Finanzgericht Düsseldorf Urteil, 10. März 2016 - 16 K 2976/14 AO

ECLI:ECLI:DE:FGD:2016:0310.16K2976.14AO.00
bei uns veröffentlicht am10.03.2016

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.


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Einkommensteuergesetz - EStG | § 35


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Abgabenordnung - AO 1977 | § 238 Höhe und Berechnung der Zinsen


(1) Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz. Erlischt der zu verzinsende Anspruch durch Aufrechnung, gilt der T

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(1)1Die tarifliche Einkommensteuer, vermindert um die sonstigen Steuerermäßigungen mit Ausnahme der §§ 34f, 34g, 35a und 35c, ermäßigt sich, soweit sie anteilig auf im zu versteuernden Einkommen enthaltene gewerbliche Einkünfte entfällt (Ermäßigungshöchstbetrag),

1.
bei Einkünften aus gewerblichen Unternehmen im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1um das Vierfache des jeweils für den dem Veranlagungszeitraum entsprechenden Erhebungszeitraum nach § 14 des Gewerbesteuergesetzes für das Unternehmen festgesetzten Steuermessbetrags (Gewerbesteuer-Messbetrag); Absatz 2 Satz 5 ist entsprechend anzuwenden;
2.
bei Einkünften aus Gewerbebetrieb als Mitunternehmer im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 oder als persönlich haftender Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft auf Aktien im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3um das Vierfache des jeweils für den dem Veranlagungszeitraum entsprechenden Erhebungszeitraum festgesetzten anteiligen Gewerbesteuer-Messbetrags.
2Der Ermäßigungshöchstbetrag ist wie folgt zu ermitteln:

Summe der
positiven gewerblichen Einkünfte
geminderte
tarifliche Steuer.
Summe aller positiven Einkünfte


3Gewerbliche Einkünfte im Sinne der Sätze 1 und 2 sind die der Gewerbesteuer unterliegenden Gewinne und Gewinnanteile, soweit sie nicht nach anderen Vorschriften von der Steuerermäßigung nach § 35 ausgenommen sind.4Geminderte tarifliche Steuer ist die tarifliche Steuer nach Abzug von Beträgen auf Grund der Anwendung zwischenstaatlicher Abkommen und nach Anrechnung der ausländischen Steuern nach § 32d Absatz 6 Satz 2, § 34c Absatz 1 und 6 dieses Gesetzes und § 12 des Außensteuergesetzes.5Der Abzug des Steuerermäßigungsbetrags ist auf die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer beschränkt.

(2)1Bei Mitunternehmerschaften im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 oder bei Kommanditgesellschaften auf Aktien im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 ist der Betrag des Gewerbesteuer-Messbetrags, die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer und der auf die einzelnen Mitunternehmer oder auf die persönlich haftenden Gesellschafter entfallende Anteil gesondert und einheitlich festzustellen.2Der Anteil eines Mitunternehmers am Gewerbesteuer-Messbetrag richtet sich nach seinem Anteil am Gewinn der Mitunternehmerschaft nach Maßgabe des allgemeinen Gewinnverteilungsschlüssels; Vorabgewinnanteile sind nicht zu berücksichtigen.3Wenn auf Grund der Bestimmungen in einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei der Festsetzung des Gewerbesteuer-Messbetrags für eine Mitunternehmerschaft nur der auf einen Teil der Mitunternehmer entfallende anteilige Gewerbeertrag berücksichtigt wird, ist der Gewerbesteuer-Messbetrag nach Maßgabe des allgemeinen Gewinnverteilungsschlüssels in voller Höhe auf diese Mitunternehmer entsprechend ihrer Anteile am Gewerbeertrag der Mitunternehmerschaft aufzuteilen.4Der anteilige Gewerbesteuer-Messbetrag ist als Prozentsatz mit zwei Nachkommastellen gerundet zu ermitteln.5Bei der Feststellung nach Satz 1 sind anteilige Gewerbesteuer-Messbeträge, die aus einer Beteiligung an einer Mitunternehmerschaft stammen, einzubeziehen.

(3)1Zuständig für die gesonderte Feststellung nach Absatz 2 ist das für die gesonderte Feststellung der Einkünfte zuständige Finanzamt.2Für die Ermittlung der Steuerermäßigung nach Absatz 1 sind die Festsetzung des Gewerbesteuer-Messbetrags, die Feststellung des Anteils an dem festzusetzenden Gewerbesteuer-Messbetrag nach Absatz 2 Satz 1 und die Festsetzung der Gewerbesteuer Grundlagenbescheide.3Für die Ermittlung des anteiligen Gewerbesteuer-Messbetrags nach Absatz 2 sind die Festsetzung des Gewerbesteuer-Messbetrags und die Festsetzung des anteiligen Gewerbesteuer-Messbetrags aus der Beteiligung an einer Mitunternehmerschaft Grundlagenbescheide.

(4) Für die Aufteilung und die Feststellung der tatsächlich zu zahlenden Gewerbesteuer bei Mitunternehmerschaften im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und bei Kommanditgesellschaften auf Aktien im Sinne des § 15 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 gelten die Absätze 2 und 3 entsprechend.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GbR mit in den Streitjahren zwei und in der Folgezeit drei Gesellschaftern. Ihre Gesellschafter sind als Insolvenzverwalter, Zwangsverwalter, Rechtsanwalt und Notar tätig.

2

Die Klägerin erzielte in den Streitjahren 1998 bis 2002 überwiegend Einnahmen aus Insolvenzverwaltung und aus der Zwangsverwaltung von Liegenschaften. Die Einnahmen aus Rechtsanwaltstätigkeiten stammten zumeist aus Prozessen, die im Rahmen der Insolvenzverfahren zu führen waren. Als sonstige weitere Tätigkeit wurden Kopien von Gerichtsakten im Auftrag von Versicherungen gefertigt.

3

Aufgrund einer Außenprüfung im Jahr 2002 für die Jahre 1998 bis 2000 ging der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) davon aus, dass die Einkünfte der Klägerin nicht entsprechend den bisher abgegebenen Feststellungserklärungen und den erklärungsgemäß ergangenen Gewinnfeststellungsbescheiden als solche aus selbständiger Arbeit, sondern aus Gewerbebetrieb zu erfassen seien. Diese Auffassung gründete sich auf folgende Feststellungen:

4

In den Jahren 1995 bis 2002 übernahmen die Gesellschafter der Klägerin die Betreuung von jährlich insgesamt bis zu 108 Konkurs- und Insolvenzverfahren; dabei entfielen auf die einzelnen Gesellschafter jährlich zwischen 3 und 48 neue Verfahren.

5

Die Klägerin beschäftigte in den Jahren 1995 bis 2002 (ohne Berücksichtigung von Reinigungskräften, Boten sowie Auszubildenden) durchschnittlich zwischen 5 und 12 Vollzeit-Mitarbeiter, denen im Wesentlichen Zuarbeiten in Insolvenzverfahren, die Ausstellung von Insolvenz-Bescheinigungen, die Mietüberwachung in der Zwangsverwaltung, Buchhaltungsaufgaben, Lohnangelegenheiten, Büroarbeiten und Botendienste übertragen wurden. Zu diesen Mitarbeitern gehörten neben einem Groß- und Außenhandelskaufmann, einem Industriekaufmann und zwei Studentinnen vor allem jährlich bis zu vier Rechtsanwaltsfachangestellte.

6

Des Weiteren war für die Klägerin in den Streitjahren 1998 bis 2002 der später (am 1. Januar 2003) aufgenommene Gesellschafter als Referendar mit einer genehmigten Nebentätigkeit von nicht mehr als 8 Stunden pro Woche für Zivilprozesse und gutachterliche Stellungnahmen gegenüber den Insolvenzverwaltern beschäftigt. Nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt war er seit Mai 1998 als angestellter Rechtsanwalt für Zivilprozesse mit Spezialisierung auf das Aktienrecht zuständig; im Jahr 2000 war er zu 25 %, im Jahr 2001 zu 50 % und im Jahr 2002 zu 70 % im Insolvenzbereich tätig. Seit Oktober 2002 ist er Fachanwalt für Insolvenzrecht.

7

Daneben waren zur Bearbeitung von Anwaltsmandaten --aus allgemeinen Verfahrensangelegenheiten im Insolvenzbereich wie Arbeitsgerichtsverfahren-- eine Rechtsanwältin für drei Monate im Jahre 1999, ein Rechtsanwalt in der Zeit von Februar 2000 bis Dezember 2001 sowie eine weitere Rechtsanwältin seit Dezember 2001 tätig.

8

Die jährlichen Aufwendungen der Klägerin für die Beschäftigung von Subunternehmern sowie die Beauftragung von Versteigerern und Verwertern zu Lasten der Masse betrugen zwischen 1995 und 2002 zwischen 4.000 € und 35.000 €. Ihre Erlöse in den Jahren 1999 bis 2002 (ohne Anlagenverkäufe) entfielen zu 82 % bis 89 % auf die Insolvenz- und Zwangsverwaltung, zu 10 % bis 17 % auf Rechtsanwaltstätigkeiten sowie zu unter 1 % auf sonstige (unstrittig gewerbliche) Tätigkeiten.

9

Aufgrund der Feststellungen der Außenprüfung setzte das FA für jedes der Streitjahre den Gewerbesteuermessbetrag mit Bescheiden vom 24. März 2003 (für 1998 und 1999), vom 17. Juli 2003 (für 2000), vom 8. Januar 2004 (für 2001) und vom 9. August 2004 (für 2002) fest.

10

Die dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab. Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts.

11

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie die angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidungen aufzuheben.

12

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

13

II. Die Revision ist begründet; das angefochtene Urteil und die angefochtenen Gewerbesteuermessbescheide in Gestalt der Einspruchsentscheidungen sind aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

14

Zu Unrecht hat das FG die Einkünfte der Klägerin aus der Insolvenz- und Zwangsverwaltertätigkeit ihrer Gesellschafter als solche aus Gewerbebetrieb angesehen und deshalb unter Anwendung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auch hinsichtlich der übrigen Einkünfte der Klägerin insgesamt gewerbliche Einkünfte angenommen. Entgegen dieser Auffassung sind die Einkünfte der Klägerin aus Insolvenzverwaltertätigkeit als solche aus sonstiger selbständiger Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG nicht gewerbesteuerpflichtig.

15

1. Die Tätigkeit eines Insolvenz-, Zwangs- und Vergleichsverwalters ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) eine vermögensverwaltende i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG und keine freiberufliche Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG (BFH-Urteile vom 29. März 1961 IV 404/60 U, BFHE 73, 100, BStBl III 1961, 306; vom 5. Juli 1973 IV R 127/69, BFHE 110, 40, BStBl II 1973, 730; vom 11. Mai 1989 IV R 152/86, BFHE 157, 148, BStBl II 1989, 729).

16

a) Dies gilt nach der Rechtsprechung des BFH auch dann, wenn die Tätigkeit --wie im Streitfall-- durch Rechtsanwälte ausgeübt wird, weil sie nicht für einen Rechtsanwalt berufstypisch ist (BFH-Urteil vom 12. Dezember 2001 XI R 56/00, BFHE 197, 442, BStBl II 2002, 202 mit kritischer Anmerkung Frystatzki, Ertragsteuerberater 2005, 308; Gerling, Festschrift für Greiner, 2005, 41; Verfassungsbeschwerde gemäß §§ 93a, 93b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht --BVerfG-- nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG-Beschluss vom 5. März 2003  1 BvR 437/02; BFH-Beschluss vom 14. Juli 2008 VIII B 179/07, BFH/NV 2008, 1874; a.A. noch Reichsfinanzhof --RFH--, Urteil vom 28. Juli 1938 IV 75/38, RStBl 1938, 809 zur Erfassung einer Konkursverwaltung durch einen Rechtsanwalt als anwaltstypische Tätigkeit).

17

b) Auch umsatzsteuerrechtlich hat der BFH die Insolvenzverwaltertätigkeit nicht der anwaltstypischen Berufsausübung i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG zugerechnet, weil sie keine dem Rechtsanwaltsberuf vorbehaltene oder ihn in besonderer Weise charakterisierende Tätigkeit ist (BFH-Urteile vom 3. Oktober 1985 V R 106/78, BFHE 145, 248, BStBl II 1986, 213 mit Anmerkung Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1986, 254; vom 2. Oktober 1986 V R 99/78, BFHE 148, 184, BStBl II 1987, 147).

18

c) An dieser Beurteilung ist insbesondere deshalb festzuhalten, weil sich die Tätigkeit als Insolvenzverwalter in den letzten Jahrzehnten zu einem verfassungsrechtlich geschützten --eigenständigen-- Beruf entwickelt hat (BVerfG-Beschluss vom 3. August 2004  1 BvR 1086/01, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2004, 1670, unter B.III.2.a bb (2); siehe dazu auch Berufsgrundsätze der Insolvenzverwalter, § 1 (2), veröffentlicht vom Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e.V. --VID-- unter www.vid.de), bei dessen Ausübung die kaufmännisch-praktische Betätigung, wenn auch unter Verwertung besonderer Wirtschafts- und Rechtskenntnisse, überwiegt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 73, 100, BStBl III 1961, 306 und in BFHE 197, 442, BStBl II 2002, 202; Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 12. Aufl., § 56 Rz 18). Die Tätigkeit des Insolvenzverwalters wird nicht nur von Rechtsanwälten, sondern auch von Angehörigen anderer freier Berufe wie etwa Steuerberatern ausgeübt (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 18. November 2009  7 K 3041/07 G,F, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2010, 495). Sie kann aber auch von anderen geeigneten Personen ausgeübt werden. Denn zum Insolvenzverwalter ist nach § 56 Abs. 1 der Insolvenzordnung (InsO) eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zu bestellen, die vom Insolvenzgericht aus dem Kreis aller zur Übernahme von Insolvenzverwaltungen bereiten Personen auszuwählen ist. Auch die Bestellung des Zwangsverwalters durch das Vollstreckungsgericht gemäß §§ 150 ff. des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung vom 20. Mai 1898 (RGBl 1898, 369, 713) ist nicht auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt.

19

d) Die Zuordnung der Tätigkeiten des Insolvenz- und des Zwangsverwalters zur sonstigen selbständigen Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG und nicht zur rechtsanwaltstypischen Tätigkeit ist ferner deshalb geboten, weil es andernfalls zu einer nicht begründbaren Ungleichbehandlung zwischen hauptberuflichen Insolvenz- und Zwangsverwaltern aus dem Kreis der freien Berufe i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG einerseits und solchen käme, die nicht diesen Berufen angehören (ebenso BFH-Urteile vom 15. Juni 2010 VIII R 10/09, BFHE 230, 47, BStBl II 2010, 906, und vom 15. Juni 2010 VIII R 14/09, BFHE 230, 54, BStBl II 2010, 909 zur Zuordnung der Tätigkeit von Berufsbetreuern zu den Einkünften i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG; gl.A. die herrschende Auffassung im Schrifttum: Kanzler, Finanzrundschau --FR-- 1994, 114; Durchlaub, Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht --ZInsO-- 2002, 319; Gosch, Steuerliche Betriebsprüfung 2002, 86; Grashoff, DStR 2002, 355; Hutter, Neue Wirtschaftsbriefe Fach 3, S. 11971; Kempermann, FR 2002, 391; Maus, ZInsO 2002, 251; Schmittmann, Steuern und Bilanzen 2002, 384; Strahl, Betriebsberater --BB-- 2002, 603; Welsch, Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht --DZWIR-- 2002, 114).

20

2. Die danach --selbst bei Ausübung durch Rechtsanwälte-- den Einkünften aus sonstiger selbständiger Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zuzurechnende Insolvenzverwaltertätigkeit ist entgegen der Auffassung des FA nicht wegen der Beteiligung qualifizierter Mitarbeiter an der Abwicklung der einzelnen Insolvenzverfahren als gewerbliche Tätigkeit i.S. des § 15 Abs. 1 EStG zu beurteilen.

21

a) Allerdings hat der BFH in seiner bisherigen Rechtsprechung im Anwendungsbereich des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG an der sog. Vervielfältigungstheorie festgehalten. Sie liegt der vom RFH für alle Berufe i.S. des § 18 EStG entwickelten Rechtsauffassung zugrunde, nach der auch die sonstige selbständige Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG grundsätzlich persönlich --d.h. ohne die Mithilfe fachlich vorgebildeter Hilfskräfte-- ausgeübt werden muss (BFH-Urteile vom 13. Mai 1966 VI 63/64, BFHE 86, 305, BStBl III 1966, 489 mit zustimmender Anmerkung Gollub, Anmerkungen zur Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz bis 1974, § 18, Rechtsspruch 388; vom 25. November 1970 I R 123/69, BFHE 101, 215, BStBl II 1971, 239; vom 11. August 1994 IV R 126/91, BFHE 175, 284, BStBl II 1994, 936; in BFHE 197, 442, BStBl II 2002, 202: Umkehrschluss aus § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG; gl.A. Blümich/Hutter, § 18 EStG Rz 108; Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl., § 18 Rz 23; Kanzler, FR 1994, 114; FG Köln, Urteil vom 13. August 2008  4 K 3303/06, EFG 2009, 669, rechtskräftig).

22

Gerechtfertigt worden ist diese Rechtsprechung damit, dass die Vervielfältigungstheorie zwar aufgrund der Neufassung des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG durch das Steueränderungsgesetz 1960 (StÄndG 1960) vom 30. Juli 1960 (BGBl I 1960, 616, BStBl I 1960, 514) auf Angehörige der freien Berufe nicht mehr anzuwenden sei, dass sie jedoch für die sonstige selbständige Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG weiterhin Bedeutung habe. Der Grund dafür liege darin, dass die in § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG erfassten Tätigkeiten ihrer Natur nach einer kaufmännischen Beschäftigung näher stünden als die in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG genannten freien Berufe (so die BFH-Entscheidung in BFHE 175, 284, BStBl II 1994, 936, m.w.N.).

23

b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat, auf den die alleinige Zuständigkeit für die Einkünfte aus selbständiger Arbeit übergegangen ist, nach erneuter Prüfung nicht mehr fest.

24

Weder der ursprünglichen Fassung des Gesetzes (EStG 1934) noch derjenigen durch das StÄndG 1960 lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber die Zulässigkeit des Einsatzes fachlich vorgebildeter Mitarbeiter für Berufe i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 EStG in einer nach Art der Tätigkeit unterschiedlichen Weise beurteilt sehen wollte.

25

aa) Vielmehr ist die vom RFH auf der Grundlage des EStG 1934 entwickelte Vervielfältigungstheorie zur grundsätzlichen Unvereinbarkeit qualifizierten Mitarbeitereinsatzes mit dem "Wesen" des freien Berufs (RFH-Urteile vom 8. März 1939 VI 568/38, RStBl 1939, 577; vom 3. Februar 1943 VI 264/42, RStBl 1943, 434) in ständiger Rechtsprechung --auch des BFH-- gleichermaßen auf Berufe i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 wie auf Nr. 3 EStG angewandt worden (vgl. insbesondere zu Hausverwaltern als Vermögensverwalter i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG BFH-Urteile vom 1. Dezember 1955 IV 395/54 U, BFHE 62, 120, BStBl III 1956, 45; vom 13. Mai 1966 VI 63/64, BFHE 86, 305, BStBl III 1966, 489). Folgerichtig hat die Rechtsprechung deshalb ihre (hohen) Anforderungen an die höchstpersönliche Ausübung der freiberuflichen Tätigkeiten auf der Grundlage des EStG 1934 unterschiedslos für jedwede Berufstätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 EStG formuliert.

26

bb) Diese grundsätzliche Gleichbehandlung freiberuflicher Tätigkeiten nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung zu § 18 Abs. 1 EStG 1934 hat der Gesetzgeber auch mit dem StÄndG 1960 nicht aufgegeben. Vielmehr hat er der Vervielfältigungstheorie insgesamt mit der Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG zur zulässigen Beschäftigung von Mitarbeitern die Grundlage entzogen. Ein Auffassungswandel des Gesetzgebers hin zu einer beabsichtigten Ungleichbehandlung der Berufe i.S. des § 18 Abs. 1 EStG kann weder dem systematischen Standort dieser Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG allein (so aber die BFH-Entscheidung in BFHE 175, 284, BStBl II 1994, 936, m.w.N.) noch der Entstehungsgeschichte der Vorschrift im Übrigen entnommen werden.

27

(1) Dafür spricht zunächst die Entstehungsgeschichte des StÄndG 1960.

28

Anlass für die Neuregelung waren die als unbefriedigend empfundenen Grenzen der Vervielfältigungstheorie (vgl. BRDrucks 174/58), ohne dass der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien einen unterschiedlichen Handlungsbedarf für den Einsatz von Mitarbeitern im Bereich des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG einerseits und der Nrn. 2 und 3 der Regelung andererseits gesehen hat. Dafür spricht, dass die (Neu-)Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG allein durch die Prüfbitte des Bundesrates an die Bundesregierung --ohne Beschränkung auf Teile der Einkünfte aus selbständiger Arbeit-- veranlasst wurde,
 ob und inwieweit im Rahmen des damals geltenden Rechts das Vervielfältigungsverfahren durch ein anderes Abgrenzungsverfahren ersetzt werden könne (BRDrucks 174/58).

      

29

Ebenso zeigt die Begründung zum Entwurf des StÄndG 1960 --BTDrucks III/1811, S. 12-- (nur) den Willen des Gesetzgebers, mit dem StÄndG 1960 diese Bitte --ohne ausdrückliche Beschränkung auf Teile des Anwendungsbereichs des § 18 EStG-- aufgreifen zu wollen. Dementsprechend spricht er ausdrücklich von der "neuen Abgrenzung" und macht keinerlei Aussagen zur Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit der Neuregelung im Anwendungsbereich des § 18 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 EStG.

30

(2) Auch der Zweck der durch das StÄndG 1960 geschaffenen Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG spricht für ihre Geltung in Bezug auf alle Tatbestände des § 18 EStG. Die Regelung sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass die Vervielfältigungstheorie aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und des damit verbundenen Zwangs zur Spezialisierung überholt war (Blümich/Hutter, § 18 EStG Rz 55). Dieses Argument gilt indes in gleicher Weise für die in § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG genannten Berufsgruppen und insbesondere für die Tätigkeit des Insolvenzverwalters, die sich, wie dargelegt, heute zu einem eigenständigen Beruf verselbständigt hat (siehe oben unter II.1.c).

31

(3) Ferner spricht der aus dem Wortlaut des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ("aus sonstiger selbständiger Arbeit") erkennbare begrenzte Zweck dieser Norm, lediglich den Kreis der gewerbesteuerfreien Tätigkeiten gegenüber den Regelungen in den Nrn. 1 und 2 zu erweitern, ebenfalls dagegen, die Mitarbeit fachlich vorgebildeter Hilfskräfte im Anwendungsbereich der Nr. 3 anders als im Anwendungsbereich der Nr. 1 zu beurteilen. Entsprechendes gilt für die Regelung in Nr. 2 sowie die Erweiterung des § 18 Abs. 1 EStG um die Nr. 4 durch das Gesetz zur Förderung von Wagniskapital vom 30. Juli 2004 (BGBl I 2004, 2013), bei der die Problematik eines Einsatzes von Hilfskräften ersichtlich weder im Gesetzestext noch in den Gesetzesmaterialien angesprochen worden ist.

32

cc) Auf dieser Grundlage kann allein aus der Stellung der Regelungen der Sätze 3 und 4 in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht im Umkehrschluss auf die Unzulässigkeit des Einsatzes qualifizierter Mitarbeiter bei sonstiger selbständiger Arbeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG geschlossen werden. Ein solcher Umkehrschluss käme nur in Betracht, wenn sachliche Gründe für eine solche Unterscheidung bestünden. Ein sachlich begründbares Differenzierungsmerkmal für eine Ungleichbehandlung zwischen einem zulässigerweise nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG Mitarbeiter beschäftigenden Rechtsanwalt und einem Insolvenzverwalter oder Zwangsverwalter ist jedoch nicht ersichtlich (vgl. Stahlschmidt, BB 2002, 1727, m.w.N.).

33

Für eine solche Differenzierung allein auf die kaufmännische Prägung der Insolvenzverwaltertätigkeit abzustellen (so noch BFH-Urteil in BFHE 175, 284, BStBl II 1994, 936; Gollub, a.a.O., § 18, Rechtsspruch 388) berücksichtigt schon nicht hinreichend, dass der Gesetzgeber selbst diese Tätigkeit --trotz ihrer kaufmännischen Prägung-- ausdrücklich nicht den gewerblichen, sondern den Einkünften nach Maßgabe des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zugeordnet hat. Insoweit wird zu Recht darauf hingewiesen, dass manche freien Berufe i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG ebenfalls trotz kaufmännischer Ausrichtung, wie z.B. beratende Volks- und Betriebswirte, uneingeschränkt nach Maßgabe der Regelung in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG qualifizierte Personen beschäftigen dürfen, ohne den Charakter freiberuflicher Tätigkeit zu gefährden (Stahlschmidt, BB 2002, 1727).

34

Das in der bisherigen Rechtsprechung angeführte Argument, die in § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG erfassten Tätigkeiten stünden ihrer Natur nach einer kaufmännischen Beschäftigung näher als die in § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG genannten freien Berufe (so die BFH-Entscheidung in BFHE 175, 284, BStBl II 1994, 936, m.w.N.), spricht bei näherer Betrachtung sogar gegen den bisher von der Rechtsprechung gezogenen Umkehrschluss und für eine entsprechende Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG auch in den Fällen des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG. Grundsätzlich ist es nämlich für alle Einkunftsarten des EStG unerheblich, ob der Steuerpflichtige die Einkünfte durch persönliche Tätigkeit oder durch den Einsatz von Mitarbeitern erzielt. Lediglich für die freien Berufe, die typischerweise durch eine besondere Ausbildung, eine besondere Qualifikation und ein besonderes Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber herausgehoben sind, hat die ursprünglich vom RFH begründete Rechtsprechung den Einsatz von Mitarbeitern durch die Vervielfältigungstheorie eng begrenzt. Wenn der Gesetzgeber des StÄndG 1960 diese Begrenzung für die freien Berufe als überholt angesehen und durch die offenere Regelung des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG ersetzt hat, so muss diese Erleichterung erst recht für die weniger herausgehobenen und eher kaufmännisch geprägten Tätigkeiten i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG gelten. Denn Anlass für die Entwicklung der Vervielfältigungstheorie war der herausgehobene Status der freien Berufe, der den Tätigkeiten i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG gerade nicht zukommt.

35

dd) Die danach gebotene entsprechende Anwendung des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG für Tätigkeiten i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG entspricht auch dem Gebot verfassungskonformer Auslegung.

36

Denn ein nach dem Maßstab des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes sachlich begründetes Differenzierungsmerkmal für eine Ungleichbehandlung zwischen einem Freiberufler, der nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 Sätze 3 und 4 EStG qualifizierte Mitarbeiter steuerunschädlich beschäftigen kann, und einem Insolvenzverwalter oder anderen Vermögensverwalter i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG ist nicht ersichtlich.

37

3. Die somit auch für Insolvenzverwalter und Zwangsverwalter als Vermögensverwalter i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zulässige Mitarbeit fachlich Vorgebildeter setzt allerdings voraus, dass der Berufsträger trotz solcher Mitarbeiter weiterhin seinen Beruf leitend und eigenverantwortlich i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG ausübt.

38

a) Diesem Erfordernis entspricht eine Berufsausübung nur, wenn sie über die Festlegung der Grundzüge der Organisation und der dienstlichen Aufsicht hinaus durch Planung, Überwachung und Kompetenz zur Entscheidung in Zweifelsfällen gekennzeichnet ist (BFH-Urteile vom 29. Juli 1965 IV 61/65 U, BFHE 83, 154, BStBl III 1965, 557; vom 5. Juni 1997 IV R 43/96, BFHE 183, 424, BStBl II 1997, 681) und die Teilnahme des Berufsträgers an der praktischen Arbeit in ausreichendem Maße gewährleistet (BFH-Urteil vom 11. September 1968 I R 173/66, BFHE 93, 468, BStBl II 1968, 820; BFH-Beschluss vom 7. Oktober 1987 X B 54/87, BFHE 151, 147, BStBl II 1988, 17; BFH-Urteil vom 30. September 1999 V R 56/97, BFHE 189, 569; BFH-Beschluss vom 31. August 2005 IV B 205/03, BFH/NV 2006, 48, m.w.N).

39

Nur unter diesen Voraussetzungen trägt die Arbeitsleistung --selbst wenn der Berufsträger ausnahmsweise in einzelnen Routinefällen nicht mitarbeitet-- den erforderlichen "Stempel der Persönlichkeit" des Steuerpflichtigen (BFH-Urteile vom 1. Februar 1990 IV R 140/88, BFHE 159, 535, BStBl II 1990, 507; vom 21. März 1995 XI R 85/93, BFHE 177, 377, BStBl II 1995, 732; vom 14. März 2007 XI R 59/05, BFH/NV 2007, 1319).

40

b) Ob diese Voraussetzungen unter Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsorganisaton einer Insolvenzverwalter- oder Zwangsverwalterpraxis wie auch der Zahl der betreuten Verfahren und der Zahl qualifizierter Mitarbeiter vorliegen, ist eine Frage der Tatsachenfeststellung und -würdigung, die den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz obliegt. Diese Würdigung ist jeweils nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalls und den Besonderheiten des jeweiligen Berufs vorzunehmen (BFH-Entscheidung vom 7. Mai 1997 V B 112/96, BFH/NV 1997, 800).

41

c) Die Maßstäbe für die Würdigung der vom FA und dem FG festzustellenden Tatsachen zur Mitarbeiterbeteiligung werden dabei insbesondere bei Ausübung der Insolvenzverwaltertätigkeit im Wesentlichen dadurch bestimmt, was nach den Regelungen der InsO zu den höchstpersönlich auszuführenden Aufgaben eines Insolvenzverwalters gehört.

42

aa) Dabei eröffnet das Leitbild der Insolvenzverwaltung als kaufmännisch-praktische Tätigkeit unter Verwertung besonderer Wirtschafts- und Rechtskenntnisse (vgl. BFH-Urteil in BFHE 73, 100, BStBl III 1961, 306) einen umso größeren Spielraum für die Beschäftigung von Mitarbeitern, je mehr es um einfachere kaufmännisch-praktische Tätigkeiten geht. Je mehr die Insolvenzverwaltertätigkeit dagegen Grundentscheidungen in der Durchführung des Insolvenzverfahrens betrifft und damit eher besondere Wirtschafts- und Rechtskenntnisse erforderlich macht, spricht dies für die Notwendigkeit höchstpersönlicher Tätigkeit des Berufsträgers.

43

bb) Mit Blick auf dieses Leitbild ist zu beurteilen, inwieweit typische Insolvenzverwaltertätigkeiten (vgl. dazu FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Juni 2007  4 K 2063/05, EFG 2007, 1523) durch den jeweils bestellten Insolvenzverwalter höchstpersönlich vorzunehmen sind oder im Rahmen eigenverantwortlicher und leitender Tätigkeit des Insolvenzverwalters auf Mitarbeiter übertragen werden können.

44

cc) Dabei trägt schon die insolvenzrechtliche Vergütungsordnung vom 19. August 1998 (BGBl I 1998, 2205) dem Umstand Rechnung, dass es für einen Insolvenzverwalter regelmäßig faktisch unmöglich ist, alle kaufmännischen Einzelakte persönlich auszuüben (vgl. Smid, DZWIR 2002, 265). Deshalb sieht sie ausdrücklich die Übertragung einzelner Geschäfte auf Dritte vor, indem sie den Vergütungsanspruch danach differenziert, ob und inwieweit der Insolvenzverwalter in Ausübung seines Amtes selbst handelt (Verrichtungen vornimmt) oder ob und inwieweit er sich dabei Dritter bedient (Smid, DZWIR 2002, 265). Die danach berufstypische Übertragbarkeit etwa der Verwertung der Masse auf Dritte weist aus, dass der Kernbereich der Tätigkeit des Insolvenzverwalters im Wesentlichen durch die Organisation der Verfahrensabwicklung im Ganzen gekennzeichnet ist und eine Übertragung von Einzelgeschäften bei der Verwertung der Masse und bei der sonstigen Abwicklung unter Genehmigungsvorbehalt des Insolvenzverwalters nicht ausgeschlossen ist.

45

dd) Danach ist für die Abgrenzung von zulässiger Mitarbeiterbeschäftigung und gebotener höchstpersönlicher Berufsausübung des Insolvenzverwalters entscheidend, ob Organisation und Abwicklung des Insolvenzverfahrens insgesamt den "Stempel der Persönlichkeit" desjenigen tragen, dem nach § 56 InsO das Amt des Insolvenzverwalters vom Insolvenzgericht übertragen worden ist.

46

Dies erfordert, dass die Entscheidungen über das "Ob" bestimmter Einzelakte im Rahmen des Insolvenzverfahrens wie z.B. die Führung eines Anfechtungsprozesses oder die Aufnahme eines nach § 240 der Zivilprozessordnung unterbrochenen Prozesses, die Entscheidung über die Kündigung und Entlassung von Arbeitnehmern sowie die Entscheidung über die Art der Verwertung der Masse durch den Insolvenzverwalter persönlich zu treffen sind. Auch die zentralen Aufgaben des Insolvenzverwalters wie die Berichtspflicht gegenüber dem Insolvenzgericht, der Gläubigerversammlung und dem Gläubigerausschuss (§§ 58 Abs. 1 Satz 2, 69, 79, 152, 156 InsO), seine Pflicht zur Erstellung eines Insolvenzplans nach § 218 InsO auf entsprechenden Beschluss der Gläubigerversammlung (§ 157 InsO) wie auch die Schlussrechnungslegung (§ 66 InsO) muss er unbeschadet etwaiger Zulieferungs- und Hilfsarbeiten seiner Mitarbeiter im Wesentlichen selbst vornehmen.

47

Hat er Entscheidungen dieser Art (höchstpersönlich) getroffen, bleibt seine Tätigkeit auch dann eine solche i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG, wenn er das "Wie", nämlich die kaufmännisch-technische Umsetzung dieser Entscheidung wie z.B. die anwaltliche Durchführung eines Prozesses, die Kündigung bzw. Abwicklung der Entlassung von Arbeitnehmern oder die Verwertung der Masse durch Versteigerung auf Dritte überträgt. Denn der Gesetzgeber hat in der InsO für diese kaufmännisch-technischen Abwicklungsmaßnahmen, anders als für die Berichtspflichten nach den §§ 58 Abs. 1 Satz 2, 156 InsO, keine höchstpersönliche Wahrnehmung durch den Insolvenzverwalter vorgeschrieben (vgl. zu diesen Abwicklungsmaßnahmen auch FG Rheinland-Pfalz, Urteil in EFG 2007, 1523). Sie können mithin entsprechend § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG qualifizierten Hilfspersonen übertragen werden (vgl. Smid, DZWIR 2002, 265; Schmid, DZWIR 2002, 316).

48

ee) Auf dieser Grundlage kann allein aus der Anzahl der für einen Insolvenzverwalter tätigen Hilfspersonen nicht abgeleitet werden, inwieweit der Insolvenzverwalter seine Aufgaben selbständig und höchstpersönlich wahrnimmt. Deshalb kann nicht allein wegen der Beschäftigung von mehr als einem (gleich) qualifizierten Mitarbeiter die gewerbliche Qualifizierung der Einkünfte des Insolvenzverwalters gefolgert werden (Mitlehner, Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung 2002, 190; Leibner, DZWIR 2002, 273; Stahlschmidt, BB 2002, 1727). Dies gilt umso mehr, als die Insolvenzverwaltertätigkeit als kaufmännisch-praktische Aufgabe (BFH-Urteil in BFHE 73, 100, BStBl III 1961, 306) weniger durch einen "persönlichen Dienst am Kunden" als vielmehr durch eine Vielzahl von Einzelgeschäften und einen dadurch bedingten hohen Mitarbeitereinsatz geprägt wird (vgl. zu diesem Unterscheidungskriterium BFH-Entscheidungen in BFH/NV 1997, 800; in BFHE 183, 424, BStBl II 1997, 681; in BFH/NV 1998, 224; in BFHE 189, 569; vom 30. August 2007 XI B 1/07, BFH/NV 2007, 2280; vom 21. Januar 1999 XI B 126/96, BFH/NV 1999, 822 - jeweils zum Pflegedienst).

49

Deshalb hat ein Insolvenzverwalter die erforderlichen höchstpersönlichen Organisations- und Entscheidungsleistungen im Regelfall selbst bei einer Mehrzahl beschäftigter qualifizierter Personen erbracht, wenn er über das "Ob" der einzelnen Abwicklungsmaßnahmen in jedem der von ihm betreuten Verfahren entschieden hat.

50

4. Nach diesen Grundsätzen ist nach Maßgabe der tatsächlichen Feststellungen des FG die im Streitfall ausgeübte Insolvenzverwaltertätigkeit ebenso wie die Zwangsverwaltertätigkeit als (sonstige) selbständige Arbeit i.S. von § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zu beurteilen.

51

a) Die gegenteilige Auffassung des FG gründet sich allein auf die Feststellung, dass Gegenstand der Tätigkeit der angestellten Rechtsanwälte und sonstigen Hilfspersonen nicht nur vorbereitende und mechanische, sondern auch Fachwissen erfordernde qualifizierte Arbeiten waren und die Gesellschafter der Klägerin damit von aufwendigen Tätigkeiten ihrer Insolvenzfälle entlastet wurden. Eine solche Entlastung überschreitet indessen nur dann die durch § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG gezogenen Grenzen, wenn Entscheidungen über Art und Umfang von Tätigkeiten betroffen sind, die vom Insolvenzverwalter höchstpersönlich wahrzunehmen sind (Entscheidungen über das "Ob" bestimmter Abwicklungsmaßnahmen entsprechend den Ausführungen unter II.3.c dd) und deren Überlassung an Mitarbeiter mithin nicht mehr dem Gebot leitender und eigenverantwortlicher Berufsausübung i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG entspricht.

52

Eine solche Aufgabenverschiebung der Gesellschafter hin zu den angestellten Mitarbeitern hat das FG nicht festgestellt; sie ist auch den Akten im Übrigen nicht zu entnehmen. Insbesondere kann nicht allein aus der Höhe der Erlöse aus der Insolvenzverwaltertätigkeit auf eine solche Aufgabenverschiebung geschlossen werden. Vielmehr ist aufgrund der bereits im Verfahren vor dem FG wie auch in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat unstreitig gebliebenen Struktur der Insolvenzfallbearbeitung mit einem Gesellschafter sowie einem angestellten Anwalt und einer weiteren Angestellten je Insolvenzfall sowie angesichts der jährlich zwischen 3 und 48 Fällen zu bearbeitenden Zahl kein Ansatz für die Annahme zu sehen, die Gesellschafter hätten ihre jeweilige Tätigkeit nicht eigenverantwortlich und leitend i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG ausgeübt.

53

b) Dieses Ergebnis wird auch nicht durch die unstreitig erzielten gewerblichen Einkünfte der Klägerin beeinträchtigt, weil der Anteil dieser Einkünfte weniger als 1 % betrug und damit nach Maßgabe der Rechtsprechung innerhalb der Bagatellgrenze von unter 1,25 % bleibt, die eine Anwendung der Abfärbewirkung nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ausschließt (vgl. dazu BFH-Urteile vom 11. August 1999 XI R 12/98, BFHE 189, 419, BStBl II 2000, 229; vom 28. Oktober 2008 VIII R 73/06, BFHE 223, 218, BStBl II 2009, 647).

(1) Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz. Erlischt der zu verzinsende Anspruch durch Aufrechnung, gilt der Tag, an dem die Schuld des Aufrechnenden fällig wird, als Tag der Zahlung.

(1a) In den Fällen des § 233a betragen die Zinsen abweichend von Absatz 1 Satz 1 ab dem 1. Januar 2019 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr.

(1b) Sind für einen Zinslauf unterschiedliche Zinssätze maßgeblich, ist der Zinslauf in Teilverzinsungszeiträume aufzuteilen. Die Zinsen für die Teilverzinsungszeiträume sind jeweils tageweise zu berechnen. Hierbei wird jeder Kalendermonat unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Kalendertage mit 30 Zinstagen und jedes Kalenderjahr mit 360 Tagen gerechnet.

(1c) Die Angemessenheit des Zinssatzes nach Absatz 1a ist unter Berücksichtigung der Entwicklung des Basiszinssatzes nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wenigstens alle zwei Jahre zu evaluieren. Die erste Evaluierung erfolgt spätestens zum 1. Januar 2024.

(2) Für die Berechnung der Zinsen wird der zu verzinsende Betrag jeder Steuerart auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag abgerundet.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Veranlagungszeitraum 2002 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden.

2

Sie veräußerten am 17. April 2002 eine am 27. November 1996 erworbene Eigentumswohnung. In dem Einkommensteuerbescheid für 2002 vom 8. Oktober 2004 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Einkommensteuer unter Berücksichtigung eines Veräußerungsgewinns von 61.539 € als Einkünfte aus einem privaten Veräußerungsgeschäft i.S. von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) fest. In ihrem Einspruch vom 14. Oktober 2004 beriefen sich die Kläger hiergegen auf die Verfassungswidrigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Spekulationsfrist. Auf den am selben Tag gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gewährte das FA am 26. Oktober 2004 Aussetzung der Vollziehung (AdV) in Höhe der auf den Veräußerungsgewinn entfallenden Steuer von 29.632 €. Am 28. Oktober 2004 ordnete das FA das Ruhen des Verfahrens gemäß § 363 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) in der Rechtssache IX R 46/02 an. Dieses Verfahren hatte der BFH mit Beschluss vom 16. Dezember 2003 ausgesetzt (BFH-Vorlagebeschluss vom 16. Dezember 2003 IX R 46/02, BFHE 204, 228, BStBl II 2004, 284) und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu der Frage eingeholt, ob § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes (StEntlG) 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I 1999, 402) mit dem Grundgesetz (GG) insoweit unvereinbar ist, als danach auch private Grundstücksveräußerungsgeschäfte nach dem 31. Dezember 1998, bei denen zu diesem Stichtag die zuvor geltende Spekulationsfrist von zwei Jahren (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG a.F.) bereits abgelaufen war, übergangslos der Einkommensbesteuerung unterworfen werden.

3

Nachdem das BVerfG am 7. Juli 2010 (Beschluss vom 7. Juli 2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76) entschieden hat, die Verlängerung der sog. Spekulationsfrist bei der Veräußerung von Grundstücken durch § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 39 Satz 1 EStG i.d.F. des StEntlG 1999/2000/2002 sei mit den belastenden Folgen einer unechten Rückwirkung verbunden gewesen, die zum Teil den Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes widersprachen, behandelte das FA nur noch einen Betrag von 34.078 € als steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn und setzte mit geändertem Einkommensteuerbescheid für 2002 vom 15. Februar 2011 die Einkommensteuer entsprechend niedriger fest. Die gewährte AdV wurde zugleich aufgehoben. Mit Bescheid über Aussetzungszinsen vom 30. März 2011 setzte das FA Aussetzungszinsen für den Zeitraum vom 11. November 2004 bis zum 21. März 2011 (76 Monate) in Höhe von 6.023 € fest.

4

Der Einspruch, in dem sich die Kläger darauf beriefen, dass die Zinsfestsetzung wegen der langen Verfahrensdauer von sechs Jahren und vier Monaten nicht nur überraschend, sondern auch willkürlich und verfassungswidrig sei, und die Klage blieben erfolglos. In seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 1734 veröffentlichten Urteil vertrat das Finanzgericht (FG) die Auffassung, die Zinsfestsetzung entspreche der gemäß §§ 237, 238 Abs. 1 AO geltenden Rechtslage. Es bestünden hinsichtlich des typisierten Zinssatzes von 6 Prozent p.a. keine verfassungsrechtlichen Bedenken für den Verzinsungszeitraum November 2004 bis März 2011. Zwar habe sich nunmehr --anders als in den letzten vier Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts-- ein Niedrigzinsniveau stabilisiert. Die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich damit gegenüber den Gegebenheiten bei Einführung des Zinssatzes von 6 Prozent p.a. entscheidend verändert. Allerdings führten nach der zu Art. 3 GG entwickelten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vorhandene Ungleichheiten nicht in jedem Fall zur sofortigen Verfassungswidrigkeit. Dem Gesetzgeber stünden zur Beseitigung solcher Ungleichheiten in bestimmten Fällen Fristen zu. Dem Gesetzgeber sei eine gewisse Beobachtungszeit zuzubilligen, bevor eine Anpassung an die veränderten Verhältnisse unumgänglich werde.

5

Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Die Vorentscheidung gehe willkürlich unter Verletzung der Grundrechte der Kläger --des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und des Eigentums (Art. 14 GG) in der Ausformung des Halbteilungsgrundsatzes-- davon aus, sie wären unabhängig von der unbestimmten und überlangen Dauer des Verfahrens in der Lage gewesen, den zur Zahlung ausgesetzten Betrag für die Verfahrensdauer von 76 Monaten gewinnbringend anzulegen. Bei verfassungsmäßiger Rechtsanwendung hätte die tatsächliche Nutzung durch die Kläger ermittelt und lediglich diese konkret abgeschöpft werden müssen. Die Zinsfestsetzung sei wegen der überlangen Verfahrensdauer verfassungs- und menschenrechtswidrig. §§ 237, 238 AO verletzten den Grundsatz der Bestimmtheit, weil sie willkürlich die Verfahrensdauer des zur Aussetzung führenden Ursprungsverfahrens nicht berücksichtigten. Auch die Höhe der Zinsen von 6.023 € bezogen auf einen ausgesetzten Betrag in Höhe von 15.850 €, die "fast 50 %" des Betrages bedeute, sei angesichts der tatsächlich nicht bestehenden Nutzungsmöglichkeiten eine unsachliche, unverhältnismäßige und damit willkürliche Belastung der Kläger. Die (anteiligen) Verfahrens- und Gerichtskosten, die die Kläger auf den Wert von 15.850 € zahlen müssten, beeinträchtigten ebenfalls den fiktiv unterstellten Nutzungsvorteil in Bezug auf den Aussetzungsbetrag und seien daher hinzuzurechnen. Die Berechnung der Aussetzungszinsen auf der Grundlage des Basiszinssatzes gemäß § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ermögliche dagegen eine einfach zu handhabende und der Realität entsprechende Bewertung. Bei einem Aussetzungsbetrag in Höhe von 15.850 € ergäbe sich bei der Verfahrensdauer von 76 Monaten ein Zinsbetrag --wie im Hilfsantrag berücksichtigt-- in Höhe von 1.620,01 €.

6

Die Kläger beantragen sinngemäß,
das angefochtene Urteil und den Bescheid über Aussetzungszinsen vom 30. März 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Dezember 2011 aufzuheben,
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Bescheid über Aussetzungszinsen vom 30. März 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Dezember 2011 dahingehend zu ändern, dass Aussetzungszinsen für den Zeitraum vom 11. November 2004 bis zum 21. März 2011 in Höhe des jeweiligen Basiszinssatzes, mithin in Höhe von 1.620,01 €, festgesetzt werden.

7

Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision der Kläger ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die vom FA vorgenommene Festsetzung von Aussetzungszinsen der geltenden Rechtslage entspricht (1.). Die Voraussetzungen einer Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG hinsichtlich der gesetzlich festgelegten Zinshöhe liegen nicht vor (2.). Der gestellte Hilfsantrag ist unbegründet (3.). Über einen nicht beantragten Erlass aus Billigkeitsgründen hat der Senat nicht zu entscheiden (4.).

9

1. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Zinsen werden erhoben vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem die AdV endet (§ 237 Abs. 2 Satz 1 AO). Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO).

10

a) Sinn und Zweck der in § 237 AO enthaltenen gesetzlichen Regelung der Verzinsungspflicht ist es, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Aussetzung über eine Geldsumme verfügen kann, die nach dem im angefochtenen Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht "an sich" dem Steuergläubiger zusteht (vgl. BFH-Urteile vom 24. Juli 1979 VII R 67/76, BFHE 128, 331, BStBl II 1979, 712; vom 20. September 1995 X R 86/94, BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53). Zu § 251a der Reichsabgabenordnung (RAO), auf den § 237 AO zurückgeht (vgl. dazu Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. November 2001  3 A 1928/98, Zeitschrift für Miet- und Raumrecht 2002, 477), ist im Entwurf des Steueränderungsgesetzes 1961 (BTDrucks III/2573, S. 37) ausgeführt, die Norm sei das Gegenstück zu § 155 RAO. Wenn danach von Beginn der Rechtshängigkeit Überzahlungen verzinst würden, müsse das Gleiche auch für Nachzahlungen gelten, zumal durch die Einführung von Zinsen für die AdV erreicht werde, dass unnötige Steuerprozesse vermieden würden. Wenn in der Gesetzesbegründung die Aussetzungszinsen als "Gegenstück" zu den Prozesszinsen bezeichnet werden, so soll damit gesagt werden, dass das Gesetz auf einen gerechten Ausgleich zwischen den Zinsvorteilen des Steuerpflichtigen und dem Zinsverlust des Steuergläubigers abzielt und die Aussetzungszinsen den Zweck haben, dem Steuergläubiger den Nutzungsvorteil zuzuwenden, der ihm für einen nach dem materiellen Steuergesetz geschuldeten Betrag gebührt (BFH-Urteil vom 31. März 2010 II R 2/09, BFH/NV 2010, 1602, unter II.1.a).

11

b) Das FG hat auf der Rechtsgrundlage der §§ 237 Abs. 1 und 2, 238 AO die Festsetzung der Aussetzungszinsen in Höhe von 6.023 € zutreffend als der geltenden Rechtslage entsprechend angesehen.

12

2. Die Voraussetzungen einer Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG liegen nicht vor.

13

Ein Gericht kann die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Regelung überzeugt ist (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 20. März 1984  1 BvL 23/83, BVerfGE 66, 265, unter B.2.; BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1989  2 BvL 8/87, BVerfGE 80, 59, unter B.1., und vom 22. September 2009  2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251, unter B.2.a). Eine solche Überzeugung vermochte sich der Senat im Streitfall hinsichtlich der gesetzlich festgelegten Zinshöhe indes nicht zu bilden.

14

a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Aus ihm ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. Urteil vom 20. April 2004  1 BvR 905/00, BVerfGE 110, 274, unter C.1.; BVerfG-Beschluss vom 15. Januar 2008  1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.). Im Bereich des Steuerrechts hat der Gesetzgeber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Dies gilt für die Auswahl des Steuergegenstands und auch für die Bestimmung des Steuersatzes (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 22. Juni 1995  2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121, unter C.II.1.d, und vom 4. Dezember 2002  2 BvR 400/98, 2 BvR 1735/00, BVerfGE 107, 27, unter C.I.1.b). Das BVerfG erkennt in ständiger Rechtsprechung Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse an (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa; BVerfG-Urteil vom 9. Dezember 2008  2 BvL 1, 2/07, 1, 2/08, BVerfGE 122, 210, unter C.I.2.; BVerfG-Beschluss vom 6. Juli 2010  2 BvL 13/09, Deutsches Steuerrecht 2010, 1563, 1565). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Steuergesetze in der Regel --wie im Streitfall-- Massenvorgänge des Wirtschaftslebens betreffen. Sie müssen, um praktikabel zu sein, Sachverhalte, an die sie dieselben steuerrechtlichen Folgen knüpfen, typisieren und dabei in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles vernachlässigen. Die wirtschaftlich ungleiche Wirkung auf die Steuerzahler darf allerdings ein gewisses Maß nicht übersteigen. Vielmehr müssen die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen (vgl. z.B. BVerfG-Urteil in BVerfGE 110, 274; BVerfG-Beschluss in BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa). Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 7. Oktober 1969  2 BvR 555/67, BVerfGE 27, 142, unter B.1.b, und in BVerfGE 120, 1, unter C.I.2.a aa). Der Senat kann sich für den Streitfall nicht die Überzeugung bilden, dass der Gesetzgeber diese verfassungsrechtlichen Grenzen überschritten hat.

15

b) Das BVerfG (Beschluss vom 3. September 2009  1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, unter III.1.b bb) hat --bezogen auf die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO für die Zinszahlungszeiträume 2003 bis 2006-- zu der gesetzlichen Typisierung ausgeführt: "Indem der Gesetzgeber im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung den auszugleichenden Zinsvorteil und -nachteil typisierend auf 0,5 % pro Monat festgesetzt hat, ist dies jedenfalls rechtsstaatlich unbedenklich und stellt insbesondere keinen Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot dar. Nach der Absicht des Gesetzgebers soll der konkrete Zinsvorteil oder -nachteil für den Einzelfall nicht ermittelt werden müssen. Eine Anpassung an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz nach § 247 BGB würde wegen dessen Schwankungen auch zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen, da im Einzelnen für die Vergangenheit festgestellt werden müsste, welche Zinssätze für den jeweiligen Zinszeitraum zugrunde zu legen wären (vgl. BTDrucks 8/1410, S. 13). In vielen Fällen ist eine solche Ermittlung gar nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet. Zudem ist auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass der hohe Zinssatz des § 233a in Verbindung mit § 238 AO gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkt."

16

c) Zwar hat das FG an den Ausführungen des BVerfG zu Recht für zweifelhaft angesehen, ob angesichts der Einsatzmöglichkeiten moderner EDV-Technik bei einer Anpassung der Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 BGB weiterhin "erhebliche praktische Schwierigkeiten" bestünden (kritisch auch Ortheil, Betriebs-Berater 2012, 1513, 1516; Seer/Klemke, Institut Finanzen und Steuern e.V., IFSt-Schrift Nr. 490 (2013), 48), allerdings gelten die übrigen vom BVerfG herangezogenen Erwägungen gleichermaßen jedenfalls noch für die im Streitfall betroffenen Zinszahlungszeiträume von 2004 bis 2011. Die Ermittlung eines konkreten Zinsvorteils oder -nachteils ist für den konkreten Einzelfall regelmäßig nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet; der gesetzliche Zinssatz gilt weiterhin sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2013 X B 233/12, BFH/NV 2013, 1380).

17

aa) Soweit die Kläger meinen, für den Vergleich mit dem gesetzlichen Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO sei ausschließlich der jeweils aktuelle Zinssatz für Geldanlagen heranzuziehen, trifft dies nicht zu.

18

Zwar lag der Effektivzinssatz in % p.a. für Einlagen privater Haushalte (Quelle: Deutsche Bundesbank, Zinssätze und Volumina für das Neugeschäft der deutschen Banken (MFIs) - Einlagen mit vereinbarter Kündigungsfrist bis drei Monate) in dem Verzinsungszeitraum vom 11. November 2004 bis zum 21. März 2011 deutlich unter dem Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Da die Verwendung des noch nicht zu Steuerzahlungen benötigten Kapitals jedoch von individuellen Finanzierungsentscheidungen des Steuerpflichtigen abhängig ist, sind indes bei der Betrachtung sowohl der Anlagezinssatz (Verwendung von Kapital) als auch der Darlehenszinssatz (Finanzierung von Steuernachzahlungen) für einen Vergleich mit dem Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO einzubeziehen (gleicher Ansicht BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 1380). Anders als Seer/Klemke (IFSt-Schrift Nr. 490 (2013), 56) meinen, besteht auch kein Grund dafür, nur kurzfristige Fremdfinanzierungen einzubeziehen. Denn die Verzinsung bei einer AdV erfasst --wie der Streitfall zeigt-- auch langfristige Zeiträume. In dem genannten Verzinsungszeitraum lagen die Effektivzinssätze für Konsumentenkredite an private Haushalte mit anfänglicher Zinsbindung (zwischen 7,14 % p.a. und 5,32 % p.a. [Quelle: Deutsche Bundesbank, Zinssätze und Volumina für das Neugeschäft der deutschen Banken (MFIs) - Konsumentenkredite an private Haushalte]) sowie die banküblichen Sollzinsen für Dispositionskredite über bzw. jedenfalls nicht wesentlich unter dem in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genannten Zinssatz von 0,5 % pro Monat (6 % p.a.). Dies gilt ebenso für die gesetzlichen Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 BGB (fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz; mithin im Zeitraum von 2004 bis 2011 zwischen 8,32 % und 5,12 %) und § 288 Abs. 2 BGB (acht Prozentpunkte über dem Basiszinssatz; mithin im Zeitraum von 2004 bis 2011 zwischen 11,32 % und 8,12 %).

19

Da sich der Zinssatz von einhalb Prozent für jeden Monat (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) somit bei diesem Vergleich noch in einem der wirtschaftlichen Realität angemessenen Rahmen hält, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass § 238 Abs. 1 Satz 1 AO verfassungswidrig ist. Es ist zudem zu berücksichtigen, dass für nicht besicherte Kreditgewährungen im Vergleich zu besicherten Krediten am Markt in der Regel zur Vergütung des Risikos ein höherer Darlehenszins zu bezahlen ist. Da die Forderungen des FA gegenüber den Steuerpflichtigen regelmäßig nicht besichert sind, lässt sich dieser Umstand eher dafür anführen, sich am höheren Zinsniveau für unbesicherte Darlehen zu orientieren.

20

Dafür, dass sich der Gesetzgeber mit der Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO im Streitfall innerhalb seiner Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis hält, spricht neben den oben angeführten Argumenten auch der Grundsatz der Rechtskontinuität. Wie unter II.1.a dargelegt, geht § 237 AO auf § 251a RAO --eingeführt durch das Steueränderungsgesetz 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl I 1961, 981)-- zurück. Der Zinssatz in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO entspricht der damaligen Rechtslage in § 5 des Steuersäumnisgesetzes (StSäumG). § 5 Abs. 1 StSäumG sah ebenfalls Zinsen für jeden Monat von einhalb von Hundert vor. Der typisierende Zinssatz gilt daher über einen langen Zeitraum in einer Vielzahl von Fällen, in dem erhebliche Zinsschwankungen --nach oben und nach unten-- auftraten. Dass die Kläger möglicherweise tatsächlich keinen oder einen geringeren Zinsvorteil erlangt haben, ist für die Verzinsung gemäß § 237 AO grundsätzlich unerheblich (vgl. BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115).

21

Nachdem sich erst nach dem streitgegenständlichen Verzinsungszeitraum das Marktzinsniveau dauerhaft auf relativ niedrigem Niveau stabilisiert hat, bedarf es im Streitfall keiner Entscheidung des Senats, ob sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Folgezeit so einschneidend geändert haben, dass die Grundlage der gesetzgeberischen Entscheidung durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird (so Jonas, Die Unternehmensbesteuerung 2011, 960 f.). Dann kann der Gesetzgeber allerdings von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 8. August 1978  2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89, unter B.II.2.c; vom 24. November 1981  2 BvC 1/81, BVerfGE 59, 119, unter II.2.c, und vom 28. November 1984  1 BvR 1157/82, BVerfGE 68, 287, BStBl II 1985, 181).

22

bb) Folge einer Typisierung ist notwendigerweise, dass die Verhältnisse des Einzelfalls unberücksichtigt bleiben. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind durch die Typisierungsbefugnis grundsätzlich gerechtfertigt. Ist vorhersehbar, dass in Ausnahmefällen besondere Härten auftreten können, die nicht in zumutbarer Weise durch gesetzliche Sonderregelungen vermeidbar sind, steht dies der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers nicht entgegen, wenn für deren Behebung im Einzelfall Billigkeitsmaßnahmen (vgl. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO) zur Verfügung stehen. Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von generalisierenden und typisierenden Normen des Steuerrechts fällt insbesondere die Möglichkeit des Billigkeitsverzichts zur Milderung unbilliger Härten ins Gewicht (BVerfG-Beschluss vom 5. April 1978  1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102; BFH-Urteile vom 6. Februar 1976 III R 24/71, BFHE 118, 151; vom 23. März 1998 II R 41/96, BFHE 185, 270, BStBl II 1998, 396; vom 27. Mai 2004 IV R 55/02, BFH/NV 2004, 1555, und vom 20. September 2012 IV R 36/10, BFHE 238, 429, BStBl II 2013, 498).

23

d) Ohne Erfolg wenden die Kläger ein, dass die §§ 237, 238 AO gegen den Grundsatz der Bestimmtheit verstoßen.

24

Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf die Verwaltung Steuerpflichtige nur aufgrund solcher Gesetze belasten, die nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sind, so dass die Eingriffe messbar und in gewissem Umfang für den Einzelnen voraussehbar und berechenbar werden (vgl. BVerfG-Beschluss vom 14. August 1996  2 BvR 2088/93, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1996, 3146, m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Dass in Fällen der vorliegenden Art der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen ist, lässt sich anhand des Gesetzeswortlauts hinreichend erkennen.

25

e) Die Vorentscheidung verstößt schließlich nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Eine Verletzung dieses Grundrechts wäre allenfalls in Betracht zu ziehen, wenn die Geldleistungspflichten den Betroffenen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen (BVerfG-Beschlüsse vom 8. März 1983  2 BvL 27/81, BVerfGE 63, 312, BStBl II 1983, 779, und in BVerfGE 68, 287, BStBl II 1985, 181). Für eine derartige Wirkung einer Zinshöhe von einhalb Prozent für jeden Monat gibt es im Streitfall keine Anhaltspunkte.

26

f) Der Senat kann im Streitfall dahinstehen lassen, ob der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eröffnet ist und sich daraus oder aus Art. 19 Abs. 4 GG (Gebot effektiven Rechtsschutzes) die von den Klägern behauptete Rechtsfolge ableiten ließe, ein Bescheid über Aussetzungszinsen werde rechtswidrig und müsse ersatzlos aufgehoben werden, wenn die Verfahrensdauer des zur Aussetzung führenden Ursprungsverfahrens verfassungswidrig überlang gewesen sei. Denn für eine Unangemessenheit der Dauer des Verwaltungsverfahrens hat das FG keine Feststellungen getroffen.

27

Die Dauer des Verwaltungsverfahrens beruhte im Wesentlichen auf der gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO eingetretenen Verfahrensruhe bis zur Entscheidung des BFH in dem Musterverfahren IX R 46/02, das der BFH mit Beschluss vom 16. Dezember 2003 ausgesetzt und dem BVerfG nach Art. 100 GG vorgelegt hat. Nachdem das BVerfG am 7. Juli 2010 entschieden hat, setzte das FA mit Bescheid vom 15. Februar 2011 die Einkommensteuer entsprechend niedriger fest und hob die gewährte AdV auf.

28

Das Ruhen des Einspruchsverfahrens diente --auch im Interesse der Kläger-- der Verfahrensökonomie (vgl. Begründung zu § 363 AO, BTDrucks 12/7427, S. 37). Sie hätten jederzeit die Fortführung des Einspruchsverfahrens beantragen können (§ 363 Abs. 2 Satz 4 AO). Für Verfahren vor dem BVerfG ist zu berücksichtigen, dass dessen Sachentscheidungen über den Einzelfall hinaus wirken und teilweise Gesetzeskraft haben (§ 31 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht), weshalb grundsätzlich in jedem verfassungsgerichtlichen Verfahren eine besonders tiefgehende und abwägende Prüfung erforderlich ist, die einer Verfahrensbeschleunigung Grenzen setzt. Außerdem gebietet es --wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anerkennt (EGMR-Urteile vom 25. Februar 2000  29357/95, Gast und Popp ./. Deutschland, NJW 2001, 211, Rz 75; vom 8. Januar 2004  47169/99, Voggenreiter ./. Deutschland, NJW 2005, 41, Rz 49, 52; vom 6. November 2008  58911/00, Leela Förderkreis e.V. u.a. ./. Deutschland, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 2010, 177, Rz 63, und vom 22. Januar 2009  45749/06, 51115/06, Kaemena und Thöneböhn ./. Deutschland, juris, Rz 61 ff.)-- die besondere Rolle des BVerfG, bei der Bearbeitung der Verfahren gegebenenfalls andere Umstände zu berücksichtigen als nur die chronologische Reihenfolge der Eintragung in das Gerichtsregister, etwa weil besonders bedeutsame Verfahren vorrangig bearbeitet werden müssen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 1. Oktober 2012  1 BvR 170/06 - Vz 1/12, NVwZ 2013, 789). Zudem kann zur Klärung von Auslegungsfragen des Grundgesetzes ein Zuwarten bei der Bearbeitung einzelner Verfahren nötig sein, weil mehrere Verfahren zu einem Fragenkreis gebündelt werden müssen, um einen umfassenden Blick auf die verfassungsrechtliche Problematik zu ermöglichen, oder weil umgekehrt eine in mehreren Verfahren aufgeworfene Frage in einem Pilotverfahren geklärt wird, während die übrigen gleich oder ähnlich gelagerten Verfahren einstweilen zurückgestellt bleiben (vgl. EGMR-Urteil in NVwZ 2010, 177, Rz 63 f.; BVerfG-Beschluss in NVwZ 2013, 789). Entgegen der Auffassung der Kläger kann daher im Streitfall nicht aus der Dauer des der Verfahrensruhe zugrundeliegenden Musterverfahrens auf eine überlange, unangemessene Dauer des Verwaltungsverfahrens geschlossen werden.

29

3. Der Hilfsantrag ist unbegründet.

30

Steuerrechtlich besteht keine Rechtsgrundlage für eine Festsetzung von Aussetzungszinsen für den Zeitraum vom 11. November 2004 bis zum 21. März 2011 in Höhe des jeweiligen Basiszinssatzes gemäß § 247 BGB. Wie unter II.1. dargelegt, beruht der Festsetzungsbescheid über die Aussetzungszinsen vom 30. März 2011 auf den §§ 237 Abs. 1 und 2, 238 AO.

31

4. Über einen --nicht beantragten-- Erlass aus Billigkeitsgründen hat der Senat nicht zu entscheiden. Die Frage eines eventuellen Zinsverzichts des FA als Billigkeitsmaßnahme gemäß § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO wäre in einem gesonderten Verfahren zu klären.

Gründe

1

1. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind der Auffassung, die Rechtsfrage, ob der durch § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) auf 0,5 % pro Monat festgelegte gesetzliche Zinssatz für Zinszahlungszeiträume ab 2009 den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Typisierung standhalte, sei von grundsätzlicher Bedeutung.

2

Es bestehen bereits Zweifel, ob die Begründung der von den Klägern erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde die gesetzlichen Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erfüllt. Denn sie setzt sich sowohl mit den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten allgemeinen Anforderungen an gesetzliche Typisierungen als auch mit der bisher ergangenen Rechtsprechung zur Zulässigkeit der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO getroffenen Typisierung allenfalls oberflächlich auseinander.

3

Letztlich kann dies aber offenbleiben, da die Beschwerde jedenfalls unbegründet ist. Die von den Klägern aufgeworfene Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, so dass sie nicht zur Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO führen kann.

4

2. Das BVerfG hat --bezogen auf die Zinszahlungszeiträume 2003 bis 2006-- zu der gesetzlichen Typisierung ausgeführt (Beschluss vom 3. September 2009  1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, unter III.1.b bb): "Indem der Gesetzgeber im Interesse der Praktikabilität und der Verwaltungsvereinfachung den auszugleichenden Zinsvorteil und -nachteil typisierend auf 0,5 % pro Monat festgesetzt hat, ist dies jedenfalls rechtsstaatlich unbedenklich und stellt insbesondere keinen Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot dar. Nach der Absicht des Gesetzgebers soll der konkrete Zinsvorteil oder -nachteil für den Einzelfall nicht ermittelt werden müssen. Eine Anpassung an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) würde wegen dessen Schwankungen auch zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen, da im Einzelnen für die Vergangenheit festgestellt werden müsste, welche Zinssätze für den jeweiligen Zinszeitraum zugrunde zu legen wären (vgl. BTDrucks 8/1410, S. 13). In vielen Fällen ist eine solche Ermittlung gar nicht möglich, weil es von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängt, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziert oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwendet. Zudem ist auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen, dass der hohe Zinssatz des § 233a in Verbindung mit § 238 AO gleichermaßen zugunsten wie zulasten des Steuerpflichtigen wirkt."

5

Die vom BVerfG herangezogenen Erwägungen gelten gleichermaßen auch für Zinszahlungszeiträume ab 2009. Auch hier wäre eine Ermittlung der jeweiligen Marktzinssätze mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten verbunden; der gesetzliche Zinssatz gilt weiterhin sowohl zugunsten als auch zulasten des Steuerpflichtigen.

6

3. Soweit der Kläger meint, für den Vergleich mit dem gesetzlichen Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO sei ausschließlich der jeweils aktuelle Zinssatz für Festgeldanlagen heranzuziehen, trifft dies nicht zu.

7

Bereits das BVerfG hat in der oben zitierten Entscheidung ausgeführt, es sei von subjektiven Entscheidungen des Steuerpflichtigen abhängig, in welcher Weise er Steuernachzahlungen finanziere oder das noch nicht zu Steuerzahlungen benötigte Kapital verwende. Daraus folgt, dass sowohl der Anlagezinssatz (Verwendung von Kapital) als auch der Darlehenszinssatz (Finanzierung von Steuernachzahlungen) für einen Vergleich mit dem Zinssatz des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geeignet sind.

8

In diesem Zusammenhang weist das Finanzgericht zutreffend darauf hin, dass auch in den Jahren ab 2009 die gesetzlichen Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB-- (fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz) und § 288 Abs. 2 BGB (acht Prozentpunkte über dem Basiszinssatz) sowie die banküblichen Sollzinsen für Dispositionskredite über bzw. jedenfalls nicht wesentlich unter dem in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genannten Zinssatz von 0,5 % pro Monat (6 % pro Jahr) lagen.

9

4. Darüber hinaus können die von den Klägern --ohne Quellenangabe-- genannten Zinssätze, mit denen sie die fehlende Realitätsnähe des im Rahmen der Vollverzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis anzuwendenden gesetzlichen Zinssatzes belegen wollen, vom Senat nicht nachvollzogen werden.

10

a) Soweit die Kläger behaupten, der Kapitalmarktzins habe in den Jahren 2009 bis 2011 um den Wert von 1 % geschwankt, verwechseln sie möglicherweise den Kapitalmarktzins mit dem Geldmarktzins. Die für den Kapitalmarktzins maßgebenden Umlaufrenditen inländischer Inhaberschuldverschreibungen haben in diesem Zeitraum jedenfalls zwischen 1,9 % und 3,5 % gelegen (Quelle: Deutsche Bundesbank, Zeitreihe BBK01.WU0017).

11

b) Unzutreffend ist auch die Behauptung, bei der Einführung des § 233a AO (durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I 1988, 1093) habe der Zinssatz für Monatsgelder bei 9 % gelegen. Tatsächlich lag der Durchschnittszinssatz für Festgelder mit einer Laufzeit von einem Monat im Juli 1988 bei 2,89 % (Quelle: Deutsche Bundesbank, Zeitreihe BBK01.SU0061); die Umlaufrendite inländischer Inhaberschuldverschreibungen lag zu diesem Zeitpunkt bei 6,3 % (Quelle: Deutsche Bundesbank, Zeitreihe BBK01.WU0017).

12

5. Von einer Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

13

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

I. Streitig ist, ob die Festsetzung von Zinsen nach § 233a Abgabenordnung (AO) rechtswidrig ist.

Die  Kläger werden vom Beklagten – dem Finanzamt (FA) – für das Streitjahr 2007 zusammen zur Einkommensteuer (ESt) veranlagt. In ihrer am 03.11.2008 beim Finanzamt eingegangenen ESt-Erklärung erklärten die Kläger in der Anlage GSE gewerbliche Einkünfte als Mitunternehmer an der          (KG) in Höhe von 437 €. Dieser Betrag entsprach der am 01.08.2008 verfassten Mitteilung über die einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte der KG vom 15.07.2008. Das FA übernahm die ausgewiesenen Einkünfte in den ESt-Bescheid vom 15.12.2008.

Im durch Einspruch vom 14.01.2009 eröffneten Einspruchsverfahren, das andere Besteuerungsgrundlagen betraf, änderte das FA den Bescheid wegen anderer Beteiligungseinkünfte am 17.08.2010. Während des weitergeführten Einspruchsverfahrens ging eine Änderungsmitteilung über die geänderte Feststellung der Einkünfte aus der Beteiligung an der KG laut Feststellungsbescheid vom 22.10.2010 ein, sowie eine weitere geänderte Feststellung laut Feststellungsbescheid vom 11.05.2011. In der zuletzt genannten Mitteilung wurden die laufenden Einkünfte der Kläger aus der Beteiligung mit 28.681,58 € mitgeteilt.

Mit Schreiben vom 20.07.2012 mahnte der Klägervertreter eine zügige Erledigung der laufenden Einspruchsverfahren - darunter desjenigen für das Streitjahr - an. Nach weiterem Schriftsatzaustausch erließ das FA am 07.05.2013 die Einspruchsentscheidung (EE), in der es auch die zuletzt mitgeteilten Einkünfte aus der Beteiligung an der KG -erhöht- ansetzte. Mit der Steuerfestsetzung verband das FA die Festsetzung von Zinsen  zur ESt in Höhe von 3.315 €.

Gegen diese Zinsfestsetzung wandten sich die Kläger mit Einspruch vom 04.06.2013, den das FA mit EE vom 19.09.2013 als unbegründet zurückwies. In der EE führte das FA auch aus, dass ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht in Betracht komme.

Mit ihrer Klage vom 21.10.2013 verwahren sich die Kläger gegen die Zinsfestsetzung.  Sie sei insoweit rechtswidrig, als sie durch den Ansatz der erhöhten Einkünfte aus der Beteiligung an der KG (lt. Feststellungsbescheid vom 11.05.2011)  veranlasst sei. Dieser Bescheid sei den Klägern nicht zugegangen. Die Zinsfestsetzung resultiere letztlich aus der überlangen Verfahrensdauer, was zusammen mit dem angesichts der Niedrigzinsphase überhöhten Zinssatz von 6% zur materiellen Rechtswidrigkeit der Festsetzung führe. Der hohe Zins wäre nicht entstanden, wenn das FA die Mitteilung ordnungsgemäß und zeitangemessen ausgewertet hätte. In vergleichbaren Fällen erfolge die Änderung der Bescheide binnen 4-8 Wochen. Daher stelle die Zinsfestsetzung einen Verstoß gegen die Grundsätze von Treu und Glauben, das Übermaßverbot, sowie den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Die dadurch überhöhten Zinsen betrügen 1.588 € (Schriftsatz vom 27.11.2013).

Die Kläger beantragen,

den in der EE enthaltenen Zinsbescheid vom 07.05.2013 dahingehend zu ändern, dass die Zinsen um 1.588 € niedriger festgesetzt werden,

hilfsweise für den Fall des Unterliegens die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es verweist im Wesentlichen auf die EE.

Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16.06.2014 auf den Einzelrichter übertragen. Auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 10.07.2014 wird verwiesen.

Gründe

II. 1. Die Klage ist unbegründet.

a) Führt die Festsetzung der Einkommensteuer zu einer Nachzahlung, so ist diese zu verzinsen, § 233a Abs. 1 Satz 1 AO. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist, § 233a Abs. 2 Satz 1 AO, also für die Einkommensteuer mit Ablauf des jeweiligen Kalenderjahrs, § 36 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG). Die Zinsen betragen für jeden vollen Monat einhalb vom Hundert, der zu verzinsende Betrag wird auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag abgerundet, § 238 AO. Die bisherige Zinsfestsetzung ist zu ändern, wenn die Steuerfestsetzung geändert wird, § 233a Abs. 5 Satz 1 AO.

b) Die Zinsberechnung des FA entspricht diesen Grundsätzen. Die Verzinsung ist wegen ihres typisierenden Charakters unabhängig von einem Verschulden des Finanzamts oder des Steuerpflichtigen; sie ist durch ihre Abschöpfungswirkung gekennzeichnet.

c) Der Grundsatz von Treu und Glauben steht einer Festsetzung von Nachforderungszinsen grundsätzlich auch dann nicht entgegen, wenn dem Finanzamt bei der Bearbeitung einer Steuererklärung Fehler unterlaufen sind (Bundesfinanzhof - BFH - Beschlüsse vom 03.05.2000 II B 124/99, BFH/NV 2000, 1441, vom 30.10.2001 X B 147/01 BFH/NV 2002, 505 und vom 02.08.2005 X B 139/04, juris, jeweils m.w.N.). Nichts anderes kann nach der Rechtsprechung für eine durch organisatorische Maßnahmen der Finanzverwaltung schuldhaft verzögerte Festsetzung von Steuernachforderungen gelten (FG München, Urteil vom 20.07.2006 5 K 1287/05, juris). Diese Handhabung sorgt für "Waffengleichheit" bei der Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (BFH-Urteil vom 16.11.2005 X R 3/04 BStBl II 2006, 166). Von einer Verzinsung der Steuernachforderung gemäß § 233a AO kann als Ausnahme von dem genannten Grundsatz dann abzusehen sein, wenn - anders als im Streitfall - zweifelsfrei feststeht, dass ein Steuerpflichtiger durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hatte (BFH-Beschluss vom 30.10.2001 X B 147/01 a.a.O.).

Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung steht selbst eine schuldhaft verzögerte Rechtsbehelfsbearbeitung der Festsetzung von Nachzahlungszinsen nicht entgegen (BFH-Urteil vom 08.09.1993 I R 30/93, BStBl II 1994, 81; für Aussetzungszinsen: BFH-Beschluss vom 28.06.2010 III B 97/09, BFH/NV 2010, 1784, m.w.N.). Auf die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens kommt es dabei ebenso wenig an, wie auf die Frage, worauf die Dauer im Einzelnen zurückzuführen ist.

Die Festsetzung von Nachzahlungszinsen und deren typisierte Festsetzung auf 0,5% pro Monat verstößt nicht gegen die dem Gesetzgeber durch das Grundgesetz gesetzten Grenzen (BVerfG-Beschluss vom 03.09.2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115).

d) Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze war das FA berechtigt und verpflichtet, die streitigen Zinsen festzusetzen.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob von einem Verschulden des FA auszugehen ist, wenn es eine während des Einspruchsverfahrens eingehende Mitteilung nicht sogleich, sondern erst im Rahmen der Einspruchsentscheidung auswertet. Auch darauf, ob die Kläger Kenntnis von dem geänderten Feststellungsbescheid erlangt hatten, kommt es nach dieser Rechtsprechung nicht an. Allerdings ist insoweit zu bemerken, dass einem etwaigen Verschulden des Finanzamtes die Obliegenheit des Steuerpflichtigen gegenüber zu stellen wäre, sich Kenntnis von ihn als Mitunternehmer treffenden Bescheiden - und damit auch vom Feststellungsbescheid der KG zu verschaffen und ggf. auf deren Auswertung hinzuwirken.

Die von den Klägern aufgeworfenen Fragen sind im zitierten Urteil des BVerfG umfassend abgehandelt und entgegen der vorgetragenen Rechtsauffassung der Kläger entschieden worden, so dass zur Vermeidung von Wiederholungen auf dieses Urteil verwiesen wird.

2. An ihrem zunächst formulierten Hilfsantrag auf Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen halten die Kläger nach Hinweis des Gerichts nicht mehr fest (Schreiben vom 03.07.2014).  Das Gericht hatte im Hinweis vom 10.06.2014 auf die diesbezügliche Rechtsprechung hingewiesen, nach der allgemeine Folgen eines verfassungsgemäßen Gesetzes, die den gesetzgeberischen Planvorstellungen entsprechen und die der Gesetzgeber ersichtlich in Kauf genommen hat, einen Billigkeitserlass nicht zu rechtfertigen vermögen. Billigkeitsmaßnahmen dürfen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen (BVerfG-Beschluss 1 BvR 2539/07, a.a.O.; Leopold/Madle/Rader, Praktikerkommentar Abgabenordnung, § 233a Rz. 36 ff.). Wie in der zitierten Entscheidung des BVerfG ausgeführt, entspricht auch die Auswertung einer Mitteilung gegen Ende der 2-Jahres-Frist des § 171 Abs. 10 AO dem vom Gesetzgeber mit der Verzinsungsvorschrift des § 233a AO verfolgten Ziel.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Es ist höchstrichterlich geklärt, dass unter den Umständen des Streitfalles Zinsen festzusetzen sind und die von den Klägern erhobenen Einwände dies nicht hindern (vgl. BFH-Beschluss vom 28.06.2010 III B 97/09, BFH/NV 2010, 1784). Revisionsgründe i.S. des § 115 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung sind nicht ersichtlich.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.

(1) Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz. Erlischt der zu verzinsende Anspruch durch Aufrechnung, gilt der Tag, an dem die Schuld des Aufrechnenden fällig wird, als Tag der Zahlung.

(1a) In den Fällen des § 233a betragen die Zinsen abweichend von Absatz 1 Satz 1 ab dem 1. Januar 2019 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr.

(1b) Sind für einen Zinslauf unterschiedliche Zinssätze maßgeblich, ist der Zinslauf in Teilverzinsungszeiträume aufzuteilen. Die Zinsen für die Teilverzinsungszeiträume sind jeweils tageweise zu berechnen. Hierbei wird jeder Kalendermonat unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Kalendertage mit 30 Zinstagen und jedes Kalenderjahr mit 360 Tagen gerechnet.

(1c) Die Angemessenheit des Zinssatzes nach Absatz 1a ist unter Berücksichtigung der Entwicklung des Basiszinssatzes nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wenigstens alle zwei Jahre zu evaluieren. Die erste Evaluierung erfolgt spätestens zum 1. Januar 2024.

(2) Für die Berechnung der Zinsen wird der zu verzinsende Betrag jeder Steuerart auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag abgerundet.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) reichte Anfang April 2009 ihre Einkommensteuererklärung 2007 ein und zahlte am 9. April 2009 einen Betrag von … € nebst darauf entfallenden Nebenforderungen an den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--). Das FA nahm den Gesamtbetrag in Verwahrung.

2

Am 25. November 2009, einem Mittwoch, erließ das FA den Einkommensteuerbescheid, in dem es nach Abzug von Lohn- und Kapitalertragsteuern sowie Zinsabschlag einen verbleibenden Einkommensteuerbetrag von … € auswies. Außerdem wurden in diesem Bescheid Zinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO) in Höhe von … € festgesetzt. Dabei legte das FA einen Zinslauf von acht Monaten (1. April 2009 bis 30. November 2009) zugrunde.

3

Die Klägerin beantragte den Erlass der Zinsen in voller Höhe wegen sachlicher Unbilligkeit. Mit Bescheid vom 5. März 2010 sprach das FA einen Teilerlass in Höhe von … € aus. Dabei berechnete das FA sog. "fiktive Erstattungszinsen" für einen Zeitraum von sieben Monaten, und zwar vom 9. April 2009 bis zum 9. November 2009.

4

Den Einspruch der Klägerin wies das FA durch die Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 2010 als unbegründet zurück. Zwar sei ausnahmsweise für den Fall einer vorzeitigen und vom FA angenommenen und behaltenen Zahlung ein Erlass von Nachzahlungszinsen geboten. Nr. 70.1.2 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) zu § 233a AO sehe insoweit aber ausdrücklich vor, dass bei einer erst nach Beginn des Zinslaufs erbrachten Leistung ein Erlass nur für volle Monate bis zur Wirksamkeit der Steuerfestsetzung möglich sei.

5

Die hiergegen erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 25. März 2011 ab.

6

Mit ihrer Revision macht die Klägerin Verletzung materiellen Rechts geltend.

7

Sie ist der Ansicht, Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO sei nicht ermessensgerecht, da diese Regelung die Steuerpflichtigen benachteilige. Obwohl nach Nr. 70.1.1 AEAO zu § 233a AO Nachzahlungszinsen nur bis zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs zu entrichten seien, komme es aufgrund der in Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO gewählten Methode zu einem anderen Ergebnis. Auch seien die Folgen der Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO im vorliegenden Erlassverfahren zu beachten. Ohne diese Fiktion wären nämlich sämtliche Nachzahlungszinsen erlassen worden, da dann die Zeiträume der Zinsfestsetzung und des Erlasses mit jeweils sieben Monaten übereingestimmt hätten.

8

Da das Gesetz die Festsetzung von Erstattungszinsen erst mit der Zahlung vorsehe, sei der Schluss zu ziehen, dass auch Nachzahlungszinsen nur bis zum Zeitpunkt der Zahlung festzusetzen seien. Das Monatsprinzip aus § 238 Abs. 1 Satz 2 AO gelte lediglich für die Zinsfestsetzung.

9

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil sowie den Ablehnungsbescheid vom 5. März 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 2010 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die festgesetzten Zinsen zur Einkommensteuer 2007 um weitere … € zu erlassen.

10

Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

11

Entscheidend sei bei der Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen, so das FA, dass Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO aus Vereinfachungsgründen auf das Monatsprinzip nach § 238 Abs. 1 Satz 2 AO zurückgreife. Darüber hinaus sei diese Regelung auch deshalb sachlich gerechtfertigt, weil sie sich an § 233a Abs. 3 Satz 3 AO orientiere, der für die vergleichbare Situation bei Erstattungszinsen gelte.

Entscheidungsgründe

12

II. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen.
Ein Anspruch auf den begehrten weiteren teilweisen Erlass der Nachzahlungszinsen steht der Klägerin nicht zu. Die Erhebung der streitigen Nachforderungszinsen ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO.

13

1. Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie z.B. Zinsen (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO; vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5).

14

a) Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) und unterliegt gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduktion auf Null). Ist nur der Erlass eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zum Erlass aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile vom 16. November 2005 X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, und jüngst in BFH/NV 2014, 5).

15

b) Das FG hat nach diesen Prüfungsmaßstäben zu Recht eine fehlerhafte Ermessensausübung durch das FA verneint. Seine Annahme, die Erhebung der Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer im Streitfall sei auch insoweit nicht sachlich unbillig, als diese auf den Zeitraum ab dem 9. November 2009 entfallen, ist rechtsfehlerfrei.

16

aa) Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen --auf die die Klägerin ihren Erlassantrag allein stützt-- ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. z.B. Senatsurteil in BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, m.w.N.). Hingegen können Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, einen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen. Die generelle Geltungsanordnung des Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden. Dies gilt auch für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 2/02, BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.2.a).

17

bb) Hat die Finanzverwaltung --wie im Streitfall-- in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen und ob sich die Behörden an die Richtlinie gehalten haben (BFH-Urteil vom 24. November 2005 V R 37/04, BFHE 211, 411, BStBl II 2006, 466, unter II.1.). Derartige Verwaltungsanweisungen dürfen nicht wie Gesetze ausgelegt werden, sondern beziehen ihre Reichweite allein aus dem Verständnis der Verwaltung. Maßgeblich ist deshalb nicht, wie die Gerichte die Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie sie die Verwaltung verstanden hat und verstanden wissen wollte (Senatsbeschluss vom 8. Juni 2011 X B 209/10, BFH/NV 2011, 1828, m.w.N.). Das FG darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur prüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (BFH-Urteil in BFHE 211, 411, BStBl II 2006, 466, m.w.N.).

18

cc) Die ermessenslenkende Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO gewährleistet eine sachgerechte Ermessensausübung, wahrt die gesetzlichen Grenzen des Ermessens und macht von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch.

19

(1) Zweck der Regelungen in § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (Begründung zum Gesetzesentwurf, BTDrucks 11/2157, S. 194). Wegen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung sollen Liquiditätsvorteile, die aus dem verspäteten Erlass des Steuerbescheides entstanden sind, jedenfalls für die Zeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Entstehen der Steuer abgeschöpft werden (BTDrucks 11/2157, S. 194). Diese typisierenden Grundannahmen des Gesetzgebers sind bereits bei der Auslegung der Zinsvorschrift zu beachten (so schon Senatsurteil vom 20. September 1995 X R 86/94, BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53). Sie sind in gleicher Weise Maßstab für die Entscheidung der Frage, ob besondere Umstände vorliegen, die im Einzelfall die Erhebung der Nachforderungszinsen als sachlich unbillig erscheinen lassen (Senatsurteil vom 5. Juni 1996 X R 234/93, BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503). Für einen Ausgleich in Form der Verzinsung der Steuernachforderung gemäß § 233a AO ist kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hat (BFH-Urteil vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259). Festgesetzte Nachzahlungszinsen sind dann wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen (Senatsbeschluss vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505, und BFH-Beschluss vom 28. Juli 2009 I B 42/09, BFH/NV 2010, 5). Diesem Zweck wird Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO gerecht.

20

(2) Darüber hinaus entspricht Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO diesem Zweck auch bei der Art der Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen. Durch die freiwilligen Leistungen vor Steuerfestsetzung entsteht eine Situation, die derjenigen für Erstattungszinsen vergleichbar ist. Ein Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe vergleichbar berechneter Zinsen ist deshalb im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung eine mögliche Ermessensausübung.

21

(a) Die freiwillige Leistung der rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten Steuer hat zur Folge, dass vom Zeitpunkt der Zahlung --und anschließenden Annahme durch die Finanzbehörde-- bis zur Festsetzung die Steuer überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen. Sachgerecht ist dann, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag --soweit dieser der noch festzusetzenden Steuer entspricht-- (sog. "fiktive Erstattungszinsen") berechnet und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe dieser "fiktiven Erstattungszinsen" die Nachzahlungszinsen reduziert werden.

22

(b) § 233a Abs. 3 Satz 1 AO sieht allerdings eine solche Verzinsung nur für den Fall der Überzahlung der festgesetzten Steuer durch anzurechnende Steuerabzugsbeträge, die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die bis zum Beginn des Zinslaufs (§ 233a Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO) festgesetzten Vorauszahlungen vor (sog. Erstattungszinsen), wobei die Verzinsung in diesen Fällen nach § 233a Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 AO mit dem Tag der Zahlung beginnt. Wird die schlichte Zahlung diesen Tatbeständen gleichgestellt, so kann erst recht der Zinslauf erst mit dem Tag der Zahlung beginnen.

23

§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO seinerseits sieht vor, dass der Zinslauf erst mit Ablauf des Tages endet, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird. Mit diesem Tag endet der Regelungsbereich des § 233a AO insgesamt, der nur den Zeitraum bis zur Festsetzung umfasst. Im Fall der freiwilligen Leistung nach Beginn des Zinslaufs kann nichts anderes gelten. Schließlich begrenzt § 238 Abs. 1 Satz 2 AO den Zinslauf auf volle Monate.

24

(c) Wegen der Vergleichbarkeit der "fiktiven Erstattungszinsen" mit den gesetzlich geregelten Erstattungszinsen ist es folgerichtig, wenn sich die Art der Berechnung der "fiktiven Erstattungszinsen" an den gesetzlichen Regelungen der Erstattungszinsen orientiert, so wie Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO dies vorsieht.

25

(3) Ein anderer Wille des Gesetzgebers besteht nicht, auch nicht aufgrund des vor Erlass der Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO ergangenen Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen --BMF-- vom 4. April 1996 IV A 4 -S 0460a- 19/96 (BStBl I 1996, 371). Zwar wird in diesem Schreiben ausdrücklich geregelt, dass Nachzahlungszinsen nur für den Zeitraum bis zum Eingang der freiwilligen Leistung zu erheben sind. Dabei ist jedoch zu beachten, dass zum Zeitpunkt des Erlasses dieses BMF-Schreibens in § 233a Abs. 1 AO a.F. die Steuerzahlungsschuld und nicht der nun in § 233a Abs. 3 AO definierte Unterschiedsbetrag die Bemessungsgrundlage für die Verzinsung bildete. Auch endete der Zinslauf nach § 233a Abs. 2 Satz 3 AO a.F. erst mit der Fälligkeit der Steuernachforderung oder Steuererstattung. Folglich gab es bei Zahlung vor Steuerfestsetzung keine Grundlage für die Festsetzung von weiteren Zinsen. Ab diesem Zeitpunkt konnte die Steuerzahlungsschuld nicht mehr fällig werden. Eventuell festgesetzte Nachzahlungszinsen waren zu erlassen (BFH-Urteil vom 15. März 1995 I R 56/93, BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490).

26

Diese Grundsätze gelten jedoch nicht mehr, seit in § 233a Abs. 1 AO --wie im Streitfall-- auf den Unterschiedsbetrag i.S. des § 233a Abs. 3 AO abgestellt wird, da nunmehr eine Bemessungsgrundlage für die Zinsfestsetzung auch nach Zahlung der noch festzusetzenden Steuer weiter existiert (so auch BFH-Urteil in BFHE 177, 204, BStBl II 1995, 490, unter II.5.). Die entsprechende Gesetzesänderung erfolgte im Jahressteuergesetz 1997 vom 20. Dezember 1996 (BGBl I 1996, 2049). Seither ist ein der Regelung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO entgegenstehender Wille des Gesetzgebers nicht mehr erkennbar.

27

(4) Eine Sondersituation, die eine von Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO abweichende Ermessensregelung ausnahmsweise geboten erscheinen lassen würde, liegt ebenfalls nicht vor. Insbesondere ist dies nicht deshalb der Fall, weil --wie hier-- erst aufgrund der Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO für einen weiteren Monat --hier November 2009-- Nachzahlungszinsen festzusetzen waren. Soweit diese Problematik zu beachten ist, betrifft sie das Zinsfestsetzungsverfahren. Im vorliegenden Billigkeitsverfahren ist sie ohne Belang.

28

dd) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das FG zu Recht eine fehlerhafte Ermessensausübung verneint. Das FA hat die in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO von der Finanzverwaltung erlassene ermessenslenkenden Verwaltungsanweisung richtig angewandt.

29

(1) Nr. 70.1.1 AEAO zu § 233a AO in der im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung vom 21. Juni 2010 gültigen Fassung sah auch für den Fall, dass vor Festsetzung der Steuer freiwillige Leistungen erbracht werden, die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO vor, die aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen sind, soweit --wie im Streitfall-- das Finanzamt diese Leistungen angenommen und behalten hat.

30

(2) Nach Nr. 70.1.2 Satz 1 AEAO zu § 233a AO sind Nachzahlungszinsen nur für den Zeitraum bis zum Eingang der freiwilligen Leistung zu erheben. Falls die freiwillige Leistung erst nach Beginn des Zinslaufs erbracht worden ist, sind Nachzahlungszinsen aus Vereinfachungsgründen insoweit zu erlassen, als die auf volle fünfzig Euro abgerundete freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist (Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO). Da vom 9. November 2009 bis zur Wirksamkeit der Steuerfestsetzung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 30. November 2009 kein weiterer voller Monat erreicht war, war danach der Erlass nicht auszusprechen.

31

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.

Gründe

Finanzgericht München

Az.: 7 K 774/14

IM NAMEN DES VOLKES

Urteil

Stichwort: Erlass von Nachzahlungszinsen

In der Streitsache

...

Klägerin

prozessbevollmächtigt: ...

gegen

Finanzamt ...

Beklagter

wegen Abweichende Festsetzung der Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000 aus Billigkeitsgründen

hat der 7. Senat des Finanzgerichts München durch ... aufgrund der mündlichen Verhandlung

vom 26. Oktober 2015

für Recht erkannt:

1. Der Beklagte wird verpflichtet, die Bescheide über die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen vom 08.07.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.02.2014 dahingehend abzuändern, dass die Zinsfestsetzung um weitere Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998 in Höhe von ... Euro, zur Körperschaftsteuer 1999 in Höhe von ... Euro und zur Körperschaftsteuer 2000 in Höhe von ... Euro herabgesetzt wird.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil kann durch Beschwerde angefochten werden.

Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Der Beschwerdeschrift soll eine Abschrift oder Ausfertigung des angefochtenen Urteils beigefügt werden. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Auch die Begründung ist bei dem Bundesfinanzhof einzureichen.

Rechtsmittel können auch über den elektronischen Gerichtsbriefkasten des Bundesfinanzhofs eingelegt und begründet werden, der über die vom Bundesfinanzhof zur Verfügung gestellte Zugangs- und Übertragungssoftware erreichbar ist. Die Software kann über die Internetseite „www.bundesfinanzhof.de“ lizenzkostenfrei heruntergeladen werden. Hier befinden sich auch weitere Informationen über die Einzelheiten des Verfahrens, das nach der Verordnung der Bundesregierung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesverwaltungsgericht und beim Bundesfinanzhof vom 26. November 2004 (BGBl. I S. 3091) einzuhalten ist.

Vor dem Bundesfinanzhof müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesfinanzhof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind nur Rechtsanwälte, niedergelassene europäische Rechtsanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer zugelassen; zur Vertretung berechtigt sind auch Steuerberatungsgesellschaften, Rechtsanwaltsgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Buchprüfungsgesellschaften sowie Partnerschaftsgesellschaften, deren Partner ausschließlich Rechtsanwälte, niedergelassene europäische Rechtsanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer sind. Ein Beteiligter, der nach Maßgabe des vorhergehenden Satzes zur Vertretung berechtigt ist, kann sich selbst vertreten.

Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.

Der Bundesfinanzhof hat die Postanschrift: Postfach 86 02 40, 81629 München, und die Hausanschrift: Ismaninger Str. 109, 81675 München, sowie den Telefax-Anschluss: 089/92 31-201.

Lässt der Bundesfinanzhof aufgrund der Beschwerde die Revision zu, so wird das Verfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht. Innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses des Bundesfinanzhofs über die Zulassung der Revision ist jedoch bei dem Bundesfinanzhof eine Begründung der Revision einzureichen. Die Beteiligten müssen sich auch im Revisionsverfahren nach Maßgabe des vierten Absatzes dieser Belehrung vertreten lassen.

Sachverhalt

Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welchem Umfang der Beklagte (das Finanzamt) verpflichtet ist, gegenüber der Klägerin festgesetzte Nachzahlungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.

Die Klägerin, eine ... Aktiengesellschaft ..., teilte dem Finanzamt mit Schreiben vom 18.04.2007 mit, dass aufgrund einer laufenden Betriebsprüfung Körperschaftsteuernachzahlungen in Höhe von voraussichtlich .. Euro zu erwarten seien und kündigte eine freiwillige Körperschaftsteuerzahlung in dieser Höhe für die Jahre 1998 bis 2000 an. Auf das Schreiben vom 18.04.2007 wird Bezug genommen. Der Betrag wurde am 30.04.2007 auf einem Konto des Finanzamts gutgeschrieben und von diesem angenommen.

Nach Abschluss der Betriebsprüfung erließ das Finanzamt unter dem Datum 26.11.2010 geänderte Körperschaftsteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und setzte Zinsen nach § 233a Abgabenordnung (AO) wie folgt fest:

Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998: ... Euro

Zinsen zur Körperschaftsteuer 1999: ... Euro

Zinsen zur Körperschaftsteuer 2000: ... Euro

Mit Schreiben vom 03.12.2010 beantragte die Klägerin auf Grundlage von Nr. 70.1.1. Satz 2 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung (AEAO) zu § 233a AO aus sachlichen Billigkeitsgründen u. a. den Erlass von Nachzahlungszinsen zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000 in Höhe von insgesamt ... Euro aufgrund der freiwilligen Leistung von ... Euro am 30.04.2007. Dabei ging sie davon aus, dass Zinsen für 43 volle Monate im Zeitraum 30.04.2007 bis 29.11.2010 zu erlassen sind.

Unter dem Datum 08.07.2011 erließ das Finanzamt Bescheide über eine abweichende Festsetzung der Zinsen zur Körperschaftsteuer für 1998, 1999 und 2000 aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO. Abweichend von dem Antrag der Klägerin wurde der erlassfähige Betrag aufgrund der Zahlung am 30.04.2007 in Höhe von ... Euro auf Grundlage von 42 vollen Monaten ermittelt. Statt des beantragten Erlasses in Höhe von ... Euro errechnete das Finanzamt insoweit einen erlassfähigen Betrag von ... Euro (Differenz: ... Euro).

Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Sie brachte vor, dass aufgrund der freiwilligen Zahlung die festgesetzten Nachzahlungszinsen um fiktive Erstattungszinsen für 43 Zinsmonate an Stelle der gewährten 42 Zinsmonate zu mindern sein. Die Fristberechnung für fiktive Erstattungszinsen sei in Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO detailliert geregelt. Nach den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO beginne der fiktive Zinslauf am Tag der Zahlung selbst - im Streitfall am 30.04.2007 - und nicht erst am folgenden Tag. Er endete mit der Bekanntgabe der Steuerfestsetzung am 29.11.2010.

Nach Hinweis des Finanzamts, dass mit BMF-Schreiben vom 17.01.2012 (BStBl I 2012, 83) zur Änderung des AEAO der Beginn des fiktiven Zinslaufes in den Beispielen 14 und 15 abgeändert worden sei und der Tag der Zahlung bei Berechnung des fiktiven Zinslaufs nicht mehr in die Fristberechnung einbezogen werde, brachte die Klägerin vor, dass die nachträgliche Änderung des AEAO für die Vergangenheit einen Verstoß gegen Treu und Glauben darstelle.

Der Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 20.02.2014). Das Finanzamt hielt daran fest, dass die Frist für die Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen - in deren Höhe die Nachzahlungszinsen zu erlassen seien - erst am Tag nach der freiwilligen Leistung - hier am 01.05.2007 - beginne. Denn für den Beginn der Frist sei ein Ereignis maßgebend, nämlich die Leistung der freiwilligen Zahlung. Gemäß § 108 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) werde in diesen Fällen bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitgerechnet, in welchen das Ereignis fällt. Da der Zinslauf unstreitig am 29. November 2010 endete, sei der 43. Monat genau um einen Tag nicht vollendet. Die Klägerin habe nach dem Grundsatz von Treu und Glauben keinen Anspruch auf die Anwendung des ursprünglich in den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a AO enthaltenen falschen Fristbeginns. Für den Fall von freiwilligen Zahlungen von Steuerforderungen vor Festsetzung der Steuern seien in den Nummern 70.1.1 und 70.1.2 AEAO zu § 233a AO ermessenslenkende Regeln aufgestellt worden. Das dort ursprünglich in den Beispielen enthaltene Datum des Fristbeginns hätte eindeutig den gesetzlichen Regelungen zur Fristberechnung des § 108 AO i. V. m. §§ 187, 188 BGB widersprochen. Das vom Finanzamt auszuübende Ermessen werde aber grundsätzlich durch Recht und Gesetz begrenzt. Hieraus folge zwingend, dass das Finanzamt, nachdem es den in den Beispielen enthaltenen Fehler erkannt hatte, sein Ermessen nur in der durchgeführten Weise ausüben durfte. Da sich vorliegend durch die Änderung des AEAO am 17.01.2012 nicht die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift geändert habe, sondern es sich lediglich um eine Anpassung an schon immer geltende gesetzliche Regelungen handelte, könne sich die Klägerin auch nicht auf eine schutzwürdige Vertrauensposition berufen.

Die Klägerin begründet ihre Klage im Wesentlichen wie folgt:

Die Regelung des § 187 Abs. 1 BGB sei nicht anwendbar. Unter einer Frist i. S. des § 108 AO i. V. m. §§ 187 ff BGB sei ein abgegrenzter, bestimmter oder jedenfalls bestimmbarer Zeitraum zu verstehen. Da im vorneherein nicht absehbar ist, wann die Steuerfestsetzung wirksam i. S. des § 233a Abs. 2 Satz 3 AO wird, handele es sich nicht um eine Frist im vorgenannten Sinne, so dass die §§ 187 ff BGB nicht anwendbar seien. Selbst wenn man von einer Frist i. S. des BGB ausgehe, wäre es - entgegen der Auffassung des Finanzamts - keine Frist gemäß § 187 Abs. 1 BGB, sondern eine solche nach § 187 Abs. 2 BGB, so dass der Tag der Zahlung mitgerechnet wird.

Nichts anderes ergebe sich aus dem Sinn und Zweck des § 233a AO. Zinsen nach § 233a AO seien eine laufzeitabhängige Gegenleistung für eine mögliche Kapitalnutzung. Dementsprechend seien festgesetzte Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen zu erlassen, wenn zweifelsfrei feststehe, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hatte. Wenn die freiwillige Leistung auf dem Konto der Finanzverwaltung gutgeschrieben wurde, stehe fest, dass ihr ab diesem Tag - und nicht erst ab dem Folgetag - die mögliche Kapitalnutzung zustehe und zum anderen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr über den entsprechenden Betrag verfügen und somit keinen Vorteil mehr erlangen könne.

Die Verwaltungsakte vom 08.07.2011 über die teilweise Ablehnung des Erlasses von Zinsen nach § 233a AO zur Körperschaftsteuer 1998 bis 2000 hätten ohne jede Begründung nicht den Beispielen 14 und 15 der Nr. 70.1.2. AEAO zu § 233a AO in der seinerzeit geltenden Fassung entsprochen. Hiernach wären die fiktiven Erstattungszinsen ab dem Tag der Zahlung der freiwilligen Leistung zu berechnen gewesen. Erst in der Einspruchsentscheidung vom 20.02.2014 habe das Finanzamt in Übereinstimmung mit den - mittlerweile entsprechend geänderten - Beispielen 14 und 15 der Nr. 70.1.2. AEAO zu § 233a AO beschieden. Die dort vorgesehene Nichtberücksichtigung des Tages der Gutschrift der freiwilligen Leistung widerspreche einer sachgerechten Ermessenausübung. Vielmehr entspreche die ursprüngliche Version der Beispiele der Rechtslage, die auch vom Bundesfinanzhof in seinen Urteilen vom 7. November 2013 (X R 22/11 und X R 23/11) geteilt werde.

Die Klägerin beantragt,

das Finanzamt zu verpflichten, die Bescheide über die abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen vom 08.07.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.02.2014 dahingehend abzuändern, dass die Zinsfestsetzung um weitere Zinsen zur Körperschaftsteuer 1998 in Höhe von ... Euro, zur Körperschaftsteuer 1999 in Höhe von ... Euro und zur Körperschaftsteuer 2000 in Höhe von ... Euro herabgesetzt wird, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Das Finanzamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergebe sich aus den BFH-Urteilen vom 07.11.2013 nicht, dass der Eingang der freiwilligen Zahlung bei der Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen mit einzurechnen ist. Streitgegenstand dieser Verfahren sei gewesen, ob es rechtlich zulässig ist, die in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO genannten fiktiven Erstattungszinsen nur nach vollen Monaten zu berechnen. Nach Auffassung des BFH sei es nicht zu beanstanden, wenn der Erlass der Zinsen nur für volle Monate zwischen der Annahme der Zahlung durch das Finanzamt und der Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erfolge. Zudem habe der BFH auch festgestellt, dass die ermessenslenkende Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO eine sachgerechte Ermessensausübung gewährleistet, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens wahrt und von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht. In der im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung maßgeblichen Fassung des AEAO hätten die Beispiele 14 und 15 bereits den Tag nach Eingang der freiwilligen Zahlung als Beginn des Zinslaufes vorgesehen. Da die Berechnung der fiktiven Erstattungszinsen im Streitfall entsprechend dieser Beispiele erfolgt sei, sei sie nicht zu beanstanden.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, auf die vorgelegten Unterlagen und Akten, sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 26.10.2015 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf den begehrten weiteren Erlass der Nachzahlungszinsen. Die Erhebung der streitgegenständlichen Nachforderungszinsen in Höhe von insgesamt ... Euro ist unbillig im Sinne des § 163 AO.

1. Nach 163 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Vorschrift des § 163 AO ist auf Zinsen entsprechend anzuwenden (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO).

a) Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen i. S. des § 163 AO ist eine Ermessensentscheidung (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH-Urteil vom 6. Juni 1991 V R 102/86, BFH/NV 1992, 787), die gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Zu prüfen ist daher bei einer Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduktion auf Null). Ist nur die Gewährung der Billigkeitsmaßnahme ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zur Billigkeitsmaßnahme - hier der abweichenden Zinsfestsetzung - aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 16. November 2005 X R 3/04, BStBl II 2006, 155 und vom 8. Oktober 2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5).

b) Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. BFH-Urteil vom 16. November 2005 X R 3/04, BStBl II 2006, 155 m. w. N.). Hingegen können Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, einen Billigkeitserlass nicht rechtfertigen. Die generelle Geltungsanordnung des Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden. Dies gilt auch für den Erlass bzw. eine abweichende Festsetzung nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 2/02, BStBl II 2004, 39, unter II.2.a).

c) Hat die Finanzverwaltung in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien - hier Nr. 70.1 AEAO zu § 233a AO - erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen und ob sich die Behörden an die Richtlinie gehalten haben (BFH-Urteil vom 24. November 2005 V R 37/04, BStBl II 2006, 466, unter Derartige Verwaltungsanweisungen dürfen nicht wie Gesetze ausgelegt werden, sondern beziehen ihre Reichweite allein aus dem Verständnis der Verwaltung. Maßgeblich ist deshalb nicht, wie die Gerichte die Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie sie die Verwaltung verstanden hat und verstanden wissen wollte (BFH-Beschluss vom 8. Juni 2011 X B 209/10, BFH/NV 2011, 1828, m. w. N.). Der Senat darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur prüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (BFH-Urteil 24. November 2005 V R 37/04, BStBl II 2006, 466, m. w. N.).

2. Bei Anwendung dieser Prüfungsmaßstäbe gewährleistet die ermessenslenkende Verwaltungsanweisung der Nr. 70.1.2 Satz 2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO - so wie sie die Finanzverwaltung nach Änderung der Beispiele 14 und 15 mit BMF-Schreiben vom 17. Januar 2012 (BStBl I 2012, 83) im Hinblick auf die Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen versteht und verstanden wissen will - keine sachgerechte Ermessensausübung.

a) Die Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.1 AEAO zu § 233a AO - auf die das Finanzamt im Streitfall seine Ermessensentscheidung gestützt hat - sieht vor, dass Zinsen nach § 233a AO auch dann festzusetzen sind, wenn vor Festsetzung der Steuer freiwillige Leistungen erbracht werden. Nachzahlungszinsen sind aber aus sachlichen Billigkeitsgründen zu erlassen, soweit der Steuerpflichtige auf die sich aus der Steuerfestsetzung ergebende Steuerzahlungsforderung bereits vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung freiwillige Leistungen erbracht und das Finanzamt diese Leistungen angenommen und behalten hat. Nachzahlungszinsen sind daher nur für den Zeitraum bis zum Eingang der freiwilligen Leistung zu erheben (Nr. 70.1.2 Satz 1 AEAO zu § 233a AO). Wurde die freiwillige Leistung erst nach Beginn des Zinslaufs erbracht oder war sie geringer als der zu verzinsende Unterschiedsbetrag, sind Nachzahlungszinsen gem. Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO aus Vereinfachungsgründen insoweit zu erlassen, als die auf volle fünfzig Euro abgerundete freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist (fiktive Erstattungszinsen). In den nachfolgenden Beispielen Nr. 14 und 15 zur Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen ging die Finanzverwaltung zunächst davon aus, dass der fiktive Zinslauf am der Tag der Erbringung der freiwilligen Leistung beginnt. Die Beispiele wurden mit BMF-Schreiben vom 17. Januar 2012 (BStBl I 2012, 83) dahingehend abgeändert, dass der fiktive Zinslauf erst am Tag nach der Erbringung der freiwilligen Leistung beginnt.

b) Der BFH hat sich im Urteil vom 7. November 2013 (X R 23/11, BFH/NV 2014, 660) mit der ermessenslenkenden Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO befasst. Die im jetzigen Verfahren streitige Frage der Berechnung des auf volle Monate begrenzten Zinslaufs und die hierzu von der Verwaltung gebildeten Beispiele 14 und 15 bzw. ihre Änderung waren nicht Gegenstand der Entscheidung. Der BFH kam zu dem Schluss, dass die Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO eine sachgerechte Ermessenausübung gewährleistet, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens wahrt und von dem gesetzlich eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht:

aa) Zweck der Regelungen in § 233a AO zur Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen ist die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Hiervon ausgehend, ist für einen Ausgleich in Form der Verzinsung einer Steuernachforderung gemäß § 233a AO kein Raum, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Steuerpflichtige durch die verspätete Steuerfestsetzung keinen Vorteil erlangt hat (BFH-Urteil vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BStBl II 1996, 503). Festgesetzte Nachzahlungszinsen sind dann wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen. Diesem Zweck wird die Regelung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO gerecht (BFH-Urteil vom 7. November 2013 X R 23/11, BFH/NV 2014, 660).

bb) Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO entspricht diesem Zweck auch bei der Art der Berechnung der zu erlassenden Nachzahlungszinsen. Durch die freiwillige Leistung vor Steuerfestsetzung entsteht eine Situation, die derjenigen für Erstattungszinsen vergleichbar ist. Ein Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe vergleichbar berechneter Erstattungszinsen - wie ihn Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO vorsieht - ist deshalb eine mögliche Ermessensausübung (BFH-Urteil vom 7. November 2013 X R 23/11, BFH/NV 2014, 660).

(1) Die freiwillige Leistung der rechnerisch ermittelten, aber noch nicht festgesetzten Steuer hat zur Folge, dass die Steuer vom Zeitpunkt der Zahlung bis zu ihrer Festsetzung überzahlt ist. Es besteht ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen. Dann ist es sachgerecht, wenn Zinsen für den überzahlten Betrag berechnet werden (sog. „fiktive Erstattungszinsen“) und im Erlasswege dadurch berücksichtigt werden, dass in Höhe dieser „fiktiven Erstattungszinsen“ die Nachzahlungszinsen reduziert werden.

(2) Wegen der Vergleichbarkeit der „fiktiven Erstattungszinsen“ mit den gesetzlich geregelten Erstattungszinsen hat es der BFH in seinem Urteil vom 07.11.2013 (Az.: X R 23/11, BFH/NV 2014, 660) als folgerichtig angesehen, dass Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO vorsieht, dass sich die Art der Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen“ an den gesetzlichen Regelungen der Erstattungszinsen orientiert. So beginnt die Verzinsung von Steuererstattungen gemäß § 233a Abs. 3 Satz 3 2. HS AO (frühestens) mit dem Tag der Zahlung und endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO). Entsprechend beginnt der (fiktive) Zinslauf der „fiktiven Erstattungszinsen“ nach dem Wortlaut der Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO mit Erbringung (Zahlung) der freiwilligen Leistung und endet mit Wirksamkeit der Steuerfestsetzung. § 238 Abs. 1 Satz 2 AO begrenzt die Verzinsung auf volle Monate. Entsprechend konnte die Finanzverwaltung aus Vereinfachungsgründen in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO regeln, dass „fiktive Erstattungszinsen“ nicht taggenau, sondern (nur) für volle Monate zu berücksichtigen sind (BFH-Urteil vom 7. November 2013 X R 23/11, BFH/NV 2014, 660).

c) Allerdings hat die Finanzverwaltung durch Änderung der Beispiele 14 und 15 zum Ausdruck gebracht, dass sie die ermessenlenkende Verwaltungsanweisung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO nunmehr dahingehend verstanden haben will, dass der fiktive Zinslauf nicht mit dem Tag der Erbringung (Zahlung) der freiwilligen Leistung beginnt, sondern erst am folgenden Tag. Diese Auslegung der Verwaltungsanweisung durch die Finanzverwaltung stellt keine sachgerechte Ermessensausübung dar. Sie steht im Widerspruch zu der von der Finanzverwaltung selbst gewählten Ausgestaltung der Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO zu § 233a AO, die sich erkennbar und sachgerecht an den gesetzlichen Regelungen der Erstattungszinsen orientiert. Da der Zinslauf der gesetzlichen Erstattungszinsen (frühestens) mit dem Tag der Zahlung beginnt (§ 233a Abs. 2 Satz 3 AO), kann für den Fall der freiwilligen Leistung nicht anderes gelten.

d) Dem folgend ist der Tag des Beginns des Zinslaufs der fiktiven Erstattungszinsen (der Tag der freiwilligen Zahlung) - bei Anwendung der Vereinfachungsregelung, die vorsieht, dass Zinsen nur insoweit zu erlassen sind, als die freiwillige Leistung für jeweils volle Monate vor Wirksamkeit der Steuerfestsetzung erbracht worden ist - in die Berechnung der vollen Monate einzubeziehen. Für die gesetzlich geregelten Erstattungszinsen folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der Regelung des § 238 Abs. 1 Satz 2 AO. Nach § 238 Abs. 1 Satz 2 AO sind Zinsen von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen. Die Formulierung „von dem Tag an... „ bringt zum Ausdruck, dass der Beginn des Tages für den Anfang der Frist maßgebend ist (vgl. Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 238 Rz. 5; BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 X R 119/92, BStBl II 1997, 6). Folgt man dagegen der im Schrifttum vertretenen Auffassung, dass die Zeiteinheit „Monat“ nicht anhand des jeweiligen Zinstatbestandes i. V. m. § 238 Abs. 1 AO zu bestimmen ist, sondern dass gemäß § 108 Abs. 1 AO die § 187 ff BGB jedenfalls entsprechend anzuwenden sind (vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO, § 238 Rz. 4), dann gilt für den Fristbeginn § 187 Abs. 2 BGB - und nicht 187 Abs. 1 BGB -, so dass der Tag des Fristbeginns bei der Berechnung der Frist mitgerechnet wird. Entsprechend ist bei der Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen“ der Tag der Zahlung der freiwilligen Leistung in die Berechnung des vollen Monats einzubeziehen. Hier kann nichts anderes gelten, da die Regelung in Nr. 70.1.2 Satz 2 AEAO erkennbar an die Vorschrift des § 238 Abs. 1 Satz 2 AO anknüpft („für volle Monate“).

e) Im Streitfall war daher der Tag des Eingangs der Zahlung der Klägerin auf dem Konto des Finanzamts - der 30.04.2007 - bei Berechnung der vollen Monate mitzurechnen. Ein voller Zinsmonat ist erreicht, wenn der Tag, an dem der Zinslauf endet, hinsichtlich seiner Zahl dem Tag entspricht, der dem Tag vorhergeht, an dem die Frist begann (BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 X R 119/92, BStBl 1997 I, 6 zu § 238 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Frist endete unstreitig mit Ablauf des 29.11.2010, dem Tag des Wirksamwerdens der geänderten Körperschaftsteuerbescheide 1998 bis 2000 (§§ 124 Abs. 1 Satz 1, 122 AO). Somit liegen 43 volle Zinsmonate vor, da der Tag, an dem der Zinslauf endete (29.11.2010), hinsichtlich seiner Zahl dem Tag entspricht, der dem Tag vorhergeht, an dem die Frist begann (29.04.2007).

3. Im Streitfall ist nur die Gewährung der von der Klägerin begehrten Billigkeitsmaßnahme ermessensgerecht. Nur sie gewährleistet, dass die im Rahmen der Billigkeitsentscheidung vorzunehmende Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen“ entsprechend der gesetzlichen Regelung des § 233a Abs. 3 Satz 3 2. HS AO zutreffend vorgenommen wird. Das Gericht kann daher gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zur Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO in der von der Klägerin begehrten Höhe aussprechen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 AO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

5. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).

(1) Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz. Erlischt der zu verzinsende Anspruch durch Aufrechnung, gilt der Tag, an dem die Schuld des Aufrechnenden fällig wird, als Tag der Zahlung.

(1a) In den Fällen des § 233a betragen die Zinsen abweichend von Absatz 1 Satz 1 ab dem 1. Januar 2019 0,15 Prozent für jeden Monat, das heißt 1,8 Prozent für jedes Jahr.

(1b) Sind für einen Zinslauf unterschiedliche Zinssätze maßgeblich, ist der Zinslauf in Teilverzinsungszeiträume aufzuteilen. Die Zinsen für die Teilverzinsungszeiträume sind jeweils tageweise zu berechnen. Hierbei wird jeder Kalendermonat unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Kalendertage mit 30 Zinstagen und jedes Kalenderjahr mit 360 Tagen gerechnet.

(1c) Die Angemessenheit des Zinssatzes nach Absatz 1a ist unter Berücksichtigung der Entwicklung des Basiszinssatzes nach § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wenigstens alle zwei Jahre zu evaluieren. Die erste Evaluierung erfolgt spätestens zum 1. Januar 2024.

(2) Für die Berechnung der Zinsen wird der zu verzinsende Betrag jeder Steuerart auf den nächsten durch 50 Euro teilbaren Betrag abgerundet.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.