mit der Aussage der Zeugin W., welche nur den Mitangeklagten vom Tatort hat flüchten sehen.

17

Eine effektive Verteidigung wird vor diesem Hintergrund nur möglich sein bei Kenntnis der Akte, insbesondere der bei der Polizei gemachten Angaben der vorgenannten Beteiligten. Denn in der Hauptverhandlung werden voraussichtlich entsprechende Vorhalte gemacht werden müssen. Damit dürfte der Beschwerdeführer überfordert sein, zumal ihm bislang keine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache zur Verfügung gestellt wurde. Dabei schreibt § 187 Abs. 2 S. 1 GVG genau dies im Regelfall vor, wobei die Übersendung der schriftlichen Übersetzung gemäß § 187 Abs. 2 S. 3 GVG unverzüglich zu erfolgen hat, d.h. so früh wie möglich. Das Amtsgericht Kiel hätte deshalb spätestens unmittelbar nach Eingang des Schriftsatzes vom 23. Juni 2015, also vor bereits fast einem halben Jahr, eine Übersetzung der Anklageschrift in die türkische Sprache und die Übersendung der übersetzten Anklageschrift an den Beschwerdeführer veranlassen müssen. Auf die mündliche Übersetzung der Anklageschrift bei Beginn der Hauptverhandlung muss sich der Beschwerdeführer nicht verweisen lassen. An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann nach § 187 Abs. 2 S. 4 GVG zwar eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung treten, wenn dadurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden, was nach § 187 Abs. 2 S. 5 GVG regelmäßig der Fall ist, wenn der Beschuldigte – wie hier – einen Verteidiger hat (vgl. dazu und zum folgenden BGH, Beschluss vom 10. Juli 2014, Az. 3 StR 262/14, Rn. 4 (zitiert nach juris)). Insoweit hatte der Gesetzgeber indes vor allem die Übersetzung von Urteilen im Blick; die Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung sollte in der Regel dann nicht greifen, wenn eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend sprachkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet wird, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt. Geht es um die Übersetzung der Anklageschrift, ist die Verfahrenslage aber eine andere, weil durch die Mitteilung der Anklageschrift gerade die durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK gewährleistete Information des Beschuldigten über den Tatvorwurf "in allen Einzelheiten" bewirkt werden soll. Auch die Erklärungsrechte des § 201 Abs. 1 S. 1 StPO werden beschnitten, wenn der Angeschuldigte über den Anklagevorwurf nicht umfassend und zeitnah, d.h. noch vor der Hauptverhandlung, unterrichtet wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Sachlage nicht einfach bzw. überschaubar ist.


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Landgericht Kiel Beschluss, 10. Nov. 2015 - 10 Qs 100/15 zitiert 6 §§.

Strafgesetzbuch - StGB | § 243 Besonders schwerer Fall des Diebstahls


(1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, einen Dienst- oder Gesc

Strafgesetzbuch - StGB | § 242 Diebstahl


(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.

Strafprozeßordnung - StPO | § 140 Notwendige Verteidigung


(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn 1. zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last g

Strafprozeßordnung - StPO | § 201 Übermittlung der Anklageschrift


(1) Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit und fordert ihn zugleich auf, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Entscheidung über die Eröffnung d

Gerichtsverfassungsgesetz - GVG | § 187


(1) Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Das Gericht weist den Besc

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Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Juli 2014 - 3 StR 262/14

bei uns veröffentlicht am 10.07.2014

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 3 S t R 2 6 2 / 1 4 vom 10. Juli 2014 in der Strafsache gegen wegen schweren Bandendiebstahls u.a. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. au

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(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn

1.
zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;
2.
dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird;
3.
das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;
4.
der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist;
5.
der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet;
6.
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt;
7.
zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird;
8.
der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist;
9.
dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist;
10.
bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint;
11.
ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt.

(2) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

(3) (weggefallen)

(1) Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, die Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zuzueignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(1) In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter

1.
zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, einen Dienst- oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum einbricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug eindringt oder sich in dem Raum verborgen hält,
2.
eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis oder eine andere Schutzvorrichtung gegen Wegnahme besonders gesichert ist,
3.
gewerbsmäßig stiehlt,
4.
aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienenden Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst gewidmet ist oder der religiösen Verehrung dient,
5.
eine Sache von Bedeutung für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte oder für die technische Entwicklung stiehlt, die sich in einer allgemein zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist,
6.
stiehlt, indem er die Hilflosigkeit einer anderen Person, einen Unglücksfall oder eine gemeine Gefahr ausnutzt oder
7.
eine Handfeuerwaffe, zu deren Erwerb es nach dem Waffengesetz der Erlaubnis bedarf, ein Maschinengewehr, eine Maschinenpistole, ein voll- oder halbautomatisches Gewehr oder eine Sprengstoff enthaltende Kriegswaffe im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes oder Sprengstoff stiehlt.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1 bis 6 ist ein besonders schwerer Fall ausgeschlossen, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache bezieht.

(1) Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Das Gericht weist den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darauf hin, dass er insoweit für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.

(2) Erforderlich zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen. Eine auszugsweise schriftliche Übersetzung ist ausreichend, wenn hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Die schriftliche Übersetzung ist dem Beschuldigten unverzüglich zur Verfügung zu stellen. An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann eine mündliche Übersetzung der Unterlagen oder eine mündliche Zusammenfassung des Inhalts der Unterlagen treten, wenn hierdurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden. Dies ist in der Regel dann anzunehmen, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat.

(3) Der Beschuldigte kann auf eine schriftliche Übersetzung nur wirksam verzichten, wenn er zuvor über sein Recht auf eine schriftliche Übersetzung nach den Absätzen 1 und 2 und über die Folgen eines Verzichts auf eine schriftliche Übersetzung belehrt worden ist. Die Belehrung nach Satz 1 und der Verzicht des Beschuldigten sind zu dokumentieren.

(4) Absatz 1 gilt entsprechend für Personen, die nach § 395 der Strafprozessordnung berechtigt sind, sich der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anzuschließen.

4
Allerdings hatte der Angeklagte nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Dieses Recht beinhaltet für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich die Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache; dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Auch die Überlassung der in die serbische Sprache übersetzten Anklageschrift war deshalb - ungeachtet des Umstands, dass der Angeklagte diese Sprache ebenfalls nicht beherrschte - grundsätzlich zu spät. Die mündliche Übersetzung genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 18 mwN). Durch Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren vom 2. Juli 2013 (BGBl. I, S. 1938) ist zudem zur Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmet- scherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren § 187 GVG geändert worden. Die in Art. 3 der Richtlinie enthaltene inhaltliche Konkretisierung des Anspruches eines der Sprache des Strafverfahrens nicht mächtigen Beschuldigten auf schriftliche Übersetzung aller für seine Verteidigung und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlichen Unterlagen findet danach nunmehr in § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG dahin ihren Niederschlag, dass in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen für die Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten erforderlich ist. An die Stelle der schriftlichen Übersetzung kann nach § 187 Abs. 2 Satz 4 GVG zwar eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung treten, wenn dadurch die strafprozessualen Rechte des Beschuldigten gewahrt werden , was nach § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG regelmäßig der Fall sein soll, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat (kritisch zu dieser Regelung Eisenberg, JR 2013, 442, 445). Insoweit hatte der Gesetzgeber indes vor allem die Übersetzung von Urteilen im Blick; die Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung sollte in der Regel dann nicht greifen, wenn eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend sprachkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet wird, dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt (BT-Drucks. 17/12578, S. 12 mwN). Geht es um die Übersetzung der Anklageschrift, ist die Verfahrenslage aber eine andere, weil durch die Mitteilung der Anklageschrift gerade die durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) MRK gewährleistete Information des Beschuldigten über den Tatvorwurf "in allen Einzelheiten" bewirkt werden soll. Auch die Erklärungsrechte des § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO werden möglicherweise beschnitten, wenn der Angeschuldigte über den Anklagevorwurf nicht umfassend und zeitnah unterrichtet wird.

(1) Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem Angeschuldigten mit und fordert ihn zugleich auf, innerhalb einer zu bestimmenden Frist zu erklären, ob er die Vornahme einzelner Beweiserhebungen vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragen oder Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens vorbringen wolle. Die Anklageschrift ist auch dem Nebenkläger und dem Nebenklagebefugten, der dies beantragt hat, zu übersenden; § 145a Absatz 1 und 3 gilt entsprechend.

(2) Über Anträge und Einwendungen beschließt das Gericht. Die Entscheidung ist unanfechtbar.