Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B

bei uns veröffentlicht am03.12.2015

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Mai 2015 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger beantragte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit ab Mai 2010. Nach einer erfolglosen Aufforderung, den Antragsvordruck vollständig auszufüllen und keine Streichungen vorzunehmen (Schreiben vom 26.4.2010), lehnte der Beklagte den Antrag wegen fehlender bzw nicht nachgewiesener Hilfebedürftigkeit ab (Bescheid vom 10.11.2010; Widerspruchsbescheid vom 27.1.2011). Die auf Zahlung von Leistungen nach dem SGB II gerichtete Klage blieb erfolglos (Urteil des SG Hannover vom 22.12.2011). Zur Begründung der Berufung hat der Kläger zunächst auf seinen Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren, auf ein durchgeführtes einstweiliges Rechtsschutzverfahren und auf die Amtsermittlungspflicht des Gerichts hingewiesen. Der Berichterstatter des LSG hat den Kläger zu einer Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG angehört(Schreiben vom 6.1.2015). Im Anhörungsschreiben wird ausgeführt, das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren sei nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ausführlichen und detaillierten Urteils des SG aufkommen zu lassen. Der Kläger hat daraufhin die Bewilligung von PKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt, die Berufung weiter begründet und zudem auf einen Beweisantrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren verwiesen, der ausdrücklich aufrechterhalten werde (Schreiben vom 12.2.2015).

2

Ohne Weiteres zu veranlassen hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und gleichzeitig den Antrag auf Bewilligung von PKH für das Berufungsverfahren abgelehnt (Beschluss vom 7.5.2015). Zur Begründung hat es ausgeführt, das SG habe den Beklagten im Ergebnis zu Recht nicht zur Gewährung von Leistungen verurteilt, weil es sich bei dem angefochtenen Bescheid vom 10.11.2010 um einen Versagensbescheid iS von § 66 Abs 1 S 1 SGB I gehandelt habe. Es liege lediglich der äußeren Form nach eine Sachentscheidung vor. Die Voraussetzungen für eine Versagung seien gegeben, weil der Kläger den ihn treffenden Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen sei. Es werde hinreichend deutlich, dass die Beklagte die "Ablehnung" auf eine fehlende Mitwirkung des Klägers gestützt habe. Über den Antrag auf Bewilligung von PKH, der mangels Erfolgsaussichten abzuweisen sei, habe nicht vor der Entscheidung über die Berufung entschieden werden müssen, weil der Antrag erst im Anschluss an die Anhörung zur Entscheidung durch Beschluss gestellt worden sei.

3

Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde und macht Verfahrensfehler geltend. Er rügt eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG und in der Folge eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts ohne ehrenamtliche Richter, weil das LSG die von ihm beabsichtigte Auslegung des angefochtenen Bescheides als Versagensbescheid verschwiegen und über den PKH-Antrag nicht vor dem angefochtenen Beschluss entschieden habe. Zudem hätte das LSG die Anhörungsmitteilung erneuern und - ausgehend von seiner rechtlichen Auffassung - die Leistungsklage als unzulässig zurückweisen müssen, also ohne eine sachliche Entscheidung hierüber zu treffen. Verletzt sei auch sein Anspruch auf rechtliches Gehör, denn er sei verfahrensfehlerhaft zu keinem Zeitpunkt vom LSG auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt hingewiesen worden. Bei Gewährung rechtlichen Gehörs hätte er ausgeführt, dass ein Versagensbescheid nachweislich von der Beklagten nicht gewollt gewesen sei und auch rechtswidrig gewesen wäre. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass bei Berücksichtigung seines Vorbringens das LSG zu einer anderen für ihn günstigeren Beurteilung des streitgegenständlichen Bescheides gekommen wäre.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).

5

Die Beschwerde ist zulässig, denn der Kläger hat Verfahrensmängel, insbesondere eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG), hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 S 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

6

Die Beschwerde ist auch begründet, denn die Entscheidung des LSG hat als Überraschungsentscheidung den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) verletzt und kann auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Eine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne liegt dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen braucht (vgl nur BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - BVerfGK 19, 377 RdNr 18 mwN; BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B - RdNr 9; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 8b).

7

So liegt der Fall hier. Das LSG hat in seiner Anhörungsmittteilung vom 6.1.2015 zunächst ausgeführt, es habe keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des ausführlichen und detaillierten Urteils des SG, was darauf hindeutet, dass es auch die rechtliche Argumentation des SG für zutreffend hält und sich dieser anzuschließen gedenkt. Tatsächlich hat das LSG dann aber - abweichend von der Rechtsauffassung des SG - den angefochtenen Bescheid als Versagensbescheid angesehen, der zulässig nur mit einer Anfechtungsklage angegriffen werden könne. Dies stellt einen bisher nicht erörterten, überraschenden rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt dar, mit dem der Kläger - zudem dieser zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht fachkundig vertreten war - nicht zu rechnen brauchte, und mit dem er auch nicht gerechnet hat, wie seinem Hinweis im Schreiben von 12.2.2015 auf einen nicht vorliegenden Versagensbescheid zu entnehmen ist. Überraschend ist die Rechtsauffassung des LSG auch deshalb, weil sie keine Entscheidung über die vom Kläger gleichzeitig mit der Anfechtungsklage erhobenen Leistungsklage, die das SG ebenfalls abgewiesen hatte, zulässt, sodass zweifelhaft erscheint, ob der Streitgegenstand vom LSG vollständig erfasst wurde.

8

Die Rechtmäßigkeit eines Versagensbescheids hängt - wie die Beschwerde zutreffend dargelegt hat - von anderen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen ab, sodass deshalb die fehlende Möglichkeit des Klägers, sich hierzu äußern zu können, seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

9

Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des LSG beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass die Möglichkeit einer Beeinflussung der ergangenen Gerichtsentscheidung durch den Gehörsverstoß gegeben sein muss (vgl BSG vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B - RdNr 12; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 23). Diese Möglichkeit besteht vorliegend, denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG aufgrund des differenzierten klägerischen Vortrags den angefochtenen Bescheid als Ablehnungs- statt Versagensbescheid wertet, die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit des Klägers sieht und in der Folge zu einer dem Kläger günstigeren Entscheidung gelangt.

10

War die Revision damit bereits wegen der Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör durch die Entscheidung des LSG zuzulassen, bedürfen die weiteren vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen keiner Erörterung.

11

Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.

12

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B

Referenzen - Gesetze

Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B zitiert 11 §§.

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160


(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bu

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 160a


(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 153


(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt. (2) Das Landessozialgericht

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 202


Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfa

Zivilprozessordnung - ZPO | § 547 Absolute Revisionsgründe


Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,1.wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;2.wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Ges

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 62


Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil - (Artikel I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975, BGBl. I S. 3015) - SGB 1 | § 66 Folgen fehlender Mitwirkung


(1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittl

Referenzen - Urteile

Urteil einreichen

Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B zitiert oder wird zitiert von 2 Urteil(en).

Bundessozialgericht Beschluss, 03. Dez. 2015 - B 4 AS 169/15 B zitiert 2 Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Bundesverfassungsgericht Stattgebender Kammerbeschluss, 05. Apr. 2012 - 2 BvR 2126/11

bei uns veröffentlicht am 05.04.2012

Tenor 1. Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 18. August 2011 - 715 C 85/11 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes und wird aufg

Bundessozialgericht Beschluss, 27. Sept. 2011 - B 4 AS 42/11 B

bei uns veröffentlicht am 27.09.2011

Tenor Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. November 2010 aufgehoben.

Referenzen

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert.

(2) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung wegen Pflegebedürftigkeit, wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannten Schädigungsfolgen oder wegen Arbeitslosigkeit beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 62 bis 65 nicht nach und ist unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß deshalb die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung, die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird, kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen.

(3) Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

(1) Für das Verfahren vor den Landessozialgerichten gelten die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug mit Ausnahme der §§ 91, 105 entsprechend, soweit sich aus diesem Unterabschnitt nichts anderes ergibt.

(2) Das Landessozialgericht kann in dem Urteil über die Berufung von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist.

(3) Das Urteil ist von den Mitgliedern des Senats zu unterschreiben. Ist ein Mitglied verhindert, so vermerkt der Vorsitzende, bei dessen Verhinderung der dienstälteste beisitzende Berufsrichter, dies unter dem Urteil mit Angabe des Hinderungsgrunds.

(4) Das Landessozialgericht kann, außer in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1, die Berufung durch Beschluß zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. § 158 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.

(5) Der Senat kann in den Fällen des § 105 Abs. 2 Satz 1 durch Beschluss die Berufung dem Berichterstatter übertragen, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

Vor jeder Entscheidung ist den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen.

Tenor

1. Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 18. August 2011 - 715 C 85/11 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes und wird aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek zurückverwiesen.

2. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 - 715 C 85/11 - ist damit gegenstandslos.

3. ...

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Entscheidungen, die im amtsgerichtlichen Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a ZPO) ohne Durchführung einer - vom Beschwerdeführer zuvor beantragten - mündlichen Verhandlung ergangen sind.

I.

2

1. Der Beschwerdeführer erwarb am 6. Juni 2009 bei der "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH, Hamburg" ein "iPhone 3G". Da das Gerät zu diesem Zeitpunkt nur in Verbindung mit einem Vertrag über Telekommunikationsdienste der "T-Mobile Deutschland GmbH" verkauft wurde, schloss der Beschwerdeführer gleichzeitig einen Nutzungsvertrag mit der "T-Mobile Deutschland GmbH" zum Tarif "Complete XS" mit einer vereinbarten Laufzeit von 24 Monaten.

3

2. Mit Telefax vom 1. Juni 2011 erklärte der Beschwerdeführer, "den zum 06.06.2011 auslaufenden Vertrag" zu kündigen. Mit Schreiben vom 8. Juni 2011 teilte die "Telekom Deutschland GmbH" dem Beschwerdeführer jedoch mit, dass eine Kündigung erst zum 6. Juni 2012 möglich sei. Da der Beschwerdeführer die dreimonatige Kündigungsfrist vor Ablauf der "Mindestlaufzeit" (6. Juni 2011) nicht eingehalten habe, habe sich der Vertrag inzwischen um weitere zwölf Monate verlängert.

4

3. Am 13. Juni 2011 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Amtsgericht Hamburg-Wandsbek gegen die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" mit dem Antrag festzustellen, dass die Laufzeit seines "Telekom Deutschland Handy-Vertrages" vom 6. Juni 2009 mit Ablauf des 6. Juni 2011 beendet sei und nicht bis zum 6. Juni 2012 fortbestehe. Dies ergebe sich aus der ausdrücklich vereinbarten Vertragslaufzeit von 24 Monaten. Etwa entgegenstehende allgemeine Geschäftsbedingungen seien nicht erkennbar, wären angesichts der individualvertraglich vereinbarten Befristung auf 24 Monate aber jedenfalls nicht wirksam einbezogen worden. Bei Vertragsschluss am 6. Juni 2009 habe der "Beauftragte der Beklagten" die Vertragslaufzeit von 24 Monaten auf ausdrücklichen Wunsch des Beschwerdeführers in den Vertrag aufgenommen, da dieser die monatliche Belastung mit einem Benutzungsentgelt von 24,95 Euro nur so lange wie nach den Kaufbedingungen unbedingt erforderlich habe akzeptieren wollen.

5

4. Mit Verfügung vom 24. Juni 2011 ordnete das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Durchführung des vereinfachten Verfahrens nach § 495a ZPO an und teilte den Parteien zugleich mit, ein Termin zur mündlichen Verhandlung werde nur dann anberaumt, wenn eine der Prozessparteien dies ausdrücklich unter Hinweis auf § 495a ZPO beantrage oder das Gericht dies für erforderlich halte.

6

5. Die Beklagte rügte mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 8. Juli 2011 die fehlende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek, da die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand am Konzernsitz in Bonn habe.

7

Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 beantragte der Beschwerdeführer unter Hinweis auf § 495a Satz 2 ZPO die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung. Zur Sache replizierte er, die Zuständigkeit des Gerichts sei gegeben, da der streitgegenständliche Kaufvertrag nicht mit der "Telekom Deutschland GmbH" als Konzernmutter, sondern mit der rechtlich selbstständigen "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" abgeschlossen worden sei, die ihren Geschäftssitz im Gerichtsbezirk des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek habe. Selbst wenn aber für die vorliegende Klage die "Telekom Deutschland GmbH" in Anspruch zu nehmen sei, bliebe es bei der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts unter dem Gesichtspunkt des besonderen Gerichtsstands der Niederlassung nach § 21 ZPO.

8

Mit Schriftsatz vom 22. Juli 2011 hielt der Prozessbevollmächtigte der beklagten "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" seine Rüge der örtlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek aufrecht. Die Beklagte unterhalte im Zuständigkeitsbereich des angerufenen Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek weder ihren Hauptsitz noch Niederlassungen im Sinne des § 21 ZPO. Darüber hinaus sei die Beklagte nicht passivlegitimiert: Der streitgegenständliche Mobilfunkvertrag sei mit der "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen aufgegangen in der "Telekom Deutschland GmbH", abgeschlossen worden. In dem Vertragsformular über Telekommunikationsdienstleistungen sei stets von der "T-Mobile Deutschland GmbH" als Vertragspartnerin die Rede. Die Klage sei auch im Übrigen unbegründet. Bei den im Vertrag genannten 24 Monaten handle es sich um eine "Mindestvertragslaufzeit". Gemäß Ziffer 11 der vom Beschwerdeführer akzeptierten "Allgemeinen Geschäftsbedingungen Mobilfunk-Dienst (Privatkunden)" gelte für Vertragsverhältnisse mit einer vereinbarten Mindestlaufzeit von 24 Monaten für beide Vertragspartner eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten, soweit schriftlich mit einer Frist von drei Monaten frühestens zum Ablauf der Mindestvertragslaufzeit gekündigt werde. Eine individualvertragliche Abrede dahingehend, dass das Vertragsverhältnis fix nach 24 Monaten ende, werde bestritten.

9

6. Durch Urteil vom 18. August 2011 wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Klage ohne mündliche Verhandlung ab. Die Klage sei mangels Feststellungsinteresses unzulässig und zudem unbegründet. Ein Rechtsschutzinteresse für das Feststellungsbegehren bestehe nur gegenüber dem Vertragspartner hinsichtlich des Vertrags über Telekommunikationsdienstleistungen. Dies sei aber nicht die Beklagte, sondern vielmehr die vormalige "T-Mobile Deutschland GmbH", inzwischen "Telekom Deutschland GmbH". Mit der Beklagten habe der Beschwerdeführer lediglich den Handy-Kaufvertrag abgeschlossen. Ob die Beklagte eine selbstständige Niederlassung im Bezirk des Gerichts habe, sei deshalb nicht entscheidungserheblich.

10

Das Urteil vom 18. August 2011 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 26. August 2011, dem Beschwerdeführer am 29. August 2011 zugestellt.

11

Vor Zustellung des Urteils machten die Parteien jeweils noch schriftsätzlich Ausführungen zur Sache (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Beklagten vom 22. August 2011; Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 28. August 2011).

12

7. Mit Schreiben vom 29. August 2011 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und rügte die unterlassene Durchführung der von ihm beantragten mündlichen Verhandlung. In der mündlichen Verhandlung wäre er entsprechenden Hinweisen des Gerichts gefolgt und hätte die Klage auf die "Telekom Deutschland GmbH" als Zweitbeklagte erstreckt und hilfsweise die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Bonn beantragt.

13

8. Mit Beschluss vom 8. September 2011wies das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek die Anhörungsrüge zurück. Der Beschwerdeführer mache zwar zutreffend geltend, dass auf seinen Antrag hin nach § 495a Satz 2 ZPO mündlich hätte verhandelt werden müssen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei jedoch nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden, da das Vorbringen nichts dafür hergebe, dass das Gericht in einer mündlichen Verhandlung zu einer anderen Entscheidung hätte gelangen können. Dem für den Fall einer mündlichen Verhandlung in Aussicht gestellten Hilfsantrag auf Verweisung an das Amtsgericht Bonn wäre nicht stattzugeben gewesen. Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek ergebe sich aus § 21 ZPO, da es sich bei dem Telekom Shop, in dem der Beschwerdeführer das iPhone erworben habe, um eine selbstständige Niederlassung handele. Abschließend führte das Gericht aus: "Auch eine Klageerweiterung hätte die Erfolgsaussicht der vorliegenden Klage nicht verbessert. Eine etwaige örtliche Unzuständigkeit des Gerichts hinsichtlich der eventuellen weiteren Beklagtenpartei hätte sich nicht auf die Beklagte erstreckt."

II.

14

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Amtsgericht habe entgegen der zwingenden Vorschrift des § 495a Satz 2 ZPO keine mündliche Verhandlung durchgeführt und damit seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Auf die im Urteil des Amtsgerichts vom 18. August 2011 dargelegten Bedenken gegen die Zulässigkeit und Begründetheit der Feststellungsklage hätte das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach § 139 ZPO im Rahmen der materiellen Prozessleitung hinweisen und dem Beschwerdeführer damit Gelegenheit geben müssen, die Klage zu erweitern sowie - hilfsweise - einen Verweisungsantrag nach § 281 ZPO zu stellen. Eine Abweisung der Klage als unzulässig und unbegründet hätte insoweit vermieden werden können. Ferner hätte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme über das Zustandekommen des streitgegenständlichen Vertrags und über das Vorliegen einer Individualabrede stattfinden können.

III.

15

Die Behörde für Justiz und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg sowie die "Telekom Shop Vertriebsgesellschaft mbH" hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Dem Bundesverfassungsgericht hat die Verfahrensakte des Amtsgerichts vorgelegen.

IV.

16

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

17

1. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

18

a) aa) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Der "Mehrwert" der Verbürgung besteht darin, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (BVerfGE 119, 292 <296>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>, stRspr). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>).

19

bb) Die einfachrechtlichen Gewährleistungendes rechtlichen Gehörs in den Verfahrensordnungen können über das spezifisch verfassungsrechtlich gewährleistete Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen. Insoweit stellt eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen nicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar, es sei denn, das Gericht hätte bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt. Danach bedarf es bei der Verletzung solcher Vorschriften im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist (BVerfGE 60, 305 <310>; vgl. auch BVerfGE 54, 94 <97, 99>; 74, 228 <233 f.>).

20

cc) Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt nicht unmittelbar ein verfassungskräftiger Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. BVerfGE 5, 9 <11>). Es ist vielmehr Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl. BVerfGE 9, 89 <95 f.>; 67, 208 <211>; 74, 1 <5>; 89, 381 <391>; BVerfGK 4, 83 <86>; zur Diskussion der Anforderungen, die im Hinblick auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung aus Art. 6 EMRK folgen, vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 169 ff. m.w.N.).

21

Für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung stattfindet, begründet aber der Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht der Partei auf Äußerung in dieser Verhandlung (BVerfGE 42, 364 <370>). Jedenfalls für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattzufinden hat, einem Verfahrensbeteiligten aber die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit zur Äußerung in dieser Verhandlung dadurch versagt wird, dass das Gericht überraschend ohne mündliche Verhandlung entscheidet, kann nichts anderes gelten (vgl. BFH, Urteil vom 5. November 1991 - VII R 64/90 -, juris; so auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 103 Rn. 52). Eine derartige Anwendung der Verfahrensbestimmung, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreibt, verkennt die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör schon deshalb, weil in einem solchen Fall die Verfahrensbeteiligten darauf vertrauen durften, ihr von Art. 103 Abs. 1 GG geschütztes Äußerungsrecht noch in der mündlichen Verhandlung wahrnehmen zu können. Dieses prozessuale Vertrauen wird in grober Weise enttäuscht (vgl. zu diesem Gesichtspunkt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 - 2 BvR 547/07 -, juris), wenn das Gericht Verfahrensbeteiligten die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Äußerung in einer mündlichen Verhandlung unversehens dadurch abschneidet, dass es seine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung trifft.

22

b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Entscheidungen den in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör.

23

Stellt ein Verfahrensbeteiligter in einem Verfahren, in dem der Streitwert 600 Euro nicht übersteigt und das Gericht daher sein Verfahren gemäß § 495a Satz 1 ZPO nach billigem Ermessen bestimmen kann, einen Antrag auf mündliche Verhandlung, muss diese durchgeführt werden (§ 495a Satz 2 ZPO). Einen solchen Antrag hatte der Beschwerdeführer hier gestellt. Das Gericht hat darauf nicht reagiert, sondern ohne weiteres entschieden, ohne die gesetzlich vorgesehene mündliche Verhandlung durchzuführen. Mit dieser Verfahrensweise hat es das rechtlich geschützte Vertrauen des Beschwerdeführers, Tatsachen und Rechtsauffassungen noch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung unterbreiten zu können, in überraschender Weise enttäuscht und die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt.

24

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn es dem Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge geleistet hätte. Dass der Beschwerdeführer seine Klage erweitert und - gegebenenfalls nach einer beantragten Verweisung des Rechtsstreits - obsiegt hätte, erscheint zumindest denkbar.

25

3. Ob - etwa unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Hinweispflichten (vgl. BVerfGE 42, 64 <72 ff.>; 84, 188 <189 f.>) - Art. 103 Abs. 1 GG noch in weiteren Hinsichten verletzt ist und neben der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör auch ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren oder gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) vorliegt, bedarf keiner Entscheidung.

26

4. Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist das angegriffene Urteil vom 18. August 2011 aufzuheben und das Verfahren zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom 8. September 2011 ist damit gegenstandslos.

27

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

28

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. November 2010 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Absenkung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an den Kläger im Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die volle Regelleistung.

2

Der im streitigen Zeitraum noch unter 25-jährige Kläger (geb 1984) bezieht seit dem 1.1.2005 fast ununterbrochen Alg II. Durch Bescheid vom 13.2.2008 bewilligte der Beklagte Alg II für den Zeitraum vom 1.3. bis 31.8.2008, geändert aufgrund der Anpassung der Höhe der Regelleistung durch Bescheid vom 18.5.2008 (Erhöhung auf 351 Euro ab 1.7.2008).

3

In einer Eingliederungsvereinbarung vom 26.3.2008 verpflichtete sich der Kläger, mindestens fünf Bewerbungen pro Monat in den nächsten sechs Monaten zu erstellen. Weiter heißt es in der Eingliederungsvereinbarung: "Nachweise über Ihre Bewerbungen sind bei Ihrem zuständigen Vermittler/Fallmanager bei jeder Vorsprache oder auf Aufforderung vorzulegen." Ferner sind Art und Umfang des Nachweises der Eigenbemühungen in der Eingliederungsvereinbarung bestimmt. Die Rechtsfolgenbelehrung gibt im Wesentlichen den Gesetzestext wieder.

4

In einem Vermerk vom 26.3.2008 ist festgehalten, dass der Kläger keine Unterlagen zur Dokumentation der Eigenbemühungen habe vorlegen können. Er sei aufgefordert worden, die Unterlagen bis zum 31.3.2008 nachzureichen. Laut Aktenvermerk vom 25.4.2008 hatte der Kläger auch an diesem Tag bei dem Meldetermin keine Unterlagen hinsichtlich der Eigenbemühungen dabei. Es sei ihm aufgegeben worden, diese bis zum 29.4.2008 nachzureichen. Nunmehr werde keine Nachfrist mehr eingeräumt. Bei einer weiteren Vorsprache ohne entsprechende Nachweise müsse der Kläger mit einer Sanktion rechnen. Bei einem Kontakt am 27.5.2008 fehlten laut Aktenvermerk wiederum Unterlagen des Klägers im Hinblick auf die Dokumentation der Eigenbemühungen. Auf den Eintritt einer Sanktion sei er hingewiesen worden.

5

Durch Bescheid vom 5.6.2008 verfügte der Beklagte die Absenkung des Alg II für den Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die Regelleistung in Höhe von 347 Euro und Beschränkung der existenzsichernden Leistungen auf die Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zugleich wurde der Bewilligungsbescheid vom 13.2.2008 aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen in der Eingliederungsvereinbarung seine dort festgelegten Pflichten nicht umfassend erfüllt, da er seine Eigenbemühungen nicht hinreichend nachgewiesen habe. Eine Verkürzung des Absenkungszeitraumes komme nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht in Betracht, da er wiederholt auf das Erfordernis der Vorlage der Eigenbemühungen hingewiesen worden sei. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sach- oder geldwerte Leistungen gewährt werden. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 zurück.

6

Die Klage hiergegen hat das SG Regensburg durch Gerichtsbescheid vom 18.9.2008 abgewiesen. Das Bayerische LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18.11.2010). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach § 40 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III und § 48 SGB X seien aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse durch das zu sanktionierende und damit eine Absenkung rechtfertigende Verhalten des Klägers gegeben. Die Entscheidung des Beklagten, von einer Verkürzung der Absenkungszeit abzusehen, sei nicht zu beanstanden. Der Kläger sei auch hinreichend über die Rechtsfolgen belehrt worden. Zwar dürfte der allgemeine Hinweis auf die Folgen bei der Verletzung von Grundpflichten in der Eingliederungsvereinbarung unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG nicht ausreichend sein. Der Kläger sei jedoch nach der Überzeugung des Senats - auf Grundlage der Vermerke aus der Verwaltungsakte - in den Vorsprachen am 25.4. und 27.5.2008 auf die Rechtsfolgen der Absenkung in Höhe von 347 Euro bei fortdauernder Nichtdokumentation der Eigenbemühungen hinreichend aufgeklärt worden.

7

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen LSG hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Er macht ua Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend. Das LSG habe die Vermerke über die Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 nicht ins Verfahren eingeführt. Dadurch sei er in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden; es liege eine Überraschungsentscheidung vor. Denn das LSG habe auch in der mündlichen Verhandlung nicht auf die Rechtsfolgenbelehrungen in den Vermerken Bezug genommen.

8

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).

9

Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG Beschluss vom 12.6.2003 - 1 BvR 2285/02). Darin liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs, denn wenn es auch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage gibt, so liegt jedoch dann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Gebot eines fairen Verfahrens vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188). So liegt der Fall hier im Hinblick auf die in den Aktenvermerken über die Vorsprachen des Klägers am 25.4. und 27.5.2008 enthaltenen Rechtsfolgenbelehrungen, auf die das LSG in seiner Entscheidung tragend abstellt.

10

Zwar hatte der Kläger Kenntnis von den Aktenvermerken, denn der Klägervertreter hat kurz vor dem Termin Akteneinsicht auch in die Beklagtenakte genommen. Gleichwohl ist der Kläger hier in seinem rechtlichen Gehör dadurch verletzt worden, dass das LSG seine Rechtsauffassung in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt hat, soweit es von einer hinreichenden Rechtsfolgenbelehrung in den mündlichen Vorsprachen, gestützt auf die Erkenntnisse aus den Vermerken, ausgeht. Die von dem LSG in Bezug genommenen Vermerke und die dort benannten Rechtsfolgenbelehrungen sind nach Aktenlage weder Gegenstand der Erörterungen, noch der rechtlichen Bewertungen im Gerichtsverfahren gewesen. Im Gerichtsbescheid des SG sind sie weder im Tatbestand, noch in den Entscheidungsgründen erwähnt. Im Gegensatz zum Vortrag des Beklagten in der Beschwerdeerwiderung werden die in den Vermerken benannten Rechtsfolgenbelehrungen im Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 ebenfalls nicht erwähnt. Zwar reicht es nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Beteiligte auch aufgrund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde (BSG Beschluss vom 11.10.2006 - B 9a VJ 4/06 B). So liegt der Fall hier.

11

Auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter brauchte selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht damit zu rechnen, dass die Absenkungsentscheidung mit den Rechtsfolgenbelehrungen aus den Vermerken der Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 begründet werden könnte. Diese sind - soweit ersichtlich - zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der rechtlichen und tatsächlichen Auseinandersetzung gewesen. In einer solchen Situation gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens einen Hinweis des Gerichts auf die Umstände, die es als entscheidungserheblich zugrunde legen will.

12

Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass der Vortrag erforderlich ist, dass die nach dem Gehörsverstoß ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt von dem Verfahrensfehler beeinflusst worden ist (vgl BSG Beschluss vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1; BSG Urteil vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1). Das ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat geltend gemacht, dass er sich in Kenntnis der Erwägungen des LSG darauf berufen hätte, dass die Rechtsfolgenbelehrungen am 25.4. und 27.5.2008 nicht ordnungsgemäß gewesen seien, ggf wäre beantragt worden, den Verfasser der Vermerke hierzu zu vernehmen. Mit dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme hätte sich das LSG alsdann ebenso wie mit dem Vortrag des Klägers zu dem Ablauf der Vorsprachen auseinandersetzen und diese in seine Beweiswürdigung einbeziehen müssen.

13

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren. Im Rahmen dieser Ermessensausübung ist der Senat nicht daran gebunden, dass der Kläger nur die Zulassung der Revision und nicht oder ggf hilfsweise die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt hat. Der Senat verweist den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das LSG zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.

Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt. In Streitigkeiten über Entscheidungen des Bundeskartellamts, die die freiwillige Vereinigung von Krankenkassen nach § 172a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch betreffen, sind die §§ 63 bis 80 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Landessozialgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundessozialgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung das Sozialgerichtsgesetz tritt.

Eine Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen,

1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war;
2.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen war, sofern nicht dieses Hindernis mittels eines Ablehnungsgesuchs ohne Erfolg geltend gemacht ist;
3.
wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war;
4.
wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat;
5.
wenn die Entscheidung auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind;
6.
wenn die Entscheidung entgegen den Bestimmungen dieses Gesetzes nicht mit Gründen versehen ist.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. November 2010 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig ist die Absenkung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an den Kläger im Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die volle Regelleistung.

2

Der im streitigen Zeitraum noch unter 25-jährige Kläger (geb 1984) bezieht seit dem 1.1.2005 fast ununterbrochen Alg II. Durch Bescheid vom 13.2.2008 bewilligte der Beklagte Alg II für den Zeitraum vom 1.3. bis 31.8.2008, geändert aufgrund der Anpassung der Höhe der Regelleistung durch Bescheid vom 18.5.2008 (Erhöhung auf 351 Euro ab 1.7.2008).

3

In einer Eingliederungsvereinbarung vom 26.3.2008 verpflichtete sich der Kläger, mindestens fünf Bewerbungen pro Monat in den nächsten sechs Monaten zu erstellen. Weiter heißt es in der Eingliederungsvereinbarung: "Nachweise über Ihre Bewerbungen sind bei Ihrem zuständigen Vermittler/Fallmanager bei jeder Vorsprache oder auf Aufforderung vorzulegen." Ferner sind Art und Umfang des Nachweises der Eigenbemühungen in der Eingliederungsvereinbarung bestimmt. Die Rechtsfolgenbelehrung gibt im Wesentlichen den Gesetzestext wieder.

4

In einem Vermerk vom 26.3.2008 ist festgehalten, dass der Kläger keine Unterlagen zur Dokumentation der Eigenbemühungen habe vorlegen können. Er sei aufgefordert worden, die Unterlagen bis zum 31.3.2008 nachzureichen. Laut Aktenvermerk vom 25.4.2008 hatte der Kläger auch an diesem Tag bei dem Meldetermin keine Unterlagen hinsichtlich der Eigenbemühungen dabei. Es sei ihm aufgegeben worden, diese bis zum 29.4.2008 nachzureichen. Nunmehr werde keine Nachfrist mehr eingeräumt. Bei einer weiteren Vorsprache ohne entsprechende Nachweise müsse der Kläger mit einer Sanktion rechnen. Bei einem Kontakt am 27.5.2008 fehlten laut Aktenvermerk wiederum Unterlagen des Klägers im Hinblick auf die Dokumentation der Eigenbemühungen. Auf den Eintritt einer Sanktion sei er hingewiesen worden.

5

Durch Bescheid vom 5.6.2008 verfügte der Beklagte die Absenkung des Alg II für den Zeitraum vom 1.7. bis 30.9.2008 um die Regelleistung in Höhe von 347 Euro und Beschränkung der existenzsichernden Leistungen auf die Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Zugleich wurde der Bewilligungsbescheid vom 13.2.2008 aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt, der Kläger habe trotz Belehrung über die Rechtsfolgen in der Eingliederungsvereinbarung seine dort festgelegten Pflichten nicht umfassend erfüllt, da er seine Eigenbemühungen nicht hinreichend nachgewiesen habe. Eine Verkürzung des Absenkungszeitraumes komme nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nicht in Betracht, da er wiederholt auf das Erfordernis der Vorlage der Eigenbemühungen hingewiesen worden sei. Auf Antrag könnten in angemessenem Umfang ergänzende Sach- oder geldwerte Leistungen gewährt werden. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 zurück.

6

Die Klage hiergegen hat das SG Regensburg durch Gerichtsbescheid vom 18.9.2008 abgewiesen. Das Bayerische LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 18.11.2010). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Voraussetzungen für die Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach § 40 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III und § 48 SGB X seien aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse durch das zu sanktionierende und damit eine Absenkung rechtfertigende Verhalten des Klägers gegeben. Die Entscheidung des Beklagten, von einer Verkürzung der Absenkungszeit abzusehen, sei nicht zu beanstanden. Der Kläger sei auch hinreichend über die Rechtsfolgen belehrt worden. Zwar dürfte der allgemeine Hinweis auf die Folgen bei der Verletzung von Grundpflichten in der Eingliederungsvereinbarung unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG nicht ausreichend sein. Der Kläger sei jedoch nach der Überzeugung des Senats - auf Grundlage der Vermerke aus der Verwaltungsakte - in den Vorsprachen am 25.4. und 27.5.2008 auf die Rechtsfolgen der Absenkung in Höhe von 347 Euro bei fortdauernder Nichtdokumentation der Eigenbemühungen hinreichend aufgeklärt worden.

7

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen LSG hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt. Er macht ua Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend. Das LSG habe die Vermerke über die Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 nicht ins Verfahren eingeführt. Dadurch sei er in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden; es liege eine Überraschungsentscheidung vor. Denn das LSG habe auch in der mündlichen Verhandlung nicht auf die Rechtsfolgenbelehrungen in den Vermerken Bezug genommen.

8

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat im Sinne der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).

9

Wie der Kläger formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BVerfG Beschluss vom 12.6.2003 - 1 BvR 2285/02). Darin liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs, denn wenn es auch keine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage gibt, so liegt jedoch dann ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Gebot eines fairen Verfahrens vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfG Beschluss vom 29.5.1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188). So liegt der Fall hier im Hinblick auf die in den Aktenvermerken über die Vorsprachen des Klägers am 25.4. und 27.5.2008 enthaltenen Rechtsfolgenbelehrungen, auf die das LSG in seiner Entscheidung tragend abstellt.

10

Zwar hatte der Kläger Kenntnis von den Aktenvermerken, denn der Klägervertreter hat kurz vor dem Termin Akteneinsicht auch in die Beklagtenakte genommen. Gleichwohl ist der Kläger hier in seinem rechtlichen Gehör dadurch verletzt worden, dass das LSG seine Rechtsauffassung in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt hat, soweit es von einer hinreichenden Rechtsfolgenbelehrung in den mündlichen Vorsprachen, gestützt auf die Erkenntnisse aus den Vermerken, ausgeht. Die von dem LSG in Bezug genommenen Vermerke und die dort benannten Rechtsfolgenbelehrungen sind nach Aktenlage weder Gegenstand der Erörterungen, noch der rechtlichen Bewertungen im Gerichtsverfahren gewesen. Im Gerichtsbescheid des SG sind sie weder im Tatbestand, noch in den Entscheidungsgründen erwähnt. Im Gegensatz zum Vortrag des Beklagten in der Beschwerdeerwiderung werden die in den Vermerken benannten Rechtsfolgenbelehrungen im Widerspruchsbescheid vom 16.7.2008 ebenfalls nicht erwähnt. Zwar reicht es nicht aus, dass ein bestimmter Gesichtspunkt im unmittelbar vorangehenden Verfahren nicht angesprochen worden ist. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Beteiligte auch aufgrund sonstiger nahe liegender Erkenntnisquellen nicht auf den Gedanken kommen konnte, dass es darauf ankommen würde (BSG Beschluss vom 11.10.2006 - B 9a VJ 4/06 B). So liegt der Fall hier.

11

Auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter brauchte selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht damit zu rechnen, dass die Absenkungsentscheidung mit den Rechtsfolgenbelehrungen aus den Vermerken der Gespräche vom 25.4. und 27.5.2008 begründet werden könnte. Diese sind - soweit ersichtlich - zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der rechtlichen und tatsächlichen Auseinandersetzung gewesen. In einer solchen Situation gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens einen Hinweis des Gerichts auf die Umstände, die es als entscheidungserheblich zugrunde legen will.

12

Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann die Entscheidung des LSG auch beruhen. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), sodass der Vortrag erforderlich ist, dass die nach dem Gehörsverstoß ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt von dem Verfahrensfehler beeinflusst worden ist (vgl BSG Beschluss vom 26.6.2007 - B 2 U 55/07 B - SozR 4-1750 § 227 Nr 1; BSG Urteil vom 10.8.1995 - 11 RAr 51/95 - SozR 3-1750 § 227 Nr 1). Das ist vorliegend der Fall. Der Kläger hat geltend gemacht, dass er sich in Kenntnis der Erwägungen des LSG darauf berufen hätte, dass die Rechtsfolgenbelehrungen am 25.4. und 27.5.2008 nicht ordnungsgemäß gewesen seien, ggf wäre beantragt worden, den Verfasser der Vermerke hierzu zu vernehmen. Mit dem Ergebnis dieser Beweisaufnahme hätte sich das LSG alsdann ebenso wie mit dem Vortrag des Klägers zu dem Ablauf der Vorsprachen auseinandersetzen und diese in seine Beweiswürdigung einbeziehen müssen.

13

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren. Im Rahmen dieser Ermessensausübung ist der Senat nicht daran gebunden, dass der Kläger nur die Zulassung der Revision und nicht oder ggf hilfsweise die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz beantragt hat. Der Senat verweist den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das LSG zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.

(1) Die Nichtzulassung der Revision kann selbständig durch Beschwerde angefochten werden. Die Beschwerde ist bei dem Bundessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, beigefügt werden. Satz 3 gilt nicht, soweit nach § 65a elektronische Dokumente übermittelt werden.

(2) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden einmal bis zu einem Monat verlängert werden. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des Landessozialgerichts abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

(3) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils.

(4) Das Bundessozialgericht entscheidet unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter durch Beschluss; § 169 gilt entsprechend. Dem Beschluß soll eine kurze Begründung beigefügt werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundessozialgericht wird das Urteil rechtskräftig. Wird der Beschwerde stattgegeben, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Revisionsfrist.

(5) Liegen die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 3 vor, kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.